E DIE WOLFSAUGENBRAUE s war einmal ein junger Bauersmann, der in einem Dorf lebte. Er war ehrlich und fleißig, jedoch sehr arm. Und so konnte er seine Hütte und seine Felder nicht mehr erhalten.Weil er Schulden hatte, musste er seine Habe schließlich verkaufen und vom Dorfwegziehen. Er hatte weder Familie noch Verwandte, und die Dorfeinwohnerwaren kaltherzig, und so half ihm niemand.So zog der Bauer allein in einen Wald in den Bergen. Am Abend wollte er sich ookami: Wolfunter einen Baum legen und schlafen. Kaum hatte er sich niedergelegt, vernahmer aus der Ferne Wolfsgeheul, und bald kamen ihm fünf oder sechs Wölfe ent- mayu: Augenbrauegegen. Er dachte, die letzte Stunde hätte ihm geschlagen. Er schloss seine Augenfest zu, und wartete von den Wölfen gefressen zu werden. 昔々Aber es geschah nichts. Eine Weile später öffnete er wieder die Augen. Stattder Wölfe sah er nun sechs Menschen: Einen alten Mann, eine junge Frau, einen mukashi mukashi : Es war einmal …jungen Mann und Kinder. Alle schauten ihn freundlich und hilfsbereit an,und der alte Mann sagte: „Wir sind Wölfe, aber eine Gestalt des Wolfs ist derMensch. Nur wer ein freundliches und ehrliches Herz hat, erhält eine mensch-liche Gestalt. Du wurdest von den Dorfbewohnern misshandelt, obwohl duimmer ehrlich und fleißig warst. Das tut uns sehr leid, und darum wollen wirdir gerne helfen. Nimm meine Augenbraue. Durch meine Augenbraue kannstdu den Charakter der Menschen sehen. Wer über dich lacht oder dich schlechtbehandelt, nimmt durch meine Augenbraue die Gestalt des Tieres an. Freund-liche und ehrliche Menschen aber siehst du durch meine Augenbraue in Men-schengestalt. Suche dir mit Hilfe meiner Augenbraue einen richtigen Menschenund arbeite bei ihm. Dann wird das Glück mit dir sein.“Nachdem der alte Mann gesprochen hatte, schenkte er ihm seine Augenbraue.Im nächsten Augenblick verwandelten sich die Menschen wieder in Wölfe undverschwanden im Wald.
Am nächsten Tag kehrte der Bauer ins Dorf zurück und betrachtete aus derFerne jeden Dorfeinwohner durch die Wolfsaugenbraue. Und siehe da, diekaltherzigen eingebildeten Dorfeinwohner waren allesamt Schweine. Sofort ver-ließ er das Dorf wieder und kam in eine große Stadt. Dort versuchte er, einenaufrichtigen Mann zu finden, der ihn in seine Dienste nehmen könnte. Auf derStraße sprachen zwei Handelsmänner eifrig über ihre Geschäfte. Durch dieWolfsaugenbraue aber sah er einen Dachs und einen Fuchs. Ihre schönen Wortehatten für ihn den Klang von Torheit und Betrug. Die Kinder, die ihn wegen sei-ner ärmlichen Kleidung auslachten, erschienen unter seiner Wolfsaugenbraueals Affen. In den Reisfeldern am Rande der Stadt schwatzten zwei Bäuerinnenund kümmerten sich nicht weiter um die Feldarbeit. Durch die Wolfsaugen-braue entpuppten sie sich als Gans und Ente. Wohin er auch sah, nirgends saher durch seine Wolfsaugenbraue einen Menschen! Der Bauersmann begann schon zu verzweifeln, weil er sehen musste, dass dieMenschen nur falsch oder verlogen waren, als er durch seine Wolfsaugenbraueplötzlich einen Menschen sah. Er sah einen gut gekleideten Mann von etwa 60Jahren. Er folgte ihm und bat ihn um eine Anstellung. Der Mann war ein wohl-habender Bauer mit großem Besitz. Aber er war auch ehrlich und hatte Mitleidmit dem verwahrlosten Gegenüber, und so bot er ihm eine Stelle an. Fortanarbeitete der junge Mann fleißig und ehrlich, sodass der Landbesitzer, der selbstkeine Kinder hatte, ihn schließlich adoptierte. Nach dem Tod des wohlhaben-den Bauern erbte er dessen Vermögen und lebte glücklich.
D VON GÖTTLICHEN WÖLFEN ie Wolfsaugenbraue ist nicht nur eine der ältesten Fabeln aus dem japanischen Kulturkreis, sondern auch die Lieblingsfabel von Frau Dr. Akiko Kubo, die uns diese Fabel liebenswürdigerweise für unsere Anthologie erzählt hat. ofuda: Talisman;„o“ (respektvolle In der japanischen Mythologie und Folklore repräsentieren Wölfe entweder Anrede) +„fuda“ (Notiz, Nachricht) direkt Shinto-Gottheiten (das Wort shintō entstammt dem Chinesischen, wo es shendao ausgesprochen wird. Dabei bedeutet Shen „Geist(er)“ oder „Gott/ So kann ein„ofuda“ tatsächlich Götter“, und dao ist der „Weg“), oder deren Boten, wie in der vorliegenden aussehen. Nach Goethe wäre es ein Geschichte, in welcher der Wolf als Botschafter der Gottheit der GerechtigkeitAmulett: Amulette sind dergleichen / in Erscheinung tritt. In Zeiten größerer Naturverbundenheit verehrten Getreidebauern die Auf Papier geschriebne Zeichen. Wolfsgottheiten an Schreinen und hinterließen Nahrungsmitteln in der Nähe ihrer Höhlen, um für ihre Ernten Verschonung vor der Verwüstung durch Wildschweine und Hirsche zu erbitten. Leider aber sah man etwa ab dem acht- zehnten Jahrhundert – in Japan, ebenso wie im Westen – den Wolf als „tollwü- tigen Menschentöter“ an und so wurde er bis zum Beginn des 0. Jahrhunderts nahezu ausgerottet. Spuren der Rückbindung des Menschen mit der göttlichen Sphäre des Wolfs haben sich indes im japanischen Brauchtum erhalten. Auch heute noch trifft man den Wolf in Form von Talismanen und Amuletten an, die in kleinen Schrei- nen oder auf Textilien, Metallen oder Papierstreifen aufgebracht sind. In japa- nischen Häusern finden sich „ofuda“ auch auf Eingangstüren und dienen dem Schutz der Familie vor Krankheit und Unheil. Ofuda werden jährlich erneuert, was an den Brauch zum Dreikönigsfest in unseren Breiten erinnert, mit geweih- ter Kreide die Jahreszahl und die Buchstaben C + M + B auf die Pfosten von Eingangstüren zu schreiben: „Christus mansionem benedicat“ („Christus segne dieses Haus“).
A ZUR PERSON kiko Kubo hat in den 1970ern in ihrer Geburtststadt Tokio Japanische Geschichte und Buddhismus studiert. 1977 besuchte sie England und lernte dort eineÖsterreicherin kennen. In den folgenden Jahren besuchte sie jedes Jahr einesder österreichischen Bundesländer, bis sie schließlich in Wien blieb und an derhiesigen Universität ihr Doktoratstudium Ethnologie (Völkerkunde) aufnahm.Währenddessen unterrichtete Akiko Kubo japanische Sprache und Kultur an der Akiko: strahlend, KindVienna International School, die seit jeher einen hohen Anteil japanischer Kubo: ein japanischer Familienname Schüler und Schülerinnen hatte. Nach dem Abschluss des Doktorats über „Die Bedeutung der Religion im Alltagsleben des japanischen Volkes in der Gegenwart am Beispiel des Omizutori-Festes“ im Jahr 1985 wollte sie zurück nach Japan, blieb aber in Wien, weil „jedes Jahr so viele Schüler aus Japan nach Wien kamen“. So unterrichtet Akiko Kubo inzwischen auch an den Wiener Volkshochschulen, sodass sie derzeit nur einmal im Jahr ihre Heimat besuchen kann. Dafür ist Österreich in einem Ausmaß zu ihrer Heimat geworden, dass sie zu Sitten und Bräuchen in Österreich forschte, und im Jahr 2000 mit ins JapanischeCoverfoto zu den„Sagen aus Österreich“. Der Buchrü- übertragenen „Sagen aus Österreich“ incken befindet sich auf der rechten Seite. Hat man bei Buchform publizierte.der Herstellung des Buches gepfuscht, oder liest manin Japan Bücher anders als bei uns?
SPRACHSPIELE1Ist das ein Mondgesicht oder bereits eineerste Lektion der japanischen Sprache?2Im gegenüber abgebildeten Abschnitt ausdem Inhaltsverzeichnis von Akiko Kubos„Sagen aus Österreich“ finden sich einigeWiener Sagen. Welche?
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