Peter Clark BEN HEARTund das Vermächtnis des Planeten Tiboo Roman
LESEPROBE Das ESOC-GeheimlaborEine fremdartige Scheibe, nicht viel größer als der Schild einesFußsoldaten, schwebte schwerelos über dem frisch poliertenMarmorboden. Die Tiboo, eine außerirdische Spezies, hatten vordem Untergang ihres Planeten unzählige dieser Scheiben in alleRichtungen des Weltalls geschickt. Eine davon fand den Weg zurErde und landete auf dem australischen Kontinent. Nun kümmertesich die intellektuelle Elite des 21. Jahrhunderts um dieEntschlüsselung ihrer Geheimnisse. Die Engländer reagierten amschnellsten und dank der guten Beziehungen zu ihrer ehemaligenKolonie transportierten sie die Scheibe sofort nach Cambridge. DieAmerikaner und der Rest der Welt mussten sich hintanstellen undauf die Großzügigkeit der ehemaligen Weltmacht hoffen.Immerhin war ihnen deren größte Sorge, dass die Scheibe in dieHände von Terroristen fallen könnte, genommen worden.Wie die Miniaturfigur einer Satellitenschüssel drehte sich dieScheibe langsam um die eigene Achse, während aus ihrem Innereneine Art Plasma strömte. Die bläuliche Substanz erfüllte denganzen Saal, der über zehn Meter hoch und hundert Meter breitwar. In dieses Plasma projizierte die Scheibe in dünnenLichterketten das Wissen der Tiboo. An mehreren Stellen imRaum schwebten Hollogramme verschiedener Größe, um das sichdas Interesse der gesamten Menschheit drehte. Sie zeigtenverschiedene dreidimensionale Zeichnungen, mathematischeGleichungen, wissenschaftliche Schriften und sich bewegendeAnimationen von chemischen Elementen. Die Geheimnisse desUniversums waren plötzlich in greifbare Nähe gerückt. 2
Das Plasma selbst war eine völlig neuartige Konsistenz, der manbislang noch keinen Namen gegeben hatte. „An diese Materie,oder Plasma, wie es die meisten mittlerweile nennen, werde ichmich wohl nie gewöhnen können. Man kann es nicht greifen, aberdennoch spüre ich es überall auf meiner Haut.“ sagte Eva zu einemMann mit Hornbrille und weißem Arbeitskittel, „Selbst nachvielen Stunden ist es immer noch ein befremdliches Gefühl, sichdarin zu bewegen. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich würdesagen, es fühlt sich an wie... wie...“ doch Eva wollte keingeeigneter Vergleich einfallen.„So wie kalter Wasserdampf vielleicht?“ warf Robert ein.„Ja, Robert. Genau! Wie kalter Wasserdampf.“ wiederholte Evakopfnickend. „Nur dass es natürlich nicht feucht ist.“ dabei warfsie ihre Haare nach hinten und sah Robert mit ihren blauen Augenan, die in dem phosphoreszierenden Licht fremdartig leuchteten.„Mein Gott, Eva!“ spielte Robert den Erschrockenen. „In diesemLicht siehst du ja aus wie ein Alien!“Für einen Augenblick schauten sie sich regungslos an, dannverdrehte Eva ihre Augen, verzog ihre Mundwinkel und beganntieftönig zu grunzen. Wie zwei junge Teenager prusteten siegleichzeitig los. Als sie sich wieder beruhigt hatten, sagte Eva,während sie sich müde eine Träne aus dem Augenwinkel wischte:„Ach Robert, mit dir kann man nach 24 Stunden Arbeit nochherumalbern.“„Erst recht nach 24 Stunden! Aber mal ganz im Ernst, ich bin mitden Tiboo vollkommen derselben Meinung: Lachen ist derSauerstoff der Seele. Findest du nicht auch?“ Antwortete Robert,der seit Jahren Evas schwuler Assistent war und sich insbesonderemit der spirituellen Identität der Tiboo auseinandersetzte.Mit ihren Notizblöcken unterm Arm passierten Robert und Evamehrere Wissenschaftler, die Tag und Nacht an derEntschlüsselung arbeiteten. Jeder, dem sie begegneten, grüßte sierespektvoll. Nicht weil sie Eva oder Robert so gern mochten,sondern weil Eva ihr Boss war. Niemand wollte es sich mit ihrverscherzen. Ihre Autorität war beinahe spürbar, genau wie dasPlasma, das sie umgab. 3
Eva war eine große, dünne Frau mit stahlblauen Augen und langenblonden Haaren, die fast ihren ganzen Rücken bedeckten. Dasbläuliche Schimmern der Scheibe wurde von ihrer hellen Hautbesonders stark reflektiert und betonte ihre feingliedrige Gestalt.Sie trug eine grüne oder gelbe Bluse, (das konnte man wegen desblauen Lichts im Raum nicht genau erkennen) die ihre flache Brustbedeckte und fast bis zum Hals zugeknöpft war.Sie leitete die Forschungsarbeiten und hatte damit auch diePersonalverantwortung. Folglich hatte sie die Befugnis,Wissenschaftler, die keine Ergebnisse lieferten oder nicht schnellgenug arbeiteten, durch andere zu ersetzen. Die Liste anBewerbern war lang, denn jeder wollte an der Entschlüsselung desGrals der Weisheit, wie die Scheibe in den Medien genannt wurde,mitwirken. Die Tatsache, aus einem beinahe endlosen Pool anBewerbern schöpfen zu können, verlieh ihr eine Macht, die nurdurch ihre Intelligenz übertroffen wurde. Letztes Jahr war sie imAlter von gerade mal 36 Jahren für ihren zweiten Nobelpreisnominiert worden, was vor ihr erst einer Frau gelungen war,allerdings in deutlich höherem Alter. Von ihrer herrischen Artfühlten sich ihre männlichen Kollegen bestenfalls eingeschüchtert,meistens aber herausgefordert. Allgemein wurde sie als kalt undemotionslos beschrieben, was aber nicht stimmte. Von Roberthatte sie gehört, dass manche sie, hinter vorgehaltener Hand, dieEiskönigin nannten.„Guten Morgen, die Herren. Wie gehen die Untersuchungenvoran?“ fragte Eva freundlich, aber bestimmt eine der vielenForscher-Gruppen. Es dauerte nicht lange bis ein eifriger Professoraus Harvard das Wort ergriff. Voller Enthusiasmus erklärte er ihrseine Interpretation einer chemischen Formel, welche dieElemente Au für Gold und Arg für Silber enthielt. Seine Theoriewar, dass die Tiboo es geschafft hatten, aus Silber Gold zuproduzieren. Obwohl sie ihn nicht unterbrach und aufmerksamzuhörte, waren ihr schon einige Fehler in seinen Berechnungenaufgefallen. Eva blickte auf ihr Notizbuch, schüttelte beinaheunmerklich den Kopf und seufzte leise. Die erfahrenerenProfessoren um sie herum schauten sich vielsagend an, denn diese 4
Geste konnte nur eines bedeuten. Spätestens morgen früh würdeihr Kollege aus Harvard ein Kuvert bekommen, das einDankesschreiben für seine bisherigen Dienste sowie ein First ClassFlugticket zurück in die Vereinigten Staaten enthielt.Selbstverständlich fiel es Eva nicht leicht, einen Forscher, der soviel Herzblut in seine Arbeit gelegt hatte, nach Haus zu schicken,doch genau das war ihr Job. Es war ein absolutes Privileg, an derEntschlüsselung der Scheibe mitzuwirken und da es nur Platz fürdie fünfzig fähigsten Forscher der Welt gab, konnte sie auch nurdie absolut Besten behalten.Eva machte sich gerade eine Notiz, nickte dem Harvard Professorfreundlich zu und bedankte sich höflich für seine Ausführungen.Der arme Kerl lächelte und strahlte vor Glück. Er hatte keineAhnung, dass er schon in wenigen Stunden in einem Flugzeug überdem Atlantik sitzen würde.„Geben Sie nicht auf, meine Herren. Sie befinden sich an einemOrt, an dem jede Woche Geschichte geschrieben wird. Eines Tageswird auch Ihre harte Arbeit belohnt werden. Morgen komme ichwieder vorbei. Bleib du ruhig hier Robert.“ sagte Eva und ihrAssistent verstand sofort, dass er sich, um die Kündigung desHarvard Professors kümmern sollte. Ohne ein weiteres Wortmachte sich Eva auf den Weg zur nächsten Gruppe. Sie schauteauf ihre Uhr. Seit 30 Stunden hatte sie nicht geschlafen und ihreletzte Mahlzeit lag auch schon viel zu lange zurück. Lange würdensich ihr Hunger und ihre Müdigkeit nicht mehr ignorieren lassen.Doch bevor sie sich ein wenig ausruhen und ein Frühstückbestellen konnte, wollte sie der Gruppe der Atomphysiker nocheinen Besuch abstatten. Sie holte tief Luft und durchsah ihreNotizen vom letzten Treffen. Danach drehte sie sich nach links undging zielstrebig auf eine Traube von Atomphysikern zu, die sichum den dreidimensionalen Bauplan einer komplexen Maschineversammelten. Es war eines der wichtigsten Projekte der gesamtenStation. Aufgeregt waren sie in eine Diskussion vertieft. Kaumhatten sie von Eva Notiz genommen, verstummten sie.„Guten Morgen meine Damen und Herren. Bitte lassen sie sichnicht stören. Ich möchte mir einen Überblick über die bisherigen 5
Fortschritte machen. Fahren Sie fort.“, sagte Eva mit einemfreundlichen Lächeln auf den Lippen und nickte dem jungen Mannaufmunternd zu, der zuvor aufgeregt und überschwänglichgesprochen hatte. Sofort setzte er da an, wo er bei Evas Anblickaufgehört hatte. Hin und wieder zeigte er auf die eine oder andereZahlenkombination im Hologramm, zwischen welchen er eineVerbindung vermutete. Bereits nach kurzer Zeit schweiften EvasGedanken ab und sie musterte die Projektion in der bläulichwabernden Masse vor sich. Wenn die Entschlüsselung endlichgelänge, stand vor ihnen die Lösung zur Energieknappheit undUmweltverschmutzung: ein Reaktor zur Kernfusion.* EinMenschheitstraum, an dessen Verwirklichung seit einemJahrhundert gearbeitet wurde. Man weiß, dass sie dieEnergiequelle aller Sterne ist, in dessen Kern der Druck großgenug ist, damit zwei, sich gegenseitig abstoßende Atomkerne,zusammenschmelzen. Dieser Druck ist auf Erden nichtnachahmbar. Die alternative Lösung: Hitze. Die Atomkernemüssen derart beschleunigt werden, dass sie aufeinanderprallenund fusionieren. Doch genau daran scheitert die Wissenschaft. Dieunvorstellbaren Temperaturen von über 100 Millionen Gradmüssen durch ein Hochspannungs-Magnetfeld isoliert und stabilgehalten werden. Bisher für die Menschheit ein unmöglichesUnterfangen. Die Tiboo hatten dieses Problem scheinbar gelöstund Eva hoffte, dass sie das Geheimnis bald lüften würden.Plötzlich bemerkte sie, dass die Forscher sie fragend anstarrten.Anscheinend hatte der junge Physiker ihr eine Frage gestellt, diesie nicht gehört hatte. Ärgerlich ob ihres unprofessionellenVerhaltens räusperte sie sich und rief: „Aber ja doch! Sie macheneindeutig Fortschritte. Machen Sie weiter.“ Sie nickte dem jungenMann zu und forderte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen auf,seine Erklärungen fortzusetzen. Ein wenig irritiert von dem* Eine chemische Reaktion, bei welcher zwei Wasserstoffatome unterEnergiefreisetzung zu Helium miteinander verschmelzen - das Gegenstück zurSpaltung der Atomkerne. Kontrollierte Kernfusion könnte eines Tages dieunbegrenzte Versorgung der gesamten Menschheit mit sauberer Energieermöglichen. 6
spontanen Lob oder der seltsamen Antwort, die so gar nichts mitder Frage zu tun gehabt hatte, wandte er sich erneut seinenKollegen zu.Eva fiel auf, dass seine Wangen leicht gerötet waren und seineintelligenten dunklen Augen vor Aufregung glänzten, während sievon einem Zuhörer zum nächsten sprangen. Er konnte nicht vielälter als Mitte dreißig sein und war somit zusammen mit Eva einerder Jüngeren im Raum. Seine lockigen Haare fielen ihm ständigins Gesicht und er musste sie immer wieder nach hinten streichen.Eva empfand ihn als vorbildlich im Vergleich zu manch älterenKollegen, die oft einen trägen Eindruck auf sie machten. Siekonnte ihm erneut nicht lange folgen, denn ein heftigerMagenkrampf ließ sie leise aufstöhnen. Sie kniff die Augenzusammen und versuchte sich zu entspannen. Endlich ließ derSchmerz nach. Genug für heute.Seit Woche wurden verschiedene Experten dieser bedeutsamenProjektion zugeteilt, doch niemandem war es bis jetzt gelungen,den Bauplan des Kernfusionsreaktor vollständig zu verstehen. Evawar skeptisch, dass heute ein anderer Tag sein würde und sie hatteRecht. Bei dem plötzlichen Einwand einer Kollegin, stutzte derjunge Professor, durchblickte hastig seine Notizen und schlug sichdann mit der flachen Hand vor die Stirn. „Verdammt noch mal!“,rief er laut, „Du hast Recht! Das innere Magnetfeld ist zu schwach,um die Ionen stabil zu halten und exotherme* Energie zuerzeugen.“ Enttäuscht warf er seine Notizen auf den Boden. „Wirhaben gar nichts! Der Reaktor schmilzt uns jedes Mal davon.Scheiß Atome, scheiß Physik, scheiß Tag! Ich hau mich jetzt aufsOhr.“ Damit verließ er mürrisch den Raum.Eigentlich konnte Eva derartige Gefühlsausbrüche den Forschernnicht durchgehen lassen, doch der junge Physiker war ihrsympathisch und seine Kompetenz stand außer Frage. Außerdemschien sich niemand über seine Kraftausdrücke aufzuregen.Achselzuckend nahmen die Atomphysiker ihre Aufgabe wieder* Eine chemische Reaktion bei der Energie, z.B. in Form von Wärme an dieUmgebung abgegeben. 7
auf und begannen damit, einen neuen Lösungsansatz zuentwickeln. Und damit war auch für Eva das Thema erledigt.Plötzlich flötete eine helle Frauenstimme durch den Saal:„Knusprige, leckere Bagles, frisch gepresster Orangensaft, Kaffeeund Tee!“ Bei diesen Worten meldete sich Evas Hunger zurückund sie lief auf die Frau zu, die einen kleinen Essenswagen vorsich herschob. Ursprünglich durften in diesem hochsensiblenArbeitsbereich keine Speisen oder Getränke konsumiert werden,aber schon nach drei Tagen war ein japanischer Historiker völligdehydriert zusammengebrochen. Seitdem wurden in regelmäßigenAbständen kleine Mahlzeiten und Getränke zur Verfügunggestellt.„Guten Morgen Mrs. Hutchinson.“, sagte Eva ein wenig außerAtem, da sie sich beeilt hatte, denn alle stürzten sich fürgewöhnlich wie die Geier auf die arme Verkäuferin.„Gut, dass Sie endlich da sind. Ich bekomme zwei BecherOrangensaft, dazu einen Bagle mit Frischkäse und TomatenMozzarella, sowie eine Tasse schwarzen Kaffee ohne Milch undmit einem Stück Zucker.“„Wie immer also.“ Sagte Frau Hutchinson lächelnd. Während dieVerkäuferin Evas Bestellung aufnahm, bildete sich eine langeSchlange, die ungeduldig nach vorne drängelte.„Nur mit der Ruhe. Ich habe genug für alle da.“ rief Mrs.Hutchinson.Kaum hatte sich Eva ihr Frühstück geschnappt, versteckte sievorsorglich den Bagle in ihrer Tasche als wäre ein Rudel vonHyänen hinter ihr her. Sie setzte sich etwas abseits an einen weißenTisch und begann gierig ihr Essen hinunterzuschlingen.Während sie den Rest ihres Kaffees austrank, bemerkte sie, wieihre Lebensgeister beinahe schlagartig zurückgekehrten. Trotzdembeschloss sie erst am nächsten Tag ihre Forschungsarbeitfortzusetzen. Nachdem sie den letzten Bissen ihres Baglesverdrückt hatte, stand sie auf, warf ihre Tasche mit dem Notizblockum die Schulter und marschierte Richtung Ausgang. Nachdem siealle Sicherheitsvorkehrungen durchgangen war und sichabgemeldet hatte, erreichte sie den Parkplatz und suchte in der 8
Morgensonne nach ihrem weißen Bentley. Sie war gerade dabei,die Kabel ihrer Kopfhörer zu entwirren, um sich das Best of Albumvon R. Kelly anzuhören, als sie jemand von hinten an die rechteSchulter tippte. „Entschuldigen Sie gnädige Frau.“ Überraschtdrehte sich Eva um. Gnädige Frau? Sie blickte in das Gesichteines Mannes etwa in ihrem Alter, der einen Stadtplan in der Handhielt. „Mein Name ist Ron Wall.“Der intensive Geruch seines Aftershaves schlug ihr ins Gesicht,wodurch ihr nicht auffiel, dass sein Atem leicht nach Whiskeyroch. Er schien ebenfalls die Nacht zum Tage gemacht zu haben,denn der dunkle Schatten eines 24-stündigen Bartwuchses wardeutlich zu erkennen.„Guten Tag, gnädiger Herr.“ antwortete Eva spöttelnd und schautefragend zu ihm auf, was selten vorkam, da sie selbst fast 1,80Meter groß war. Vielleicht blickte sie deshalb so aufmerksam inseine grauen Augen, die von einer großen, männlichen Nasegetrennt wurden und forschend in die ihren sahen. Sein markantes,unrasiertes Gesicht war nicht besonders schön, doch es weckte einungeahntes Interesse in ihr.Ron hatte belustigt das Mienenspiel und den Ausdruck in EvasAugen beobachtet. Eigentlich konnte Ron Stereotypen nichtausstehen, doch dummerweise hing sein Lebensunterhalt davonab. Es ist doch immer wieder das Gleiche. Dachte Ron, der soforterkannt hatte, dass Eva die Nacht durchgearbeitet hatte. Frauen,die ihren Job an oberste Stelle setzten, stießen Männer von sich,wie lästige Stechmücken. Innerlich dürsten sie jedoch nach Liebeund Zuneigung. Während er den Kopf leicht hin und her bewegte,fasste er den spontanen Entschluss, sich auf eine mühselige abermöglicherweise äußerst lohnenswerte Herausforderungeinzulassen und die fremde Frau auf ein Date einzuladen.Verlegen griff sich Ron an die Stirn. „Entschuldigen Sie, aber ichhabe jetzt ganz vergessen, was ich sagen wollte.“Eva wollte sich schon wegdrehen. „Zur U-Bahn geht es in dieRichtung.“„Warten Sie bitte. Einen Moment. Normalerweise mache ich soetwas eigentlich nicht,“ log Ron „Vielleicht habe ich zu wenig 9
geschlafen, aber ich spüre eine gewisse Spannung zwischen unsund ich würde sie gerne etwas näher kennenlernen. Ich essemorgen Abend im Pelikan und würde mich über Ihre reizendeBegleitung freuen.“ Das Pelikan war das nobelste und teuersteRestaurant weit und breit, dennoch war sich Ron sicher, dass sieversuchen würde, ihn abzuwimmeln und sich deshalb eine Lügefür ihn ausdachte.Eva war total überrumpelt von der Frage. Seit Monaten hatte sieniemand mehr ausgeführt. Obwohl ihr das Interesse des fremdenMannes mit den interessanten Augen schmeichelte, fühlte sie sichunbehaglich. Sie hatte keine Lust auf einen Flirt. Und was nochschlimmer war, sie fühlte sich in ihren geheimen Gedankenertappt, was sie schutzlos und nackt erscheinen ließ. Mach dichnicht lächerlich, Eva. Er kennt dich doch überhaupt nicht.„Wie war noch gleich Ihr Name? Mr. Wall? Richtig?“„Genau, aber sagen Sie einfach Ron zu mir.“„Mr. Wall.“, betonte Eva seinen Nachnamen scharf. „Sie sindbestimmt ein interessanter Mann und es hat Sie ohne Zweifel eineMenge Mut gekostet, mich hier Mitten auf einem Parkplatzanzusprechen und Sie können stolz auf sich sein, denn über zweiDrittel der Männer hätte sich das niemals getraut. Nehmen Sie esmir also nicht übel, wenn ich Ihnen jetzt Folgendes sage: Ich habeseit 30 Stunden kein Auge zugetan, bin hundemüde undkeineswegs in der Stimmung, mit einem unrasierten Kerl wieIhnen überhaupt auch nur ein Eis essen zu gehen. Erst recht nichtmit jemandem, den ich noch nie zuvor gesehen habe “ echauffiertesich Eva mehr als sie wollte. Man kannst du fies sein! Ihre Stimmewar laut geworden und ein vorbeigehender Wissenschaftler drehtesich verwundert zu ihnen um. Mach jetzt bloß keine Szene.ermahnte sich Eva. Verabschiede dich höflich und fahr nachHause, bevor du wirklich noch zur Eiskönigin wirst.Eva holte tief Luft. Für sie gab es nur eine Möglichkeit, diesen Kerlloszuwerden ohne seine Gefühle zu verletzen.„Nehmen Sie es nicht persönlich. Ich bin seit Jahren glücklichverheiratet und mein Ehemann wartet auf mich. Wenn sie michjetzt also bitte entschuldigen würden.“ Sagte Eva in einem leiseren 10
Ton, schwang ihre Tasche wieder um die Schultern und drehte sichum die eigene Achse. Da war sie endlich! Die erste Lüge! jauchzteRon innerlich und freute sich auf das, was als nächstes kommenwürde.Amüsiert applaudierte er Eva und sagte „EinwandfreieVorstellung. Vielleicht ein wenig zu bissig, aber trotzdem ganzoben in meinen persönlich Top Ten. Absolut glaubwürdig. MeinenRespekt. Damit hätten sie wahrscheinlich den charmantestenFrauenflüsterer aller Zeiten, James Bond und Casanovahöchstpersönlich, vergrault, aber ich bin leider nur ein einfacherSingle, genau wie Sie.“Eva hielt inne, drehte sich um und meinte entnervt „Wie bitte!? Ichbin glücklich verheiratet. Was erlauben Sie sich?“, doch innerlichdachte sie verzweifelt, Wer zum Teufel war dieser Kerl?„Sie sind nicht verheiratet. Außerdem weiß ich, dass siemindestens einmal die Woche Tennis spielen und zu meinemBedauern Vegetarierin sind. Dass Sie ein Workaholic sind, liegtauf der Hand.“Eva gab sich unbeeindruckt und streckte ihm zur Antwort nur ihrelinke Hand mit dem Ehering entgegen, als würde sie dieselbe Gestemit dem Mittelfinger machen. Inständig hoffte sie, dass dieserBluff sie endgültig aus der Affäre ziehen würde, doch Ron begannschon wieder zu grinsen.„Wie schon gesagt, Sie sind nicht verheiratet. Dieser„Ehering“ wird mich bestimmt nicht vom Gegenteil überzeugen.Den habe ich übrigens schon bemerkt, bevor ich sie begrüßt habe.“Sie standen sich jetzt wieder direkt gegenüber. „Wer zur Hölle sindSie überhaupt? Ein verdammter Stalker? Woher wissen Sie dennall diese Sachen über mich?“„Ah, jetzt stellen Sie die richtige Frage. Dass Sie Tennis spielen,konnte ich an der leicht verstärkten Muskulatur an Ihrem rechtenArm erkennen, wie sie nur für Tennisspieler üblich ist. Ihre reineHaut und dünnes Haar kennzeichnet Sie als einen langjährigenPflanzenfresser aus. Ein kleiner Proteinmangel, schätze ich.Vielleicht sollten Sie mehr Reis essen, oder sich mal ein schönesSteak gönnen.“ 11
Während Ron ihre weiteren Gewohnheiten offenbarte, die sonstniemand kannte, dämmerte ihr langsam, wen sie vor sich hatte.Ron war einer der Identitätsjäger, die die Persönlichkeit ihnenunbekannter Personen erraten konnten und von ihrer Firma für einebesondere Mission angeheuert wurde. Nachdem er fertig war,nickte sie anerkennend.„Nicht schlecht.“ Nun wollte sie aber wissen, wie gut er wirklichwar.„Aber woher wussten Sie, dass ich nicht verheiratet bin?“„Ich konnte es...“ Ron machte eine kurze Pause, als würde er nachden richtigen Worten suchen, bis er mit den Schultern zuckte undsagte, „Naja irgendwie konnte ich es fühlen.“„Sie konnten es fühlen?!“, wiederholte Eva, „Wie kann man soetwas denn bitte fühlen?!“ und zeichnete bei der Betonung auf dasWort „fühlen“, jeweils zwei Ausführungszeichen in die Luft.„Lassen Sie mich versuchen, es zu erklären. Oft sind esKleinigkeiten. Zum Beispiel fiel mir auf, dass sich ihre Pupillenbei meinem Anblick minimal vergrößerten. Außerdem konnte ichan ihrer Brust erkennen, dass sie schneller atmeten. Ihr Puls warleicht angestiegen, was mich auf einen Adrenalinausstoß schließenließ. Als nächstes sah ich mir Ihre Kleidung an. Mir fiel auf, dassSie mit Ihrer bis zum Hals zugeknöpften Bluse, ihrem langenschwarzen Rock und ihrem sehr dezent geschminkten Gesichtversuchen, möglichst unauffällig und passiv zu wirken.Möglicherweise um das Werben männlicher Kollegen bereits imKeim zu ersticken? Schließlich sind sie eine attraktive Frau.Natürlich ist mir dabei auch ihr Ehering aufgefallen, der mirallerdings in diesem Zusammenhang eher wie ein weitererSchutzschild vorkam. Als sie mich erblickten, streckten Sie IhrRückgrat durch, um sich nur einen Augenblick später mit derrechten Hand durchs Haar zu streichen. Unterbewusst wollten Sieauf mich einen positiven Eindruck machen. Allein die extremenGegensätze zwischen Ihrer Kleidung und Ihrer Körperspracheverrieten mir, dass sie mir und der Welt etwas vortäuschen undwahrscheinlich sich selbst auch.“ Ron wandte kurz den Blick abund betrachtete den Boden vor seinen Füßen, bevor er seine 12
Erklärungen fortsetzte: „Natürlich können ein erhöhter Puls undvergrößerte Pupillen Signale für alle möglichen emotionalenGefühlsausbrüche sein. Trotzdem kann man vomGesichtsausdruck einer Person lesen, wie er oder sie sich geradefühlt und mit ein bisschen Übung sogar sehen was sie denken,obwohl man die Person gerade zum ersten Mal getroffen hat.“ Evaschien nicht ganz überzeugt von Rons Erklärung zu sein underwiderte misstrauisch: „Sie können also sehen was ich denke? Siesind ein Gedankenleser!“, Eva lachte leicht gekünstelt undschüttelte dabei ungläubig den Kopf, doch Ron ließ sich davonnicht beeindrucken und fuhr fort: „Derjenige, der andere kennt, istweise, derjenige, der sich selbst kennt, ist erleuchtet. Wer anderebeherrscht, ist vielleicht mächtig…„Aber wer sich selbst beherrscht, ist noch vielmächtiger.“ Vollendete Eva Rons Zitat des chinesischenPhilosophen Dao. Beeindruckt von Evas Kenntnissen über diechinesische Literatur nickte Ron ihr nachdenklich zu, so als wäreer sich nun doch nicht mehr so sicher, ob er Eva tatsächlichdurchschaute. Sie war ihm nach wie vor ein Rätsel, was seinInteresse an ihr nur noch vergrößerte. Irgendetwas habe ichübersehen.„Sie wollen mir also erzählen, dass sie durch intensiveBeobachtungen der Gesichtszüge eines Menschen und derenReaktionen auf ihre provokativen Fragen wissen, was derjenigegerade denkt und vielleicht sogar plant oder zu verbergenversucht?“ fragte Eva in die entstandene Stille.Ron lächelte, nickte langsam und kratzte selbstzufrieden seinenBart. „Ohne arrogant klingen zu wollen, gehören dazu natürlichnoch andere Talente, wie eine ausgeprägte Menschenkenntnis, dieich mir über Jahre hinweg erst aneignen musste, sowie weitereanalytische und intellektuelle Fähigkeiten.“ trug Ron weiter dickauf „Oft ist es unheimlich schwer, die gewünschte Informationunbemerkt von der Zielperson herauszubekommen. Außerdemhandelt es sich oft um Geheimnisse, die die Person unter keinenUmständen preisgeben möchte.“ 13
„Hab ich’s mir doch gedacht!“ rief Eva und lachte laut, „Ich bin einem meiner eigenen Identitätsjäger auf den Leim gegangen.“ „Identitätsjäger?“, fragte Ron verwirrt. „Sie sind doch zu einem Job-Interview hier, nicht wahr? Bei ESOC-Laboratories, Extraterrestrial Spiritual Observation & Control Laboratories? “ Als Ron verstand, wen er vor sich hatte, rutschte sein Herz ein die Hose. Das kann nicht wahr sein. Habe ich gerade meinen zukünftigen Boss angebaggert? Ihm wurde heiß und er zupfte sich unruhig am Kragen, als er fragte, „Sie sind nicht zufällig Prof. Dr. Spring?“ „100 Punkte! Namen können Sie auch erraten? Sie haben heute ja einen richtigen Lauf!“ sagte Eva und grinste breit. Sie hatte nun richtig Spaß, Ron’s Überheblichkeit wie ein Kartenhaus einstürzen zu lassen. „Und weil Sie mir soeben eindrucksvoll bewiesen haben, dass aus uns zwei nie ein Paar werden kann, haben sich ihre Chancen auf den Job weiter verbessert. Jetzt muss ich aber wirklich los. Morgen um Punkt 11:00 auf dem Parkplatz? Ich freu mich.“ worauf Ron nur verdattert nickte. Dann stieg Eva in ihren weißen Bentley und ließ Ron sprachlos zurück.Wenn Sie wissen wollen wie es mit Ron und Eva weitergeht und wer derSeelenwanderer ist, dann können Sie das Buch online bei uns bestellen. 14
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