505 Horst Fuhrmann: Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter DG Bd. 2 580 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 44 Deutsche Geschichte Erster Teil Band 2 »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche Reich um die Mitte des 11. Jahrhunderts Horst Fuhrmann Der britische Historiker Geoffrey Barraclough hat Deutsche Geschichte 1944/45 für ein englisches Publikum en kenntnisrei- im hohen Mittelalter ches und in vielem originelles Buch »The Origins of Modern Germany« verfaßt, das auch ins Deutsche 581 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 45 übersetzt worden ist. In ihm trägt ein Kapitel über die Zeit von 1024–1075 die Überschrift: »Die Ära des neuen Kräfte des deutschen Lebens zu entfesseln, wei- Fortschritts und der Verheißung.« Verglichen mit der terhin die Herrschaft über die wirtschaftlichen und ge- Lage im beginnenden 10. Jahrhundert und gemessen sellschaftlichen Bewegungen des Jahrhunderts in der an Frankreich und England »war Deutschland ein ein- Hand behalten und aus ihnen Nutzen ziehen würde ... heitliches Land, zusammengehalten von großen und Deutschland hatte Frankreich und England ... weit dauerhaften Traditionen und regiert von energischen, überholt und war bereits auf dem Wege zu einer mo- klugen Herrschern, die sich als fähig erwiesen hatten, dernen Regierungsform.« der Auflösung der Gesellschaft, welche die räuberi- schen Einfälle von Norden und Osten her begleitete, I. entgegenzutreten und ihr Widerstand zu leisten. Die Herrschaftsaufbau und soziale Schichtung in Führung Europas lag fest in deutschen Händen ... Um die Mitte des 11. Jahrhunderts war das Königreich ottonisch-salischer Zeit fest geeinigt unter seiner herrschenden Dynastie und alle Spuren eines Partikularismus schienen im Begriff Die Herrschaftsform des Mittelalters war die Monar- zu sein, zu verschwinden ... Die einzige Frage war, ob chie. In Bildern des Alten Testaments, in Fürstenspie- die Krone, die sich so sehr darum bemüht hatte, die geln, unter Hinweis auf die Ordnung in der Natur (z.B. beim Bienenschwarm) usw. wurde der König als 582 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 45 selbstverständlicher Träger der Herrschaft vorgestellt, auch wenn manches umstritten war, z.B. wie er ins dem Herrscher eine ansehnliche Gesellschaft, zu der Amt kommen sollte, ob aufgrund seines Geblüts oder auch die Königin als consors regni zählte, durch das durch Wahl, und wenn durch Wahl: durch wessen Land. Durch seine Gegenwart mußte dieser »Reisekö- Wahl, und ob die Erhebung einmalig oder rücknehm- nig« seine Rechte immer wieder reaktivieren, und eine bar sei. Zum König gehörte sein Hof; da jedoch der seiner ersten Amtshandlungen war ein Umritt durch deutsche Herrscher des Hochmittelalters keine feste das Reich, um sich huldigen zu lassen. Welchen Weg Residenz, das Reich keine Hauptstadt kannte, son- der König nahm, war weitgehend eine politische Ent- dern, wie man formuliert hat, »der König sein hohes scheidung, aber nicht ohne Grund ist die Theorie auf- Gewerbe im Umherreisen ausübte«, bewegte sich mit gestellt worden, der König sei nicht zuletzt deshalb im Lande umhergezogen, um die Erträgnisse der Kö-Deutsche Geschichte nigshöfe »abzuweiden«. Wie allerdings das Krongut und seine Verwaltung beschaffen waren, dafür haben wir nur wenige Nachrichten, an erster Stelle das soge- nannte »Tafelgüterverzeichnis des römischen Kö- nigs«, dessen Datierung zwischen 1064 und 1189 hin- und hergeschoben worden ist und das nach den letzten Forschungen in die Zeit um 1152 gehören dürfte. Wohl hatte der König ein grundsätzliches An- recht auf Verpflegung und Beherbergung bei jeder- mann, aber dies blieb Theorie. Häufig stieg er in einer Pfalz ab, die von einem königlichen Wirtschaftshof versorgt wurde. Zu einem nicht geringen Teil mag es in der Tat mit dem Verpflegungsproblem zusammen- hängen, daß die Könige durch Jahrhunderte hindurch ziemlich dieselben Straßen zogen. Es gab Landschaf- ten, die ein König nie oder selten aufsuchte. Als Hein- rich IV. 1071 zu einem Treffen mit dem dänischen
583 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 46 584 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 46 König Sven Estridsen nach Bardowick/Lüneburg reis- an einem Ort; pro Tag wurden im Durchschnitt 20–30 te, meldete eine sächsische Quelle, es sei nicht be- km des Weges zurückgelegt, doch lassen sich erhebli- zeugt, daß bis zu diesem Datum ein König »in jene che Unterschiede in der Reisegeschwindigkeit beob- Gegend« gekommen sei. Der Adel und die Großen achten: für Friedrich I. sind als größte Leistungen 90 hatten sich zeitig diesem »Königsdienst« (servitium km in anderthalb bis zwei Tagen zu Lande und 135 regis), der Fürsorge für den reisenden König, entzo- km in anderthalb Tagen bei einer Fahrt zu Schiff fest- gen. Von einem Adligen ist überliefert, er habe auf gestellt worden. dem Sterbebette seinen Sohn vor zwei Dingen ge- warnt: Krieg zu führen und den König als Gast aufzu- Bis weit in das Hochmittelalter hinein verstand nehmen. Die Reichskirche hingegen – sämtliche Bis- sich das Reich als »Personenverbandsstaat«; die Herr- tümer sowie Reichsklöster – wurde gerade in der Zeit schaft des Königs war stark vom Lehnrecht bestimmt, Heinrichs III. stärker herangezogen, und die Bela- d.h. einem Lehnsmann wurde gegen entsprechende stung war hoch. Leistung ein Lehen überlassen. Aber es wäre schief, diese dingliche Seite – die Ableitung des Dienstes aus Es sind Berechnungen über den Umfang des könig- dem überlassenen Gut – stark zu betonen. Wohl gibt lichen Gefolges angestellt worden, und man hat für der Herr dem Mann sein Lehen (beneficium, feudum), den Normalfall mindestens 300 bis gegen 4000 Be- dieses aber nicht unter dem Aspekt bester wirtschaft- gleitpersonen ausgerechnet. Um die Versorgung zu licher Nutzung. Ein Dienst- und Treueverhältnis zwi- gewährleisten, sollte der König vier bis sechs Wochen schen Herrn und Mann ist ebensosehr Grund wie vor Eintreffen angesagt sein. Das war auch unbedingt Folge der Landleihe; beide Seiten gehen Verpflichtun- nötig, denn der Verzehr konnte gargantueske Aus- gen ein. Die Pflichten des Vasallen, von denen die maße annehmen. Eine Quelle des 12. Jahrhunderts wichtigste der Waffendienst ist, sind von dem Gedan- meldet – wenn auch retrospektiv für das 10. Jahrhun- ken des Gehorsams, aber auch von dem der Treue (fi- dert – einen Tagesverbrauch des königlichen Hofes delitas) bestimmt. Der Mann verspricht dem Herrn von 1000 Schweinen und Schafen, 10 Fudern Wein »gegenwärtig« zu sein (praesens ero), ihm stets »Rat und ebensovielen Fudern Bier, 1000 Maltern Getrei- und Hilfe« (consilium et auxilium) zu leisten. Auf der de, 8 Rindern »und anderem mehr«, was übertrieben Gegenseite war der Herr zur Wahrung des Besitzes sein dürfte. In der Regel blieb der Hof nur kurze Zeit und zum Rechtsschutz (defensio) verpflichtet. Der 585 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 47 586 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 47 König war Oberlehnsherr; sein Königtum war nicht sten ließ. Weltliche Investitursymbole waren Schwert, mehr als eine gesteigerte Adelsherrschaft. Eine Gefahr Speer und Stab. Die Eigenkirchenherren führten im für eine lehnrechtlich bestimmte Königsherrschaft be- niederkirchlichen Bereich die Priester mit Kirchen- deutete es, daß die Lehen entfremdet werden konnten: buch, Glockenseil oder einem Stiftungsgut ein. Bis in wurden Amtslehen erblich, war die Verfügungsgewalt die Zeit Heinrichs III. verwendete der König bei der des Königs eingeschränkt. Der Amtscharakter ließ Einsetzung von Bischöfen und Äbten den Stab, wobei sich besser wahren, wenn die Erblichkeit ausgeschal- weltliche Güter und kirchliche Rechte beim Übertra- tet blieb. Aus diesem Grund – aber gewiß nicht aus gungsakt nicht einmal begrifflich getrennt wurden. diesem allein – bot sich die Kirche als Herrschaftsträ- ger an. Hinzu kam seit Otto I. (936–973) die Übertragung hoheitlicher Rechte an die Kirche. Es ließ sich an- Innerhalb des Kirchenwesens besaß der Laie ohne- knüpfen an die schon in karolingischer Zeit ausgebil- hin Einfluß als Eigenkirchenherr. Aus der Sicht der deten Immunitäten: Jede Bischofskirche und Reichs- modernen Lehre von der Eigenkirche hatte der Eigen- abtei genoß Königsschutz, war frei von Steuern, vom kirchenherr das Recht, die auf seinem Grund und Zugriff königlicher Beamter und besaß die niedere Boden errichtete Kirche mit einem Priester zu beset- Gerichtsbarkeit. Jetzt erhielten Bischöfe und Äbte die zen: ebenso habe im hochkirchlichen Bereich der hohe Gerichtsbarkeit, die durch königliche Bannleihe König Besetzungsrechte wahrgenommen; er sei Ei- innerhalb des Immunitätsbereichs begründet wurde; genkirchenherr der auf Königsland entstandenen Kir- es entstanden »Bannleihbezirke«. Zugleich lösten sich chen gewesen. Der König führte den Geistlichen ein, die Immunitätsrechte von der Grundherrschaft und er vollzog die Investitur. Investitura (mittelhoch- konnten unabhängig von ihr übertragen werden. Auch deutsch gewere) bedeutet im germanischen Recht ei- Grafschaftsrechte verlieh der König an Bischofskir- gentlich die formgerechte Einweisung des Erwerbers chen und Reichsabteien und bezog sie auf diese in das Eigentum an einem Grundstück durch den bis- Weise in die Reichs Verwaltung ein; reiche Schen- herigen Eigentümer. Vom Sachenrecht ist der Begriff kungen gingen an die Kirche, und Regalien wurden in das Lehnrecht übergegangen: einem Lehnsmann ihr überlassen: Hoheitsrechte wie das Markt-, Münz-, wird ein Lehen übertragen, wobei der Lehnsherr sich Zoll-, Forst-, Fischereiregal usw. Hier wurde der Treueid und Mannschaft (hominium, homagium) lei- Grund gelegt für die spätere Fürstenwürde derDeutsche Geschichte
587 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 48 588 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 48 Reichsbischöfe und Reichsäbte. Diese Herrschafts- Jahrhundert der Reichskanzler wurde. form des sogenannten »Reichskirchensystems«, das Wie sah die normale »Laufbahn« eines Angehöri- bis zum Ende des alten Reiches 1806 nachgewirkt hat, war nur möglich, weil das deutsche Reich keine gen der geistlichen Reichsaristokratie aus? Von den mediatisierten (d.h. ohne Beteiligung des Königs ein- hochadligen Eltern zum geistlichen Stand bestimmt, gesetzten) Bischöfe und Äbte kannte, im Gegensatz wurde er vielleicht als puer oblatus in eine Kloster- zu Frankreich, wo über die Hälfte dieser Würden sich schule geschickt, dann der Hofkapelle eingegliedert. in der Hand weltlicher Fürsten befand und von diesen Er lebte von einer Pfründe, die mit seinem Hofamt vergeben wurde. Solange die Verbindung von Kö- verbunden war. Zu einem passenden Zeitpunkt schlug nigsherrschaft und Hochkirchen ungestört blieb, be- ihn der König für ein Bischofsamt vor; zuvor hatte stand keine Gefahr: bei der Übertragung der Hoheits- das entsprechende Domkapitel vielleicht Wünsche an- rechte war mit einer Entfremdung nicht zu rechnen; gemeldet, aber entscheidend war das Wort des Kö- der König konnte sich den Kandidaten aussuchen; die nigs, obwohl die kanonische Wahl die Beteiligung verschiedenen Leistungen, z.B. Stellung des vasalliti- von Klerus und Volk vorschrieb. schen Aufgebots und das servitium regis, verblieben ihm. In der Hofkapelle hatte er sich zudem eine Ein- Bis zum 11. Jahrhundert ist der Adel – vom Hoch- richtung zugelegt, die ihm die wichtigsten Helfer adel abgesehen – wegen der ungünstigen Quellenlage stellte. Ursprünglich betraut mit dem Schutz des kö- in seiner Schichtung und Gruppierung schwer faßbar. niglichen Reliquienschatzes und den gottesdienstli- Es ist hervorzuheben, daß der Adel »vielfach nicht chen Pflichten am Hofe, nahmen Angehörige der Hof- stammesgebunden war, sondern oft in seinen Besitz- kapelle, die sämtlich dem Adel entstammten, immer und Verwandtschaftsbeziehungen weiträumig fluktu- stärker Aufgaben der zentralen Reichsverwaltung ierte«, und es wäre deshalb vorschnell, »adlige Perso- wahr. Einige fungierten als Urkundenschreiber und nen, die wir zunächst nur lokal greifen können, als Notare; ihnen war ein cancellarius an die Spitze ge- ›Kleinadel‹ oder gar als ›Ortsadel‹ zu klassifizieren« stellt, und dieses Hofamt stieg zu immer größerem (W. Störmer). Z.B. war die Familie der Andechser Ansehen auf: selbst das Spitzenamt des Erzkapellans mit den Ebersbergern und den Öhningern (bei Stein ging, in dem des Erzkanzlers auf, aus dem im 12. am Rhein) verwandt, die wiederum mit dem ottoni- schen Herrscherhaus verbunden waren, und zur »Öh- 589 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 49 ninger Gruppe« gehörte auch ein Mann wie der Erzbi- schof Friedrich I. von Köln (1099–1131) aus dem 590 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 49 Geschlecht der Herren von Schwarzenburg und Rötz (bei Cham). Es gelang dem stark untereinander ver- zog, entstand neben dem Hochadel eine neue, die Kö- sippten Adel, weitverstreuten Besitz zusammenzu- nigsherrschaft tragende Schicht. Hier – in der Abkehr schließen und Machtkomplexe zu bilden. So entstand von der Aristokratie – wird ein ähnlicher Entschluß eine wirtschaftlich und politisch bedeutende Herren- deutlich, wie er auch in Italien gefallen war. In einem schicht, aber es gab keinen rechtlich abgeschlossenen Gesetz für Reichsitalien von 1037 hatte Konrad II. Adel mit festen ständischen Rechten. (1024–1039) die Erblichkeit der Lehen der Afterva- sallen, der Valvassores, bestimmt, was die großen In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts deutete Lehnsherren, die Capitanei, bislang hartnäckig ver- sich als Stütze des Reiches ein neuer Herrschaftsträ- weigert hatten. Die Entscheidung hatte schwerwiegen- ger und sozialer Stand an: die Ministerialen (= de Folgen. Bisher waren die dem hohen Adel entstam- Dienstleute). Ursprünglich Unfreie, die vom Grund- menden Reichsbischöfe die Verbündeten des Königs herrn zu Hof- und Kriegsdiensten herangezogen wur- gewesen, und Erzbischof Aribert von Mailand († den, sonderte sie der Herren- und Waffendienst von 1045), der Führer der Capitanei, galt als Hauptvertre- den übrigen Hörigen ab, ein Vorgang, der sich in ter der Interessen des deutschen Königs. Aribert und Dienstrechten des 11. Jahrhunderts ablesen läßt. Im seine Parteigänger erkannten den Spruch des Königs ältesten erhaltenen Hofrecht, in dem des Bischofs nicht an, und die Auseinandersetzung endete zunächst Burchard I. von Worms († 1025), sind die Ministeria- mit der von Konrad II. veranlaßten Absetzung Ari- len innerhalb der familia ohne Spezifizierung einer berts. Die Tat Konrads II. war richtungweisend: Der Aufgabe erwähnt, aber schon in den Bamberger und König förderte gegen den hohen Adel sowohl den Kölner Dienstrechten aus der zweiten Hälfte des 11. bald diesem zur Konkurrenz werdenden Stand der Jahrhunderts treten sie als eigener genossenschaftli- Untervasallen – so in Italien – wie die im Königs- cher Stand auf: neben einer familia servilis steht eine dienst und häufig in Auseinandersetzung mit dem familia ministerialis. Als Dienstmannen, die ihrem Adel stehenden Ministerialen. Konrad II. selbst über- Herrn bewaffneten Schutz boten, bildeten sie sich zu- trug nicht einem Adligen, sondern dem Ministerialen nächst stärker in geistlichen Herrschaften aus. Indem Werner die gesamte Verwaltung des königlichen Fis- auch der König Ministeriale zu seinem Dienst heran- kus.Deutsche Geschichte Der Stand der Ministerialen ist eine Eigenart des
591 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 50 592 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 50 hochmittelalterlichen Deutschland. In England und Die Masse der seit dem 11. Jahrhundert auseinan- Frankreich stützte sich der König stärker auf die lehn- derstrebenden archaischen Gesellschaft stellte fraglos rechtlichen Bindungen seiner Vasallen. Die Ministe- jene riesige Schicht dar, die als Hörige oder Abhängi- rialen waren gefügiger als Vasallen, denn sie empfin- ge in verschiedener Weise in einen Personenverband, gen zwar ein Dienstgut – entsprechend einem in eine familia, einbezogen waren. Der nicht immer Lehen –, aber sie blieben unfrei und waren von daher eindeutige Ausdruck »familia« leitet sich ab von der leichter verwendbar. Der Dienst eines ritterlichen grundherrlichen Zugehörigkeit zu Haus und Hof im Kriegers gliederte sie ein in den niederen Adel, mit weitesten Sinne. Wichtig war die Bindung an einen dem sie sich bald vermischten, zumal manche verarm- Grundherren. Diese Abhängigen konnten, um nur ei- ten Edelfreien in den Ministerialenstand traten. Von nige Beispiele zu nennen, der familia regis angehören, der Zeit Heinrichs III. an wurden die »Reichsministe- wie die königlichen Ministerialen, der familia eines rialen« immer stärker zu Trägern der königlichen dux, eines nobilis usw., auch der familia abbatis oder Herrschaft, bis sie unter den Staufern ihre große Zeit episcopi, wobei der Kloster- oder Kirchenpatron na- hatten. mengebend sein konnte. Bischof Burchard I. von Worms († 1025) nennt den Hörigenverband seiner In Deutschland hatte sich eine breite Schicht von Kirche familia sancti Petri, und unter den von ihm er- Freien gehalten. Freilich gab es weit auseinanderklaf- lassenen hofrechtlichen Bestimmungen findet sich fende Unterschiede: Hier ein freier Bauer im Besitz eine, in der sich einiges über die Lebensform und die eines einzelnen kleinen Hofes, dort ein Edelfreier mit Größe des Personenverbandes andeutet. Im ausführ- großem Grundbesitz. Beide jedoch waren Eigentümer lichsten Paragraphen werden Mord und Totschlag be- ihres Grund und Bodens und rechtlich gleichgestellt. handelt, »die gleichsam täglich innerhalb der Gemein- Das Eigengut (Allod) hinderte sie nicht, Lehen anzu- schaft des heiligen Petrus nach Art wilder Tiere« aus nehmen, so daß in Gemengelage – besonders umfang- nichtigem Anlaß und wegen Trunkenheit geschehen: reich innerhalb des bayerischen Herzogtums – Eigen- im Laufe eines einzigen Jahres seien 35 Knechte gut und Lehnsgut nebeneinander lagen, beide zu ver- schuldlos – also nicht aus Notwehr oder zur Unrecht- schiedenem Recht. Im Gegensatz zu Frankreich konn- abwendung – von Knechten derselben Kirche umge- te hier wegen des ausgedehnten Eigengutes eine ge- bracht worden, und Burchard versucht durch Strafen schlossene Feudallandschaft nicht entstehen. 594 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 51 593 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 50 II. und Sühne das Unwesen – besonders die Blutrache – einzudämmen. Wie groß der Anteil derjenigen war, Rex et Sacerdos – Priesterliches Königtum die in Abhängigkeit innerhalb dieser Gemeinschaften Heinrichs III. (1039–1056) lebten, ist schwer zu schätzen. Es ist angenommen worden, daß ihnen »bis zum 11./12. Jahrhundert über »Wenn Könige gut sind, ist es ein Geschenk Gottes; 90% aller Mitglieder der Gesellschaft zugehören« (K. sind sie aber schlecht, ist es die Schuld des Volkes; Bosl). denn die Lebensführung der Herrscher hängt ab vom Verdienst der Untertanen.« Daß der Herrscher mit sei- Aus dieser weitgehend anonymen Masse der Un- nem Amt eine heilsgeschichtliche Aufgabe über- freien gliederten sich seit dem 11. Jahrhundert neue nimmt, war bereits Meinung der Kirchenväter gewe- Gruppen aus z.B. Teile der Bürger, der Rodungsbau- sen, und Isidor von Sevilla († 636) hat sie weiterver- ern, der Handwerker. Zurückblieben die bäuerlichen mittelt. Kaum ein deutscher König des Hochmittelal- Hörigen, die in manchen Landschaften Deutsch- ters hat seine Aufgabe mit so unerbittlichem Ernst lands – so in Hof verbänden Westfalens – erst gegen wahrgenommen wie Heinrich III.: »Gott gegenüber 1800 verschwanden. das Empfinden tief gebeugter Untertänigkeit, dabei aber das starke Bewußtsein, daß dem eigenen göttlichDeutsche Geschichte erleuchteten Willen und Befehl willfährigster Gehor- sam gebühre« (G. Tellenbach). Gestalt und Regierung König Heinrichs III. werden gegensätzlich beurteilt: den einen erscheint er als der Vollender des seit der Ottonenzeit ausgebauten und auf einer weltlich-geist- lichen Harmonie beruhenden Herrschaftssystems; an- dere wiederum sehen in ihm eine Art Verzichtpoliti- ker, der den Ausverkauf königlicher Rechtstitel an die Kirche eingeleitet habe. In die den Zeitgeist spie-
595 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 51 596 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 52 gelnde Bildergalerie »Die Großen Deutschen«, Aus- derbe Spaße geliebt, hatte einen Mann mit Honig ein- gabe 1935/6, ist nicht er, sondern sein Sohn Heinrich streichen und von einem Bären abschlecken lassen, IV. aufgenommen, der Kämpfer gegen ein ausgreifen- um sich an der Angst des Mannes zu weiden, und des Papsttum; in der Nachkriegsausgabe von 1956, selbst Heinrich II., der Heilige, hatte Vergnügen als die Idee eines vom Christentum zusammengehalte- daran gehabt, den Bischof Meinwerk von Paderborn nen Abendlandes stark war, wurde auf Heinrich IV. bei einer öffentlichen Messe wegen seiner mangeln- verzichtet und Heinrichs III. Biographie eingerückt – den Lateinkenntnisse lächerlich zu machen. Bei Hein- dennoch blieb »die größere Größe« gerade Heinrichs rich III. wäre dies unmöglich gewesen, und vielleicht III. manchem Kritiker »problematisch« (H. Grund- hatte seine Haltung vornehmlich in dem Wunsch mann). ihren Grund, christliche Regeln peinlich zu befolgen; hieß es nicht in einer Vorschrift: vor Geistlichen Kein König vor Heinrich III. war von tieferem reli- möge jede Art von Spaßen unterbleiben? Es wider- giösen Ernst beseelt: Nach dem Sieg über die Ungarn sprach dem Kirchenrecht, daß ein Laie einen Bischof bei Menfö 1044 hielt er noch auf dem Schlachtfeld absetze. Konrad II. hatte den Erzbischof Aribert von eine Dankesfeier ab, warf sich als erster barfuß und in Mailand seines Amtes enthoben; Heinrich III. söhnte härenem Büßergewand vor dem mitgeführten Splitter sich sofort (1040) mit ihm aus und beließ ihm seine des heiligen Kreuzes auf die Knie und zog wenig spä- Würde, obwohl er politisch durchaus nicht mit ihm ter obwohl Sieger in gleichem Büßerhabit in Regens- übereinstimmte. Heinrich III. hat es auch hingenom- burg zum Hoftag ein. Als jedoch ihm gegenüber die men, daß sich der Abt Halinard von S. Bénigne in hohe Würde des Priestertums betont wurde, fuhr er Dijon 1046 weigerte, den Treueid zu leisten, als er auf: auch er sei mit heiligem Öle geweiht. Heinrich zum Erzbischof von Lyon erhoben wurde, denn es be- III., den der Hofpoet Wipo als rex doctus feierte, war stand ein Schwurverbot für Geistliche, auch wenn es trotz seiner lugend – er kam mit 22 Jahren zur Regie- nicht sonderlich ernst genommen wurde, und Heinrich rung und starb mit 39 – ein düsterer und ständig krän- III. selbst hat wenig später das Verbot, daß Kleriker kelnder Mann, der in sich gekehrt und zurückgezogen vor Gericht schwören, neu eingeschärft. Schon immer, lebte. Als er 1043 die nicht minder fromme Gräfin besonders jedoch seit der Verurteilung durch Gregor Agnes von Poitou heiratete, wies er die fahrenden I., war die Simonie – ein nach dem Magier Simon der Spielleute vom Hoffest. Der Vater Konrad II. hatte 598 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 53 597 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 52 Ämter, beanspruchte jedoch energisch die Investitur: Apostelgeschichte benanntes Vergehen, der dem Pe- die Übertragung der Güter und Rechte an den Bischof trus die Geisteskraft hat abkaufen wollen und dessen oder Abt. Er fügte sogar dem bisher meist üblichen Verfluchung erntete – untersagt, aber man richtete Investitursymbol, dem Stab, den Ring hinzu, das Zei- sich nicht danach. Vielmehr wirkte das Königtum bei chen der spirituellen Ehe eines Geistlichen mit seiner der Übertragung hoheitlicher Rechte und Güter ener- Kirche. Das Defizit, das durch die Spiritualisierung gisch mit; es fungierte als eine Art Ausgleichspool: des Investiturvorgangs dem königlichen Fiskus be- der König ließ sich von einem reichen Kandidaten schert wurde, suchte Heinrich III. auf andere Weise Geld geben, das er häufig weiterreichte, oder versi- auszugleichen, z.B. durch brutale Konfiskationen bei cherte sich eines Dignitärs, der für ein ärmlich ausge- Laien. Am Ende seiner Regierung, an deren Anfang stattetes officium über reiche Eigenmittel verfügte. eine Quelle gemeldet hatte, niemand habe den Tod Einwandfrei war dies »Simoniaca haeresis«: die Konrads II. bedauert, jeder die Herrschaft Heinrichs Übertragung kirchlicher Ämter aufgrund einer Gegen- begrüßt, stand er in dem Ruf der »Habsucht und leistung. Im Widerspruch zum ausdrücklichen Rücksichtslosigkeit«. Seine Haltung entfremdete ihn Wunsch seines Vaters Konrad II. hat Heinrich III. immer stärker dem besitzenden Adel, zumal er sich Geldschenkungen strikt abgelehnt. Der Verzicht auf mit einem »geheimen Rat« von Ministerialen umge- solcherart Revenuen mußte eine Störung des Herr- ben hatte. schaftssystems bedeuten, zumal der König erhebliche Güter und Hoheitstrechte aus der Hand gab: in der Zeit von Otto III. bis Heinrich III. – von 983 bis 1056 – sind mindestens 37 Grafschaften an Kirchen verliehen worden, und Adam von Bremen meldet für die Mitte des 11. Jahrhunderts vom Bischof von Würzburg, dieser habe alle Grafschaften innerhalb seiner Diözese besessen und überdies das fränkische Herzogtum verwaltet. Heinrich III. verzichtete zwar auf das unkanonische materielle Kompensativ bei Vergabe geistlicherDeutsche Geschichte
599 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 53 600 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 54 III. Reformkloster Cluny gestiftet hatte und das stets eine besondere religiöse Aufgeschlossenheit – z.B. bei Stärke und Gefährdung des salischen Königtums Schenkungen oder in der Friedensbewegung – gezeigt hatte. Auch Agnes war von frommem Ernst, der in Der Regierung Heinrichs III. und der Stabilität des späterem Alter zu Bigotterie sich steigern sollte. Es Reiches wird in modernen Darstellungen häufig hohes mag offen bleiben, ob sich Heinrich von der besonde- Lob gezollt: seine Zeit bedeute den Höhepunkt der ren Form burgundisch-cluniazensischer Frömmigkeit deutschen Kaiserzeit (A. Hauck, K. Hampe); er habe angezogen fühlte, doch hat er sich zeitig (1041) von das System vollendet, das Otto der Große begründet den Großen Burgunds, das seit 1034 als drittes Re- habe (J. Haller). 1039 war zum ersten Mal seit 973, gnum – neben Deutschland und Italien – zum Imperi- seit dem Tod Ottos I., der Regierungswechsel rei- um gehörte, huldigen lassen. bungslos vonstatten gegangen. Alles war vorbereitet. Bereits 1028 war Heinrich zum deutschen König ge- Drei Herzogtümer – Bayern, Schwaben, Kärnten – krönt worden und hatte teilgehabt an der Herrschaft, in der Hand des Königs bedeuteten eine ungewöhnli- denn zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters Konrad che Machtkonzentration. Allerdings war der König II. war er Herzog von Bayern und Herzog von Schwa- auf Träger der Herrschaft angewiesen und gab die ben, und im selben Jahr übernahm er das durch Tod Herzogtümer wieder aus: Bayern 1042 an die Grafen freigewordene Herzogtum Kärnten. Noch war die Dy- von Lützelburg, das 1045 abgegebene Schwaben kam nastie nicht gesichert, denn 1038 war auf dem an- 1048 an den Babenberger Otto von Schweinfurt und strengenden Italienzug seine erste Frau Gunhild, Kärnten 1047 an die älteren Welfen, an Welf III. Tochter des mächtigen dänisch-englischen Königs Aber das Selbstverständnis des hohen Adels sah im Knuts des Großen, kinderlos gestorben. Seine 1043 Königtum eine die eigene Herrschaft einengende Kon- geschlossene zweite Ehe hatte nicht die gleichen poli- kurrenz, und Heinrich geriet gerade mit den Herzö- tischen Dimensionen: Agnes war eine Tochter Wil- gen – zu den genannten kamen noch die von Lothrin- helms V. von Poitou und Aquitanien, stammte also gen und Sachsen; Franken als Königslandschaft hatte aus dem Herzogshause, welches das burgundische keinen Herzog – in eine schwere innenpolitische Aus- einandersetzung. 601 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 54 Die größte Gefahr ging von Lothringen aus, das ohnehin kein geschlossenes Stammesgebiet, sondern eine Häufung verschiedener Herrschaftsbereiche dar- 602 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 55 stellte. Gozelo, Verwalter ganz Lothringens, war 1044 gestorben; sein Sohn Gottfried II. der Bärtige, Bayern, konspirierte mit Herzog Welf III. von Kärn- bereits Mitherzog in Oberlothringen, forderte unter ten mit dem Ziel, sich den Königsthron zu verschaf- bewußter Ignorierung des Amtscharakters, als rückte fen. Die Verschwörung flog auf, beide erst kürzlich er gleichsam auf dem Erbwege nach, eine Belehnung mit ihrem Amt betrauten Herzöge wurden abgesetzt mit ganz Lothringen. Nach turbulenten Auseinander- und starben wenig später (1055/56). Und ebenso wie setzungen war Gottfried nach Italien ausgewichen und zu den drei Herzögen, hatte sich Heinrich III. auch verschaffte sich einen ungewöhnlichen Machtzu- zum Sachsen Bernhard Billung (1011–1059) in Ge- wachs: er verheiratete sich 1054 mit Beatrix, der gensatz gebracht. Die Billunger waren nicht Herzöge frommen Witwe des 1052 ermordeten Markgrafen »von« Sachsen, sondern »in« Sachsen, hatte doch eine von Tuszien Bonifaz I. von Canossa. Beatrix war förmliche Übertragung der Herzogswürde nicht statt- reich: sie besaß großes lothringisches Eigengut, ver- gefunden. fügte über den Besitz des Hauses Canossa und hielt die Markgrafschaft Tuszien in den Händen. Das In Sachsen war der ottonische Familienbesitz Reich umgab eine heikle Klammer, deren Gefährlich- Reichsgut geworden., und Heinrich nahm diese Ver- keit sich erhöhen mußte, wenn königsfeindliche Kräf- fügungsrechte energisch wahr. Er erkor die von Hein- te bei Gottfried Rückhalt suchten. Als Heinrich III. rich II. angelegte Pfalz Goslar zu seinem Lieblings- 1056 starb, hatte Gottfried für fast anderthalb Jahr- sitz, intensivierte die Förderung der benachbarten Sil- zehnte († 1069) freie Hand: anstelle der königlichen bergruben, die damals die ergiebigsten Europas Gewalt sorgte er für Ordnung und war der militäri- waren, und gründete als capella regia das Domstift St. sche Schutzherr der allmählich auf reichsfeindlichen Simon und Juda. Waren im allgemeinen die Hofka- Kurs gehenden kirchlichen Reformer – von denen pläne durch ihre Pfründen weit über die Reichskirche viele aus Lothringen stammten. Aber nicht nur Loth- verteilt, so gab es jetzt eine Konzentration der Kano- ringen-Tuszien versuchten aus dem Reichsverband nikate im Pfalzstift St. Simon und Juda: des Königs auszubrechen: Konrad von Lützelburg, Herzog von Gehilfen wurden bevorzugt in Sachsen geschult. Die sächsischen Großen empfanden Heinrich um so stär-Deutsche Geschichte ker als Eindringling, als er in dem Erzbischof Adal- bert von Hamburg-Bremen (1043–1072), einem Erz- feind der billungischen Güterexpansion, einen Ver-
603 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 55 604 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 56 trauten sah. Adalbert, Sohn eines thüringischen Gra- Ohne Frage ist es Heinrich III. immer weniger ge- fengeschlechts, ein Fremdling also, war darauf be- lungen, die Fürsten an sich und das Reich zu binden. dacht, das Herrschaftsnetz seiner Kirche auszubauen, Immerhin hat er durch konsequente Förderung der erwarb Grafschaften, um einen Dukat (ein Herzogtum Ministerialen – in Fortführung der Politik seines Va- im Sinne eines Bündels von Herrschafts- und Besitz- ters – einen neuen Stand für den Reichsdienst heran- rechten) zu begründen, wie ihn der Bischof von gezogen, ebenso wie er die Hofkapelle für Angehöri- Würzburg besaß: so berichtet jedenfalls Adam von ge öffnete, die nicht zum hohen Adel zählten. Bremen, der ein Buch seiner Geschichte der Bischöfe der Hamburgischen Kirche zu einer Biographie Adal- 606 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 57 berts ausgestaltet hat: eine der ersten Persönlichkeits- beschreibungen des Mittelalters, die diesen Namen ihm ausgewählten Vetters, nicht hinnehmen dürfen, verdient. Durch Adam kennen wir den weit ausgrei- ebensowenig wie die Eidverweigerung Halinards von fenden Regierungsstil Adalberts, der angeblich die Dijon. Papstwürde ausgeschlagen hat, erfahren von seinen Missionsbemühungen bis Finnland und zu den Ork- Was war in Rom vorgegangen? Seit Jahrzehnten neys, die er sich durch päpstliche Legationsurkunden war Rom – damals eine Stadt von etwas über 10000 abstützen ließ, wissen von seinem großen Hof mit. Menschen, die vielfach in den Überresten antiker »Schmeichlern, Gauklern, Heilkünstlern und Schau- Prachtgemäuer mehr hausten als wohnten – von riva- spielern« und von seinen phantastischen Bemühun- lisierenden Adelsgruppen beherrscht, an deren Spitze gen, die hierarchische Stufe eines Patriarchen zu er- die Familien der Crescentier und der Tuskulaner stan- ringen, um nicht Dänemark, das bereits über neun den; die einen neigten eher einer Politik römischer Bistümer verfügte und nach einem eigenen Erzbistum Autonomie zu, die anderen suchten auswärtigen Kon- strebte, aus seiner kirchenrechtlichen Aufsicht entlas- takt, vornehmlich mit Ostrom. 1032 hatten die Tusku- sen zu müssen. Als Heinrich III. einst bei diesem den laner zum dritten Mal hintereinander die Wahl eines Sachsen verhaßten Mann zu Gaste war, wäre er bei- Familienangehörigen durchgesetzt, des Theophylakt, nahe ermordet worden – von Thietmar, dem Bruder des Neffen seines Vorgängers, von dem eine von Re- des sächsischen Herzogs Bernhard. formgesinnung durchtränkte Historiographie ein dü- steres Bild zeichnete: er sei bei seiner Ordination als 605 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 56 Benedikt IX. ein sittenloser zehn- oder zwölfjähriger Knabe gewesen (dreißig Jahre war das vom Kirchen- IV. recht vorgeschriebene Mindestalter für Bischöfe), der ein gänzlich ungeistliches Leben geführt habe usw. Heinrich III. als römischer Patricius und die Wer allerdings seine wenigen direkten Verlautbarun- deutschen Päpste gen durchsieht, vornehmlich seine Urkunden, findet klare, auf kirchenrechtlicher Kenntnis beruhende Ent- Heinrichs III. sichtbarste Tat war die Absetzung drei- scheidungen, die ihn »als einen Politiker von einer er Päpste im Jahre 1046 und die Einsetzung mehrerer großen Entschlußkraft erscheinen« lassen (P.F. Kehr). Deutscher als Bischöfe von Rom: von sieben deut- Daß auch unter den »ultramontanen« deutschen Päp- schen Päpsten der gesamten Papstgeschichte haben fünf damals – 1046–1058 – regiert. Eine stark dem Nationalgedanken verhaftete Geschichtsschreibung konnte behaupten, der deutsche König habe das Papsttum in das Reichskirchensystem einbezogen und über den römischen Bischofssitz »wie über ein Reichsbistum gewaltet«. Mit Sicherheit sind Hein- richs Intentionen hier mißverstanden. Das Sprichwort, der Fisch stinkt vom Kopf, ist mittelalterlich und galt auch damals. Einen Mann von dem religiösen Verant- wortungsbewußtsein Heinrichs dürfte die ehrliche Überzeugung geleitet haben, daß eine dem Willen Gottes entsprechende Christenheit ein gereinigtes Papsttum voraussetze – ähnlich wie sich ein König der Simonie zu enthalten habe. Wäre es ihm um poli- tische Ordnungs- und Machtvorstellungen gegangen, hätte er die nicht gerade reichsförderliche Agilität des tüchtigen Papstes Leo IX. (1049–1054), seines vonDeutsche Geschichte
607 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 57 608 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 58 sten in der Verwaltung, der Liturgie, dem Aufbau der dekret verkündet. Wegen seines großen Anhangs wäre Hofgeistlichkeit vieles wie unter Benedikt geblieben die Anwesenheit Gregors VI. in Italien gefährlich ge- ist, spricht nicht für eine bodenlose Verkommenheit. wesen, und Heinrich schickte ihn – entsprechend einer Schwierigkeiten hatte Benedikt mit seinen Urfeinden, schon von Otto I. geübten Praxis – nach Deutschland den Crescentiern, die im Zusammenhang mit einem »ad ripas Rheni« (vermutlich nach Köln) ins Exil. In stadtrömischen Aufstand einen eigenen Papst kreier- seiner Begleitung befand sich ein Mönch des Marien- ten: Silvester III., den Bischof von Sabina, wo die klosters auf dem Aventin: Hildebrand; als Papst Gre- Hausgüter der Crescentier lagen. Aber der im Januar gor VII. sollte er ein Menschenalter später schreiben: 1045 Geweihte war schon im Februar aus Rom in »Unwillig bin ich mit dem Herrn Papst Gregor über sein Heimatbistum entwichen. Allerdings war Bene- das Gebirge gezogen.« In Rom bereinigte Heinrich dikt ohnehin geneigt, die Papstwürde abzugeben, und III. die unübersichtliche Lage, indem er auf einer Syn- es war auch schon der Nachfolger da: Johannes Grati- ode am 24. Dezember 1046 auch Benedikt IX. trotz an, Erzpriester der Kirche S. Giovanni an der Porta dessen Resignation förmlich absetzen ließ. Am selben Latina, in irgendeiner Weise mit der jüdisch-römi- Tag wurde aus dem Gefolge Heinrichs Bischof Suid- schen Bankiersfamilie Pierleoni verbunden, von der ger von Bamberg zum Papst erhoben, ein Vertreter auch die Ablösungssumme stammte. Denn Benedikt – des deutschen Reichsepiskopats mit der typischen in politischer Not, in der er offenbar war – ließ sich Karriere: aus sächsischem Adel war er über Domka- den Handel (angeblich mit 2000 Silberpfunden) gut nonikat, Hofkaplanspfründe zum Bischof von Bam- bezahlen, und am 1. Mai 1045 wurde der neue Papst, berg aufgestiegen (1040). Als Clemens II. ist er am der sich Gregor VI. nannte, geweiht. Die römischen Weihnachtstag 1046 inthronisiert worden und hat Reformer, an ihrer Spitze Petrus Damiani, haben ihm, schließlich Heinrich III. und Agnes zu Kaiser und dem ganz aufs Geistliche ausgerichteten sittenstren- Kaiserin gekrönt. Zugleich empfing Heinrich die gen Mann, zugejubelt. In dieser Lage zog Heinrich Würde eines Patricius als erblichen Titel. Hervorge- III. nach Italien. In Piacenza kam ihm der neue Papst gangen aus dem byzantinischen Staatsrecht tauchte Gregor VI. entgegen; dennoch wurde über ihn und »Patricius« als stadtrömischer Titel für den kirchli- über Silvester III. in beider Anwesenheit in Sutri am chen Schutzvogt Ende des 10. Jahrhunderts auf; Otto 20. Dezember 1046 verhandelt und ein Absetzungs- III. hatte ihn 996 zusammen mit dem Kaisertum emp- 609 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 58 610 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 59 fangen, und nach dessen Tod war er von den Crescen- rigen genannten Päpste gilt der Giftmord als unwahr- tiern okkupiert worden. Seit 1012 ist kein Patricius scheinlich. mehr nachweisbar. So wenig eindeutig die mit der Patricius würde verbundenen Rechte auch gewesen Der bedeutendste unter den »deutschen Päpsten« sein mögen: nach damaliger Auffassung durfte der In- (so der Titel eines einflußreichen Werkes der katholi- haber bei einer Papstwahl seine Stimme als erster ab- schen Romantik von C. Höfler, 1839) war Bruno von geben. Der deutsche König und Kaiser als römischer Toul-Leo IX., aus dem Hause der elsässischen Grafen Patricius schloß einen Einfluß des römischen Adels von Egisheim. Er hat das Papsttum aus seiner römi- bei künftigen Papsterhebungen weitgehend aus. schen Enge herausgeführt und einen Kreis von An- hängern um sich gesammelt, der klar und unerbittlich Zwölf Jahre regierten nun fünf deutsche Päpste mit die Ziele der Reform herausstellte und verbreitete. auffallend kurzen Pontifikaten: Clemens II. Während die Crescentier- und Tuskulanerpäpste un- (1046–1047), Bischof Poppo von Brixen als Dama- beweglich in Rom und Mittelitalien residiert hatten, sus II. (1048), Bischof Bruno von Toul als Leo IX. zeigte Leo sich dem Christenvolk: nur sechs Monate (1049–1054), Bischof Gebhard von Eichstätt als Vik- seines fünfjährigen Pontifikats war er in der Stadt. tor II. (1055–1057), Friedrich von Lothringen, Abt Sein Itinerar ist atemberaubend: dreimal reiste er nach von Montecassino, als Stephan IX. (1057–1058). Pe- Frankreich, ebensooft nach Deutschland, sechsmal trus Damiani fand, daß die Last des Papstamtes eine nach Süditalien. Insgesamt hat er zwölf Synoden ab- kurze Lebensspanne zur Folge habe. Gerüchte, es sei gehalten. Auf seinem ersten Laterankonzil 1049, das beim Ableben dieser fremden Deutschen manches geradezu universales Ansehen erhielt, wurden radika- nicht mit rechten Dingen zugegangen, sind früh auf- le Forderungen erhoben: Alle von simonistischen gekommen, und als der Sarkophag des in seinem Hei- Priestern erteilten Weihen seien ungültig, und sämtli- matbistum beigesetzten Clemens, der auch als Papst che Priesterfrauen und Priestersöhne würden Hörige seine Diözese Bamberg nicht abgegeben hatte, 1942 der Kirche. Die erste Forderung war so extrem, daß geöffnet und ein hoher Bleigehalt in den Knochen ge- sie – wäre sie rigoros angewendet worden – die Kir- funden wurde, schien der Verdacht bestätigt, und es che als Verteilerin der Gnadenmittel hätte zusammen- ist von der »erwägbar gewordenen Vergiftung« Cle- brechen lassen, und es setzte sich die mildere Auflage mens' II. gesprochen worden (K. Hauck). Für die üb- Clemens' II. durch, eine vierzigtägige Buße zu leisten.Deutsche Geschichte
611 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 59 612 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 59 Indem Klerikersöhne auf den Hörigenstand absanken (einem untergegangenen Ort nordwestlich von Fog- und Sklaven (servi) nicht Priester werden durften, war gia) von den modern ausgerüsteten und kampferprob- (von der sittlich-moralischen Seite abgesehen) jener ten normannischen Rittern zusammengehauen. Von gerade in Italien übliche Erbgang unterbunden, daß der Stadtmauer aus hat Leo die Niederlage beobach- Söhne Pfründe und Amt des Vaters übernahmen. Es ten können. Die Normannen nahmen ihn gefangen, wird berichtet, daß manche Kanonikate bereits durch behandelten ihn ehrenhaft und ließen ihn nach acht mehrere Generationen sich in der Hand einer Familie Monaten wieder frei. Aber Leos Energie war gebro- befunden hätten. Heinrich III. hat diese Konzilsbe- chen: er starb wenig später. schlüsse Leos IX. wo nicht gebilligt, so doch hinge- nommen, anders als der französische König Heinrich 614 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 61 I. (1031–1060), der seine Prälaten zur Heerfahrt auf- rief, um sie von einem Papstkonzil in Reims fernzu- neuerung durch Reinigung und versteht sich als kon- halten. servative, das Wesen bewahrende Anstrengung. Für die vom Papsttum entscheidend mitgetragene Reform- Nicht kirchlich, sondern politisch ist Leo denn bewegung ist auch der Begriff der »Papstrevolution« auch gescheitert. Er hat die normannische Expansion (E. Rosenstock-Huessy) eingesetzt worden, denn vom von Unteritalien nordwärts auf Benevent aufhalten römischen Zentrum her sei eine Umwälzung versucht wollen, denn Benevent hatte den Papst um Schutz ge- worden, »die ein für allemal ein neues Lebensprinzip beten, und Leo eilte hilfesuchend nach Deutschland. in die Weltgeschichte hat einführen wollen«. Die Ab- Er verzichtete auf Einkünfte in Bamberg, Fulda und sicht der Reform ist es aber gewiß nicht gewesen, anderen Orten und erhielt Benevent als Vertreter der »ein neues Lebensprinzip« einzuführen; daß mit dem Reichsgewalt. Heereshilfe ist ihm allerdings verwei- Wunsch, der geoffenbarten alten Wahrheit zu folgen, gert worden; sein Gegensprecher war Bischof Geb- etwas Neues bewirkt wurde, lag außerhalb der Ab- hard von Eichstätt – bald sein päpstlicher Nachfolger. sicht und des Selbstverständnisses der Reformer. Leo rief, um militärische Hilfe zu mobilisieren, den heiligen Krieg aus, und in der Tat fand sich eine Mit Leo IX. war eine Gruppe hauptsächlich lo- Schar deutscher Freiwilliger, die mit dem Papst nach thringischer Kleriker nach Rom gekommen, wenn Italien zogen. Sie wurden im Juni 1053 bei Civitate auch gewiß die These überspitzt ist, daß die in den Grundgedanken ausgebildete Reform aus dem lothrin- 613 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 60 gischen Raum nach Rom und Italien übertragen wor- den (A. Fliehe), die Reform eine »lothringische Erfin- V. dung« sei. Das lärmende Selbstbewußtsein der neuen römischen Reformer und ihre abwertenden Töne über Ziele und Anfänge der Kirchenreform das, was sie vorgefunden haben, darf den Blick auf den Tatbestand nicht trüben, daß es in Italien und Das Wort »Reform« wird für die Zeit um und nach zumal in Rom durchaus Kreise gab, die Reformen der Mitte des 11. Jahrhunderts in mehrfacher Verbin- und eine sittenstrenge Kirche anstrebten. Das Marien- dung gebraucht: man spricht von früh- oder vorgrego- kloster auf dem Aventin etwa, das römische Absteige- rianischer Reform, von Reformpapsttum u.ä. Die zen- quartier der Äbte von Cluny, wo jener Johannes Gra- trale und epochenbestimmende Figur ist Gregor VII. (1073–1085), auf den die meisten Bezeichnungen ausgerichtet sind. Vorgregorianische oder Frühreform sind die Jahre, als Hildebrand-Gregors Einfluß noch nicht so stark die Reformgedanken gestaltete, als Per- sönlichkeiten wie Humbert von Silva Candida († 1061) und Petrus Damiani († 1072) die Diskussion mitbestimmten. Der am weitesten gefaßte Begriff, das Reformpapsttum, gilt der Zeit von Sutri 1046 bis zum Schisma von 1130 zwischen Innozenz II. und Anaklet II. Auf manchen Feldern wurde die Reform abgelöst oder überdeckt von der »Renaissance des 12. Jahr- hunderts« (Ch. H. Haskins), und beide geistigen Be- wegungen sind vom Sinngehalt her streng zu trennen: Renaissance, rinascità apostrophiert Wiedergeburt (meist, aber nicht immer: der Antike) und ist gleich- sam die biologische Wiederholung von etwas früher Dagewesenem; Reform, reformatio akzentuiert die Er-Deutsche Geschichte
615 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 61 616 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 61 tian (Gregor VI.), aber auch der aus dem Kloster dieser Landschaft, die Bruno von Toul-Leo IX. be- Montecassino stammende hochgebildete Erzbischof gleiteten, seien genannt: Hugo Candidus, Mönch aus Laurentius von Amalfi († 1049), de Lehrer Hilde- Remiremont (Diözese Toul), der im Kampf zwischen brands und Freund Odilos von Cluny, verkehrten In Gregorianern und Antigregorianern mehrfach die Par- Rom ist auch der damalige Stadtpräfekt Cencius zu teien wechseln sollte, um als Gegner der Reformpäp- den Reformern zu zählen. Oder die vielen Siedlungen ste 1098 zu sterben; Friedrich, Archidiakon aus Lüt- von Mönchen, die in einer stärker im griechischen tich, Bruder Gottfrieds des Bärtigen, der spätere Papst Osten gepflegten eremitischen Form der Askese zu- Stephan IX. († 1058); Humbert aus dem Kloster Mo- sammenlebten; von ihrem Ernst war Petrus Damiani yenmoutier, 1050 Erzbischof von Sizilien, 1051 Kar- tief ergriffen, und er hat das entsagungsvolle und sit- dinalbischof von Silva Candida († 1061). Humbert tenstrenge Leben eines der Hauptvertreter, des Romu- hat man die »graue Eminenz Leos IX.« genannt, und ald von Camaldoli († 1027), pietätvoll beschrieben. in der Tat scheint sein radikaler Einfluß erheblich ge- Was freilich in diesen Zirkeln sich noch nicht ausge- wesen zu sein. Er leitete die Kanzlei bei Leos Abwe- bildet hatte, war die unbedingte Ausrichtung der Reli- senheit und scheint die wichtigsten Schreiben verfaßt giosität auf den römischen Bischof: die Überzeugung, zu haben. Auf ihn geht auch der Bruch mit der grie- daß das Papsttum »in der Kirchenfrömmigkeit« den chischen Kirche zurück. Zwar war die dogmatische zentralen Platz einnehmen müsse. – und liturgische Entfremdung zwischen lateinischer West- und griechischer Ostkirche seit dem 9. Jahr- Als Hinweis darauf, daß sich in Lothringen ein hundert immer größer geworden, und zu Beginn der vom Laientum sich abwendendes geistliches Reform- 50er Jahre lebte ein heftiger Disput auf, aber den letz- bewußtsein entwickelt habe, gelten Stimmen wie die ten Schritt vollzog Humbert von Silva Candida, als er des Bischofs Wazo von Lüttich (1047–1048), der am 16. Juli 1054 auf dem Altar der Hagia Sophia in dem König das Recht bestritt, einen Bischof abzuset- Konstantinopel die Bannschrift gegen den dortigen zen, und jeden laikalen Einfluß von der Kirche fernge- Patriarchen niederlegte, die sogleich mit dem griechi- halten wissen wollte, oder der anonyme Verfasser schen Gegenbann beantwortet worden ist. Um in der jenes Traktats »Über die Papsteinsetzung«, der die Sprache der gegenseitigen Vorwürfe zu reden: Die Absetzung des Papstes durch Heinrich III. scharf ver- »der Glaubensmitte entbehrende« griechisch-ortho- urteilte. Von den römischen Neuankömmlingen aus 618 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 62 617 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 62 gen der Reform an: Wider die Simonie, für den Zöli- doxe Apostelkirche trennte sich für die Zukunft von bat und gegen die Laieninvestitur. Noch war dieser der »die Bruderliebe verletzenden« römisch-katholi- Rigorismus theoretisch; Humberts kirchenrechtliche schen Papstkirche, und die Zurücknahme der Verflu- Argumentation hat keinen besonderen Eindruck ge- chung durch Papst Paul VI. 1963 hat kaum mehr als macht: es ist zum Beispiel »geradezu auffällig, wie deklamatorischen Charakter. Humbert hat als Gesand- achtlos Gregor (VII.) an dem reichen Arsenal gelehr- ter des Papstes den Bannfluch ausgesprochen, aber zu ter Kanonistik in den Schriften Humberts, dessen diesem Zeitpunkt war Leo IX. bereits tot; aus formal- Ideen er doch weitergebildet und in die Praxis umge- rechtlicher Sicht war Humberts Anathem möglicher- setzt hat, vorübergegangen ist« (E. Caspar). weise unwirksam – trotz der Folgen. Von gleicher Hitzigkeit wie in der Auseinanderset- zung mit der Ostkirche war Humbert in seiner Schrift »Wider die Simonisten« (1054–1057/8). Gegen die Simonie waren alle Reformer, aber Humbert dachte besonders radikal. Eingedenk seines eigenen Schick- sals, denn er war vermutlich von einem Simonisten geweiht worden, hatte Petrus Damiani gratis gespen- dete Weihen aus der Hand eines Simonisten als gültig angesehen, wenn nur der zu Weihende nicht Simonist sei: das Sakrament sei (wie Augustin gelehrt habe) von der Qualität des Priesters unabhängig. Humbert dagegen behauptete: Solcherart Weihen seien ungül- tig, denn der simonistische Priester sei wegen seiner Unwürdigkeit des Weihesakraments gar nicht teilhaf- tig geworden, konnte also ein Sakrament auch nicht weitergeben. Unerlaubt, weil Häresie, sei auch, daß ein Priester seine Kirche aus Laienhand empfange. Bei Humbert deuteten sich bereits die Hauptforderun-Deutsche Geschichte
619 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 63 620 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 63 VI. starres Lehnssystem entstanden, dem selbständige Na- turen – wie etwa die Familie der nach Unteritalien Der Abstand der anderen: Frankreich, England auswandernden Herren von Hauteville – sich entzo- und der Norden gen. Aber im Umkreis des normannischen Lehnrechts bildete sich auch der zentralistische Rechtsgrundsatz In Frankreich hatte sich nichts geändert als das Herr- der Ligesse aus: daß bei der Lehnsaufforderung des scherhaus: Auf die Karolinger folgte 987 die Dynastie »ligischen Herrn« alle anderen Lehnsbindungen zu der Kapetinger. Ihr Aufstieg zum Königtum bewirkte, ruhen hätten (dominus ligius ante omnes). Dieser Ma- daß die Grafen von Anjou als ihre bisherigen Unter- xime gehörte um so mehr die Zukunft, als Normannen vasallen zu Kronvasallen aufrückten und ihren Lehns- in manchen Teilen Europas rational durchgebildete besitz gewaltig ausbauten. Das Königtum wurde me- Staaten aufbauen konnten, wie in Unteritalien und in diatisiert durch die Kronvasallen, diese wiederum England. durch ihre Untervasallen mattgesetzt, so daß der Satz gelten konnte: »Der Vasall meines Vasallen ist nicht Der Dänenkönig Knut der Große, dessen Reich mein Vasall.« Eine solche Lehnsanarchie führte zu England, Dänemark mit Schonen und Norwegen um- grotesken Situationen, daß z.B. der Sieger den Be- faßte, hatte dem Ausgleich zwischen Angelsachsen siegten zwang, sein Lehnsherr zu werden, denn dieser und Dänen gelebt. Seine Leibwache besetzte er mit hatte ihm Schutz und militärische Hilfe zu bieten, Angelsachsen, und angelsächsische Missionare während er sich seinen Vasallenpflichten zu entziehen schickte er nach dem noch stark heidnischen Skandi- hoffte. Das Königtum war in eine solche Zwangslage navien. Nach Knuts Tod (1035) konnte der angel- geraten, daß es Paris durch Belehnung abtreten und sächsische Königssohn Eduard der Bekenner sich ins Orléanais zurückziehen mußte. Die Möglich- (1042–1066) auf die Insel zurückkehren, dessen Erbe keit einer Neugestaltung des Reiches zeigte sich im wiederum Wilhelm, Herzog von der Normandie, wo Herzogtum Normandie. Bei den seit Anfang des 10. Eduard Jahre seines Exils verbracht hatte, bean- Jahrhunderts seßhaft gewordenen Normannen war – spruchte. Der Sieg von Hastings 1066 (Sussex) hat Ausfluß der strengen militärischen Disziplin – ein Wilhelm den Beinamen des Eroberers eingetragen, und nach den Worten eines britischen Historikers 621 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 64 stellt die normannische Besetzung der Insel für Eng- land das wichtigste Ereignis seit Caesars Landung 622 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 64 dar. Noch der heutige Engländer registriert die Folgen dieser Eroberung: 900 Jahre Hastings ist groß gefeiert schwören ließ: er war »dominus ligius«, bei dessen worden, und »1066 and All That« heißt eine witzige Ruf alle anderen Lehnsverpflichtungen ruhten. Um Parodie auf die englische Geschichte. Nach den bluti- seine Hoheitsrechte und seinen Besitz wahrzunehmen, gen Heckenkämpfen der verschiedenen angelsächsi- bedurfte der deutsche König der Ministerialen; in schen Klans legten die normannischen Eroberer den England und in der Normandie verbürgte das Lehns- Grund für ein fast modern anmutendes Staatswesen. system eine straffe und zentrale Verwaltung, die je Im Domesdaybook von 1085/86, einer Art Reichs- später um so stärker institutionalisiert wurde. In der grundbuch, wurden alle Liegenschaften und dem Funktion schon vorher tätig, ist die curtis ad scaccari- König geschuldeten Leistungen festgehalten, noch um (»der Hof am Schachbrett«, dem Zahlbrett) 1118 heute Grundlage der Staatsverwaltung, 1783 amtlich zum ersten Mal nachweisbar, zunächst eine Art Rech- gedruckt und im Original an seinem Aufbewahrungs- nungsprüfungsstelle, dann ein förmlicher Finanzge- ort, dem Public Record Office, von jedermann einseh- richtshof, aus welchem sich der heutige Court of Ex- bar. Wilhelm hatte behauptet, lediglich Eduards chequer entwickelte. Verglichen mit dieser straffen Rechte zu beanspruchen, aber er zog die Güter vieler Administration befand sich das deutsche Königreich angelsächsischer Adliger ein – man hat ausgerechnet, in einem schwerfälligen archaischen Zustand. daß nur acht Prozent der Ländereien in deren Besitz blieb – und verdoppelte rücksichtslos den Grundbe- sitz der Krone; seinen staatskirchlichen Vorstellungen entsprach es, daß er die Verbindung der englischen Kirche mit Rom überwachte. Er vergab zahlreiche Lehen – sogar Kirchenlehen – an Soldritter, sicherte sich jedoch die absolute Lehnshoheit, indem er sich – grundlegend für die Zukunft – in Salisbury 1086 von allen im Lehnseid stehenden Personen GehorsamDeutsche Geschichte
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