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Published by bubert, 2023-06-14 06:33:23

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sondern eben auch die Produktideen erfolgreicher Unternehmer. Viele erfolgreiche Unternehmer gehen nach dem gleichen Muster vor wie Biokatalysatoren: Erstens: Sie sehen, dass in einem Umfeld – einem Markt – bereits etwas ankommt und funktioniert. Zum Beispiel die Produktidee einer Konkurrentin. (Ein Prozess läuft also bereits ohne den Katalysator ab.) Zweitens: Sie versuchen diese Produktidee, die ankommt, zu verbessern. Diese perfektionierte Produktidee (der Katalysator) wird dann noch besser bei Kunden ankommen und so den Verkaufsprozess beschleunigen. Drittens: (Der Katalysator verbraucht sich nicht:) Kommt die perfektionierte Produktidee bei einer Kundin besser an, lässt sie sich auch an einer anderen leichter verkaufen. Dieses abstrakte Muster des Katalysators sehen wir also nicht nur in Prozessen der Zellbiologie, sondern wir erkennen es praktisch überall dort wieder, wo sich etwas erfolgreich «am Leben» erhält. Drei Grundarten von Katalysatoren Der Begriff «Katalysator» geht auf den schwedischen Mediziner und Chemiker Jöns Jakob Berzelius (1779-1848) zurück. [10] In seinen Laborexperimenten machte er die interessante Beobachtung, dass viele der von ihm untersuchten chemischen Reaktionen nur dann erfolgten, wenn dabei ein ganz bestimmter Stoff zugegen war, der jedoch nicht verbraucht wurde. Er bezeichnete solche Stoffe als Katalysatoren. Für bestimmte chemische und biochemische Prozesse sind also Katalysatoren unabdingbar. Das Beispiel mit dem perfektionierten Produkt unseres erfolgreichen Unternehmers hat uns bereits gezeigt, dass wir im Beruf oder auch ganz allgemein in der Bewältigung unseres Alltags auf Dinge setzen, die gleich oder ähnlich funktionieren wie «Katalysatoren». Wir benutzen Katalysatoren, um ein Ziel schneller zu erreichen und hat es einmal funktioniert, gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass es immer wieder geht und immer wieder geht. Schon in Kapitel 4 hatten wir zwei Prozesse näher untersucht, die so etwas leisten: die Entstehung des Bergbachs und die Entstehung eines Vortrages. Dort hatten wir eine erste Vorstellung davon entwickelt, wie das geht. Auch dem Begriff «Katalysator» sind wir dort bereits begegnet. Wir hatten aber noch 51

keine starke Verbindung zur Biologie und zur Physik hergestellt. Dies holen wir jetzt nach. Allerdings so, dass wir – wenn immer möglich – auf Anschauungsmaterial aus unserem Alltag zurückgreifen, damit es für uns Nicht-Spezialisten verständlich bleibt. Wie kommt es also dazu, dass etwas ganz leicht wird und mühelos weiterläuft? Wie erweckt man etwas, das uns wünschenswert erscheint, zum Leben? Und ist es einmal zum Leben erweckt, wie erhält man es am Leben? Was sagt die Biologie – oder noch allgemeiner die Physik – dazu? Um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, geraten wir schnell in Versuchung, komplexe Zellprozesse, wie etwa die Photosynthese oder die Synthese eines Proteins im Detail analysieren zu wollen. Zellprozesse sind aber so komplex, dass wir dabei ganz leicht die Übersicht und wohl auch das Interesse verlieren würden. Gehen wir deshalb hier einen anderen, weniger analytischen und weniger anstrengenden Weg. Nehmen wir dazu ein Beispiel aus unserem Alltag. Statt der Zellumgebung untersuchen wir die für uns leichter zugängliche Situation eines Sandkastens mit spielenden Kindern. Und statt der Proteinsynthese den simplen Bau einer Sandburg. Drei Hürden müssen überwunden werden, um «den Bau von Sandburgen» zum Leben zu erwecken und auch am Leben zu erhalten. Erste Hürde: Wieso geht da nichts? Sie sind die Mutter von Lisa, Ihrer dreijährigen Tochter. Am Nachmittag gehen Sie mit Lisa in den Park. Dort hat es einen großen Sandkasten. Ein paar Kinder sind schon da. Sie spielen mit Plastikautos und wühlen mit ihren Händen und Füßen im Sand herum. Lisa gesellt sich hinzu. Sie hören, wie Lisa mit den anderen Kindern abmacht, eine große Burg zu bauen. Das weckt Ihr Interesse. Aufmerksam schauen Sie zu und fragen sich, wie die Kinder das wohl anstellen werden. Die Kinder beginnen noch lebhafter im Sand herumzuwühlen. Aber hat ein Kind mal einen etwas größeren Haufen aufgetürmt, zerwühlt ihn schon das nächste. Belustigt stellen Sie nach einer Viertelstunde fest, dass die Kinder beim Bau ihrer großen Burg noch keinen Schritt vorangekommen sind. Das Problem: Im Prinzip ist alles vorhanden, damit eine Burg gebaut werden kann. Und wenn Sie oft genug an verschiedenen Tagen vorbeikommen und die gleiche Situation mit dem Sandkasten und den spielenden Kindern antreffen würden, würde sicher auch mal eine Burg dabei entstehen. Aber heute wohl nicht. 52

Die Lösung für die erste Hürde: Ein Katalysator, der einen Unterschied macht. Sie sehen noch, wie jemand einen Plastikeimer in den Sandkasten wirft, als plötzlich eine Freundin auf Sie zukommt und Sie in ein Gespräch verwickelt. Als die Freundin wieder gegangen ist, schauen Sie auf den Sandkasten. Mit Erstaunen stellen Sie fest: In der Zwischenzeit haben die Kinder tatsächlich eine schöne große Burg gebaut. Beim Nachhauseweg erzählt Ihnen Lisa in den buntesten Farben, wie sie die Burg gebaut haben. Mit dem Eimer wäre alles plötzlich ganz einfach gegangen. Albert hätte ihn als erster mit Sand gefüllt und dann ganz schnell verkehrt auf den Boden gestellt. Wie er ihn dann langsam wieder aufgehoben hätte, wäre da auf einmal ein schöner Turm zum Vorschein gekommen. Alle hätten dann den Eimer haben wollen. «Hat das Spaß gemacht! Im Nu ist die schöne Burg entstanden. Gell Mami, morgen gehen wir wieder hin! Dann will ich ganz viele Burgen bauen!» Zweite Hürde: Gerade funktionierte es doch noch, wieso geht wieder nichts? Tags darauf nimmt Lisa ihren eigenen Plastikeimer mit in den Park. Einige Kinder sind schon da. Alle machen begeistert mit und nach fünf Minuten ist schon die erste Burg fertig. Auch für die zweite Burg brauchen sie nicht lange. Bei der dritten beginnt aber ein Kind zu weinen, weil es angeblich nie den Eimer haben darf. Wütend zerstört es die angefangene Burg. Die anderen Kinder bauen zwar nochmals eine neue Burg, aber irgendwie ist die Begeisterung weg. Lisa muss jetzt ganz allein die vierte Burg bauen, und die fünfte mag sie selbst schon gar nicht mehr beginnen. Wenn sich Lisa aber etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie so schnell nicht locker. Beim Nachhauseweg sagt sie Ihnen: «Aber morgen baue ich ganz bestimmt ganz, ganz viele Burgen!» Wie könnten Sie Ihrer Tochter dabei behilflich sein ohne selbst mitzubauen? Das Problem: Trotz des Einsatzes des Katalysators, des Eimers, verändert sich die Situation im Sandkasten mit der Zeit. Die Kinder werden streitsüchtig und behindern sich gegenseitig. Das Umfeld ermüdet. Eine Lösung für die zweite Hürde: Ein Metabolismus schafft Ausgleich. Sie beschließen, immer dann schlichtend einzugreifen, wenn Streit im Sandkasten ausbricht. Sie bezwecken damit einen Ausgleich, eine Art Stoffwechsel oder 53

«Metabolismus», mit dem Ziel «Streit» im Sandkasten durch «Kooperation» zu ersetzen. Dritte Hürde: Wieso reicht der Ausgleich nicht? Am nächsten Tag setzen Sie Ihr Vorhaben in die Praxis um. Jedes Mal, wenn Streit ausbricht, sprechen Sie mit den Kindern und versuchen so den Streit zu schlichten. Beim Nachhauseweg ist Lisa trotzdem nicht glücklich: «Danke Mami, dass Du uns geholfen hast. Es gab keinen Streit mehr. Aber die andern haben nach ein paar Burgen einfach aufgehört! Wie kann man sie bloß dazu bringen weiterzumachen?» Zuerst denken Sie, Lisa wird sich schon daran gewöhnen, dass sie mit ihren Freunden nicht stundenlang immer neue Burgen bauen kann. Da haben Sie aber die Hartnäckigkeit Ihrer Tochter unterschätzt. Auch nach mehreren Tagen spricht Sie immer noch von ihren «Sandburgen». Wie können Sie Lisa zum Geburtstag dazu eine große Freude machen? Das Problem: Trotz des Einsatzes des Katalysators, des Eimers, und trotz Ihres Einsatzes der Streitschlichtung, eines ersten Metabolismus‘, ist die Situation im Sandkasten noch unstabil. Auch ohne Streit vergeht den Kindern mit der Zeit die Lust am Burgenbauen. Das Umfeld ermüdet immer noch. Die Lösung für die dritte Hürde: Ist der Metabolismus mächtig genug, führt er zur Emergenz einer stabilen Struktur. In Lisas Kindergarten ist es üblich, dass sich Geburtstagskinder eigene Spiele ausdenken dürfen. Sie überraschen ihre Tochter mit folgender Idee: «Frag doch deine Kindergärtnerin, ob ihr nicht alle an deinem Geburtstag in den Park gehen dürft! Du kannst ja dann immer im Sandkasten bleiben und dir deine Spielkameraden aussuchen. Wenn einige müde werden, können diese zurück zu den Spielen mit der Kindergärtnerin und andere kommen zu dir!» Lisa ist sofort begeistert von der Idee und so wird’s dann auch gemacht. Im Sandkasten herrscht zwar dauernd große Geschäftigkeit und ein reges Kommen und Gehen. Aber mit Erstaunen stellen Sie fest, dass sich dennoch – übers Ganze gesehen – eine stabile und robuste Situation um den Sandkasten herum herausbildet. Immer ist Lisa mit zwei anderen Kindern im Sandkasten. Ihr Eimer wird von einer Hand zur anderen gereicht und schnell entstehen tolle Sandburgen. Wenn ein Kind genug hat, 54

geht es raus und ein anderes aus der Klasse kommt herein. Eine schöne Ordnung mit einer heiteren Stimmung entsteht, die sich im Sandkasten und rasch auch im ganzen Park verbreitet. «Schau Mami», sagt Ihnen eine überglückliche Lisa beim Nachhauseweg, «wie viele Burgen wir heute gebaut haben!», und zeigt auf ihre beiden Hände, deren Finger sie abwechslungsweise spreizt und wieder zur Faust zusammenballt und wieder spreizt. Die Problemlösung: Es hätte durchaus sein können, dass Sie schon mit Ihrem ersten Eingreifen, der Streitschlichtung, einen durchschlagenden Erfolg erzielt hätten. Das hätten Sie daran erkannt, dass das Umfeld im Sandkasten stabil geblieben wäre und immer wieder von Neuem und im gleichen Takt Burgen entstanden wären. Das war aber nicht der Fall. Erst mit der zweiten Idee kam der Erfolg. Was bedeutet das? Die Emergenz eines stabilen Umfelds hat keinen eigenen Code, nach welchem man vorgehen kann. Das Einzige, was Sie tun können, ist, zusätzliche andere Metabolismen und Ausgleichsmechanismen auszuprobieren. Sobald der Metabolismus mächtig genug ist, stellt sich ein stabilisiertes Umfeld wie von selbst, eben emergent, ein. Versuchen wir jetzt das Prinzip zu erfassen, wie es dazu kommt, dass etwas ganz leicht wird und immer wieder geht und immer wieder geht. Und wie man etwas mühelos ins Leben rufen und am Leben erhalten kann, das uns wünschenswert erscheint. Nachdem wir festgestellt hatten, dass im Umfeld des Sandkastens im Prinzip alle notwendigen Bestandteile für den Bau einer Burg vorhanden waren, nämlich Sand, spielende Kinder und ihr Wille eine Burg zu bauen, waren es drei unterschiedliche Komponenten, die zusammenkommen mussten, damit mühelos und in einem fort Sandburgen entstanden: Der Katalysator, der im Umfeld einen Unterschied macht (Eimer), der Metabolismus (Streitschlichtung und Austausch von müden Kindern) und die emergente Struktur (Zusammenspiel aller Komponenten). Wie wir gleich sehen werden, sind auch «Metabolismus» und die «emergente Struktur» Katalysatoren. Es waren also drei unterschiedlich operierende Katalysatoren, die aus diesem Umfeld eine regelrechte «Sandburgfabrik» machten. Alle diese drei Katalysatoren unterscheiden sich grundlegend in ihrer Funktionsweise. Katalysator 1 operiert im Umfeld direkt. Es braucht etwas, das in diesem Umfeld einen so starken Unterschied macht, dass tatsächlich binnen kurzer Zeit eine Burg entsteht: den Plastikeimer. 55

Sie verifizieren leicht, dass der Plastikeimer alle drei Katalysatoreigenschaften besitzt: 1) Eine Burg kann auch ohne Eimer entstehen. 2) Kommt der Eimer ins Umfeld der spielenden Kinder dazu, beschleunigt sich der Bau der Burg ganz erheblich. 3) Der Eimer verbraucht sich nicht beim Burgenbau. Katalysator 2 operiert indirekt am Umfeld. Als Metabolismus versucht er Veränderungen des Umfelds auszugleichen. Wie schnell ein Eimer eine Sandburg produzieren kann, kommt auf den Zustand an, in welchem er das Umfeld vorfindet. Wenn die Kinder kooperieren und munter sind, geht das ganz einfach. Sind sie aber streitsüchtig und müde, dann geht es nicht. Bereits der erste Metabolismus, die Streitschlichtung, hatte einen gewissen Erfolg, bremste die «Ermüdung» des Umfelds aber lediglich ab. Auch hier verifizieren Sie leicht, dass dieser Streitschlicht-Metabolismus alle drei Katalysatoreigenschaften besitzt: 1) Eine Burg kann auch ohne Streitschlichtung entstehen. 2) Kommt die Streitschlichtung ins Umfeld der spielenden Kinder dazu, beschleunigt sich der Bau der Burg wieder. 3) Die Streitschlichtung verbraucht sich nicht. Wenn Sie einmal wissen, wie ein Streit zu schlichten ist, können Sie dieses Wissen immer wieder neu anwenden. Katalysator 3 operiert als stabiles Zusammenspiel verschiedener Komponenten im Umfeld. Die Emergenz einer stabilen (Sub-)Struktur im Umfeld garantiert, dass im Prinzip endlos Sandburgen entstehen. Natürlich ist diese Emergenz stark abhängig davon, welcher Metabolismus auf das Umfeld einwirkt und ob dieser genügend mächtig ist. Dennoch arbeitet die emergente Struktur ganz anders als der Metabolismus. Während der Metabolismus immer nur gewisse Teilermüdungserscheinungen im Umfeld ausgleicht (müde Kinder gehen raus und muntere kommen rein), operiert die Emergenz als Zusammenspiel vieler Komponenten in einer stabilen Substruktur: Sind alle wichtigen Bestandteile für das Sandkastenspiel vorhanden und die Spielregeln auf die Kinder gut abgestimmt, organisieren sich die Kinder untereinander selbst, damit auf optimale Weise schöne Burgen entstehen. 56

Auch die emergente Substruktur besitzt alle drei Katalysatoreigenschaften: 1) Eine Burg kann auch ohne stabile Substruktur im Umfeld entstehen. 2) Emergiert eine stabile Substruktur, beschleunigt sich der Bau der Burg zu einer wiederkehrenden Endlostätigkeit. 3) Gerade weil die emergente Substruktur stabil ist, verbraucht sich nicht. Sandburgen werden immer weiter produziert. Die Kopplung von Katalysator 1 und 2 Ein entscheidendes Merkmal für den Erfolg von Lisas Sandburgenkönigreich war das richtige Maß des Eingreifens von außen. Wie stark soll eingegriffen werden? Wie muss der Metabolismus eingestellt sein? Ist er zu schwach, bremst er die Ermüdung lediglich ab. Ist er zu stark – die Kinder werden beispielsweise aufgedreht –, droht dem System anderes Ungemach. Es kommt also auf das richtige Maß an. Um dieses Maß zu finden, muss eine Einschätzung der Ermüdung des Umfelds vorgenommen werden. Wie kommt man zu dieser Einschätzung? Beobachtungen und Messungen, die direkt am Umfeld (Sichten von müden Kindern, usw.) vorgenommen werden, liefern eine solche Einschätzung. Im Allgemeinen können aber solche separaten Messungen am Umfeld gar nicht vorgenommen werden. Um beim Sandburgenbeispiel zu bleiben: Dies ist dann der Fall, wenn Sie nicht direkt feststellen können, wie müde die Kinder sind, sondern zum Beispiel nur sehen, wie oft der Plastikeimer benutzt wird. Sie sehen dann nur, wie stark Katalysator 1 beansprucht wird. Aber auch dies verhilft Ihnen zu einer Einschätzung der Ermüdung: Durch je mehr Hände der Plastikeimer geht, desto mehr Burgen werden gebaut, desto stärker ermüdet auch das Umfeld. Auch so können Sie das richtige Maß für Katalysator 2, den Metabolismus, finden: Sie stellen die Intensität von Katalysator 2 ins Verhältnis zur Intensität von Katalysator 1. Wird der Eimer stärker genutzt, greift der Metabolismus bremsend ein. Wird der Eimer weniger oft herumgereicht, greift er fördernd ein. Katalysator 1 (Eimer) wird mit Katalysator 2 (Metabolismus) gekoppelt. Ist diese Kopplung richtig eingestellt, entsteht emergent eine stabile Substruktur, die am Sandburgenkönigreich endlos weiter baut. Das Konzept der Kopplung von zwei (vor-emergenten) Katalysatoren wird von vielen physikalischen Apparaturen benutzt, deren Ziel ein Endlosprozess ist. Eine dieser Apparaturen wollen wir etwas genauer untersuchen: den Thermostat. 57

Lisa baut einen Thermostat. Lisa, Ihre imaginäre Tochter ist mittlerweile erwachsen geworden. Sie will Ingenieurin werden. Dazu muss sie eine Prüfung bestehen: den Bau eines funktionstüchtigen Thermostats. Lisas Professorin erklärt: «Das Prinzip des Wärmereglers ist ganz einfach. Die Temperatur wird gemessen. Ist sie zu tief, muss dem System Energie in Form von Wärme zugefügt werden. Ist sie zu hoch, wird dem System Wärmeenergie entzogen.» Lisa versucht, einen solchen Wärmeregler zu bauen. Das System umschließt den Raum eines einfachen Kastens, der mit Wasser gefüllt ist. Lisa will die Temperatur auf 36 Grad Körpertemperatur konstant halten. Beim ersten Versuch beginnt das Wasser nach einer Zeit zu kochen. Lisa ist verwundert. Sie ändert etwas an der Motorik des Reglers. Beim zweiten Versuch gefriert das Wasser. Das stresst Lisa jetzt: «Was ist schiefgelaufen?», fragt sie die Professorin. «Es muss an der Koppelung des Wärmeausgleichs mit der Messtemperatur liegen,» sagt diese, «versuch die Koppelung anders einzustellen!» Endlich schafft es Lisa, die Messdifferenz zur Zieltemperatur eins zu eins mit der Wärmezu- oder -abfuhr zu koppeln. Ist die Temperatur unter 36 Grad und fallend, fügt sie Wärme hinzu: Sie heizt umso mehr, je stärker die Temperatur fällt. Umgekehrt, ist zum Beispiel die Temperatur über 36 Grad und weiter steigend, dann kühlt sie umso mehr, je stärker die Temperatur ansteigt. Das Wasser bleibt nach einer Weile auf Körpertemperatur. Lisa ist glücklich. Sie hat die Prüfung bestanden. Lisa spielt zwar jetzt nicht mehr im Sandkasten, aber die Situation des Thermostats ist mit derjenigen im Sandkasten durchaus vergleichbar: Umfeld: Statt des Sandkastens hat Lisa einen mit Wasser gefüllten Raum. Wünschbarer Prozess: Statt eine Sandburg zu bauen, will sie die Zieltemperatur erreichen. Katalysator 1: Statt eines Plastikeimers hat sie einen Temperaturmessapparat zur Verfügung. Katalysator 2: Als Metabolismus fungiert eine Wärmequelle, die mit dem Messapparat gekoppelt ist. Katalysator 3: Ist die Kopplung zwischen Messapparat und Wärmequelle richtig eingestellt und ist die Wärmequelle stark genug, damit sie Schwankungen der Zimmertemperatur auch wirklich ausgleichen kann, entsteht emergent eine konstante Struktur im Raum, ein geordnetes Zusammenspiel von Messapparat 58

und Wärmequelle mit harmonischen Temperaturschwankungen um die Zieltemperatur. Das Entscheidende beim Thermostat ist die Kopplung zwischen den beiden Katalysatoren Messapparat und Wärmequelle. Schon beim Sandkasten war die richtige Kopplung zwischen Katalysator 1 (Eimer) und Katalysator 2 (Streitschlichtung und weitere Ausgleichsmaßnahmen) ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Emergenz von Katalysator 3, der stabilen Substruktur (der eigentlichen Sandburgenfabrik). Beim Sandkasten wie beim Thermostat operieren alle drei Katalysatoren völlig unterschiedlich: Katalysator 1 operiert anders als Katalysator 2 (der Plastikeimer funktioniert anders als die Streitschlichtung, die Temperaturmessung anders als die Wärmequelle), und Katalysator 3 operiert nochmals völlig anders: Durch das richtige Zusammenwirken von Katalysator 1 und 2 entsteht sowohl im Sandkasten als auch beim Thermostat eine völlig neuartige stabile Substruktur, die den jeweilig gewünschten Prozess im Prinzip endgültig perpetuiert. Die Analogie des geistigen und des physikalischen Raums Für die Tatsache, dass es gerade drei völlig unterschiedlich operierende Katalysatoren sind, die den gewünschten Prozess am Leben erhalten, gibt es eine sehr anschauliche Vorstellung aus der Physik: den dreidimensionalen Raum. Stellen Sie sich dazu vor, jeder der drei Katalysatoren operiere unabhängig von den anderen entlang einer eigenen Raumdimension. Vergegenwärtigen Sie sich dazu zum Beispiel die Ecke eines Hauses, das an der Kreuzung zwischen Land- und Stadtstraße gebaut ist. Die Landstraße ist die Domäne von Katalysator 1, im Sandkastenbeispiel von unserem Plastikeimer. Die Stadtstraße wird von Katalysator 2, dem Metabolismus, in Beschlag genommen. Die senkrechte Hausecke gehört Katalysator 3, der emergenten Struktur, die im Sandkastenbeispiel für die eigentliche «Sandburgenfabrik» steht. Stellen Sie sich in dieser dreidimensionalen Anordnung folgende Bewegung vor: Immer, wenn Katalysator 3, die «Sandburgenfabrik», eine neue Sandburg erstellt hat, rückt dieser ein Stück weiter an der Hausecke nach oben. Da Katalysator 3 sich nicht verbraucht, kann er diese Bewegung im Prinzip endlos weiterführen und sich jedes Mal nach getaner Arbeit an sich selbst anschließen, einen immer längeren Stapel von imaginären «Sandburgenfabriken» bildend. Das gesamte Bild, das dabei entsteht, ist ein sich dreidimensional ausbreitender Stapel von 59

imaginären Katalysatoren, die neben ihrer Bewegung nichts anderes tun, als unaufhörlich «Sandburgen» im immer gleichen Takt zu produzieren. Dieses Bild der Aufspannung eines dreidimensionalen Lösungsraumes für unser Problem – wie ein wünschbarer Prozess am Leben erhalten werden kann – bringt uns auf folgenden Vernetzungsgedanken. Für die Lösung eines «geistigen» Problems, zum Beispiel wie Lisa zu ihren Sandburgen kommt, sind wir auf ein biologisches Muster gestoßen: Katalysatoren, die in drei Dimensionen operieren. Lässt sich dieser Gedanke noch weiterspinnen? Gibt es dazu gar ein noch grundlegenderes Muster? Ein Muster, das wir vielleicht in der elementarsten Physik des dreidimensionalen Raums wiederfinden? Physiker kennen im Wesentlichen einen wichtigen physikalischen Prozess, der sich gleichmäßig im dreidimensionalen Raum ausbreitet und ganz von selbst endlos weiterläuft: die Ausbreitung von Licht. Kann es sein, dass die Ausbreitung von Licht nach dem gleichen Muster abläuft, wie Lisa zu ihren Sandburgen kommt? Kann es sein, dass der Geist das gleiche Muster verwendet, um einen von ihm gewünschten Prozess zum Leben zu erwecken und am Leben zu erhalten, wie Licht, das sich im Raum ausbreitet? Wenn das so wäre, dann wären wir auf das zentralste verbindende Muster von Geist und Natur gestoßen, welches es überhaupt gäbe: Der Geist schafft sich einen Lösungsraum nach dem gleichen Muster wie sich Licht in der Natur ausbreitet. Im Moment trauen wir uns noch nicht zu einzusehen, ob diese Analogie mit der Lichtausbreitung sogar bis ins Detail stimmig ist. Wir sind ja keine Experten in Elektrodynamik. Das müssen wir auch nicht werden. Aber mit einer klitzekleinen Anstrengung werden wir gleich in der Lage sein diese Verbindung herzustellen. Betrachten wir dazu wieder den Thermostat von vorhin. Dessen Prinzip kennen wir ja bereits. Haben wir aber den Thermostat begriffen, ist auch die Lichtausbreitung nicht mehr schwer. Beim Thermostat war Katalysator 1 die Temperaturmessung und Katalysator 2 die Wärmequelle, welche beide gekoppelt sind. Bei der Lichtausbreitung haben wir es mit einer elektromagnetischen Welle zu tun. Es gibt also ein elektrisches Feld und ein magnetisches Feld, die sich beide gegenseitig beeinflussen. Die Rolle von Katalysator 1 übernimmt hier die Veränderung des elektrischen Felds und die Rolle von Katalysator 2 die Änderung des magnetischen Felds. Beim Thermostat war Katalysator 1 mit Katalysator 2 gekoppelt: die Temperaturmessung war mit der Wärmequelle gekoppelt. Vom Prinzip her völlig gleich verhält es sich bei der Lichtausbreitung: Die 60

Änderung des elektrischen Felds ist immer eins zu eins mit der Änderung des magnetischen Felds gekoppelt. [11] Jede Änderung im elektrischen Feld wird durch eine Änderung im magnetischen Feld ausgeglichen und umgekehrt. Dabei entsteht eine stabil fortschreitende Welle: die elektromagnetische Welle. Die dreidimensionale Ausbreitung des Lichts lässt sich jetzt folgendermaßen veranschaulichen: Die beiden Feldstärkevektoren – das elektrische und das magnetische Feld – stehen immer senkrecht aufeinander. Und die aus der Kopplung dieser beiden Felder (emergent) entstehende elektromagnetische Welle breitet sich entlang einer Achse aus, die wieder senkrecht auf diesen beiden steht. Fig. 1 [12] Wieder haben wir eine vergleichbare Katalysatorkonstellation, wie wir sie schon bei Lisas «Sandkasten» oder beim «Thermostat» vorgefunden hatten: Umfeld: Statt des Sandkastenumfelds oder der Thermostatsituation haben wir eine Konstellation von elektrischen und magnetischen Ladungen. Wünschbarer Prozess: Statt den Sandburgenbau oder die Bewegung hin zur Zieltemperatur haben wir eine ganz einfache physikalische Wirkung, die erzielt werden soll. Katalysator 1: Statt des Plastikeimers oder der Temperaturmessung haben wir die Änderung der elektrischen Feldstärke. 61

Katalysator 2 (Metabolismus): Statt der Streitschlichtung oder der Wärmezufuhr haben wir die Änderung der magnetischen Feldstärke. Katalysator 3 (Emergenz): Statt der stabil funktionierenden Sandburgenfabrik oder der harmonischen Temperaturschwankungen um die Zieltemperatur haben wir eine elektromagnetische Welle, die entlang einer senkrecht zur elektrischen und magnetischen Feldstärke ausbreitenden Raumdimension entsteht. Diese Analogie zur Physik des Lichts ließe sich noch weiter vertiefen, wir wollen es hier aber dabei belassen. Nur auf eine ganz bestimmte Eigenschaft dieser Lichtausbreitungsanalogie möchte ich Sie hier noch hinweisen. Auf den Umstand nämlich, dass für ein Photon, also ein Lichtpartikel, das wir uns auf der elektromagnetischen Welle reitend vorstellen können, die Zeit vollständig verschwindet. Dem berühmten deutschen Physiker Albert Einstein (1879-1955), auf welchen diese Erkenntnis zurückgeht, wird nachgesagt, er hätte sich schon als kleiner Junge vorgestellt, wie es denn wäre, auf einem Lichtstrahl reitend durch das Weltall fliegen zu können. Als Erwachsener hat er 1905 mit seiner speziellen Relativitätstheorie [13] die Antwort darauf gefunden: Für eine Beobachterin, die mit Lichtgeschwindigkeit fliegt, würde die Zeit stehen bleiben, sie würde für sie vollständig verschwinden. Gut möglich, dass Sie schon von diesen sonderbaren Zeitdehnungs- und Kompressionseigenschaften bewegter physikalischer Teilchen gehört haben, wie sie die spezielle Relativitätstheorie voraussagt. Aus dieser Theorie folgt, dass die Zeit umso langsamer vergeht, je schneller wir uns fortbewegen. Würde eine Raumfahrerin zum Beispiel einen, wenige Lichtjahre entfernten Stern aufsuchen und würde ihr Raumschiff dazu nahezu Lichtgeschwindigkeit erreichen, dann wäre sie bei der Rückkehr zur Erde nur einige Jahre gealtert. Die Erde würde sie aber kaum wiedererkennen, da diese Jahrzehnte älter geworden wäre. Könnte die Raumfahrerin die volle Lichtgeschwindigkeit erreichen, würde für sie die Zeit gänzlich stillstehen. (Aus der speziellen Relativitätstheorie folgt jedoch, dass es für massive Teilchen – wie Raumfahrer es sind – unmöglich ist, die volle Lichtgeschwindigkeit zu erreichen. Für eine solch starke Beschleunigung würde unendlich viel Energie benötigt, die es natürlich nicht gibt. Masselose Teilchen, wie Lichtpartikel, erreichen jedoch sehr wohl Lichtgeschwindigkeit, was bedeutet, dass für sie die Zeit stillsteht.) Wie gesagt, möglicherweise haben Sie von diesen sonderbaren Erkenntnissen aus der Physik schon 62

gehört. Vielleicht dachten Sie sich dabei: Das mag für die Raumfahrt oder irgendeine andere Spitzentechnologie relevant sein, es hat aber bestimmt nichts mit mir direkt zu tun, da ich ohnehin nie auf Lichtstrahlen durchs Weltall reisen werde! Mit den hier gemachten Analogien wird dieser Gedanke aber schon viel greifbarer für uns. Schon in Kapitel 4 hatten wir Situationen beschrieben, bei denen unsere Zeit im Flug vergeht. Situationen, in denen wir uns so stark mit unserer Aufgabe identifizieren, dass wir eins werden mit uns und der Welt. Und dabei die Zeit komplett verschwindet. Auch unsere dreijährige Lisa ist in diese Situation geraten. Mit der Analogie zum Lichtstrahl und den drei Katalysatoren hatten wir für Lisa einen Plan entwickelt, wie sie es anstellen konnte, in ihren gewünschten Zustand zu gelangen: Zuerst sich auf die Suche nach einem Katalysator im Umfeld machen (Plastikeimer). Dann einem genug mächtigen Metabolismus suchen (die Hilfe der Mutter). Diesen solange verstärken, bis sich Emergenz (ein stabiles Umfeld) einstellt. Wenn Lisa dieses Ziel erreicht hat, vergeht ihre Zeit im Flug. Sie nimmt sie nicht mehr wahr. Die Zeit verschwindet. Da sie – ganz gleich wie das Lichtpartikel auf der elektromagnetischen Welle – vollständig mit sich und der Welt eins geworden ist und sich so ihren innigsten Wunsch erfüllen kann: Ihr Geist hat sich seinen eigenen Raum zum Leben erschaffen … … bis sie wieder abrupt aus diesem zeitvergessenen Zustand herausgerissen wird: Sie muss dringend pinkeln oder hat Durst und wird von ihrer Mutter nachhause gebracht. Lisa wird wieder absorbiert von einer anderen Realität, und wird so von der Zeit zurückgeholt in ihre gewohnte Lebensumgebung hinein. Es ergeht ihr gleich, wie es auch Lichtstrahlen ergeht, die – nach ihrem Ritt durch die Weiten des Weltalls – urplötzlich an einen schwarzen Körper stoßen, der sie vollständig absorbiert, sie so aus ihrem «zeitvergessenen» Zustand herausreißt und «auf den Boden der Realität», d.h. die normale Wechselwirkung mit anderen Teilchen, zurückholt. Zusammenfassung Kapitel 5 Wie kommt es dazu, dass uns etwas gelingt? Und wieder gelingt? Wie wird ein für uns (im Alltag) wünschbarer Prozess ins Leben gerufen und erhalten? Wir versuchen dazu von den 63

kleinsten Lebewesen, den biologischen Zellen, zu lernen. Diese setzen zu diesem Zweck Biokatalysatoren ein. Katalysatoren zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus: Erstens: In einem Umfeld läuft bereits ein Prozess auch ohne den Katalysator ab. Zweitens: Wird der Katalysator dem Umfeld zugefügt, dann beschleunigt sich dieser Prozess. Drittens: Der Katalysator verbraucht sich nicht, während er den Prozess beschleunigt. An einem Beispiel mit Kindern, die in einem Sandkasten spielen, erkennen wir, dass es drei grundlegend verschieden operierende Katalysatoren braucht, um einen Prozess ins Leben zu rufen und zu erhalten. Die Kinder möchten zusammen eine Sandburg bauen. Der erste Katalysator (ein Plastikeimer) operiert im Umfeld direkt. Er ruft quasi den Prozess (des Sandburgenbaus) ins Leben. Der zweite Katalysator (ein Ausgleich für müde werdende Kinder) wirkt indirekt am Umfeld. Als Metabolismus schafft er einen Ausgleich zu Ermüdungserscheinungen des Umfelds. Ist der Metabolismus stark genug, entsteht der dritte Katalysator (die harmonische Kooperation aller Kinder) emergent als stabile Substruktur. Diese bildet sich als Zusammenspiel aller Komponenten im Umfeld aus und hält den Prozess im Prinzip endlos am Leben. Für die Tatsache, dass es gerade drei unterschiedlich operierende Katalysatoren sind, die den gewünschten Prozess am Leben erhalten, gibt es eine anschauliche Vorstellung aus der Physik: den dreidimensionalen Raum. Wir stellen uns dabei vor: Alle drei Katalysatoren operieren entlang einer eigenen Raumdimension, die alle senkrecht aufeinander stehen. Zu diesem imaginären Lösungsraum können wir jetzt stimmige Analogien zur Lichtausbreitung im dreidimensionalen Raum bilden. Wir erkennen das zentralste Verbindungsmuster zwischen Geist und Natur: Der Geist erschafft sich einen Lösungsraum nach dem gleichen Muster wie sich in der Natur Licht ausbreitet. 64

Kapitel 6 Wie kommt Ordnung in unser Leben? Einfach mal in den «Modus Esel» schalten «Ab diesen Zeitpunkt ging es langsam wieder bergauf mit mir!» Thomas – nennen wir ihn hier so – war sichtlich froh, seine Geschichte endlich jemandem erzählt zu haben. Der eigentliche Grund für Thomas‘ Depression war wohl der überraschende Tod seines Vaters gewesen. Einige Jahre trug er diese mit sich herum, doch plötzlich verliebte er sich in Sabine. «Ich wollte Pläne schmieden für unsere gemeinsame Zukunft, ihr positiv entgegensehen. Doch die Depression zog mich immer wieder hinab.» Dann, eines Tages während seiner Sommerferien war Sabine für ein paar Tage geschäftlich ins Ausland vereist, und Thomas also allein in ihrer Wohnung. «Ich war so naiv, Magnus», Thomas‘ trauriger und zugleich auch fröhlicher Gesichtsausdruck bei dieser Erzählung bleibt mir unvergesslich, «ich dachte, ich könnte die Zeit von Sabines Abwesenheit dazu nutzen, mir meine Depression einfach ‚wegzudenken‘. Ich sagte mir: Ich gehe jetzt nicht aus dieser Wohnung hinaus, bevor diese dumme Depression nicht weg ist! Den ganzen Tag saß ich da und wollte sie mit meinen schieren Gedanken ‚wegzwingen‘. Als auch nach drei Tagen nichts passiert war, plagten mich wieder meine altbekannten Gefühle des Scheiterns. Ich war noch niedergeschlagener als vorher. Schon wollte ich aufgeben, als ich einen letzten Einfall dazu hatte.» «Welchen?» «Ich dachte, ich könnte ja mal Sabine fragen, was sie dazu meint!» «Liegt eigentlich auf der Hand, oder?» «Ja Magnus, aber sonderbar, schon bei diesem Gedanken allein durchströmte eine große Erleichterung meinen ganzen Körper. Eine große Anspannung viel von mir ab. Die Depression war zwar auch nachher noch lange und zuweilen heftig da, aber wenn ich zurückblicke, war es genau dieser Zeitpunkt, ab welchem es langsam wieder aufwärts ging mit mir.» «Und? Hast du mit Sabine darüber gesprochen?» 65

«Nein, ich konnte mit Sabine nicht darüber reden. Sie war wohl nicht die Richtige für mich. Wir trennten uns bald darauf.» «Dann verstehe ich nicht: Was war es denn eigentlich, das dir diese Erleichterung brachte?» «Es war das erste Mal, als ich ernsthaft in Betracht zog, mich in dieser Sache dem Rat einer anderen ‚auszuliefern‘ – statt immer alles selbst beherrschen und ,erzwingen‘ zu müssen.» Die Schwierigkeit, mit welcher Thomas hier zu kämpfen hatte: der überraschende Tod seines Vaters. Kronos‘ Sense hatte damals völlig unerwartet zugeschlagen. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Von einem unvorhergesehenen Schicksalsschlag wollte er sich nicht mehr überraschen lassen. Daher seine fixe Idee, alles beherrschen und «erzwingen» zu müssen. Mit dem Resultat, dass er mit jeder Erfahrung des Scheiterns diesbezüglich nur noch stärker in die Depression zu versinken drohte. Erleichterung brachte Thomas die Einsicht, nicht alles selbst beherrschen zu müssen. Die Einsicht, dass auch andere einen erheblichen Beitrag dazu leisten, ob es ihm gut ging oder nicht. Dieser Beitrag war für ihn nicht berechenbar, er musste ihn erfragen. Hier war er ausgeliefert, aber gleichzeitig befreite ihn diese Möglichkeit auch von der Last, alles selbst kontrollieren zu müssen. Thomas wollte seine Depression weghaben und stattdessen Pläne für seine Zukunft schmieden. Er wollte wieder Ordnung in sein aus dem Lot geratenes Leben bringen. Vergleichen wir dies mit einer anderen, durchaus ähnlich gelagerten Geschichte einer «Persönlichkeitsentwicklung», um zu sehen, wie man das möglicherweise schaffen kann. Mit der Technik unseres mittlerweile vertrauten Perspektivenwechsels fragen wir dabei: Gibt es – auch aus früheren Kapiteln bekannte – Ordnungsmuster aus der Natur, die uns ein besseres Verständnis dafür liefern, wie wir erfolgreich Ordnung in unser Leben bringen können? Andreas [14] ist ein erfolgreicher Industriemanager. Er hat von seiner Ärztin gerade die Diagnose «Burnout» erhalten und wird in eine Klinik eingewiesen. Burnout wird oft begleitet durch starke Depressionszustände. Um Andreas etwas besser kennenzulernen, lassen wir ihn kurz selbst sprechen: 66

«In den ersten Wochen nach meinem Eintritt in die Klinik signalisierten mir meine Gefühle und mein Verstand, dass die Therapien und die Skills-Übungen [15] wohl bei anderen Patienten nützen mögen, aber nicht bei mir. Ich beteiligte mich daher nur passiv und wies innerlich alles ab, ich schlenderte sprichwörtlich dahin. Dass dieses Verhalten Teil meiner Krankheit war, habe ich zu diesem Zeitpunkt nicht erkannt. Eines Tages saß ich in der Cafeteria, als ein anderer Patient den Klinik-Esel mit einem Sack auf dem Rücken draußen vorbeiführte. Der Esel folgte ihm, einfach so, ohne zu hinterfragen. Diese Beobachtung löste bei mir eine zwar im Nachhinein banale, für meine Zukunft jedoch sehr entscheidende Einsicht aus. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Der Esel wusste nicht, wohin es ging und was er mit dem Sack auf seinem Rücken sollte. Er vertraute seinem Führer und ging einfach mit. Ich fragte mich plötzlich, wieso ich eigentlich die Experten und Therapien hinterfragte. Bei körperlichen Problemen vertraute ich ja auch meinem Arzt. Selbst ich, als Führungskraft in einem Industrieunternehmen, war immer ,allergisch‘ auf die selbsternannten Experten. ,Das ist es! Vertraue auch du den Therapeuten und tu einfach, tu es regelmäßig, was sie empfehlen und halte durch! Sie haben die Erfahrung, was hilft, nicht du!‘, sagte ich mir. Trotz Depression spürte ich, dass durch dieses Tu-es-einfach die Therapien langsam Wirkung zeigten.» Erinnern wir uns an die beiden Zeitgestalten Kronos und Kairos aus Kapitel 4. Sowohl Kronos als auch Kairos repräsentieren je zwei Begegnungsarten mit der Welt. Die zwei Extremformen von Kronos: das abrupte Zuschlagen mit der Sense und das gemächliche Mähen einer Wiese – auf die eine Art erfahren wir die Welt als völlig unberechenbar, auf die andere haben wir sie maximal unter Kontrolle. Kairos hingegen steht für Möglichkeiten zwischen den beiden Kronos-Extremen, zwischen dem abrupten Sensenschlag – der völligen Unberechenbarkeit – und dem Mähen – dem völligen Beherrschen. Es gibt einen optimalen Zeitpunkt, den wir nutzen oder auch verpassen können. Dieser ist halb berechenbar, halb nicht. Das eröffnet uns Gestaltungsmöglichkeiten. Wir selbst können mit dazu beitragen, Kairos am Schopf zu packen. Auch Kairos können wir auf zwei verschiedene Arten sehen: Von vorne gesehen repräsentiert er einen hoffnungsvollen Grundzustand, die Chance, die sich 67

immer schon anbahnt. Von hinten repräsentiert er einen niedergeschlagenen, depressiven Grundzustand, die Chance, die immer schon verpasst ist. Von Thomas wissen wir, dass ihm Kronos‘ abrupter Sensenschlag zu schaffen macht – der unerwartete Tod seines Vaters. Er sieht zwar seine Gestaltungsmöglichkeiten, er hat Pläne für sein Leben, er sieht Kairos. Aber viel zu selten von vorn, viel zu oft von hinten, er verfällt schnell in einen depressiven Grundzustand. Andreas hingegen macht weniger ein einzelner abrupter Sensenschlag von Kronos zu schaffen, als vielmehr die vielen «berechenbaren» Mähbewegungen – das Management seiner Industrieprojekte. Er beherrscht diese zwar. Aber sie laugen ihn aus. Er sehnt sich nach einem Kairos, der mit neuen Chancen lockt. Hat aber aus irgendeinem Grund den Glauben an diese neuen Möglichkeiten verloren: Er bleibt in seinen «Mähbewegungen» gefangen, die ihn zunehmend zermürben. Er denkt: Kairos ist für mich schon vorbeigeflogen. Der erste Schritt, den beide machen – Thomas und Andreas – um aus ihrer unangenehmen Situation herauszukommen, ist die Anerkennung eines Dilemmas: des Unberechenbarkeits-Dilemmas. Nennen wir es in diesem Beispiel «Hengst-Esel- Dilemma». Möglichkeit eins, «Hengst sein»: Ich kann weiter machen wie bisher, im Bestreben alles vorauszusehen und berechnen zu müssen. Ich «liefere» mich der Welt nicht aus. Ich muss dann aber damit vorliebnehmen, was ich mir selbst zu bieten habe. Solange ich dabei in meiner – zuweilen auch unangenehmen – Situation verharre, werde ich aber nie wissen, ob eine Öffnung zur Welt hin nicht doch die bessere Alternative für mich gewesen wäre. Ich nehme dies bewusst in Kauf. Möglichkeit zwei, «in den Modus Esel schalten»: Ich lasse Einfluss von außen zu. Ganz bewusst auch mit offenem Ausgang. Diese Einstellung verlangt von mir Mut. Ich liefere mich einer unberechenbaren Unsicherheit aus. Dafür entlaste ich mich, für alles selbst zuständig zu sein. Dies birgt jedoch die Gefahr, dass meine Situation noch schlimmer werden kann, als sie bereits ist. Einem ähnlichen Dilemma sind wir schon einmal begegnet: in Kapitel 2. Der verliebte Leibniz geriet ebenfalls in eine Art Hengst-Esel-Zwickmühle. Er hätte den Mut aufbringen müssen und seine Angebetete, Sophie, fragen, ob sie seine Frau werden 68

will. Da hätte er aber auch mit einem Nein rechnen müssen. Er brachte den Mut nicht auf, also fragte er sie nicht. Und verspielte dabei die Möglichkeit je zu erfahren, ob sie nicht doch Ja gesagt hätte. Die Anerkennung dieses Dilemmas war damals schon die Basis für Leibniz‘ freie Entscheidung. Zuerst wollte er es ja irgendwie noch so hinbiegen, dass er auf seine Frage ein sicheres Ja bekommt. Als er merkte, dass dies nur durch Manipulation, also Einschränkung der Autonomie Sophies möglich gewesen wäre, rückte er dann rasch von seinem Vorhaben ab: Ihm wurde bewusst, dass ein manipuliertes Ja sowohl Sophie als auch ihn unglücklich gemacht hätte. Auch Thomas und Andreas stecken in dieser Hengst-Esel-Zwickmühle, in diesem Unberechenbarkeits-Dilemma: Wenn sie alles selbst kontrollieren möchten, wissen sie nicht, was die Welt ihnen sonst noch bieten könnte, würden sie offen auf sie zugehen. Aber wenn sie sich der Welt ausliefern, setzen sie sich einer unberechenbaren Unsicherheit aus mit der Möglichkeit, dass es ihnen noch schlechter geht. Thomas hat dieses Dilemma zum Zeitpunkt akzeptiert, als er das erste Mal ernsthaft in Erwägung zog, den Rat Sabines offen einzuholen. Er hat diesen Rat zwar nicht eingeholt, aber entscheidend für ihn war, endlich zu akzeptieren, dass es zwei autonome und freie Komponenten in der Frage seines Wohlbefindens gibt, er selbst und die Welt. Und weil er das akzeptiert hat, ging es ihm bereits besser. Auch Andreas hat einen solchen Schritt in der Klinik gemacht. Sich dabei sogar der Welt geöffnet und auf den «Modus Esel» geschalten. Jetzt konnten die Therapien seiner Ärzte langsam ihre Wirkung entfalten. Das erste ordnungsbildende Muster: die Anerkennung des Unberechenbarkeits-Dilemmas. Zu meinem Wohlergehen verbinden sich zwei komplementäre Komponenten: mein eigener Beitrag und der Beitrag der Welt. Ich anerkenne beide Beiträge als gegenseitig autonom, frei und deshalb unberechenbar. Ich bin in vieler Hinsicht frei, die Welt einzubeziehen oder nicht. Und die Welt ist dann ebenfalls frei, sie lässt sich von mir nicht vorschreiben, wie und ob sie mir bei Anfragen helfen will oder nicht. ∆ ������������������������������ ������������������������������ ������������ ������������������ ������������������������ × ∆ ������������������������������������������ ������������������ ������������������������ ≅ ������������������������������������������ℎ������������������, ������������������ ������������ ������������������ ������������ℎ������ 69

Die Unsicherheit, ob und wie ich auf die Welt zugehe, verbindet sich mit der Unsicherheit, wie die Welt antwortet und erzeugt so einen echten Unterschied, wie es mir geht. Bei Nicht-Anerkennung dieses Dilemmas gerate ich leicht in eine Negativspirale. Nicht- Anerkennung bedeutet: Ich möchte einerseits Sicherheit, die Welt auf exakt die Weise angehen zu können, die ich will, und andererseits auch Sicherheit, von der Welt exakt das zu bekommen, was ich von ihr will. Die Negativspirale bei diesem doppelten Sicherheitsstreben entsteht folgendermaßen: Meine Erwartung an mich und die Welt ist nicht mehr ergebnisoffen, mein Wohlergehen muss sich unbedingt einstellen – wenn es ausbleibt, erzeugt es ein Gefühl des Scheiterns, womit sich mein Zustand weiter verschlechtert, was mich dazu treibt, noch mehr in diese doppelte Sicherheit zu investieren, was ein Scheitern noch deprimierender macht, … usw. Dieses Unberechenbarkeits-Dilemma ist eigentlich – zumindest intuitiv – jedem wohlbekannt, der etwas Lebenserfahrung hat. Dass man dieses Dilemma auch formal darstellen kann, ist jedoch neu. Es brauchte das Genie eines Werner Heisenberg, um im frühen 20sten Jahrhundert in einem naturwissenschaftlichen Zusammenhang die formale Beschreibung dieses Dilemmas zu finden. Heisenberg musste auf der Suche nach der absoluten Berechenbarkeit physikalischer Prozesse anerkennen, dass es auch hier eine fundamentale Unschärfe, ein fundamentales Unberechenbarkeits-Dilemma gibt. Er ist dabei auf eine Ungleichung gestoßen, die heisenbergsche Unsicherheitsrelation: ∆������ × ∆������ ≥ ℎ Diese besagt, dass die Messung von Ort (������) und Impuls (������) kleinster physikalischer Teilchen jede Beobachterin vor ein Dilemma stellt. Beide Größen können nicht gleichzeitig exakt gemessen werden. Thomas und Andreas haben erkannt, dass ihr Wohlergehen von zwei komplementären Komponenten abhängt, ihrem eigenen Beitrag und dem Beitrag der Welt. Und seit Heisenberg müssen auch Naturwissenschaftler anerkennen: Jedes Messergebnis wird von zwei komplementären Beiträgen beeinflusst, dem Beitrag der Beobachterin und dem Beitrag der von ihr beobachteten Natur. 70

Wendepunkt «Persönlichkeits-Innovation» Die Anerkennung des Unberechenbarkeits-Dilemmas ist nur ein erster Schritt auf dem Weg, erfolgreich Ordnung in unser Leben zu bringen. Erst in der aktiven Gestaltung mit den Unsicherheiten, die dem Dilemma zugrunde liegen, wird sich bei uns das Gefühl der Ordnung nachhaltig einstellen. Begleiten wir Andreas bei seinem zweiten Entwicklungsschritt und lassen wir ihn dabei wieder selbst sprechen: «Der Wochenablauf auf der Station der Psychotherapie war stark strukturiert. Kurz nach Eintritt galt es ein globales Ziel zu setzen: Was will ich während des Klinikaufenthaltes erreichen? Jeweils Montag früh wurden Wochenziele definiert. Freitagnachmittag war Review: Was ging gut, was habe ich nicht getan, was muss nächste Woche verbessert werden? Eines Tages fiel mir bei diesem wöchentlichen Therapierhythmus eine frappante Analogie zu den gängigen Abläufen in Wirtschaftsunternehmen, zur Entwicklung von Produkten auf (vgl. Fig. 2). ,Na logisch!‘, sagte ich mir, ‚Psychotherapie ist Persönlichkeits-Innovation!‘. Entwickeln von Produkten ist auch Innovation. Beide Innovationen werden von Menschen ausgeführt. So sollten auch die optimalen Abläufe (Prozesse) gleich sein, nur die Inhalte sind verschieden. Fig. 2 [16] 71

Jetzt wurde ich sogar Fan der Therapien und Skills-Übungen und das Tun machte sogar Spaß.» Spielen wir einen konkreten Innovationsschritt in Andreas‘ Persönlichkeit einmal kurz durch. Wir wissen nichts Näheres über Andreas’ Fall. Konkretisieren wir deshalb seine Geschichte in unserer Phantasie – der richtige Andreas wird es uns verzeihen – und lassen ihn neben seinen beruflichen Problemen auch an einer konfliktträchtigen Beziehung zu seiner Mutter laborieren. Andreas setzt sich also das Teilziel: Ich treffe meine Mutter nur einmal monatlich an einem neutralen Ort! Andreas ergeht es jetzt ähnlich wie Lisa aus Kapitel 5, die eine Sandburg bauen will. Er muss als erstes einen Katalysator finden, der im Umgang mit seiner Mutter einen echten Unterschied macht. Bei Lisa war es der Plastikeimer, der den Burgenbau signifikant beschleunigt hat. Andreas muss irgendeinen Trick finden, seiner Mutter klar zu machen, dass er sie nur noch außerhalb ihrer Wohnung treffen möchte. Er versucht es zum Beispiel mit dem Argument, dass sie ihn zuhause doch nur immer bemuttert, er das aber nicht mehr möchte und sie deshalb lieber woanders trifft. Es kann sein, dass er damit bei seiner Mutter ein- bis zweimal durchkommt, beim dritten Mal hat sie ihn wieder in ihre Wohnung gebracht, wo sie ihn unter ihren Fittichen hat und die alten Konflikte neu aufbrechen. In den Augen seiner Mutter ist sein Argument jetzt abgenützt und Andreas fehlt es an Energie und Enthusiasmus, um es mit neuer Frische vorzubringen. Es geht ihm gleich wie Lisa, die nicht verstehen kann, wieso ihre Spielgefährten so schnell ermüden und der Enthusiasmus für ihre Sandburgen rasch verfliegt. Er braucht einen Metabolismus, also etwas, das seine Beziehung zur Mutter so stark ausgleicht, dass sein Argument, sie nur außerhalb ihrer Wohnung zu treffen, immer wieder neu greift. Ein Teil dieses Metabolismus ist sicher das ärztliche Umfeld in der Klinik, das ihn auch nach Misserfolgen immer wieder zuversichtlich macht, es noch einmal zu versuchen. Ein anderer Teil werden eigene Ausgleichsmechanismen und auch sogenannte Skills [17] sein, die er finden und erwerben muss, um die Beziehungsschwankungen zu seiner Mutter auszubalancieren. Sind die dabei gefundenen Metabolismen stark genug, wird sich in Kopplung mit seinem Argument ein stabiles Umfeld emergent herausbilden, in welchem es für ihn ganz leicht wird, sein Ziel jeden Monat neu zu erreichen. Das zweite ordnungsbildende Muster: die Emergenz des geistigen Lösungsraums. 72

Zu meinem Wohlergehen trägt das Erreichen von Teilzielen bei. Jedes Teilziel beinhaltet einen wünschbaren Prozess (im Beispiel: das Treffen mit der Mutter an einem neutralen Ort). Der geistige Lösungsraum für diesen wünschbaren Prozess spannt sich entlang folgender drei Katalysatoren auf. 1. Katalysator 1: ein Vorgehen, das einen echten Unterschied macht (im Beispiel: das geeignete Argument vorbringen). 2. Katalysator 2: ein Metabolismus, der Ermüdungserscheinungen ausgleicht (im Beispiel: die Hilfe des Klinikumfelds, eigene Ausgleichsmechanismen und Skills). 3. Katalysator 3: das stabile Umfeld, das emergent entsteht, sobald der Metabolismus stark genug ist. Auf die Suche nach den ersten beiden Katalysatoren können wir uns selbst machen. Hier ist unser Einfluss groß. Der dritte Katalysator, die Emergenz, stellt sich ganz von selbst ein. Wie wir schon in Kapitel 5 gesehen haben, entfalten diese drei Katalysatoren ihre Wirkung nach demselben Muster wie Licht in der Natur, das sich im dreidimensionalen Raum ausbreitet. Wir können uns dies bildlich so vorstellen, dass diese drei Katalysatoren so etwas wie einen dreidimensionalen geistigen Lösungsraum aufspannen. In diesem Prozess erkennen wir das zentralste Verbindungsmuster zwischen Geist und Natur wieder: Der Geist erschafft sich einen Lösungsraum nach dem gleichen Muster wie sich in der Natur Licht ausbreitet. Wendepunkt «Achtsamkeit» oder die Vermessung der Unsicherheit Eigentlich hat Andreas jetzt schon recht viel Ordnung in sein neues Leben gebracht. Aber Rückfälle sind hier vorprogrammiert. Neben der Anerkennung des Unberechenbarkeits-Dilemmas (auf den Modus Esel schalten) waren das erfolgreiche Erreichen von Teilzielen wesentliche Entwicklungsschritte. Das Mühsamste beim Erreichen eines solchen Teilziels war weniger die Suche nach dem Katalysator, der einen Unterschied macht – ein Argument für das Treffen außerhalb ihrer Wohnung hat Andreas sich schnell einmal zurechtgelegt –, nein, das Mühsame war die Suche nach dem Metabolismus. Was tun, wenn sich wieder das alte Fahrwasser einstellt? Wenn die Frische des Arguments nachlässt und die alten Verhaltensmuster wieder greifen? Wie komme ich wieder zu neuem Mut, wie mache ich mein Argument wieder schlagkräftig? Welche Skills muss ich dazu erwerben? 73

Aber lassen wir Andreas doch auch hier wieder selbst dazu sprechen: «Achtsamkeit ist die Basis aller Skills‘, so lehrt das Skills-Handbuch. Ich fragte mich, wie es wohl mit meiner Achtsamkeit während den Gesprächen mit Bezugspersonen und Therapeuten steht. Deshalb entschloss ich mich, die Gespräche aufzuzeichnen, um mir selbst zuzuhören. Es war schrecklich zu hören, wie ich auswich, auf gewisse Fragen eine andere Antwort gab und Ausreden fand. Das war mir während den Gesprächen überhaupt nicht bewusst. Schnell bemerkte ich, dass ‚sich selbst zuzuhören‘ die effizienteste Übung zur Stärkung der Achtsamkeit ist. Seither habe ich auch nach dem Verlassen der Klinik während der Nachbehandlung die Gespräche mit meiner Psychiaterin aufgezeichnet und jeweils einen Monat später, im Sinne einer Achtsamkeitsübung, abgehört. Vier Jahre nach dem Klinikaufenthalt hatte ich meine Skills soweit eingeübt und gefestigt, dass diese fast automatisch bei erhöhten Spannungszuständen zu wirken begann. Ich wagte die Medikamente abzusetzen und es gelang.» Die Achtsamkeitsübungen erlauben es Andreas seine Unsicherheiten zu vermessen. Neben seiner inneren Beobachterposition führt er eine zweite, eine äußere Beobachterposition ein. Er sieht sich jetzt nicht nur von innen, sondern kann das Geschehen um sich herum auch wie von außen betrachten. Eine Physikerin muss ebenfalls zwei Positionen einnehmen können, um den physikalischen Raum zu vermessen: eine Ausgangposition A und eine Zielposition B. Eine wichtige Eigenschaft des physikalischen Messens ist: Wenn ich von A aus den Abstand nach B messe, muss ich zum gleichen Ergebnis kommen, wie wenn ich von B aus den Abstand nach A messe. Ganz gleich verfährt nun Andreas mit seiner Achtsamkeitsübung. Aus seiner inneren Beobachterposition sieht seine Vermessung der Unsicherheit folgendermaßen aus: Wenn ich Mutter frage, ob wir uns nicht in einem Restaurant treffen wollen, wird sie tausend Gründe finden, warum ich trotzdem zu ihr nachhause kommen soll, was dann schließlich auch geschehen wird. Deshalb versuche ich es gar nicht erst und besuche Mutter direkt bei ihr zuhause. Von dieser inneren Position aus gesehen gibt es für 74

Andreas keine Unsicherheiten mehr. Alles ist determiniert: Es ist immer schon klar, was Mutter antworten wird. Und damit ist auch klar, dass Andreas die Frage gar nicht erst stellt. Womit auch lupenrein klar ist, dass er sie bei ihr zuhause trifft. Seine äußere Beobachterposition kommt nun aber zu einem anderen Messresultat: Durch die Aufzeichnung der Gespräche mit seiner Therapeutin sieht Andreas seine Reaktion auf ihre Fragen aus dieser äußeren Position. Plötzlich sieht er, dass er auf die Frage der Therapeutin, warum seine Mutter tausend Gründe findet und welche Einwände dies denn seien, immer ausweichend antwortet. Andreas sieht jetzt von außen, dass er sich diesen Gründen der Mutter gar nie wirklich stellt. Dass es folglich vielleicht doch möglich wäre, dass sich Mutter anders entscheiden könnte. Er hat es mit ihr einfach nie ernsthaft versucht. Diese äußere Vermessung der Unsicherheit der Antwort (seiner Mutter) kommt also zu einem anderen Resultat als seine innere Vermessung, die die Antwort schon sicher kennt. Mit der Achtsamkeit geht Andreas jetzt gleich vor, wie Physiker es bei Messungen tun. Eine Messung des Abstands zwischen A und B ist für sie erst dann zufriedenstellend, wenn sie ein Eichmaß für die Messung gefunden haben, bei welchem es nicht mehr darauf ankommt, von welcher Beobachterposition aus gemessen wird. Indem er die Achtsamkeitstechnik benutzt, ist jetzt auch Andreas erst dann zufrieden mit der Einschätzung der Unsicherheiten (in Bezug Frage und Antworten im Umgang mit seiner Mutter), wenn er ein verlässliches Eichmaß für diese Unsicherheiten gewonnen hat. Und also seine Innensicht mit der äußeren Beobachtung übereinstimmt. Das dritte ordnungsbildende Muster: die Vermessung des geistigen Lösungsraums. Achtsamkeitsübungen helfen uns, das Unberechenbarkeits-Dilemma so gut wie möglich zu vermessen. Dabei soll ein Eichmaß gefunden werden, welches unabhängig von der Beobachterposition ist. ∆ ������������������������������ ������������ ������������������ ������������������������ × ∆ ������������������������������������������ ������������������ ������������������������ ≅ ������������������������������������������ℎ������������������, ������������ ������������������ ������������ ������������������������������ ������������ℎ������ Wie die Welt auf eine Frage von mir reagiert ist unsicher. Deshalb ist auch unsicher, ob und wie ich die Frage überhaupt stelle. Ein Eichmaß für diese Unsicherheiten bekomme ich durch den Vergleich von verschiedenen inneren und äußeren Beobachterpositionen. Die Klärung dieser Unsicherheiten legt auch fest, wie wichtig für mich der Unterschied 75

ist, um den es dabei geht. Eine solche Vermessung des geistigen Lösungsraums, der dem Dilemma zugrunde liegt, verfestigt die darin gefundene Lösung nachhaltig. Ob Andreas seine Mutter an einem neutralen Ort trifft oder bei ihr zuhause, macht für ihn einen wesentlichen Unterschied. An einem neutralen Ort kann er leichter eine Grenze ziehen zwischen seinem eigenen und ihrem Leben. Bei ihr zuhause fällt ihm das schwerer. Indem er ein Gefühl dafür bekommt, wie unterschiedlich seine Mutter auf verschiedenen Anfragen von ihm reagiert und wie groß seine Experimentierlust ist, sich der Mutter auf verschiedene Art und Weise zu stellen, bekommt er auch ein Gefühl dafür, wie wichtig es ihm ist, sie tatsächlich an diesem neutralen Ort zu treffen oder nicht. Andreas kennt jetzt alle Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Unberechenbarkeits-Dilemma, das dem Konflikt mit seiner Mutter zugrunde liegt. Er hat den geistigen Raum vermessen, der die Lösung für dieses Teilproblem bereithält. Diese Lösung wird so weiter gefestigt. Andreas ist jetzt einen Riesenschritt weitergekommen hin zu seinem Ziel, wieder Ordnung in sein Leben zu bringen. Eine allerletzte Hürde muss er allerdings noch nehmen. Er muss schauen, dass er sich mit seinen Skills und Methoden nicht zu sehr übernimmt. Sonst läuft er Gefahr, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Das Burnout, das er sich bei der Arbeit geholt hat, soll ja nicht durch ein Burnout in seiner Therapie abgelöst werden: Es könnte für Andreas auch nach allen Achtsamkeitsübungen und Rückfragen mit seinem Umfeld immer noch zu anstrengend sein, sich seiner Mutter außerhalb ihrer vier Wände zu stellen. Für die Bewältigung des Konflikts mit seiner Mutter wäre es zwar hilfreich, sie an einem neutralen Ort zu sehen, aber es könnte sein, dass der Aufwand, den er dafür treiben muss, zu viel von seiner Energie wegfrisst. Falls dies auf ihn zutrifft, könnte er sich auch ein kleineres Teilziel als nächsten Entwicklungsschritt vornehmen. Zum Beispiel: Andreas trifft seine Mutter einmal im Monat zwar immer noch bei ihr zuhause, aber nur noch zum Kaffee und nicht mehr schon zum Mittagessen. Erinnern wir uns an Julia aus Kapitel 3. Julia hat von ihrer Mutter den Auftrag bekommen, mit dem kleinen Kessel Wasser aus dem Brunnen zu holen, um damit den Bottich in der Küche zu füllen. Nimmt Julia jeweils ein zu großes Quantum Wasser mit, dann läuft sie Gefahr, die Treppe nass zu machen. Da sie ein kleines Kind ist, kann das für sie zu anstrengend sein. Nimmt sie aber jeweils nur ganz wenig Wasser mit, dann hat sie das zwar im Griff, aber der Bottich wird nie voll und sie «stirbt» vor Langeweile. 76

Julia muss das Quantum Wasser minimieren, das sie jeweils holt, damit sie die damit verbundenen Unsicherheiten noch gut beherrscht. Dieses Minimum muss aber einer Nebenbedingung genügen: Es muss groß genug sein, damit sie ihre Aufgabe erfüllen kann und ihre Tätigkeit noch Sinn macht. Genauso ergeht es Andreas. Er muss die Interaktionsquanten, die den Konflikt mit seiner Mutter abzubauen vermögen, so stark minimieren, damit er die damit verbundenen Unsicherheiten gut im Griff hat. Aber die Quanten müssen groß genug sein, damit die Konflikte auch tatsächlich sinnvoll reduziert werden. Das vierte und letzte ordnungsbildende Muster: die Erreichung eines kohärenten Zustands. Wie bereits gesehen ermöglicht Achtsamkeit die Vermessung der Unsicherheiten des Unberechenbarkeits-Dilemmas. Ein kohärenter Zustand wird bei minimaler Unschärfe der zugrundeliegenden Unsicherheiten erreicht: ∆ ������������������������������ ������������ ������������������ ������������������������ × ∆ ������������������������������������������ ������������������ ������������������������ → ������������������������������������������e Unschärfe Als Unschärfe bezeichnen wir hier das Produkt der Unsicherheiten zweier komplementärer Größen: meines Beitrages (Frage an die Welt) und des Beitrages der Welt (Antwort der Welt). In der gelebten Realität muss dieses Minimum einer Nebenbedingung genügen: Das Quantum, das heißt der Unterschied, um den es dabei geht, muss groß genug sein, damit diese spezielle Interaktion mit der Welt für mich noch sinnvoll ist. Auch die Physik kennt solche Zustände minimalster Unschärfe: Physiker nennen sie kohärente Zustände. Zum Beispiel erreichen Laserstrahlen, die aus einer sehr scharfen Bündelung von elektromagnetischen Wellen im gleichen Frequenzbereich bestehen, einen solchen kohärenten Zustand minimalster Unschärfe zwischen Ort und Impuls. Kohärenz – also minimale Unschärfe – wird immer dann erreicht, wenn das physikalische Teilchensystem das Produkt der Unsicherheiten zweier komplementärer Messgrößen (Ort und Impuls) minimiert. Minimale Unschärfe ist in der Natur gleichbedeutend mit maximaler Ordnung. Man kann sich das bildlich so vorstellen: Alle beteiligten Teilchen sind relativ zueinander bis auf kleine Unschärfen immer am selben Platz und bewegen sich in dieselbe Richtung. Die Natur findet die größtmögliche Ordnung also in einem kohärenten Zustand, einem Zustand minimalster Unschärfe. 77

Andreas hat aus seiner Burnout-Depression herausgefunden, indem er Ordnung in sein aus dem Lot geratenen Leben gebracht hat. Wie wir gerade gesehen haben, waren dabei dieselben ordnungsbildenden Muster am Werk, wie sie auch die Natur verwendet, um zu einem kohärenten Zustand zu gelangen. Zusammenfassung Kapitel 6 Am Beispiel des Genesungsberichtes eines depressiven Burnout-Patienten erfahren wir, wie wir wieder Ordnung in unser Leben bringen können. Der erste Schritt dabei ist die Anerkennung des Unberechenbarkeits-Dilemmas (Hengst-Esel-Dilemma). Möglichkeit eins, «Hengst sein»: Ich kann weiter machen wie bisher, im Bestreben alles vorauszusehen und berechnen zu müssen. Ich «liefere» mich der Welt nicht aus. Ich muss dann aber damit vorliebnehmen, was ich mir selbst zu bieten habe. Möglichkeit zwei, «in den Modus Esel schalten»: Ich lasse Einfluss von außen zu (Ärzten, Freunden, usw.). Ganz bewusst auch mit offenem Ausgang. Diese Einstellung verlangt von mir Mut. Ich liefere mich einer unberechenbaren Unsicherheit aus. Dafür entlaste ich mich, für alles selbst zuständig zu sein. Dies birgt jedoch die Gefahr, dass meine Situation noch schlimmer werden kann, als sie bereits ist. Bei Nicht-Anerkennung dieses Dilemmas gerate ich leicht in eine Negativspirale. Nicht- Anerkennung bedeutet: Ich möchte einerseits Sicherheit, die Welt auf exakt die Weise angehen zu können, die ich will, und andererseits auch Sicherheit, von der Welt exakt das zu bekommen, was ich von ihr will. Die Negativspirale bei diesem doppelten Sicherheitsstreben entsteht folgendermaßen: Meine Erwartung an mich und die Welt ist nicht mehr ergebnisoffen, mein Wohlergehen muss sich unbedingt einstellen – wenn es ausbleibt, erzeugt es ein Gefühl des Scheiterns, womit sich mein Zustand weiter verschlechtert, was mich dazu treibt, noch mehr in diese doppelte Sicherheit zu investieren, was ein Scheitern noch deprimierender macht, … usw. Der zweite Schritt bildet die Emergenz des geistigen Lösungsraums wie wir ihn bereits in Kapitel 5 kennengelernt haben. Zu meinem Wohlergehen trägt das Erreichen von Teilzielen bei. Jedes Teilziel beinhaltet einen wünschbaren Prozess. Der geistige Lösungsraum für diesen wünschbaren Prozess spannt sich entlang der folgenden drei Katalysatoren auf: Katalysator 1: ein Vorgehen, das einen echten Unterschied macht. Katalysator 2: ein Metabolismus, der Ermüdungserscheinungen ausgleicht. Katalysator 3: das stabile Umfeld, das emergent entsteht, sobald der Metabolismus stark genug ist. 78

In der Achtsamkeit und der Fähigkeit, eine äußere Beobachterposition einzunehmen, lernen wir in einem dritten und vierten Schritt die Technik kennen, die es uns ermöglicht, diesen geistigen Lösungsraum zu vermessen und in einen kohärenten Zustand zu gelangen, der wieder nachhaltig Ordnung in unser Leben bringt. In diesem geistig-psychischen Prozess erkennen wir dieselben ordnungsbildenden Muster wieder, wie sie auch in der Natur zu einem kohärenten Zustand kleinster physikalischer Teilchen führen. In diesem kohärenten Zustand werden die dabei auftretenden Unsicherheiten als Unschärfe minimiert. 79

Kapitel 7 Wie werden wir zu Magierinnen und Magiern unserer Zeit? Zeitgemäße Mittel für den Nachrichtendienst «Wollen Sie das Bundesgesetz vom 25. September 2015 über den Nachrichtendienst annehmen?» Über diese Frage hatte ich als Schweizer Bürger vor einigen Jahren abzustimmen. [18] Ich tat mir nicht leicht damit. Klar, in der öffentlichen Wahrnehmung hatte die Bedrohungslage durch Terrorismus und Cyberattacken in dieser Zeit stark zugenommen. Um dieser Bedrohung angemessen begegnen zu können, reklamierte der Staat – und mit ihm der Nachrichtendienst – für sich die dazu nötigen «zeitgemäßen» Mittel. Will heißen: Der Nachrichtendienst sollte notfalls – auch verdeckt – in meine Privatsphäre eindringen und Daten sammeln können. Er sollte also meine Freiheit einschränken dürfen. Diese Freiheit mochte ich als Bürger aber nicht leichtfertig an den Staat abtreten. Schon im Vorfeld der Abstimmung war klar, dass die Vorlage mit einer klaren Mehrheit angenommen würde. Schon seit den Terrorattacken des 11. September hatte sich die politische Stimmung auf der ganzen Welt verändert. Die Bürger sahen sich in ihrer Sicherheit bedroht und verlangten Abhilfe vom Staat. Sicherheit war damals – wie jetzt immer noch und vielleicht sogar immer mehr – für viele Leute wichtiger als Freiheit. Ich stimmte trotzdem mit Nein. Respektierte aber die Mehrheit, die Ja sagte. Halten Sie für einen Moment inne und fragen Sie sich selbst: Wie hätte ich denn abgestimmt? Was ist mir wichtig? Müssen wir uns als Bürgerinnen und Bürger nicht mit ähnlichen Ängsten auseinandersetzen wie Thomas aus Kapitel 6, den eine Depression plagte? Kronos‘ Sense kann überall und unverhofft zuschlagen. Bei Thomas war es der plötzliche Tod seines Vaters gewesen. Die Menschen in New York, Paris, Nizza, Berlin oder anderswo wurden überrascht von Terroranschlägen. Wie Thomas waren auch sie nicht darauf vorbereitet gewesen. Wie Thomas denken auch diese Bürger – und wir mit ihnen –: Das soll uns nicht noch einmal passieren! Von solchen unvorhergesehenen Schicksalsschlägen wollen wir uns nicht mehr überraschen lassen! Und daher auch unser Bestreben alles voraussehen, berechnen und beherrschen zu wollen. Und 80

deshalb unser Ruf nach einem starken Staat mit einem gut ausgerüsteten Nachrichtendienst. Aber laufen wir dabei nicht Gefahr, dass es uns als Gesellschaft ähnlich ergeht wie Thomas als Einzelperson? Können wir dabei nicht leicht in eine depressive Abwärtsspirale geraten? Wenn wir sehen, dass dieser mächtige Staat trotz all seiner «zeitgemäßen» Mittel die Sicherheit immer noch nicht im Griff hat, schreien wir dann nicht nach noch mehr Sicherheitsmaßnahmen? Und wenn diese zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen dann auch nicht greifen, weil Terroristen immer wieder neue Wege der Gewalt finden, wird unser Leben dann nicht vor lauter Einschränkungen und Eingriffen durch Sicherheitskräfte immer deprimierender? Erleben wir dann als Gesellschaft nicht dieselbe Lähmung wie Thomas, der mit jeder Erfahrung des Scheiterns immer antriebsloser und handlungsunfähiger wurde? Für Thomas war es eine große Erleichterung zu akzeptieren, dass es für ihn ein Unberechenbarkeits-Dilemma gibt. Diese Einsicht hatte etwas Befreiendes: Er musste nicht mehr alles kontrollieren und voraussehen. Er fühlte sich nicht mehr ganz allein dafür verantwortlich, wie es ihm ging. Er begriff, dass zu seinem Wohlergehen auch andere maßgeblich beitrugen. Ich glaube, auch wir als Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft tun gut daran, das Unberechenbarkeits-Dilemma anzuerkennen. Insbesondere in der Frage der Sicherheit. Wollen wir mehr Sicherheit, geht das auf Kosten der Freiheit – und umgekehrt: Wollen wir mehr Freiheit, geht das auf Kosten unserer Sicherheit. Meine Freiheit ist die Sicherheit, aus mindestens zwei Alternativen wählen zu können. Aber eigentlich kann nur ich diese Freiheit als Sicherheit empfinden. Für alle anderen bedeutet meine Freiheit Unsicherheit. Die anderen wissen ja nicht, was ich alles mit meiner Freiheit anstellen werde. (Das muss auch so sein, sonst wäre es ja keine Freiheit.) Im gesellschaftlichen Prozess sind also Sicherheit und Freiheit zwei komplementäre Größen, die zusammengenommen das Wohlergehen ihrer Bürger bestimmen. Zu meinem Wohlergehen als Bürgerin verbinden sich zwei komplementäre Komponenten: mein Beitrag und der Beitrag aller anderen. Beide Beiträge sind gegenseitig autonom und deshalb unberechenbar. Wenn ich mir als einzelne Bürgerin zu viele Freiheiten herausnehme, können sich die anderen in ihrer Sicherheit bedroht fühlen. Was sie dazu veranlassen kann, meine Freiheit stark einzuschränken. Umgekehrt, wenn eine Gesellschaft offener und risikofreudiger wird, vergrößern sich dadurch auch die Handlungsspielräume ihrer Mitglieder. 81

∆ ������������������������������������������������������������������������ ������������������������ℎ������������������ × ∆ ������������������ℎ������������ℎ������������������ ������������������ ������������������������������������������������ℎ������������������ ≅ ������������������������������������������ℎ������������������, ������������������ ������������ ������������������ ������������������ ������ü������������������������������������ ������������ℎ������ Die Unsicherheit, ob und wie frei ich mich bewegen kann, verbindet sich mit der Unsicherheit, wie sicher sich die Gesellschaft als Ganzes fühlt, und erzeugt so einen echten Unterschied, wie es mir als Bürgerin in der Gesellschaft geht. Erst durch die Unschärfe von individueller Freiheit und Sicherheit der Gesellschaft wird also das erzeugt, was unsere Gesellschaft ausmacht: die entscheidende Differenz, wie es uns als Bürgerinnen und Bürgern geht. Erinnern wir uns an Waldemar und Lotti aus Kapitel 3: Ihre Ehe war nach so vielen Jahren langweilig geworden, ihre Beziehung vollständig berechenbar. Waldemar wusste bei jedem seiner Schritte, wie Lotti reagiert, und Lotti fühlte für sich als Erfüllungsautomat für Waldemars Bedürfnisse. Erst als neue Bangigkeit, neue Unsicherheit in ihren gegenseitigen Austausch kam, wurde ihre Ehe wiederbelebt. Bei jedem Schritt Waldemars auf Lotti zu musste es um etwas gehen, das ihm und auch ihr nicht egal war. Das konnten sie nur durch die gegenseitige Anerkennung des Unberechenbarkeits-Dilemmas erreichen. Waldemar musste anerkennen: Es gibt immer noch Fragen zwischen Lotti und mir, die uns beiden wichtig sind und bei welchen ich Lottis Antwort noch nicht kenne – und bei welchen Lotti also auch nicht sicher sein kann, ob und wie ich auf sie zugehe. Erst dann, als Lotti und Waldemar die Wichtigkeit dieser wechselseitigen Unberechenbarkeit – dieser bangen Unschärfe in ihrer Beziehung – wieder spürten, erst dann, als es wieder um etwas ging, waren sie keine Eheautomaten mehr und erweckten so ihre alte Liebesbeziehung zu neuem Leben. Bezogen auf unsere Gesellschaft heißt das: Auch wir als Bürgerinnen und Bürger tun gut daran, das Unberechenbarkeits-Dilemma in wichtigen gesellschaftlichen Prozessen anzuerkennen. Insbesondere in der Frage der Sicherheit und der Freiheit. Wenn wir akzeptieren, dass es in diesen beiden Zielen eine Unschärfe geben muss, und wenn uns klar wird, dass erst in dieser Unschärfe, in dieser wechselseitigen Unsicherheit die entscheidende Differenz erzeugt wird, wie es uns letztlich geht, dann tragen wir zu einer lebendigen Gesellschaft bei. Dann kann vielleicht auch von unserer Gesellschaft eine große Anspannung abfallen. Wenn sie von ihrer Kontrollillusion loslassen kann 82

und ganz bewusst auch auf das positive gesellschaftliche Gestaltungspotenzial der Unsicherheit setzt. Als Bürger war ich froh, dass ich in einer solchen Frage einmal abstimmen durfte. Ich stimmte für die individuelle Freiheit. Die Mehrheit stimmte für die Sicherheit. Damit kann ich gut leben, weil ich weiß, dass es für alle Bürgerinnen und Bürger ein Abwägen war und sie durch diesen Abstimmungsprozess ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnahmen. Ich musste am Ende loslassen von Teilen meiner individuellen Freiheit. Aber auch die Mehrheit musste den beträchtlichen Anteil an Neinstimmen anerkennen und ebenfalls loslassen von der Illusion, dass eine demokratische Gesellschaft bereit wäre, für ihre Sicherheit jeden Preis zu bezahlen. Das Ende der Geschichte Im Jahr 1992 proklamierte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama (*1952) das «Ende der Geschichte». [19] Nach seiner Auffassung würden sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig und überall durchsetzen. Es gäbe dann keine weltpolitischen Widersprüche mehr. Nun sind schon über drei Jahrzehnte seit diesem vermeintlichen «Ende der Geschichte» vergangen und Fukuyamas Prophezeiung ist nicht eingetreten. Im Gegenteil, Kriege, Kriegsgefahr und Illiberalismus sind allgegenwärtig. Von einer Abnahme der weltpolitischen Widersprüche keine Spur: Die «Geschichte» geht weiter. Aber was macht es eigentlich aus, dass wir Geschichte als solche erleben? Was macht es aus, dass wir von einer Zeit sprechen, von einem Zeitalter oder sich ändernden Zeiten? Für Fukuyama wäre das Ende der Geschichte dann erreicht, wenn sich ein Ordnungsprinzip durchgesetzt hat, das keine weltpolitischen Widersprüche mehr zulässt: Er hielt den Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft für ein solches allumfassendes Prinzip. Aber kann es so ein widerspruchfreies Ordnungsprinzip überhaupt geben? Waldemars und Lottis langweiliger Ehezustand war in einem widerspruchsfreien Ordnungsprinzip gefangen: Alles war vorhersehbar. Erst durch die Unsicherheit wurde ihre Ehe wieder lebendig. In der Unsicherheit ist das Widersprüchliche bereits angelegt. Die Auseinandersetzung damit liefert die Energie, um private und gesellschaftliche Entwicklungen voranzutreiben. 83

Als Gesellschaft sind wir in einem ständigen Zwiespalt zwischen positiven und negativen Gefühlen gegenüber der Unsicherheit. Auf der einen Seite wollen wir die Unsicherheit und die damit verbundene Unschärfe so minimal wie möglich halten. Auf der anderen Seite muss es in der gesellschaftlichen Interaktion aber auch um etwas gehen, sonst ist sie nicht lebendig. In Kapitel 6 haben wir gesehen, dass der Zustand der minimalen Unschärfe, bei welcher es noch um etwas geht, Kohärenz genannt wird. Eine Gesellschaft ist also ständig auf der Suche nach einem kohärenten Zustand. Ganz aktuell suchen wir nach einer neuen Kohärenz zwischen Sicherheit und Freiheit. Die Zeit vor Fukuyamas «Ende der Geschichte» kann vielleicht als Zeitalter der «(neo- )liberalen Weltordnung» angesehen werden. Die westliche Welt hat damals einen kohärenten Zustand angestrebt, der ein viel größeres Gewicht auf die Freiheit legte. Dies war nur deshalb möglich, weil gesellschaftliche Sicherheit im Kalten Krieg ohnehin unerreichbar war. Der Atomkrieg war eine ständige reale Bedrohung. Mit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich eine völlig andere Sicherheitslage ergeben. Kurzfristig ist die Welt viel sicherer geworden. Atomwaffen wurden abgebaut, Abrüstungsverträge geschlossen. Die Freiheit, die liberalen Kräfte konnten sich weiterverbreiten. Dies hat aber neue Unsicherheit gebracht. Und diese Unsicherheit, hervorgerufen durch die globale Ausbreitung des Liberalismus, haben in der Zwischenzeit viele als Bedrohung angesehen. Durch die Globalisierung gab es eine beschleunigte, ressourcenintensive Industrialisierung auch in den aufstrebenden Märkten, wie in China, Indien und Südamerika. Die Globalisierung brachte für viele zwar einen sichereren Wohlstandsgewinn insgesamt (das Wachstum ist heute sicherer als früher), aber die Verteilung dieses Wohlstandsgewinns wurde immer ungleicher. Die Verteilung unter den Staaten wurde ungleicher: Afrika und der Nahe Osten als klare Verlierer, die westlichen Staaten, Japan, China und Südostasien als Gewinner. Und auch die Verteilung unter den Bevölkerungsschichten wurde immer ungleicher: Die Mittelschicht erodierte zugunsten der unteren und oberen Einkommensgruppen. Das allein barg – und birgt immer noch – großes Konfliktpotenzial. Durch die intensive Ressourcennutzung verändert sich das Weltklima mit immer stärker werdenden Unwägbarkeiten auf die Weltökologie. Statt das «Ende der Geschichte» haben wir seit 1992 eine beschleunigte Entwicklung neuer Unwägbarkeiten erlebt. Die damit verbundene erhöhte Unsicherheit wollen wir jetzt nicht mehr länger hinnehmen. In unserer Gesellschaft ist ein ganz klarer Trend, ich möchte sogar sagen ein Megatrend 84

erkennbar, der in die andere Richtung weist. Wir wollen jetzt mehr Sicherheit und sind bereit Teile unserer (liberalen) Freiheit dafür aufzugeben. Aber wären wir vielleicht dann am «Ende der Geschichte» angekommen? Dann, wenn diese «neue Kohärenz» zwischen Freiheit und Sicherheit erreicht wäre? Wenn sich die Welt auf ein neues Minimum in der Unschärfe zwischen Freiheit und Sicherheit geeinigt hätte, ein Minimum, das uns viel mehr Sicherheit und weniger Freiheit gibt als jetzt? Mehr Sicherheit bezüglich der Bedrohung durch Terror und Krieg, mehr Sicherheit bezüglich der (vielleicht nur vermeintlichen) kulturellen Bedrohungen von Immigranten, mehr Sicherheit auch bezüglich der Bedrohung, die aus der Übernutzung der Erdressourcen entstehen, der Bedrohung der wachsenden Erdbevölkerung und des Klimawandels? Wären wir dann ans «Ende der Geschichte» gekommen? Unsere Kinder sind die wahren Magier der Zeit – lernen wir von ihnen Lisa ist zwölf Monate alt. Sie möchte laufen lernen. Sie kennen Lisa bereits aus Kapitel 4. Sie erinnern sich an ihre Geschichte. Wie sie noch immer auf allen vieren in der ganzen Wohnung herumkrabbelt, am liebsten aber die unteren Schubladen in Mutters Küche ausräumt. Wie sie dann eine Pfanne aus der Schublade nimmt, auf den Kochherd stellt und dabei zufällig entdeckt, dass sie ja aufrecht steht und versuchen könnte zu laufen. Dann aber von ihrer aufgebrachten Mutter daran gehindert wird, weil die Pfanne auf den Boden gefallen ist. Bestimmt erinnern sich noch an diese Geschichte der kleinen Lisa. Was hat Lisa hier eigentlich gemacht? Sie hat Kairos kommen sehen. Kairos, der mit immer neuen Möglichkeiten winkt. Den man aber im richtigen Moment an seinem Haarschopf packen muss. Sonst ist er, schwupp, vorbeigeflogen. Lisa sieht sich noch nicht als Magierin. Aber sie sieht die Magie der Welt, die sie mit offenem Mund bestaunt. Die Welt zaubert für Lisa einen Kairos, eine spannende Möglichkeit aus ihrem Zauberhut. Und schwupp, lässt sie ihn schon wieder verschwinden. Was können wir von Lisa lernen? Auf den Punkt gebracht: Erkennen, was uns weiterbringt, erkennen was zählt. Lisa will laufen lernen. Wir als Gesellschaft wollen mehr Sicherheit und uns trotzdem frei fühlen. Lisa erkennt: Dazu muss ich einen aufrechten Schritt machen können – nicht nur am Boden herumkrabbeln. Wir als Gesellschaft müssen lernen zu erkennen, welche Unterschiede uns wichtig sind, was es 85

braucht, damit es uns gut geht. Es muss uns um etwas gehen, das einen echten Unterschied macht. Ist es uns wichtig, dass wir uns frei bewegen können, zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Vergnügungs- oder Konsumangebot in unmittelbarer Nähe vorfinden? Oder ist es uns wichtig, dass eine übergeordnete Instanz zu uns schaut und uns vor uns selbst schützt, uns verbietet ohne Sicherheitsgurt Auto zu fahren, uns verbietet im Restaurant zu rauchen, uns verbietet ungesund zu leben usw.? Ist es wichtig, dass wir jederzeit und überall Zugang zu der besten medizinischen Versorgung haben. Oder ist es uns wichtig, überall und von allen unbehelligt unseren Hobbies frönen zu dürfen. Was macht für uns als Bürger der Gesellschaft einen echten Unterschied? Was zählt? Diesem gesellschaftlichen Diskurs darüber müssen wir uns jetzt stellen. Unglücksfälle, Terrorattacken, Pandemien, Kriege, Natur- und Klimakatastrophen zwingen uns dazu, uns diesem Erkenntnisprozess zu widmen. Abstimmungen wie jene über die Befugnisse des Nachrichtendienstes helfen uns dabei weiter. Dabei ist es gar noch nicht so wichtig, dass wir schon wissen, wie wir zu zählbaren Ergebnissen kommen. Lisa kann ihren ersten Schritt auch noch nicht machen, noch wird sie von ihrer Mutter abgehalten. Aber sie weiß jetzt, was für sie zählt: Schritte machen zählt für sie, sie will laufen können! Was können wir noch von Lisa lernen? Wenn wir wissen, was zählt, können wir wie Lisa fragen: Wie kommen wir zu zählbaren Ergebnissen? Noch ist für Lisa ja die Welt die Magierin, die für sie Möglichkeiten aus dem Hut zaubert. Noch kann sie selbst nicht laufen. Langsam wird aber auch Lisa selbst zur Magierin. Einen Monat später hat sie schon mehrmals versucht, selbständig zu laufen. Sie versucht es immer gleich. Sich an der Wand mit den Händen hochziehen. Dann Hände loslassen und los. Mama ermuntert sie dabei, es immer weiter zu versuchen, bis sie ihre Schritte sicher beherrscht. Und wieder die Frage: Was hat Lisa hier gemacht? Vorher war die Welt noch die Magierin gewesen, die Kairos aus dem Hut gezaubert hat und ihn wieder, schwupp, hat verschwinden lassen. Nun will Lisa selbst diese Magierin sein. Aber wie lernt sie diese Magie? Sie sucht nach zwei Katalysatoren. Katalysator 1: Lisa sucht etwas, das das, was zählt, auch wirklich hervorbringen kann. (Sich an der Wand hochziehen und Gehversuche machen.) 86

Katalysator 2: Lisa sucht und übt sich an Metabolismen. Sie sucht Ausgleichsmechanismen, die Ermüdungserscheinungen und Ungleichgewichte auszubalancieren vermögen. (Zuspruch der Mutter, motorische Muskelbewegungen um das Herunterfallen zu verhindern, usw.) Ist der Metabolismus (d.h. Katalysator 2) stark genug und richtig auf Katalysator 1 eingestellt, dann entsteht emergent eine stabile Substruktur, ein Katalysator 3 also, der in einem fort Zählbares hervorbringt. Lisa ist jetzt zu einer virtuosen Magierin geworden. Sie zaubert Kairos nach Belieben aus dem Hut und lässt ihn, schupp, wieder verschwinden. Und indem sie das regelmäßig macht, erscheint auf der Zauberbühne, oh und ah, der große und mächtige Kronos, der gemächlich mit seiner Sense mäht. Und wieder die Frage: Was können wir von Lisa lernen? Wie gehen wir am besten vor, um zählbare Ergebnisse zu erzielen? Erstens, wir fragen uns: Gibt es Katalysatoren, die das, was zählt, kurzfristig rasch hervorbringen und leisten können? Zweitens gibt es Metabolismen, die Ermüdungserscheinungen im Umfeld ausgleichen können? Katalysatoren der ersten Art sind zum Beispiel Technologien, die für uns wünschbare Ergebnisse erzielen (in der Medizin, bei der Ernährung, in der Unterhaltung usw.). Die industrielle Produktion und der Gebrauch solcher technologischen Katalysatoren sind aber oft sehr ressourcenintensiv. Die Industrialisierung der Welt braucht Rohstoffe. Die Umwelt wird belastet. Aber nicht nur das, durch die Automatisierung verlieren auch viele weniger gut qualifizierte Leute ihre Arbeit. Es braucht also Ausgleichsmechanismen um die Gesellschaft und die Umwelt wieder zu stabilisieren. Verschiedene gesellschaftliche Wechselspiele können für diesen Ausgleich sorgen. (Als Beispiel sei hier das Wechselspiel Finanzmarkt – Politik angeführt: Der Finanzmarkt drohte zu kollabieren, als die EU in der Schuldenfrage ihrer Peripheriestaaten 2011- 2013 zerstritten war. Dieser Druck des Finanzmarktes zwang die Politik zum Handeln. Die Politiker einigten sich auf ein koordiniertes Vorgehen. Auf der anderen Seite des Wechselspiels machte die Politik auch Druck auf den Finanzmarkt. Sie griff regulierend ein, um zu verhindern, dass sich eine Selbstbedienungsmentalität unter spekulativen Anlegern breit machen kann. Dies ist nur einer von vielen Ausgleichsmechanismen, die notwendig sind, um von der Gesellschaft gewünschte Prozesse am Leben zu erhalten.) Jede Bürgerin ist als Individuum aufgefordert nach ihren Kräften an diesen Ausgleichsmechanismen teilzuhaben. Sie mag als Einzelne wenig bewirken. Doch der 87

Einfluss von uns als Einzelne ist viel höher als wir denken, und zwar aus folgendem Grund: Ich als einzelner Mensch überschätze im Allgemeinen meine Originalität. Wenn ich die (vermeintlich) originelle Idee habe, dies oder jenes wäre nützlich, dann haben meist schon Tausende, wenn nicht Millionen andere bereits denselben Gedanken gehabt. Wenn ich also etwas tue, tun es Millionen andere bereits mit mir. Daher ist mein effektiver Einfluss – mit allen anderen zusammengezählt – millionenfach größer, als ich dachte. [20] Wenn wir also im gesellschaftlichen Diskurs nicht nur herausgefunden haben, was zählt, sondern auch, wie wir es erreichen können und mit welchen Ausgleichsmechanismen wir ein stabiles Umfeld dafür schaffen, wenn wir auf dem Weg zur Kohärenz erfolgreich sind, kommen wir dann (nach Fukuyama) an ein «Ende der Geschichte»? Fragen wir wieder unserer kleine Zeitmagierin Lisa. Kommt Lisa an das «Ende ihrer Geschichte»? Verfolgen wir dazu «ihre Geschichte» einfach etwas weiter: Zwei Monate nachdem Lisa laufen gelernt hat, geht sie mit Mama und Papa spazieren. Lisa denkt, ich kann auch schon reden wie Mama und Papa. Lisa plaudert und plaudert ihr Kauderwelsch und will, dass ihre Eltern zuhören. Papa sagt zu Mama: «Schau, wie unsere Kleine zu reden versucht und dabei schon laufen kann, ohne daran denken zu müssen!» Wenn Lisa laufen lernt, kann es sein, dass sie dem Zauber der Welt erliegt und die Zeit darin vergisst und ganz in dieser Tätigkeit aufgeht. Lisa hat in diesem schönen Zustand so etwas wie ein «Ende ihrer Geschichte» erreicht. Aber es ist nur das Ende einer ihrer Geschichten, nicht aller. Rasch holt die Welt sie aus dieser Zeitlosigkeit wieder zurück und lockt mit neuen Herausforderungen. Neue Geschichten sollen geschrieben werden. Lisa will ja noch sprechen lernen. Alles beginnt von Neuem, Lisa muss wieder ganz von vorne anfangen und lernen, wie sie einen neuen Kairos aus dem Hut zaubern und, schwupp, ihn zum Verschwinden zu bringen kann, damit schließlich wieder, ah und oh, ein neuer Kronos erscheint und gemächlich eine neue Wiese mäht. Die Suche nach Kohärenz geht immer weiter. Und so kommt die Geschichte zum Glück nie an ihr Ende. Lernen wir von Lisa, werden wir zu Zauberlehrlingen unserer Kinder. 88

Zusammenfassung Kapitel 7 Im vorausgehenden Kapitel 6 hatten wir an einem Beispiel bereits gesehen, wie in ein aus dem Lot geratenes Leben wieder Ordnung gebracht werden kann. Was für ein einzelnes Individuum gilt, kann auch auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen werden. In diesem Kapitel fragen wir: Wie entsteht Ordnung in einer Gesellschaft? Und wie verhält sich dabei unser Geschichtsbewusstsein? Hatte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama recht, als er 1992 das «Ende der Geschichte» proklamierte? In seiner Auffassung sollte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine widerspruchsfreie Weltordnung endgültig durchsetzen. Eine Weltordnung, die sich nach den Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft richtet. Die Antwort lautet nein. Trotzdem versuchen wir diese Suche nach einer widerspruchsfreien Weltordnung als Suche nach einem kohärenten Zustand der Gesellschaft zu begreifen. Analog zu Kapitel 6 verstehen wir diesen Prozess als Minimierung der Unschärfe zwischen zwei komplementären Größen, wie zum Beispiel zwischen Sicherheit und Freiheit. Diese Minimierung der Unschärfe darf aber nicht zu weit gehen. Eine nicht zu kleine Dosis Unsicherheit muss immer sein. Erst durch die Unsicherheit, durch die Unschärfe – zum Beispiel von individueller Freiheit und Sicherheit der Gesellschaft – wird also das erzeugt, was unsere Gesellschaft ausmacht: die entscheidende Differenz, wie es uns als Bürgerinnen und Bürgern geht. Und erst durch die Aufrechterhaltung einer solchen Differenz bleibt eine Gesellschaft lebendig. Aber wie kommt eine Gesellschaft zu einem neuen kohärenten Zustand? Wie erreicht sie zum Beispiel eine neue Kohärenz zwischen Sicherheit und Freiheit, die unseren gestiegenen Sicherheitsbedürfnissen gerecht wird? Wir bemühen die Metapher der beiden Zeitgestalten Kairos und Kronos, die uns in einem zauberhaften Wechselspiel ihres Erscheinens und Verschwindens vor Augen führen, wie kohärente Strukturen entstehen und weiterentwickelt werden. Der gesellschaftliche Lernprozess läuft genau gleich ab, wie Kinder laufen oder sprechen lernen. Die Zeit ändert ständig ihre Erscheinungsformen. Die Geschichte kommt so nie zum Stillstand. Es liegt also an uns die virtuose Magie unserer Zeitgestaltung ganz einfach unseren Kindern abzuschauen. 89

Anmerkungen und Literaturangaben Vorwort und Danksagung, Kapitel 1 [1] - Bateson, Gregory. Geist und Natur. Eine notwenige Einheit. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1987. [2] Folgendes Buch kann wie ein spannender «Almanach 2004» dieser Entwicklung gelesen werden: - von Mutius (Hg.), Bernhard. Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken werden. Stuttgart, Klett-Cotta, 2004. Kapitel 2 [3] Für eine Übersicht über von Foersters Denken empfiehlt sich das wundervolle Hörbuch: - von Foerster, Heinz. Zwei mal zwei gleich grün. [CD] Köln, c+p supposé, 1999. [4] Ausgangspunkt der jüngsten Debatte um die Willensfreiheit ist das berühmte Libet-Experiment, das der US-amerikanische Neurophysiologe Benjamin Libet (1916-2007) Ende der Siebzigerjahre durchgeführt hatte. Er machte dabei die Beobachtung, dass bei Menschen bereits 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung einer Handlung eine stark erhöhte Gehirnaktivität (in Form eines sogenannten Bereitschaftspotenzials) nachweisbar ist. Daraus schloss er, dass der Mensch in seinen Handlungen vordeterminiert und also unfrei ist. Die Frage der Willensfreiheit wird seither sehr kontrovers zwischen den verschiedenen Hirnforschern, Philosophen und anderen Wissenschaftlern geführt. Dabei werden die gleichen Fakten von den verschiedenen Wissenschaftlern unterschiedlich interpretiert. Auch gibt es immer wieder neue Experimente, die manchmal als Befunde für die Willensfreiheit und manchmal dagegen ins Feld geführt werden. Aus diesen Befunden und auch weil sich die Jahrhunderte alte philosophische Debatte über die Willensfreiheit in den letzten Jahren nur noch verstärkt hat, stellen wir uns auf den Standpunkt: Die Frage nach der Willensfreiheit ist prinzipiell unentscheidbar. Aufgrund der Tatsache, dass wir dieselben Fakten unterschiedlich bewerten können, neigen wir aber dazu zu glauben, dass wir im Umgang mit der Welt ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit besitzen. Und letztlich sind wir vermutlich in verschiedener Hinsicht sowohl frei als auch unfrei. Siehe dazu auch: 90

- Libet, Benjamin. Do we have a free will? Journal of Couscious Studies. 1999. - Eckholdt, Matthias. Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die Grenzen unserer Erkenntnis. Heidelberg, Carl- Auer, 2013. - Bauer, Joachim. Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens. München, Blessing, 2015. Kapitel 3 [5] - Maturana, Humberto R., Varela Francisco J. Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Frankfurt am Main, Fischer, 2009. [6] Einen kurzen Überblick darüber, was die aktuelle Hirnforschung über unser subjektives Zeitempfinden sagt, gibt zum Beispiel die deutsche Philosophin Natalie Knapp (*1970) in ihrem – im Übrigen sehr erhellenden und berührenden – Buch: - Knapp, Natalie. Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wervoll sind. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2015. [7] - Wittmann, Marc. Gefühlte Zeit. Eine kleine Psychologie des Zeitempfindens. München, C. H. Beck, 2012. [8] - Planck, Max. Über das Gesetz der Energieverteilung im Normalspectrum. Annalen der Physik, IV, 1901, 4, S. 553-563. Kapitel 4 [9] Das hier angeführte Beispiel verdanke ich meiner Kollegin und Philosophin Natalie Knapp, das ich hier in etwas abgeänderter Form wiedergebe. Nachzulesen im Original S. 241ff: - Knapp, Natalie. Kompass neues Denken. Wie wir uns in einer unübersichtlichen Welt orientieren können. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2013. Kapitel 5 [10] S. etwa: 91

- Tausch, Michael. Chemie mit Licht. Innovative Didaktik für Studium. Springer Spektrum, 2020. [11] Die Koppelung des elektrischen mit dem magnetischen Feld ergibt sich aus den Maxwellgleichungen, die auf den berühmten schottischen Physiker James Clerk Maxwell (1831-1879) zurückgehen: Dabei ist die zeitliche Änderung des elektrischen Feldes immer mit einer räumlichen Änderung des magnetischen Feldes verknüpft. Und umgekehrt: Die zeitliche Änderung des magnetischen Feldes ist stets mit einer räumlichen Änderung des elektrischen Feldes verknüpft. [12] Quellennachweis von Fig. 1: www.hg-klug.de/mrganz/versag/welle2.jpg derzeit nicht aktiv [13] - Einstein, Albert. Zur Elektrodynamik bewegter Körper. Annalen der Physik, IV, 1905, 17, S. 891-921. Kapitel 6 [14] Andreas ist ein frei erfundener Name. Dem hier beschriebenen Bericht liegt allerdings eine wahre Patientengeschichte zugrunde, dessen Urheberin dem Verfasser bekannt ist. Herzlichen Dank für die Erlaubnis Teile ihres Patientenberichts hier abdrucken zu und diesen mit eigenen fiktiven Elementen ergänzen zu dürfen. [15] Skills sind Fertigkeiten, also hilfreiche Gedanken oder Handlungen, um Situationen oder Probleme zu bewältigen oder um Ziele zu erreichen. S. etwa: - Bohus, Martin, Wolf-Arehult, Martina. Interaktives Skilltraining für Borderline-Patienten. Schattauer, 2013 [16] Quelle zu Fig. 2: von der Patientin (s. [14]) selbst hergestellte Grafik, mit der Erlaubnis sie hier abbilden zu dürfen. [17] S. oben [15] Kapitel 7 [18] S. online: www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/abstimmungen/20160925/nachrichtend ienstgesetz.html [19] - Fukuyama, Francis. The End of History and the Last Man. New York, Penguin, 1992. 92

[20] Dieser Effekt wurde im Jahre 2002 unter dem Namen «Self Sampling Assumption» durch den schwedischen Philosophen Nick Bostrom (*1973) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Es handelt sich dabei um eine Art kopernikanisches Prinzip für den Menschen innerhalb der Gesellschaft, das besagt, dass im Prinzip niemand eine speziell herausragende Position in der Gesellschaft hat. Es gibt im Allgemeinen keinen Grund zur Annahme, dass ich – oder irgendein Individuum – eine der ersten sein soll, die auf eine gesellschaftliche Idee, eine gesellschaftliche Beobachtung, usw. gekommen ist. Vielmehr muss ich davon ausgehen, dass sehr viele Leute vor mir bereits dieselbe Idee gehabt haben, und ich diesbezüglich eher eine mittlere Position in der Gesellschaft einnehme. Näheres dazu in: - Nick, Bostrom. Anthropic Bias. Observation Selection Effects in Science and Philosophy. New York & London, Routledge, 2002. 93

Impressum TITEL: «Faszination Unsicherheit. Warum ein Leben in Sicherheit Fiktion bleiben muss.» AUTOR: Magnus Pirovino ERSCHEINUNGSDATUM: Juni 2023 HERAUSGEBER: OPIRO Consulting AG, Landstraße 40, FL-9495 Triesen GESTALTUNG: agentur mehrwert, Bahnhofplatz 7, CH-5400 Baden Dieses Dokument ist urheberrechtlich geschützt: © 2023 OPIRO Consulting AG, Triesen (FL) www.opiro.li 94


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