679 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 92 680 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 92 5. Die Stadt als Rechts- und Lebensform genossenschaftlicher Verband: jeder Bürger haftete für sich, und der Eid einer Stadt bestand aus der Die Kreuzzüge brachten den italienischen Seestädten Summe der Einzeleide der eidesfähigen Bürger. Nach einen großen Aufschwung, waren sie es doch, die Größe und Rechtsform hatten die oberitalienischen viele Kreuzfahrer in das Heilige Land transportierten Städte einen erheblichen Vorsprung vor anderen und die ständige Verbindung dorthin aufrechterhiel- Stadtgebilden in Europa, auch wenn zur gleichen Zeit ten. Vor allem Genua und Pisa verschafften sich Ha- im Bereich des deutschen Reiches städtische Autono- fenmonopole, während Venedig sich den zoll- und ab- miebestrebungen sich bemerkbar machten. gabefreien Handel mit Griechenland verbriefen ließ und erst später auf das Heilige Land ausgriff. Von Der erste städtische Freiheitsbrief, der überliefert dem Seehandel profitierten auch die oberitalienischen ist, galt dem flämischen Huy in der Diözese Lüttich. Binnenstädte, und in den reich gewordenen Kommu- Der Graf von Flandern, ein Feind des Bischofs, hatte nen, die sich zuweilen in Fahnenwagen selbstbewußte in einer Fehde den Ort zerstört; um die Bewohner zur Symbole gaben, kam es zu Spannungen und Kämpfen Rückkehr zu veranlassen, verkündete der Bischof von über Fragen der städtischen Verfassung. Die unteren Lüttich als Stadtherr 1066 jenen Freiheitsbrief. Die Schichten drängten auf Beteiligung neben dem hohen Abgabeverpflichtung wurde stark eingeschränkt; den und dem mit dem Bürgertum meist zusammengehen- Bürgern – zum ersten Mal taucht das Wort burgenses den niederen Adel; Behörden und Behördenhäupter auf – ist eine partiell eigenständige Gerichtsbarkeit wurden geschaffen, consules, die anfangs häufig als zugestanden: Wer außerhalb der Stadt ein Kapitalver- militärische Führer auftraten – 1080 in Lucca, 1084 brechen beging, in die Stadt jedoch flüchten konnte, in Pisa, 1097 in Mailand, 1099 in Genua –, dann aber unterstand dem Schutz des städtischen Friedensbe- Verwaltungsaufgaben übernahmen. Auf der Grundla- zirks, wenn er den städtischen Urteilsspruch aner- ge des römischen Rechts, das zu einem »diritto comu- kannte. Auf diese Weise läßt die Handfeste von Huy ne« fortgebildet wurde, entstanden Stadtrechte, die die Stadt als Rechtskörperschaft und als Friedens- nach der Gleichheit aller Bürger trachteten. Allerdings wahrerin erscheinen. war die bürgerliche Gemeinschaft kein geschlossener Von dieser Stufe der Autonomie waren die Städte 681 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 93 in den Zentrallandschaften des deutschen Reiches noch weit entfernt, zumal die ersten Versuche einer Loslösung vom Stadtherrn häufig fehlgeschlagen waren. In Trier hatten 1066 die führenden Familien 682 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 93 der Stadt einen Kandidaten zum Metropoliten erho- ben, dem der Erzbischof Anno von Köln jedoch die Arenga wird für die »Einwohner aller Städte« königli- Ordination verweigerte. Er wollte seinen eigenen Nef- che Freigebigkeit in Aussicht gestellt, »welche die fen Kuno durchsetzen, doch schon auf dem Wege zur Wormser hierdurch erlangt haben«. Das Wormser Stadt wurde er vom Trierer Kirchenvogt abgefangen »üble Beispiel«, wie der königsfeindliche Lampert und umgebracht. Hier war es das Selbstbewußtsein von Hersfeld vermerkt, blieb nicht ohne Folgen. der Trierer, das den fremden Kandidaten nicht dulden wollte, gegen den überdies das Kirchenrecht stand. Als im April 1074 der rücksichtslose Erzbischof Anno II. von Köln (1056–1075) das bereits befrach- Die Auseinandersetzung zwischen König und Für- tete und zur Ausfahrt bereitliegende Schiff eines rei- sten, in die der deutsche Episkopat hineingezogen chen Kölner Kaufmanns beschlagnahmte, um es sei- war, gab manchen Städten Gelegenheit, sich vom bi- nem zu Gast weilenden Suffragan Friedrich von Mün- schöflichen Stadtherrn zu lösen. Als Heinrich IV. ster als Transportmittel zur Verfügung zu stellen – ein 1073 Sachsen überstürzt verlassen mußte, fand er Zu- nur im Falle der Heerfahrt erlaubter Zugriff –, kam es flucht bei den Wormsern, die ihren Bischof Adalbert zum offenen Aufruhr. Die erzbischöfliche Residenz und dessen Ministerialen vertrieben und den König wurde gestürmt, Anno floh verkleidet durch einen jubelnd in der Stadt aufnahmen. Des Königs Gegen- Stollen in der Stadtmauer. Auch in Köln waren es leistung war ein 1074 noch in Worms ausgestelltes vornehmlich die Kaufleute, die sich gegen den bi- Privileg zugunsten der »Einwohner der Stadt schöflichen Stadtherrn erhoben, hatte sich doch der Worms«, denen der Zoll bei den königlichen Orten Fremdling Anno – er stammte aus einem Geschlecht Frankfurt, Boppard, Hammerstein, Dortmund, Goslar schwäbischer Edelfreier – wie in der Stadt, so auch im und Enger (bei Herford) erlassen wird. Nicht die Stadt Klerus Feinde geschaffen. Aus dem piemontesischen selbst, die »Bürger«, sind mit Rechtsvorteilen be- Kloster Fruttuaria hatte er Reformmönche cluniazen- dacht, sondern die in ihr wohnenden Kaufleute. Die sischer Gesinnung und Gewohnheiten in das stadtköl- Herrschaftsrechte des bischöflichen Stadtherrn sollten nische Kloster St. Pantaleon gebracht, nachdem der offensichtlich nicht angetastet werden. In einer langen alte Konvent einfach vertrieben worden war – die neuen landfremden Mönche wären bei dem Aufstand,Deutsche Geschichte so heißt es, »allesamt« fast erschlagen worden –; auch die Klöster Grafschaft (Kreis Meschede) und vor
683 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 94 684 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 94 allem Siegburg sind mit Mönchen aus Fruttuaria be- hatte; bereits Ende 1075 starb er. Es war das dank- legt worden. Annos hemmungslose Reform- und Er- bare Andenken der Siegburger Mönche – nicht werbspolitik, die sich auf Ämterbesetzungen ebenso Kölns –, welches Annos Leben mit Zeichen und erstreckte wie auf Liegenschaften und Klöster, hat ihn Nachrichten der Heiligmäßigkeit umgab, und der Abt zu einem verhaßten Mann werden lassen, den die ei- von Siegburg hat 1183 Annos Kanonisation in Rom genen Dienstleute umbringen wollten; er hätte dann betrieben. dasselbe Schicksal erlitten, das mehreren seiner Ver- wandten bereitet worden ist: nicht nur sein Neffe, den Mit der Kölner Bürgerschaft wird ein Versuch in er als Trierer Metropoliten hat durchsetzen wollen, Zusammenhang gebracht, die Stadtfreiheit durchzu- war ermordet worden; Annos Bruder Werner, der setzen. Eine coniuratio pro libertate, von der zum 1063, als Anno nach dem Raub von Kaiserswerth die Jahre 1112 berichtet wird, habe sich gegen den erzbi- Zentralgewalt in der Hand hatte, auf den Erzbischof- schöflichen Stadtherrn gestellt. Allerdings ist die sitz von Magdeburg befördert worden war, starb 1078 chronologische Einordnung ebenso umstritten wie der eines gewaltsamen Todes, und sein Neffe Bischof Charakter des Schwurverbandes, der sich zur Wah- Burchard von Halberstadt wurde 1088 bei einem Auf- rung der Eigenständigkeit gegenüber dem Kaiser zu- stand in Goslar von den Bürgern seiner eigenen Di- sammengeschlossen haben könnte. Immerhin erwarb özese tödlich verwundet. die Kölner Bürgerschaft in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts eigene Rechte: sie legte sich ein Anno strafte die unbußfertige Bürgerschaft Kölns Stadtsiegel zu, ein Schöffenkolleg bildete einen eige- hart, indem er die Ende April 1074 wiedergewonnene nen, vom erzbischöflichen Stadtherrn unabhängigen Stadt zur Plünderung freigab. Gegen 600 Kölner Bür- Gerichtsstand, die Schreinsbücher (ähnlich unseren ger sollen zum König geflohen sein und diesen um Grundbüchern) wurden eingerichtet. Hilfe gebeten haben. Heinrich bewog Anno im Juni 1074, der Stadt Köln Verzeihung zu gewähren, erteil- Vielfach suchten die Städter beim König Schutz te aber kein Privileg entsprechend dem Wormser. gegen ihren bischöflichen Stadtherrn, während der Anno hob die Exkommunikation und Verbannungen König wiederum Hilfe und Unterstützung von den auf und zog sich wenig später in sein Lieblingskloster Bürgern erwartete. 1102 leisteten die Bürger von Siegburg zurück, das er zu seiner Grablege bestimmt Cambrai, die sich zu einer Kommune zusammenge- schlossen hatten, ihrem Bischof einen Treueschwur, 685 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 95 686 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 95 der nur gelten sollte, solange dieser zum Kaiser stän- de, und dem Kaiser sagten die Cambreser Gefolg- schloß sich 1122 ein Beurkundungsvorgang an, der schaft zu, solange er ihnen gegen den Grafen von von zwölf Ministerialen der Zähringer beschworen Flandern half. Ein beredtes Zeugnis übereinstimmen- wurde. Zu den zugestandenen Rechten dieser frühen der Interessen zwischen Städtern und König Heinrich Phase dürfte gehört haben, daß jedem Kaufmann ein IV. ist ein auf 1105 datierter Brief der Mainzer Bür- Stück Grund und Boden zugewiesen wurde, auf wel- gerschaft, die ihren Erzbischof vertrieben hatte: sie chem er ein Haus zu eigen errichten konnte; der Stif- wolle weiter zu ihm – dem Kaiser – halten, denn sie ter sorgte für Frieden und Sicherheit für alle, die den hätten gemeinsame Feinde: »Wenn uns Gott den Sieg Markt aufsuchten, und war bereit, geraubtes Gut aus- schenkt, dann werden wir gesichert sein, du auf dei- zulösen; Zoll und freier Erbgang war den Kaufleuten nem Thron und wir an unserem Platz.« Köln und Lüt- und Bürgern zugestanden; sie selbst durften sich den tich verhielten sich ähnlich. Vogt und den Priester wählen; Streitigkeiten sollten sie nach eigenem Recht oder nach Kaufmannsrecht, Auf dem Wege in die Stadtfreiheit befand sich »besonders dem der Kölner«, entscheiden; in Not nicht nur ein Teil der alten Bischofsstädte mit einer stand ihnen das Recht zu, ihren Eigenbesitz ungehin- manchmal bis in die römische Zeit zurückreichenden dert zu verkaufen. Kern der Bürgerschaft, die bald Siedlungskontinuität. Bei Gründungen aus wilder mercatores, bald burgenses heißen, waren offenbar 24 Wurzel sind gewisse Freiheiten vom Gründungs- und Marktgeschworene (coniuratores fori), die z.B. einen Stadtherrn sogleich zugestanden worden. Das früheste erbenlosen Nachlaß über Jahr und Tag verwalteten, erhaltene Beispiel einer landesherrlichen Gründung um ihn dann als Seelstiftung für den Erblasser, für dürfte das Stadtrecht von Freiburg im Breisgau 1120 den Stadtausbau und für den Stadtherrn zu dritteln. sein. Die Zähringer hatten auf Allodialgut 1091 eine Sie dürften den Bürgermeister (rector, causidicus) aus Burg, mit einem suburbium errichtet: »vriburg«; 1120 ihrer Mitte bestimmt haben. Im Laufe des 12. Jahr- sind durch Boten Kaufleute zusammengerufen wor- hunderts scheint aus Marktgeschworenen der Rat der den; mit ihnen wurde eine »eidliche Vereinbarung« Stadt hervorgegangen zu sein. Vom Freiburger über- (coniuratio) über einen zu gründenden Marktort ge- nahmen eine ganze Reihe anderer Orte ihr Stadtrecht troffen. Diesem sicherlich über eine gewisse Zeit sich z.B. Diessenhofen (1178), Freiburg im Üchtland hinziehenden Siedlungs- und Rechtsstiftungsakt (1170/80), Bern (ca. 1191). Bei solchen Stadtrechts-Deutsche Geschichte
687 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 96 688 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 96 familien konnte, aber brauchte nicht ein Rechtszug zu nur gemauerte Feuerstellen oder separate steinerne einem gerichtlichen Oberhof in der Mutterstadt beste- Ofenhäuser. Rund 30 × 15 m waren die Areale groß, hen. die z.B. die Kaufleute nach Freiburg locken sollten; Wehrbauten um den Ort – meist Erdwälle mit Holz- Mit der heraufkommenden autonomen Stadt war palisaden – durften nur mit Genehmigung oder Anre- der Begriff der städtischen Freiheit, d.h. des Freiseins gung des Markt- oder Stadtherrn ausgeführt werden. von jeder Form der Grundhörigkeit verbunden. Auch Große Städte hatten stärkere Anlagen. Für eine ernst- Hörige, die sich dem Zugriff des Grundherrn entzogen hafte Verteidigung mußte die städtische Fortifikation hatten und in die Stadt gegangen waren, konnten diese allerdings meist erst hergerichtet werden. Als sich Freiheit erlangen, wenn sie vom Grundherrn nicht Heinrich IV. 1106 in die Stadt Köln warf, befahl er, binnen einer bestimmten Frist zurückgefordert wur- die Stadt mit Wall, Graben und Torbogen zu um- den. Königliche Freiheitsbriefe sicherte sie in ihrer schließen, und in der Tat konnte die Stadt gehalten neuen Stellung als Bürger (1111 Worms; 1114 Spey- werden, nachdem dreißig Jahre früher – 1074 beim er). Im niederfränkischen Raum tauchte zuerst der Kölner Aufstand – ein Verteidigungsring die erzbi- Rechtsgrundsatz »Stadtluft macht frei« auf. Unfreiheit schöflichen Truppen offenbar kaum aufgehalten hatte. ist hier anders gesehen als etwa in der Antike. In der Aachen, Soest, Braunschweig und nur wenige andere Antike blieb ein herrenloser Sklave seinem Stand Städte wurden erst auf das Ende des 12. Jahrhunderts nach ein Sklave, eine herrenlose Sache, und der Herr zu mit einem gemauerten Ring umschlossen. konnte ihn jederzeit »in die Knechtschaft zurückfüh- ren«. Im mittelalterlichen Recht erlosch die Hörigkeit, wenn der Herr – etwa durch Verschweigen – sie nicht wahrnahm. In ihrer baulichen Gestalt muß die Stadt des 11. und auch noch des 12. Jahrhunderts ein kümmerliches Aussehen gehabt haben. Wohl alle Häuser waren ein- räumig und aus Holz, gebaut wie Bauernhütten, und selbst die Handwerker, die Öfen und Essen für ihre Arbeit benötigten wie Bäcker und Schmiede, hattenDeutsche Geschichte
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