Peter ClarkDER SEELENWANDERER und das Vermächtnis des Planeten Tiboo
Das ESOC-GeheimlaborEine fremdartige Scheibe, nicht viel größer als ein griechischerDiskus, schwebte schwerelos über dem frisch polierten Marmorbodenin einem der berühmtesten Gebäude von Cambridge. Eine fremdeSpezies, genannt die Tiboos, hatte vor dem Untergang ihres Planetenunzählige dieser Scheiben in alle Richtungen des Weltalls geschickt.Doch nur eine hatte es bis zur Erde geschafft. Sie war erst vor kurzemin Australien gelandet und nun kümmerte sich die intellektuelle Elitedes 21. Jahrhunderts um die Entschlüsselung ihrer Geheimnisse. DieEngländer hatten am schnellsten reagiert und dank der gutenBeziehungen zu ihrer ehemaligen Kolonie die Scheibe sofort nachCambridge geholt. Die Amerikaner und die Deutschen mussten sichhintanstellen und auf die Großzügigkeit der ehemaligen Weltmachthoffen. Immerhin war ihnen deren größte Sorge, dass die Scheibe in dieHände von Terroristen fallen könnte, genommen worden.Wie die Miniaturfigur einer Satellitenschüssel drehte sich die Scheibeder Tiboos langsam um die eigene Achse, während aus ihrem Innereneine Art bläuliches Plasma strömte, das den ganzen Saal erfüllte und bisin den letzten Winkel reichte. In dieses Plasma projizierte die Scheibein dünnen Lichterketten das Wissen der Tiboo, um was sich wiederumdas Interesse der gesamten Menschheit drehte.Es war eine für die Erde völlig neuartige Konsistenz, der man bislangnoch keinen Namen gegeben hatte. „An diese Materie, oder Plasma,wie es die meisten mittlerweile nennen, werde ich mich wohl niegewöhnen können. Man kann es nicht greifen, aber dennoch spüre iches überall auf meiner Haut.“ sagte Eva zu einem Mann mit Hornbrilleund weißem Arbeitskittel, „Selbst nach vielen Stunden ist es immernoch ein befremdliches Gefühl, sich darin zu bewegen. Es ist schwer zubeschreiben, aber ich würde sagen, es fühlt sich an wie... wie...“ dochEva wollte kein geeigneter Begriff für das bläuliche Plasma einfallen. 2
„So wie kalter Wasserdampf vielleicht?“ warf Robert ein.„Ja, Robert. Genau! Wie kalter Wasserdampf.“ wiederholte Evakopfnickend. „Nur dass es natürlich nicht feucht ist.“ dabei warf sie ihreHaare nach hinten und sah Robert mit ihren blauen Augen, die in demphosphoreszierenden Licht fremdartig leuchteten, direkt an. „MeinGott, Eva!“ spielte Robert den Erschrockenen. „In diesem Licht siehstdu ja aus wie ein Alien!“Für einen Augenblick schauten sie sich regungslos an, dann verdrehteEva ihre Augen, verzog ihre Mundwinkel und begann tieftönig zugrunzen, was sich allerdings eher anhörte wie ein Zombie als ein Alien.Dann hielten sie es nicht mehr aus und prusteten gleichzeitig los, wiezwei junge Teenager. Als sie sich wieder beruhigt hatten, sagte Eva,während sie sich müde eine Träne aus dem Augenwinkel wischte: „AchRobert, mit dir kann man nach 24 Stunden Arbeit noch herumalbern.“„Das stimmt. Ich bin mit den Tiboos vollkommen derselben Meinung,Lachen ist überlebenswichtig.“ Antwortete Robert, der seit Jahren Evasschwuler Assistent war und zurzeit genauso wenig interessiert an einerBeziehung wie Eva selbst.Mit Notizblöcken unterm Arm machten sie sich auf den Weg zumnächsten Hologramm, die überall im Saal verteilt waren. Die Scheibeprojizierte sie, ähnlich wie ein Projektor, an mehreren Stellen in denRaum. Die Hologramme zeigten verschiedene dreidimensionaleZeichnungen, mathematische Gleichungen, wissenschaftliche Schriftenund sich bewegende Animationen von chemischen Elementen.Während Robert und Eva an den Projektionen vorbeigingen, kamen sieauch an mehreren Wissenschaftlern vorbei, die Tag und Nacht daranarbeiteten die Entdeckungen einer fremden Spezies zu entschlüsseln.Jeder Wissenschaftler, dem sie begegneten, grüßte sie herzlich. Nichtweil sie Eva oder Robert so gern mochten, sondern weil Eva ihr Bosswar und niemand wollte es sich mit ihr verscherzen. Ihre Autorität warbeinahe spürbar, genau wie das Plasma, das sie umgab.Eva war eine große, dünne Frau mit stahlblauen Augen und langenblonden Haaren, die fast ihren ganzen Rücken bedeckten. Das bläulicheSchimmern der Scheibe wurde von ihrer hellen Haut besonders starkreflektiert und betonte dadurch ihre feingliedrige Gestalt. Sie trug einegrüne oder gelbe Bluse, (das konnte man wegen des blauen Lichts im 3
Raum nicht genau erkennen) die ihre flache Brust bedeckte und fast biszum Hals zugeknöpft war.Sie leitete die Forschungsarbeiten und hatte damit auch diePersonalverantwortung. Folglich hatte sie die Befugnis,Wissenschaftler, die keine Ergebnisse lieferten oder nicht schnellgenug arbeiteten, durch andere zu ersetzen. Die Liste an Bewerbern warlang, denn jeder wollte an der Entschlüsselung des Grals der Weisheit,wie die Scheibe in den Medien genannt wurde, mitwirken. DieTatsache, aus einem beinahe unerschöpflichen Pool an Bewerbernschöpfen zu können, verlieh ihr eine Macht, die nur durch ihreIntelligenz übertroffen wurde. Letztes Jahr war sie im Alter von gerademal 38 Jahren für ihren zweiten Nobelpreis nominiert worden, was vorihr nur drei Männern und einer Frau gelungen war, allerdings indeutlich höherem Alter. Von ihrer herrischen Art fühlten sich ihremännlichen Kollegen oft eingeschüchtert. Andere beschrieben sie alskalt und emotionslos. Von Robert hatte sie gehört, dass manche sie dieEiskönigin nannten. Obwohl sie sehr attraktiv war, hatte es bisher nochniemand gewagt, sie auf ihr Privatleben anzusprechen, geschweigedenn sie auf einen Kaffee oder ein Abendessen einzuladen.„Guten Morgen, die Herren. Wie gehen die Untersuchungenvoran?“ fragte Eva freundlich, aber bestimmt in die Runde. Es dauertenicht lange bis ein eifriger Professor aus Harvard das Wort ergriff undversuchte, ihr seine Interpretation einer chemischen Formel zu erklären.Obwohl sie ihn nicht unterbrach und aufmerksam zuhörte,, waren ihrschon einige Fehler in seinen Berechnungen aufgefallen. Eva blickteauf ihr Notizbuch, schüttelte beinahe unmerklich den Kopf und seufzteleise. Die anderen Professoren um sie herum schauten sich sorgenvollan, denn jeder wusste, was diese Geste zu bedeuten hatte. Spätestensmorgen früh würde ihr Kollege aus Harvard ein Kuvert bekommen miteinem Dankesschreiben für seine bisherigen Dienste und einem FirstClass Flugticket zurück in die Vereinigten Staaten. Es fiel Eva natürlichnicht leicht, einen Forscher, der so viel Herzblut in seine Arbeit gelegthatte, nach Haus zu schicken, doch genau das war ihr Job. Es war einabsolutes Privileg, an der Entschlüsselung der Scheibe mitzuwirkenund da es nur Platz für die fünfzig fähigsten Forscher der Welt gab,konnte sie auch nur die absolut Besten behalten. 4
Eva machte sich gerade eine Notiz, nickte dem Harvard Professorfreundlich zu und bedankte sich höflich für seine Arbeit und seineAusführungen. Der arme Kerl lächelte und strahlte glücklich in dieRunde. Er hatte keine Ahnung, dass er schon in wenigen Stunden ineinem Flugzeug über dem Atlantik sitzen würde.„Entschuldigen sie mich bitte, meine Herren. Bleib du ruhig hierRobert.“ sagte Eva und machte sich auf den Weg zur nächsten Gruppe.Ihre hochhackigen Schuhe klackerten laut auf den steinernen Fliesen.Sie schaute auf ihre Uhr. Seit 30 Stunden hatte sie nicht geschlafen undihre letzte Mahlzeit lag auch schon viel zu lange zurück. Ihr Magenknurrte seit einer Weile und krampfte sich in immer kürzer werdendenAbständen schmerzhaft zusammen. Lange würden sich ihr Hunger undihre Müdigkeit nicht mehr ignorieren lassen. Doch bevor sie sich einwenig ausruhen und ein Frühstück bestellen konnte, wollte sie derGruppe der Atomphysiker noch einen Besuch abstatten. Sie holte tiefLuft und durchsah ihre Notizen vom letzten Treffen. Danach drehte siesich nach links und ging zielstrebig auf eine Traube von Atomphysikernzu, die sich um den Bauplan einer komplexen Maschine versammelten.Es war eines der wichtigsten Projekte der gesamten Station. Aufgeregtwaren sie in eine Diskussion vertieft, wurden allerdings sofort leiser,als sie Eva wahrnahmen.„Guten Morgen meine Damen und Herren. Bitte lassen sie sich nichtstören. Fahren sie mit ihren Überlegungen fort. Ich möchte mir einenÜberblick über die bisherigen Fortschritte machen.“, sagte Eva miteinem freundlichen Lächeln auf den Lippen und nickte dem jungenMann aufmunternd zu, der zuvor aufgeregt und überschwänglichgesprochen hatte. Sofort setzte er da an, wo er bei Evas Anblickaufgehört hatte. Hin und wieder zeigte er auf die eine oder andereZahlenkombination im Hologramm, zwischen welchen er eineVerbindung vermutete. Eva fiel auf, dass seine Wangen leicht gerötetwaren und seine intelligenten dunklen Augen vor Aufregung glänzten,während sie von einem Zuhörer zum nächsten sprangen. Er konnte nichtviel älter als Mitte 30 sein und war somit zusammen mit Eva einer derJüngeren im Raum. Seine lockigen Haare fielen ihm ständig ins Gesichtund er musste sie immer wieder nach hinten streichen. Er war überausehrgeizig und entschlossen. Eva empfand ihn als vorbildlich im 5
Vergleich zu manch älteren Kollegen, die oft einen trägen Eindruck aufsie machten. Plötzlich kreuzten sich ihre Blicke und die Physikerstarrten sie fragend an. Verwundert stutzte Eva. Anscheinend hatte derjunge Physiker ihr eine Frage gestellt, die sie nicht gehört hatte.Ärgerlich ob ihres unprofessionellen Verhaltens räusperte sich Eva undrief: „Aber ja doch! Sie machen eindeutig Fortschritte. Fahren Siefort.“ Sie nickte dem jungen Mann zu und forderte ihn mithochgezogenen Augenbrauen auf, seine Erklärungen fortzusetzen. Einwenig irritiert von dem spontanen Lob oder der seltsamen Antwort, dieso gar nichts mit der Frage zu tun gehabt hatte, wandten sie sich erneutihrem jungen Kollegen zu, der Eva selbstbewusst zuzwinkerte und miteinem kleinen Lächeln auf den Lippen fortfuhr. Sie konnte ihm erneutnicht lange folgen, denn ein heftiger Magenkrampf ließ sie leiseaufstöhnen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte sich zuentspannen. Endlich ließ der Schmerz nach. Atomphysik war noch nieihr liebstes Fachgebiet gewesen. Tief in Gedanken versunken, dasKlemmbrett locker unterm linken Arm und das Kinn leicht auf dierechte Faust gestützt, musterte sie die Projektion in der bläulichwabernden Masse vor sich. Wenn die Entschlüsselung endlich gelänge,stand vor ihr die Lösung der Energieknappheit und derUmweltverschmutzung: die Kernfusion, in welcher zweiWasserstoffatome unter Energiefreisetzung zu Helium miteinanderverschmelzen. Es wäre das Gegenstück zur Spaltung der Atomkernevon Elementen, wie Uran oder Plutonium, wodurch zwangsläufigradioaktiver Abfall entsteht. Kontrollierte Kernfusion bedeutet dagegendie unbegrenzte Versorgung der gesamten Menschheit mit saubererEnergie. Ein Menschheitstraum, an dessen Verwirklichung seit einemJahrhundert gearbeitet wird. Man weiß, dass sie die Energiequelle allerSterne inklusive der Sonne ist, in dessen Kern der Druck groß genugist, damit zwei positiv geladene und sich gegenseitig abstoßendeAtomkerne zusammenschmelzen. Dieser Druck ist auf Erden nichtnachahmbar. Die alternative Lösung wäre enorme Hitze, welche dieAtomkerne derart beschleunigt, dass sie aufeinanderprallen undfusionieren. Doch genau daran scheitert die Wissenschaft. Dieunvorstellbaren Temperaturen von über 100 Millionen Grad müssendurch ein Hochspannungs-Magnetfeld isoliert und stabil gehalten 6
werden, da bei einer Abkühlung die Kettenreaktion sofort unterbrochen wird. Die Tiboos hatten dieses Problem scheinbar gelöst und Eva hoffte, dass auch die Menschen bald saubere Energie benutzen konnten, statt ihre Umwelt bis in alle Ewigkeit mit nuklearen Abfällen zu verseuchen. Seit Woche wurden verschiedene Experten dieser bedeutsamen Projektion zugeteilt, um sie zu entschlüsseln, doch niemand hatte bisher endgültig verstanden, wie der Kernfusionsreaktor nachzubauen war. Trotz des Enthusiasmus der Atomphysiker war Eva mehr als skeptisch, dass heute der Tag sein würde, an dem dieses Geheimnis gelüftet werden würde. Und wie, um ihren Gedanken zu bestätigen, stutzte der junge Professor vor ihren Augen bei dem plötzlichen Einwand einer Kollegin, durchblickte hastig seine Notizen, verharrte einen Augenblick und schlug sich dann mit der flachen Hand vor die Stirn, dass es nur so knallte. Erschrocken fuhr eine zierliche Assistentin zusammen, die in der Nähe ein Manuskript studiert hatte, und ließ dabei beinahe ihre Kaffeetasse fallen. „Verdammt noch mal!“, rief er laut, „Du hast Recht! Das innere Magnetfeld ist zu schwach, um die Ionen stabil zu halten und exotherme* Energie zu erzeugen.“ Enttäuscht und sauer schob er hinterher „Wir haben gar nichts! Der Reaktor schmilzt uns jedes Mal davon. Scheiß Atome, scheiß Physik, scheiß Tag! Ich hau mich jetzt aufs Ohr.“ damit wandte er sich zum Ausgang, zerknüllte seine Notizen, warf sie in eine Ecke und rief den anderen zu „Viel Glück und gebt nicht auf!“ Damit verließ er mürrisch den Raum. Eigentlich konnte Eva derartige Gefühlsausbrüche den Forschern nicht durchgehen lassen, doch der junge Physiker war ihr sympathisch. Außerdem schien sich niemand über seine Kraftausdrücke aufzuregen. Achselzuckend nahmen die Atomphysiker ihre Aufgabe wieder auf und begannen damit, einen neuen Lösungsansatz zu entwickeln. Und damit war auch für Eva das Thema erledigt. Leicht gelangweilt machte sie sich ein paar Notizen und starrte danach für eine Weile in die bläuliche Projektion, als könnte sie dadurch in Verbindung mit ihrem geistigen Besitzer treten. Normalerweise* Chemische Reaktion bei der Energie, z.B. in Form von Wärme an die Umgebung abgegebenwird 7
arbeitete sie wie besessen an der Decodierung und Entschlüsselung derHologramme, doch der Hunger und der Schlafentzug verlangtenlangsam ihren Tribut. Plötzlich ertönte eine Frauenstimme::„Knusprige, leckere Bagles, frisch gepresster Orangensaft, Kaffee undTee!“ Bei diesen Worten meldete sich Evas Hunger zurück und befahlihr, sofort dieser Stimme und dem herrlichen Duft zu folgen. Sie liefauf die Frau zu, die einen kleinen Wagen vor sich herschob und frischeMahlzeiten und kalte Getränke anbot. Ursprünglich durften in diesemhochsensiblen Arbeitsbereich keine Speisen oder Getränke konsumiertwerden, aber schon nach drei Tagen war ein japanischer Historikervöllig dehydriert zusammengebrochen. Seitdem wurden inregelmäßigen Abständen kleine Mahlzeiten und Getränke zurVerfügung gestellt, da Viele sich völlig in ihrer Arbeit verloren.Dadurch wurden die Forscher erinnert, ihre Körper mit den nötigenNährstoffen zu versorgen und der Geruch nach frischen Backwaren,Kaffee und Obst zwang selbst die Ehrgeizigsten unter ihnen, ihreNachforschungen für einen Augenblick zu unterbrechen. „GutenMorgen Mrs. Hutchinson.“, sagte Eva ein wenig außer Atem, da sie sichbeeilt hatte, den Essenswagen, als Erste zu erreichen, denn dieGelehrten stürzten sich für gewöhnlich wie die Geier auf die arme MrsHutchinson.„Gut, dass Sie endlich da sind. Ich bekomme zwei Becher Orangensaft,dazu einen Bagle mit Frischkäse und Tomaten Mozzarella, sowie eineTasse schwarzen Kaffee ohne Milch und mit einem Stück Zucker.“„Wie immer also.“ Sagte Frau Hutchinson lächelnd. Während dieVerkäuferin Evas Bestellung aufnahm, bildete sich eine langeSchlange, die ungeduldig nach vorne drängelte.„Nur mit der Ruhe. Ich habe genug für alle da.“ rief Mrs. Hutchinson,die sich jeden Tag vorkam, wie eine Eiswarenverkäuferin an einemheißen Sommertag vor einem Kindergarten.Kaum hatte sich Eva ihr Frühstück geschnappt, versteckte sievorsorglich den Bagle in ihrer Tasche als wäre ein Rudel von Hyänenhinter ihr her. Sie setzte sich etwas abseits an einen weißen Tisch undbegann, ihr Essen hinunterzuschlingen.Während sie den Rest ihres Kaffees austrank, bemerkte sie, wie ihreLebensgeister beinahe schlagartig zurückgekehrten. Trotzdem 8
beschloss sie erst am nächsten Tag ihre Forschungsarbeit fortzusetzen.Nachdem sie den letzten Bissen ihres Bagles heruntergeschlungenhatte, stand sie ruckartig auf, warf ihre Tasche mit dem Notizblock umdie Schulter und marschierte Richtung Ausgang. Nachdem sie alleSicherheitsvorkehrungen durchgangen war und sich abgemeldet hatte,erreichte sie den Parkplatz und suchte in der Morgensonne nach ihremweißen Bentley. Sie war gerade dabei, die Kabel ihrer Kopfhörer zuentwirren, um sich das Best of Album von R. Kelly anzuhören, als siejemand von hinten an die rechte Schulter tippte. „Entschuldigen Siegnädige Frau.“ Überrascht drehte Eva sich um. Gnädige Frau? Sieblickte in das Gesicht eines Mannes etwa in ihrem Alter, der einenStadtplan in der Hand hielt. „Mein Name ist Ron Wall.“Der intensive Geruch seines Aftershaves schlug ihr ins Gesicht,wodurch ihr nicht auffiel, dass sein Atem leicht nach Whiskey roch. Erschien ebenfalls die Nacht zum Tage gemacht zu haben, denn derdunkle Schatten eines 24-stündigen Bartwuchses war deutlich zuerkennen.„Guten Tag, gnädiger Herr.“ antwortete Eva spöttelnd und schautefragend zu ihm auf, was selten vorkam, da sie selbst fast 1,80 Metergroß war. Vielleicht blickte sie deshalb so aufmerksam in seine grauenAugen, die von einer großen, männlichen Nase getrennt wurden undforschend in die ihren sahen. Sein markantes, unrasiertes Gesicht warnicht besonders schön, doch es weckte ein ungeahntes Interesse in ihr.Ron hatte belustigt das Mienenspiel und den Ausdruck in Evas Augenbeobachtet. Eigentlich hasste Ron Stereotypen und Klischees, dochdummerweise hing sein Lebensunterhalt davon ab. Es ist doch immerwieder das Gleiche. Dachte Ron, der sofort erkannt hatte, dass Eva dieNacht durchgearbeitet hatte. Frauen, die ihren Job an oberste Stellesetzten, stießen Männer von sich, wie lästige Stechmücken. Innerlichdürsten sie jedoch nach Liebe und Zuneigung. Während er den Kopfleicht hin und her bewegte, fasste er den spontanen Entschluss, sich aufeine mühselige aber möglicherweise äußerst lohnenswerteHerausforderung einzulassen und die fremde Frau auf ein Dateeinzuladen.Verlegen griff sich Ron an die Stirn. „Entschuldigen Sie, aber ich habejetzt ganz vergessen, was ich sagen wollte.“ 9
Eva wollte sich schon wegdrehen. „Zur U-Bahn geht es in dieRichtung.“„Warten Sie bitte. Einen Moment. Normalerweise mache ich so etwaseigentlich nicht,“ log Ron „Aber ich spüre eine gewisse Spannungzwischen uns und ich würde sie gerne etwas näher kennenlernen. Ichwerde morgen im Pelikan zu Abend essen und würde mich über Ihrereizende Begleitung sehr freuen.“ Das Pelikan war das nobelste undteuerste Restaurant weit und breit, dennoch war sich Ron sicher, dasssie versuchen würde, ihn abzuwimmeln und sich deshalb eine Lüge fürihn ausdachte.Eva war total überrumpelt von der Frage. Seit Monaten hatte sieniemand mehr ausgeführt. Obwohl ihr das Interesse des fremdenMannes mit dem durchdringenden Blick schmeichelte, fühlte sie sichunbehaglich. Sie hatte keine Lust auf einen Flirt. Und was nochschlimmer war, sie fühlte sich in ihren geheimen Gedanken ertappt, wassie schutzlos und nackt erscheinen ließ. Mach dich nicht lächerlich,Eva. Er kennt dich doch überhaupt nicht.„Wie war noch gleich Ihr Name? Mr. Wall? Richtig?“„Genau, aber sagen Sie einfach Ron zu mir.“Mr. Wall.“, betonte Eva seinen Nachnamen scharf. „Sie sind bestimmtein interessanter Mann und es hat Sie ohne Zweifel eine Menge Mutgekostet, mich hier Mitten auf einem Parkplatz anzusprechen und Siekönnen stolz auf sich sein, denn über zwei Drittel der Männer hätte sichdas niemals getraut. Nehmen Sie es mir also nicht übel, wenn ich Ihnenjetzt Folgendes sage: Ich habe seit 30 Stunden kein Auge zugetan, binhundemüde und keineswegs in der Stimmung, mit einem unrasiertenKerl wie Ihnen überhaupt auch nur ein Eis essen zu gehen. Erst rechtnicht mit jemandem, den ich noch nie zuvor gesehen habe “ echauffiertesich Eva mehr als sie wollte. Man kannst du fies sein! Ihre Stimme warlaut geworden und ein vorbeigehender Wissenschaftler drehte sichverwundert zu ihnen um. Mach jetzt bloß keine Szene. ermahnte sichEva. Verabschiede dich höflich und fahr nach Hause, bevor du wirklichnoch zur Eiskönigin wirst.Eva holte tief Luft. Für sie gab es nur eine Möglichkeit, diesen Kerlloszuwerden ohne seine Gefühle zu verletzen. 10
„Ich bin seit Jahren glücklich verheiratet und mein Ehemann wartet aufmich. Wenn sie mich jetzt also bitte entschuldigen würden.“ Sagte Evain einem leiseren Ton, schwang ihre Tasche wieder um die Schulternund drehte sich um die eigene Achse. Da war sie endlich! Die ersteLüge! jauchzte Ron innerlich und freute sich auf das, was als nächsteskommen würde.Amüsiert applaudierte er Eva und sagte „Einwandfreie Vorstellung.Vielleicht ein wenig zu bissig, aber trotzdem ganz oben in meinenpersönlich Top Ten. Absolut glaubwürdig. Meinen Respekt. Damithätten sie wahrscheinlich den charmantesten Frauenflüsterer allerZeiten, James Bond und Casanova höchstpersönlich, vergrault, aber ichbin leider nur ein einfacher Single, genau wie Sie.“Eva hielt inne, drehte sich um und meinte entnervt „Wie bitte!? Ich binglücklich verheiratet. Was erlauben Sie sich?“, doch innerlich dachtesie verzweifelt, Wer zum Teufel war dieser Kerl?„Sie sind nicht verheiratet. Sie spielen einmal die Woche Tennis undsind zu meinem Bedauern Vegetarierin. Dass Sie ein Workaholic sind,liegt auf der Hand.“Eva gab sich unbeeindruckt und streckte ihm zur Antwort nur ihre linkeHand mit dem Ehering entgegen, als würde sie dieselbe Geste mit demMittelfinger machen. Inständig hoffte sie, dass dieser Bluff sieendgültig aus der Affäre ziehen würde, doch Ron begann schon wiederzu grinsen.„Wie schon gesagt, Sie sind nicht verheiratet. Dieser „Ehering“ wirdmich bestimmt nicht vom Gegenteil überzeugen. Den habe ich übrigensschon bemerkt, bevor ich sie begrüßt habe.“Sie standen sich jetzt wieder direkt gegenüber, als Eva aufbrauste, „Werzur Hölle sind Sie überhaupt? Ein verdammter Stalker? Woher wissenSie denn all diese Sachen über mich?“„Ah, jetzt stellen Sie die richtige Frage. Dass Sie Tennis spielen, konnteich an der leicht verstärkten Muskulatur an Ihrem rechten Armerkennen, wie sie nur für Tennisspieler üblich ist. Ihre reine Haut unddünnes Haar kennzeichnet Sie als einen langjährigen Pflanzenfresseraus. Ein kleiner Proteinmangel, schätze ich. Vielleicht sollten Sie mehrReis essen, oder sich gleich mal ein schönes Steak gönnen.“ 11
„Nicht schlecht.“ Gab Eva anerkennend zu und wusste jetzt selbst, wensie vor sich hatte. Ron war einer der Identitätsjäger, die diePersönlichkeit ihnen unbekannter Personen erraten konnten und vonihrer Firma für eine besondere Mission angeheuert wurde. Nun wolltesie wissen, wie gut er wirklich war.„Aber woher wussten Sie, dass ich nicht verheiratet bin?“„Ich konnte es...“ Ron machte eine kurze Pause, als würde er nach denrichtigen Worten suchen, bis er mit den Schultern zuckte und sagte,„Naja irgendwie konnte ich es fühlen.“„Sie konnten es fühlen?!“, wiederholte Eva, „Wie kann man so etwasdenn bitte fühlen?!“ und zeichnete bei der Betonung auf das Wort„fühlen“, jeweils zwei Ausführungszeichen in die Luft.„Lassen Sie mich versuchen, es zu erklären. Oft sind es Kleinigkeiten.Zum Beispiel fiel mir auf, dass sich ihre Pupillen bei meinem Anblickminimal vergrößerten. Außerdem konnte ich an ihrer Brust erkennen,dass sie schneller atmeten. Ihr Puls war leicht angestiegen, was michauf einen Adrenalinausstoß schließen ließ. Als nächstes sah ich mir IhreKleidung an. Mir fiel auf, dass Sie mit Ihrer bis zum Hals zugeknöpftenBluse, ihrem langen schwarzen Rock und ihrem sehr dezentgeschminkten Gesicht versuchen, möglichst unauffällig und passiv zuwirken. Möglicherweise um das Werben männlicher Kollegen bereitsim Keim zu ersticken? Schließlich sind sie eine attraktive Frau.Natürlich ist mir dabei auch ihr Ehering aufgefallen, der mir allerdingsin diesem Zusammenhang eher wie ein weiterer Schutzschild gegenmännliche Flirt-Attacken vorkam. Als sie mich erblickten, streckten SieIhr Rückgrat durch, um sich nur einen Augenblick später mit derrechten Hand durchs Haar zu streichen. Unterbewusst wollten Sie aufmich einen positiven Eindruck machen. Allein die extremenGegensätze zwischen Ihrer Kleidung und Ihrer Körpersprache verrietenmir, dass sie mir und der Welt etwas vortäuschen und wahrscheinlichsich selbst auch.“ Ron wandte kurz den Blick ab und betrachtete denBoden vor seinen Füßen, bevor er seine Erklärungen fortsetzte:„Natürlich können ein erhöhter Puls und vergrößerte Pupillen Signalefür alle möglichen emotionalen Gefühlsausbrüche sein. Trotzdem kannman vom Gesichtsausdruck einer Person lesen, wie er oder sie sichgerade fühlt und mit ein bisschen Übung sogar sehen was sie denken, 12
obwohl man die Person gerade zum ersten Mal getroffen hat.“ Evaschien nicht ganz überzeugt von Rons Erklärung zu sein und erwidertemisstrauisch: „Sie können also sehen was ich denke? Sie sind einGedankenleser!“, Eva lachte leicht gekünstelt und schüttelte dabeiungläubig den Kopf, doch Ron ließ sich davon nicht beeindrucken undfuhr fort: „Derjenige, der andere kennt, ist weise, derjenige, der sichselbst kennt, ist erleuchtet. Wer andere beherrscht, ist vielleichtmächtig…„Aber wer sich selbst beherrscht, ist noch viel mächtiger.“ VollendeteEva Rons Zitat des chinesischen Philosophen Dao. Beeindruckt vonEvas Kenntnissen der chinesischen Literatur nickte Ron ihrnachdenklich zu, so als wäre er sich nun doch nicht mehr so sicher, ober Eva tatsächlich durchschaute. Sie war ihm nach wie vor ein Rätsel,was sein Interesse an ihr nur noch vergrößerte. Irgendetwas habe ichübersehen.„Sie wollen mir also erzählen, dass sie durch intensive Beobachtungender Gesichtszüge eines Menschen und deren Reaktionen auf ihreprovokativen Fragen wissen, was derjenige gerade denkt und vielleichtsogar plant oder zu verbergen versucht?“ fragte Eva in die entstandeneStille.Ron lächelte, nickte langsam und kratzte selbstzufrieden seinen Bart.„Ohne arrogant klingen zu wollen, gehören dazu natürlich noch andereTalente, wie eine ausgeprägte Menschenkenntnis, die ich mir über Jahrehinweg erst aneignen musste, sowie weitere analytische undintellektuelle Fähigkeiten.“ trug Ron weiter dick auf „Oft ist esunheimlich schwer, die gewünschten Informationen unbemerkt von derZielperson herauszubekommen. Außerdem handelt es sich oft umGeheimnisse, die die Person unter keinen Umständen preisgebenmöchte.“„Hab ich’s mir doch gedacht!“ rief Eva und lachte laut, „Ich bin einemmeiner eigenen Identitätsjäger auf den Leim gegangen.“„Identitätsjäger?“, fragte Ron verwirrt.„Sie sind doch zu einem Job-Interview hier, nicht wahr? Bei ESOC-Laboratories, Extraterrestrial Spiritual Observation & ControlLaboratories? “ 13
Als Ron verstand, wen er vor sich hatte, rutschte sein Herz ein wenig indie Hose. Nein, das kann nicht wahr sein... Hatte er gerade seinenzukünftigen Boss angebaggert? schoss es ihm sofort durch den Kopf.Ihm wurde heiß und er zupfte sich unruhig am Kragen, als er fragte,„Sie sind nicht zufällig Prof. Dr. Spring?“„100 Punkte! Sie haben heute ja einen richtigen Lauf!“ sagte Eva undgrinste breit. Sie hatte nun richtig Spaß, Rons Überheblichkeit wie einKartenhaus einstürzen zu lassen. „Und weil Sie mir soebeneindrucksvoll bewiesen haben, dass aus uns zwei nie ein Paar werdenkann, haben sich ihre Chancen auf den Job weiter verbessert. Jetzt mussich aber wirklich los. Morgen um Punkt 11:00 auf dem Parkplatz? Ichfreu mich.“ worauf Ron nur verdattert nickte. Dann stieg Eva in ihrenweißen Bentley und ließ Ron sprachlos zurück. 14
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