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Digitale Bibliothek_Salier-Investiturstreit

Published by Gustav Gregor, 2016-04-24 07:39:13

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445 Ausblick: Das Reich am Vorabend des Investiturstreites DG Bd. 1, 220 446 Ausblick: Das Reich am Vorabend des Investiturstreites DG Bd. 1, 221 Ausblick Sein Kaisertum stellt den Gipfel und in gewissem Sinne die Vollendung des ottonischen Reiches dar. Es Das Reich am Vorabend des Investiturstreites ruhte jetzt sicher auf der Macht der drei Regna Deutschland, Italien und Burgund und strahlte weit Es ist aufschlußreich und kennzeichnend für die deut- darüber hinaus. Das Kaisertum war die spezifische sche Geschichte, daß das Reich, seit es Deutschland, Form der Sonderstellung des deutschen Königs im Italien und Burgund umschloß, also seit Konrad II., mittelalterlichen Europa geworden. In ihm besaß es sich wieder mit dem Romgedanken verbunden hat, der seit Otto dem Großen die faktische Hegemonie. In der grundsätzlich über sie hinauswies. Im Romgedanken wechselvollen Politik der Nachfolger Ottos blieb es sprach sich die übernationale Seite des Imperiums doch fraglos, daß das deutsche Kaisertum die Füh- aus. Wenn man die Bedeutung des frühmittelalterli- rung der abendländischen Welt innehatte. Obwohl die chen Reiches zu umschreiben sucht, so wird man letzte imperiale Steigerung, die Otto III. erstrebt hatte, demgemäß sagen dürfen, daß in ihm zwar nicht räum- sich als undurchführbar erwies, gelang doch seinen lich, aber ideell die Einheit der mittelalterlichen Welt Nachfolgern von der Basis des deutschen Regnums am reinsten verkörpert war. Man braucht diese Ein- aus nach innen und nach außen eine ständige Steige- heit nicht zu idealisieren. Sie war in Wirklichkeit nie rung seiner Macht. Sie ist nicht nur dem Reich, son- vollkommen und schloß zu allen Zeiten starke innere dern zu einem guten Teil auch Europa zugute gekom- Spannungen ein. Aber die Wirklichkeit richtete sich men; denn die Kaiserpolitik griff stets über das deut- an einer Ordnungsvorstellung aus, die alles auf eine sche Regnum hinaus. So war die Abwehr der äußeren letzte Einheit bezog und die die Einheitlichkeit der Feinde wie der Ungarn und der Sarazenen bereits in Welt in der Zuordnung und Eintracht ihrer beiden den Augen der Zeitgenossen eine europäische Tat, Häupter, Kaiser und Papst, verbürgt und sichtbar ver- und die Christianisierung des Ostens steht als eine körpert sah. Hauptaufgabe bereits an der Schwelle zur Erneuerung des Kaisertums. Die Kaiser entsprachen in ihr alten In der Herrschaft Kaiser Heinrichs III., des zweiten christlichen Forderungen, die in der Vorstellung des und wohl größten unter den Saliern, hat sie auch nach Imperium christianum ihren Niederschlag gefunden außen hin einen überzeugenden Ausdruck gefunden. haben. Dementsprechend ist es nicht zuletzt ihr Ver- 447 Ausblick: Das Reich am Vorabend des Investiturstreites DG Bd. 1, 221 448 Ausblick: Das Reich am Vorabend des Investiturstreites DG Bd. 1, 222 dienst, daß Polen, Böhmen und Ungarn für das Chri- enge Verbindung eingegangen, daß die Konkordanz stentum gewonnen worden sind. Indem sie christlich zwischen Regnum und Sacerdotium das Wesen des wurden, traten sie in die Gemeinschaft des Abendlan- ganzen Zeitalters bestimmt. Der König und der des ein. So geht es letztlich auf die Kaiserpolitik zu- Reichsbischof bilden in ihrer wechselseitigen Bezo- rück, daß das Christentum und Europa sich so weit genheit die Schlüsselfiguren der Zeit. nach Osten ausdehnen konnten. Für Heinrich III., der mehr als alle bisherigen Kaiser Ideal und Macht zu Folgte Heinrich III. hier im wesentlichen dem Bei- vereinen verstand, wurde die Lehnshuldigung, die er spiel seiner Vorgänger, so erfüllte er es indessen mit von Polen, Böhmen und Ungarn erzwang, ein Mittel einem neuen und strengeren Geist. Es war der Geist zur Friedenssicherung. der großen Ideen seiner Zeit, der Friedens- und der Reformidee, die er in seine Herrschaft aufnahm, um in Auch im Innern hat sich die Herrschaft seit Hein- ihr ihrer Verbreitung und Anerkennung zu dienen. Er rich II. zunehmend konsolidiert. So ist bezeichnend, hat damit zugleich den religiös-geistlichen Charakter daß sich beim Regierungsantritt Heinrichs III., der der Herrschaft stärker als je zuvor zum Ausdruck ge- längst vorbereitet war, nirgends mehr Unruhen zeig- bracht. ten. Die Machtsteigerung im Innern erkennt man deut- lich an der gefestigten Stellung, die das Königtum ge- Symptomatisch dafür ist, wie er sich als König genüber den Herzogtümern gewonnen hat. Und ganz zum Wegbereiter der Friedensbewegung machte. Es klar tritt sie zutage im Verhältnis des Herrschers zur war ein ungewöhnliches Schauspiel, wie der König Kirche. Hier haben die Kaiser die bereits von Otto während des Gottesdienstes in Konstanz und Trier dem Großen eingeschlagene Politik stets konsequent und sogar bei der tiefreligiösen Friedensfeier nach der fortgeführt. Sie bleibt auch unter Heinrich III. gekenn- Schlacht bei Menfö (1044) für den Frieden warb, zeichnet durch reiche Schenkungen an die Kirche, aus indem er Öffentlich seinen Schuldnern vergab und denen entsprechend hohe Forderungen und Leistungen alle Anwesenden beschwor, seinem Beispiel zu fol- resultieren. Es ist selbstverständlich geworden, daß gen. Heinrich hat seine Aufforderung zum Frieden der Herrscher das Recht für sich in Anspruch nimmt, auch danach noch wiederholt. Es ist zu beachten, daß die Bischöfe und Äbte im Bereich der Reichskirche die Quellen dabei nicht von »indulgentia« sprechen, einzusetzen. Königtum und Reichskirche sind eine so sondern von »pax, lex und treuga«. Das heißt: es han- delt sich um königliche Friedensgebote. Heinrich for-Deutsche Geschichte

449 Ausblick: Das Reich am Vorabend des Investiturstreites DG Bd. 1, 222 450 Ausblick: Das Reich am Vorabend des Investiturstreites DG Bd. 1, 223 dert nicht nur zur Vergebung und zum Frieden auf, königlichen Rechte verkürzen ließ. Mit besonderem sondern macht den Frieden auch zum Gesetz. Befrie- Nachdruck bekämpfte er die Simonie, die einen dung heißt bei ihm zugleich Intensivierung der Herr- Hauptangriffspunkt der Reformer bildete. Der damit schaft und Erfüllung seines christlich verstandenen bezeichnete Mißbrauch, daß ein geistlicher Würden- Herrschaftsauftrags. So sprechend indessen diese Be- träger sein Amt gegen eine Geldzahlung erhielt, war mühungen für den Geist der Herrschaft Heinrichs weit verbreitet und hatte auch in Rom einen fruchtba- sind, so hat die Friedensidee doch ihre größten Wir- ren Nährboden gefunden. Hier war das Papsttum, das kungen erst in der Folgezeit und vor allem in anderer nach dem Tode Ottos III. bald wieder unter den Ein- Form, nämlich in der Form der Landfrieden, hervor- fluß stadtrömischer Parteiungen geraten war, selbst in gebracht. hohem Maße reformbedürftig, was in den vierziger Jahren für jedermann offenkundig wurde, als plötzlich Anders die Reformidee, die aus ihren Ursprungs- drei Päpste hervortraten und sich gegenseitig den ländern Burgund und Lothringen schon längst in Papstthron streitig machten. Es ist das Verdienst Deutschland eingedrungen und von den Königen auf- Heinrichs III., daß diese Mißstände beseitigt wurden. gegriffen worden war. Jetzt verstand es sich für Hein- Er ist es gewesen, der der Reform Eingang in Rom er- rich III. von selbst, daß er als König und Kaiser an zwang. Er hat sie erst auf das Papsttum übertragen die Spitze der kirchlichen Reformbewegung trat. Er und es damit endgültig über die stadtrömischen Ver- stand in enger Verbindung mit den großen Reform- strickungen hinausgehoben. Es geschah im Interesse zentren seiner Zeit, allen voran dem burgundischen seiner hohen Auffassung von Kaisertum und Papst- Cluny. Der mächtige Abt Hugo von Cluny war der tum, als Heinrich im Jahre 1046 die drei römischen Pate seines Sohnes Heinrich IV. Reform und Reichs- Gegenpäpste von den Synoden in Sutri und Rom ab- kirche schlossen sich nach seiner Überzeugung nicht setzen ließ und als Patrizius einen neuen Papst ein- aus, und Heinrich III. besaß auch bei den Reformern setzte: seinen Vertrauten Suidger von Bamberg, der eine so hohe Autorität, daß sie sich ihm anschlossen. sich als Papst Clemens II. nannte. Ihm sind drei wei- Ihr Zusammenwirken kam unter seiner Herrschaft in tere deutsche Päpste gefolgt, auch sie von Heinrich der Tat beiden Seiten zugute. Heinrich sorgte dafür, III. eingesetzt, der wichtigste unter ihnen Leo IX. aus daß nur sittlich einwandfreie Geistliche die kirchli- dem Hause der Grafen von Egisheim. Sie blieben chen Ämter erhielten, ohne daß er sich deshalb seine 452 Ausblick: Das Reich am Vorabend des Investiturstreites DG Bd. 1, 223 451 Ausblick: Das Reich am Vorabend des Investiturstreites DG Bd. 1, 223 papsttum vom Kaisertum weg und suchte sich ihm stets in vollem Einklang mit dem Kaiser, als sie daran überzuordnen. Der Kampf, der damit begann und den gingen, von Rom aus ihre eigene Reformtätigkeit zu wir Investiturstreit nennen, hat wesentliche Grundla- entfalten. So ist, aufs Ganze gesehen, die Reform der gen der alten, einheitlichen Welt zerstört und eine Kirche primär eine Leistung des Kaisertums. Sie kam neue, spannungsreiche Zeit heraufgeführt. seinem Ansehen um so mehr zugute, als jeder sah, daß Heinrich III. sie wirklich lauteren Herzens durch- Das Reich aber sah sich vor die Aufgabe gestellt, geführt hat. Er hatte eine so hohe Auffassung vom zwischen den alten und neuen Kräften eine Synthese Kaisertum, daß er es sich versagte, die Reform auf ir- zu finden, die ihm den Weg in die Zukunft ebnete und gendeine Weise machtpolitisch auszunutzen. Er dien- in seiner Geschichte Vergangenheit, Gegenwart und te wirklich der Kirche, als er sie reformierte, in der fe- Zukunft verband. sten Überzeugung, daß ihr Gewinn auch ein Gewinn des Reiches sei. Der Erfolg – so schien es – gab die- ser Überzeugung recht –, jedenfalls so lange Heinrich III. lebte. Das »ottonische System« hat in seiner Herr- schaft seinen reinsten Ausdruck gefunden. Wenige Jahre später brach seine größte Krise herein. Es ist einer der großen Umbrüche in der deutschen Geschichte, den der Tod Heinrichs III. markiert. War zu seinen Lebzeiten gerade in der Reform des Papst- tums in Rom die Einheit der mittelalterlichen Welt als Einheit von Regnum und Sacerdotium besonders sichtbar in Erscheinung getreten, so brach wenig spä- ter eben diese Einheit auseinander, als das gerade re- formierte Papsttum sich unter einer neuen Devise, dem Ruf nach der Libertas ecclesiae, gegen die alte Weltordnung wandte. Während sie sich gerade zu vollenden schien, strebte das neuerstarkte Reform-Deutsche Geschichte

613 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 60 614 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 61 V. neuerung durch Reinigung und versteht sich als kon- servative, das Wesen bewahrende Anstrengung. Für Ziele und Anfänge der Kirchenreform die vom Papsttum entscheidend mitgetragene Reform- bewegung ist auch der Begriff der »Papstrevolution« Das Wort »Reform« wird für die Zeit um und nach (E. Rosenstock-Huessy) eingesetzt worden, denn vom der Mitte des 11. Jahrhunderts in mehrfacher Verbin- römischen Zentrum her sei eine Umwälzung versucht dung gebraucht: man spricht von früh- oder vorgrego- worden, »die ein für allemal ein neues Lebensprinzip rianischer Reform, von Reformpapsttum u.ä. Die zen- in die Weltgeschichte hat einführen wollen«. Die Ab- trale und epochenbestimmende Figur ist Gregor VII. sicht der Reform ist es aber gewiß nicht gewesen, (1073–1085), auf den die meisten Bezeichnungen »ein neues Lebensprinzip« einzuführen; daß mit dem ausgerichtet sind. Vorgregorianische oder Frühreform Wunsch, der geoffenbarten alten Wahrheit zu folgen, sind die Jahre, als Hildebrand-Gregors Einfluß noch etwas Neues bewirkt wurde, lag außerhalb der Ab- nicht so stark die Reformgedanken gestaltete, als Per- sicht und des Selbstverständnisses der Reformer. sönlichkeiten wie Humbert von Silva Candida († 1061) und Petrus Damiani († 1072) die Diskussion Mit Leo IX. war eine Gruppe hauptsächlich lo- mitbestimmten. Der am weitesten gefaßte Begriff, das thringischer Kleriker nach Rom gekommen, wenn Reformpapsttum, gilt der Zeit von Sutri 1046 bis zum auch gewiß die These überspitzt ist, daß die in den Schisma von 1130 zwischen Innozenz II. und Anaklet Grundgedanken ausgebildete Reform aus dem lothrin- II. Auf manchen Feldern wurde die Reform abgelöst gischen Raum nach Rom und Italien übertragen wor- oder überdeckt von der »Renaissance des 12. Jahr- den (A. Fliehe), die Reform eine »lothringische Erfin- hunderts« (Ch. H. Haskins), und beide geistigen Be- dung« sei. Das lärmende Selbstbewußtsein der neuen wegungen sind vom Sinngehalt her streng zu trennen: römischen Reformer und ihre abwertenden Töne über Renaissance, rinascità apostrophiert Wiedergeburt das, was sie vorgefunden haben, darf den Blick auf (meist, aber nicht immer: der Antike) und ist gleich- den Tatbestand nicht trüben, daß es in Italien und sam die biologische Wiederholung von etwas früher zumal in Rom durchaus Kreise gab, die Reformen Dagewesenem; Reform, reformatio akzentuiert die Er- und eine sittenstrenge Kirche anstrebten. Das Marien- kloster auf dem Aventin etwa, das römische Absteige- 615 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 61 quartier der Äbte von Cluny, wo jener Johannes Gra- tian (Gregor VI.), aber auch der aus dem Kloster 616 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 61 Montecassino stammende hochgebildete Erzbischof Laurentius von Amalfi († 1049), de Lehrer Hilde- dieser Landschaft, die Bruno von Toul-Leo IX. be- brands und Freund Odilos von Cluny, verkehrten In gleiteten, seien genannt: Hugo Candidus, Mönch aus Rom ist auch der damalige Stadtpräfekt Cencius zu Remiremont (Diözese Toul), der im Kampf zwischen den Reformern zu zählen. Oder die vielen Siedlungen Gregorianern und Antigregorianern mehrfach die Par- von Mönchen, die in einer stärker im griechischen teien wechseln sollte, um als Gegner der Reformpäp- Osten gepflegten eremitischen Form der Askese zu- ste 1098 zu sterben; Friedrich, Archidiakon aus Lüt- sammenlebten; von ihrem Ernst war Petrus Damiani tich, Bruder Gottfrieds des Bärtigen, der spätere Papst tief ergriffen, und er hat das entsagungsvolle und sit- Stephan IX. († 1058); Humbert aus dem Kloster Mo- tenstrenge Leben eines der Hauptvertreter, des Romu- yenmoutier, 1050 Erzbischof von Sizilien, 1051 Kar- ald von Camaldoli († 1027), pietätvoll beschrieben. dinalbischof von Silva Candida († 1061). Humbert Was freilich in diesen Zirkeln sich noch nicht ausge- hat man die »graue Eminenz Leos IX.« genannt, und bildet hatte, war die unbedingte Ausrichtung der Reli- in der Tat scheint sein radikaler Einfluß erheblich ge- giosität auf den römischen Bischof: die Überzeugung, wesen zu sein. Er leitete die Kanzlei bei Leos Abwe- daß das Papsttum »in der Kirchenfrömmigkeit« den senheit und scheint die wichtigsten Schreiben verfaßt zentralen Platz einnehmen müsse. – zu haben. Auf ihn geht auch der Bruch mit der grie- chischen Kirche zurück. Zwar war die dogmatische Als Hinweis darauf, daß sich in Lothringen ein und liturgische Entfremdung zwischen lateinischer vom Laientum sich abwendendes geistliches Reform- West- und griechischer Ostkirche seit dem 9. Jahr- bewußtsein entwickelt habe, gelten Stimmen wie die hundert immer größer geworden, und zu Beginn der des Bischofs Wazo von Lüttich (1047–1048), der 50er Jahre lebte ein heftiger Disput auf, aber den letz- dem König das Recht bestritt, einen Bischof abzuset- ten Schritt vollzog Humbert von Silva Candida, als er zen, und jeden laikalen Einfluß von der Kirche fernge- am 16. Juli 1054 auf dem Altar der Hagia Sophia in halten wissen wollte, oder der anonyme Verfasser Konstantinopel die Bannschrift gegen den dortigen jenes Traktats »Über die Papsteinsetzung«, der die Patriarchen niederlegte, die sogleich mit dem griechi- Absetzung des Papstes durch Heinrich III. scharf ver- schen Gegenbann beantwortet worden ist. Um in der urteilte. Von den römischen Neuankömmlingen aus Sprache der gegenseitigen Vorwürfe zu reden: Die »der Glaubensmitte entbehrende« griechisch-ortho-Deutsche Geschichte

617 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 62 618 Erster Teil: »Fortschritt und Verheißung«: das deutsche ... DG Bd. 2, 62 doxe Apostelkirche trennte sich für die Zukunft von gen der Reform an: Wider die Simonie, für den Zöli- der »die Bruderliebe verletzenden« römisch-katholi- bat und gegen die Laieninvestitur. Noch war dieser schen Papstkirche, und die Zurücknahme der Verflu- Rigorismus theoretisch; Humberts kirchenrechtliche chung durch Papst Paul VI. 1963 hat kaum mehr als Argumentation hat keinen besonderen Eindruck ge- deklamatorischen Charakter. Humbert hat als Gesand- macht: es ist zum Beispiel »geradezu auffällig, wie ter des Papstes den Bannfluch ausgesprochen, aber zu achtlos Gregor (VII.) an dem reichen Arsenal gelehr- diesem Zeitpunkt war Leo IX. bereits tot; aus formal- ter Kanonistik in den Schriften Humberts, dessen rechtlicher Sicht war Humberts Anathem möglicher- Ideen er doch weitergebildet und in die Praxis umge- weise unwirksam – trotz der Folgen. setzt hat, vorübergegangen ist« (E. Caspar). Von gleicher Hitzigkeit wie in der Auseinanderset- 624 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 66 zung mit der Ostkirche war Humbert in seiner Schrift »Wider die Simonisten« (1054–1057/8). Gegen die weiter verlängert wird«. Der Umbruch der Werte ging Simonie waren alle Reformer, aber Humbert dachte ungewöhnlich schnell vor sich; das herausragende Er- besonders radikal. Eingedenk seines eigenen Schick- eignis war die Absetzung des deutschen Königs Hein- sals, denn er war vermutlich von einem Simonisten rich IV. 1076: »Wieder und wieder lese ich die Ge- geweiht worden, hatte Petrus Damiani gratis gespen- schichte der römischen Könige und Kaiser, und nir- dete Weihen aus der Hand eines Simonisten als gültig gends finde ich, daß einer vor Heinrich IV. vom römi- angesehen, wenn nur der zu Weihende nicht Simonist schen Papst exkommuniziert und seines Königtums sei: das Sakrament sei (wie Augustin gelehrt habe) beraubt worden sei«, schrieb Bischof Otto von Frei- von der Qualität des Priesters unabhängig. Humbert sing († 1158), der Enkel Heinrichs IV., als er in sei- dagegen behauptete: Solcherart Weihen seien ungül- ner Chronik die als Heilsgeschichte begriffene Welt- tig, denn der simonistische Priester sei wegen seiner geschichte überblickte. Unwürdigkeit des Weihesakraments gar nicht teilhaf- tig geworden, konnte also ein Sakrament auch nicht I. weitergeben. Unerlaubt, weil Häresie, sei auch, daß ein Priester seine Kirche aus Laienhand empfange. Heinrich IV. und die Folgen Bei Humbert deuteten sich bereits die Hauptforderun- 1. Das Papsttum und die vormundschaftliche 623 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 65 Regierung Zweiter Teil »Weh dem Land, dessen König ein Kind ist und des- sen Fürsten in der Frühe speisen«: unter den Mißstän- Vom Christus Domini zum Antichrist: Das den, die in die Welt kommen, ist in frühmittelalterli- Deutsche Königtum und der Investiturstreit chen Traktaten eigens dieser Fall angeführt, eingeklei- det in den Vers des Predigers Salomo (10, 16), und in Es ist ein verbreiteter Irrtum, daß der Ausdruck chri- der hochmittelalterlichen Chronistik ist beim Tode stus Domini den Bischof bezeichne. Vom biblischen Heinrichs III. auf dieses Schicksal angespielt. Als Hintergrund her und bis in das Hochmittelalter hinein Kaiser Heinrich III. am 5. Oktober 1056 in der Pfalz ist damit meist der König gemeint: der »Gesalbte des Herrn«, gegen den »die Hand zu erheben« sündhaft sei. Der König war über die profane Welt hinausge- hoben: Nach seiner Krönung wurde der König in mehrere Dom- und Stiftskapitel aufgenommen, nach- dem er – wie einige Krönungsvorschriften vorsehen – zum »Kleriker gemacht« worden ist. Der sakrale Cha- rakter des Königtums ist gerade von Heinrich III. energisch betont worden, doch wenige Jahrzehnte später wird der deutsche König nach den Worten des Papstes und seiner Anhänger zu einem Werkzeug des Antichrist, der das Böse in die Welt bringt. Ihn, die leibhaftige Pest, und seine Anhänger zu vertilgen, sei kein Mord, sondern eine gute Tat und für die umge- brachten Ketzer selbst sogar günstig: denn es ist of- fensichtlich »viel besser ..., deren Wahnsinn durch den Tod abzukürzen, als daß dieser Wahnsinn, der nur durch das ewige Feuer ausgebrannt werden kann,Deutsche Geschichte

625 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 66 626 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 67 Bodfeld im Harz starb, war sein Sohn Heinrich IV. hof gelten. Ohne das Erstwahlrecht des Patricius zu sechs Jahre alt und seit 1053/4 König, seit 1055 ver- beachten, erbat man bezeichnenderweise von Fried- lobt mit der etwa gleichaltrigen Grafentochter Bertha rich von Lothringen Vorschläge geeigneter Papstkan- von Turin. Auf dem Sterbebette hatte Heinrich III. didaten und wählte ihn schließlich selbst. Nach dem seinen Sohn dem Schutz des Papstes Viktor II. (des Heiligen des Konsekrationstages nannte er sich Ste- früheren Bischofs von Eichstätt und ehemaligen phan IX. Eine Gesandtschaft, zu der Hildebrand und Kanzlers) anvertraut, und Viktor hatte die Fürsten auf Bischof Anselm I. von Lucca gehörten, beeilte sich, Einhaltung der Thronfolge verpflichtet. Nach germa- vom deutschen Königshof wenigstens eine nachträgli- nischem Recht war auch ein minderjähriger König re- che Zustimmung einzuholen, aber noch vor ihrer gierungsfähig; er bedurfte nur eines Vormunds, als Rückkehr war Stephan IX. gestorben. Und wiederum welcher seine Mutter Agnes auftrat, die freilich von fand die Wahl sofort und ohne Rücksicht auf die sich sagte, sie wolle lieber den Schleier nehmen als Rechte des deutschen Königs statt: erhoben wurde der die Last der Reichsregentschaft. Viktor II. scheint ein Bischof Gerhard von Florenz-Nikolaus II., ein gebür- Mann klarer Vorstellungen und Entscheidungen ge- tiger Burgunder aus der Landschaft Clunys. Vielleicht wesen zu sein; mit Zustimmung Heinrichs III. war er war es nicht nur Autarkiestreben, das die Reformer im April 1055 geweiht worden und suchte offenbar, zum Handeln drängte, sondern die Abwehr einer In- gestützt auf die lothringische Reformpartei, einen ver- itiative der römischen Tuskulaner-Partei, die sich nünftigen Ausgleich mit Herzog Gottfried dem Bärti- ihren eigenen Papst mit dem für sie gleichsam reser- gen, dem militärischen Arm der Reformer, der Mittel- vierten Namen Benedikt X. erhob. italien weitgehend beherrschte. Gottfried wurde be- reits Ende 1056 in die lothringische Herzogswürde Zweimal hatten die Reformer ihre Selbständigkeit wieder eingesetzt, sein Bruder Friedrich im Juni 1057 erproben können, und es ist gewiß kein Zufall, daß in zum Kardinal erhoben. Aber die Ausgleichsbemühun- dieser Zeit nach dem Tod Viktors II. der Ruf nach der gen wurden sinnlos, als Viktor II. im Juli 1057 starb, »Libertas ecclesiae« laut wurde. Dieser kirchliche und die folgenden Papstwahlen können geradezu als Freiheitsbegriff darf nicht mit jener absoluten Freiheit Indiz der allmählichen Entfremdung zwischen den rö- verwechselt werden, wie sie, zumal in späterer Zeit mischen Reformkreisen und dem deutschen Königs- christliche Ketzergruppen forderten, die die Ordnung der Kirche überhaupt ablehnten. Für die Reformer 627 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 67 628 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 68 war Freiheit eingebunden in die Verpflichtung, Gottes Plan zu entsprechen, der in der glaubensmäßigen und wahl wenig zu tun. Sie waren im stadtrömischen Got- disziplinären Ausrichtung auf die römische Mitte be- tes- und Fürsorgedienst tätig: an S. Giovanni in Late- stand. Wie sehr die Freiheit der Reformer die Bin- rano (denn nicht Sankt Peter, sondern die Lateranba- dung an Rom bedeutete, kam in vielen Zeugnissen silika war bis in das 12. Jahrhundert hinein die »Mut- zum Ausdruck, und Hildebrand-Gregor VII. nannte es terkirche aller Kirchen«), und an den vier Patriarchal- den »Zustand eigener Freiheit«, keinem »außer der basiliken S. Pietro, S. Paolo fuori le mura, S. Lorenzo heiligen und umfassenden römischen Mutterkirche fuori le mura, S. Maria Maggiore taten sieben Kardi- unterworfen« zu sein, die »keine Unterworfenen wie nalbischöfe und 28 Kardinalpriester liturgischen Sklaven besitzt, sondern alle wie Söhne aufnimmt«. Dienst, entsprechend der Siebenzahl der Wochentage. Und gerade Hildebrands Einfluß nahm unter Nikolaus Die Kardinaldiakone standen der Caritas der damals II. zu, so daß der Spruch umlief, Hildebrand füttere 18 bis 19 Stadtbezirke vor. Aus diesen gottesdienstli- »seinen Nikolaus im Lateran wie einen Esel im chen und karitativen Helfern des Bischofs von Rom Stall«. Das zentrale Ereignis des Pontifikats Nikolaus' wurden unabhängige Wähler ihres päpstlichen Herrn, II. war die Lateransynode von 1059, an die sich in und obwohl noch im heutigen Kirchenrecht ausdrük- den folgenden Jahren weitere Konzilien anschlossen, klich festgehalten ist, daß »jeder Katholik« wählbar so daß die Beschlüsse häufig austauschbar sind. 1059 sei, lehrt die geschichtliche Erfahrung, daß seit 1378 wurde eine neue Ordnung der Papstwahl verkündet; nur Kardinäle – wie schon vorher meist – als papabili zugleich soll das Verbot der Laieninvestitur ausge- angesehen wurden. Anscheinend um eine Wahlzer- sprochen worden sein. Beim »Papstwahldekret« ist splitterung zu vermeiden, ist im Papstwahldekret von eine Ambivalenz offenkundig: die Erhebung Niko- 1059 den Kardinalbischöfen eine Art Vorstimmrecht laus' war mit Unregelmäßigkeiten verbunden gewe- eingeräumt, und der Kandidat soll vorzugsweise der sen, die nun nachträglich legitimiert wurden. Zukunft- römischen Kirche entnommen werden, »unbeschadet weisend behält das neue Dekret die Wahl des römi- der gebührenden Ehre und Achtung vor unserem ge- schen Bischofs den Kardinälen vor und leitet zu einer liebten Sohn Heinrich (IV.)« und vor seinen Nachfol- Ordnung über, die noch heute gilt. Ursprünglich hat- gern. Dieser sogenannte »Königsparagraph« betonte ten die Kardinäle als eigenes Gremium mit der Papst- zwar die Unversehrtheit des Einwirkungsrechts des deutschen Königs und künftigen Kaisers, war aber in-Deutsche Geschichte

629 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 68 630 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 69 haltlich unbestimmt. Künftige Doppel wählen – hie kehr von einer Pilgerfahrt in das Heilige Land sollen Reformpapst, dort königlicher Papst – und das Schis- die ersten Normannen in Süditalien gelandet und als ma nach dem Tode Nikolaus' II. sollten es beweisen. Soldritter angeworben worden sein; 1038 hatte Kon- Es ist gerätselt worden, wessen Hand diesen rom- und rad II. den normannischen Grafen Rainulf I. von papstbewußten Beschluß geformt hat: Humbert von Aversa als Lehnsmann des Fürsten von Salerno bestä- Silva Candida, Petrus Damiani oder bereits Hilde- tigt. In den vierziger Jahren kamen immer mehr nor- brand, doch könnte die etwas verquollene Latinität mannische Ritter ins Land, unter ihnen angeblich die auf eine mit Kompromissen verbundene Gemein- elf Söhne Tancreds von Hauteville. Dieser Familien- schaftsarbeit deuten. klan, der sich gegen Konkurrenten immer stärker durchsetzte, unterstellte sich jeweils einem aus ihrer Auch ein zweites Laterangebot war dem deutschen Mitte, und es sind berühmte Kämpfer unter ihnen: Königtum abträglich oder konnte es für die Zukunft Wilhelm Eisenarm (bis 1046), Drogo (1046–1051), sein: Von einem Laien sollte kein Geistlicher eine Humfred (1051–1057) und schließlich Robert Guis- Kirche erhalten, »weder gratis noch für Geld« (Ut per card (Schlaukopf), der seinen Namen zu Recht trug. laicos nullo modo quilibet clericus aut presbyter obti- In festen Lehnsvorstellungen aufgewachsen, suchte neat aecclesiam nec gratis nec pretio). Hier ist nicht Robert Schutz und fand ihn beim römischen Papst. Er nur die Simonie bekämpft, die auch Heinrich III. ließ sich 1059 von Nikolaus II. mit Apulien, Kalabri- streng gemieden hatte, sondern die Laieninvestitur en und Sizilien belehnen, zugleich nahm Richard von schlechthin. Vielleicht aber ging das Verbot nur auf Aversa, der Erbe Rainulfs, die Herrschaft Capua, die Niederkirchen, nicht auf die das Reichsregiment deren er sich gerade bemächtigt hatte, vom Papst zum tragenden Bischofskirchen und Reichsabteien. Jeden- Lehen. Beide Normannen leisteten dem Papst den falls blieb diese Ankündigung die nächsten anderthalb Lehnseid, versprachen Hilfe, Robert Guiscard mit Jahrzehnte Theorie. dem Zusatz, diese auch zu leisten, wenn er von den »besseren Kardinälen« aufgefordert würde – eine Die Abwesenheit des deutschen Königs von Italien Vorbeugung gegenüber einem drohenden Papstschis- führte dazu, daß sich das politische Gefüge änderte. ma. Noch waren die Normannen nicht »Schlüsselsol- Die Normannen, bislang Feinde des Papsttums, such- daten« im Sinne direkter und angeworbener Soldtrup- ten die Lehnsverbindung mit dem römischen Bischof. Mit ihnen hatte es harmlos angefangen. Bei der Rück- 632 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 70 631 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 69 Papsttum kräftigen Zulauf. Über das sittliche Verhal- ten des italienischen Klerus liegen düstere Nachrich- pen; sie hatten die in ihrem normannischen Herr- ten vor, und das Kirchenvolk war offenbar nicht län- schaftsverband ausgebildeten Lehnsvorstellungen ger bereit, diese heilsgefährdenden Zustände hinzu- nach Italien übertragen und waren willens, sich nach nehmen, hatten doch Reformer wie Humbert gelehrt, ihnen zu richten. Die Umorientierung des Papsttums, daß die Sakramente unwürdiger Priester nicht wirk- zusammen mit der Auflösung der vom Kaiser gestifte- sam seien. Es kam hinzu, daß die religiösen Aufleh- ten Lehnsverbindung, war ein folgenschweres Ereig- nungen sich mit sozialen und politischen verbanden. nis. Das Papsttum verzichtete auf den Schutz des Der hohe Adel, die Capitanei, verweigerte Eigenbe- deutschen Kaisers, obwohl die defensio ecclesiae ein sitz und Rechtserweiterungen dem hintersässigen nie- Wesensmerkmal des Kaisertums ausmachte. Die neue deren Adel, den Valvassores, die in den Bürgern Ver- normannische Schutzmacht war sogar gegen den deut- bündete fanden. Wie in Deutschland, so war auch in schen König und Kaiser zur Hilfeleistung verpflichtet. der Toskana und in der Lombardei die Kirche eine Zugleich war den Normannen ein Raum zugestanden, Adelskirche; zumal die Kanoniker führten – versorgt wo sie ihre Herrschaft ausbauen konnten. Denn von mit Pfründen, die wie Familienbesitz angesehen wur- den übertragenen Gebieten war Sizilien noch in sara- den – das Leben vornehmer Herren mit Jagd, Gesell- zenischer, waren Teile Apuliens noch in griechischer schaften, pomphafter Selbstdarstellung. Angelehnt an Hand, und den Lehnseid leistete Robert als »Herzog Valvassores und Bürger standen auch Handwerker, von Apulien und Kalabrien und ... künftig von Sizili- Tagelöhner und niederes Volk in Opposition zur rei- en«. Daß der Papst über die »Insel« Sizilien verfügte, chen Geistlichkeit. Von dem Mailänder Markt der könnte ein Indiz dafür sein, daß man wieder die Kon- Trödler und Lumpenhändler könnte sich der Name stantinische Schenkung hervorgeholt hatte, die wenige Pataria ableiten, der der Bewegung gegeben wurde; Jahre früher von Humbert von Silva Candida mit sie selbst nannten sich anspruchsvoll und fast ketzer- einer byzanzfeindlichen Zuspitzung gegen die Grie- haft »Gottesplan« (placitum Dei). Systematisch soll- chen ausgespielt worden war. In der Fälschung war ten die ein ungeistliches Leben führenden Priester be- der Besitz »verschiedener Inseln« den Päpsten zuge- kehrt werden; man drang in deren Wohnung ein, standen worden. Das Papsttum besann sich jetzt aller nahm ihnen die Reichtümer, vertrieb ihre Frauen als möglichen Rechts- und Besitztitel. In Norditalien verschafften die Reformideen demDeutsche Geschichte

633 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 70 634 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 71 Kebsweiber. Die hohe Gesellschaft wehrte sich, Daß Alexanders Wahl von den konservativen zumal sogar Erzbischof Wido von Mailand angegrif- Reichsbischöfen Norditaliens nicht hingenommen fen worden war, konnte aber mit einer Unterstützung würde, war zu erwarten: aus ihrer Mitte wählten sie durch das deutsche Königtum nicht rechnen. Rom den farblos-braven Bischof Cadalus von Parma zum hatte die Pataria anfangs anscheinend ignoriert. Je- Papst (Honorius II.), und in diplomatischen Aktivitä- doch seit Stephan IX. ergaben sich engere Kontakte ten versuchten beide Parteien, außerhalb Italiens An- zwischen den römischen Reformern und der Pataria, hang zu gewinnen. Frankreich neigte Alexander zu, deren Wirken Herzog Gottfried der Bärtige offenbar der deutsche Episkopat war gespalten: Eine Gruppe nicht ungern sah, denn sie wandte sich gegen die hohe um Erzbischof Anno II. von Köln sprach sich sofort Geistlichkeit und damit gegen die Hauptstütze des für Alexander aus, eine andere, zu der offenbar der Reiches. Nach dem Tode Nikolaus' II. 1061 wird in Hamburger Metropolit Adalbert gehörte, eher für Ca- Rom ein Freund der Patarener, deren Bewegung sich dalus. Allerdings gelang es nicht, Cadalus – gegen in den lombardischen Städten wie Piacenza, Brescia, den sich mit offenen Briefen der angesehene Petrus Cremona ausgebreitet hatte, zum Papst erhoben: Bi- Damiani wandte – nach Rom zu führen, und auf der schof Anselm I. von Lucca, hervorgegangen aus der Synode von Mantua (1064), an der Anno von Köln angesehenen Mailänder Familie der Baggio, der sich mitwirkte, wandte man sich von ihm ab. aus besonderer Verehrung zum gleichnamigen Märty- rerpapst Alexander II. nannte. Alexanders Wahl be- Verglichen mit der zielgerichteten Energie der Re- deutete die endgültige Wende zu einem römischen former war die Situation der deutschen Reichsgewalt Zentralismus. Hatte noch Nikolaus II. Geistliche aus trostlos. Als wollte sich die Königsmutter, von Klo- Florenz nach Rom gezogen, so stützte sich Alexander stersehnsucht erfüllt, durch Schenkungen Ruhe ver- ganz auf den schon in Rom wirkenden Reformzirkel, schaffen, vergab sie Besitz und Ämter: dem monasti- dessen Führung der Archidiakon Hildebrand immer schen Reformen gegenüber aufgeschlossenen Grafen energischer übernahm, offenbar nicht ohne Zusam- Rudolf von Rheinfelden 1057 das schwäbische Her- menstöße mit dem regierenden Papst, dem er später – zogtum zusammen mit der Verwaltung Burgunds, wegen mangelnder Strenge – Nachlässigkeit vorwer- dem mächtigen Otto von Northeim 1061 das Herzog- fen sollte. tum Bayern und im gleichen Jahr dem Schwaben Berthold, dessen Geschlecht wenig später nach der 635 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 71 636 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 71 Burg Zähringen im Breisgau seinen Namen erhalten sollte, das Herzogtum Kärnten. In Sachsen folgte auf König 1065 für mündig und waffenfähig erklärt den 1059 verstorbenen Bernhard II. der unruhige Or- wurde, behauptete Adalbert seine Stellung und ver- dulf, der den Dauerstreit mit Adalbert von Bremen hinderte einen Italienzug in der berechtigten Furcht, noch verstärkte. Bezeichnend für die Lage ist die daß dann Anno als italienischer Kanzler ihn verdrän- Rücksichtslosigkeit, mit der Erzbischof Anno II. von gen würde. Aber auf dem Hoftag zu Tribur 1066 Köln (1056–1075) vorgehen konnte. Anno, ein düste- wurde Heinrich gezwungen, Adalbert zu entlassen: rer und asketischer Mann, den noch Heinrich III. in- ein Signal für einen wendisch-obodritischen Auf- vestiert hatte, übernahm 1057 – nachdem das Erz- stand, in dessen Verlauf sogar Hamburg geplündert kanzleramt für Italien mit dem Kölner Erzstuhl fest wurde. Keiner der beiden konkurrierenden Reichsfür- verbunden war – die Würde eines Erzkanzlers der rö- sten, Anno und Adalbert, sollte die Reichspolitik mischen Kirche. 1062 entführte er den sich verzwei- noch entscheidend bestimmen; Heinrich versuchte auf felt wehrenden kleinen König beim Pfalzort Kaisers- seine Weise, die Lage des Königtums zu verbessern. werth mitsamt den Kroninsignien nach Köln. Es war blanker Hohn, wenn Anno seine Handlungsweise mit seiner Pflicht als Reichsbischof begründete: er habe für den in seinem Sprengel reisenden König zu sorgen gehabt. Kaiserin Agnes resignierte: hatte sie schon vorher den Schleier genommen, so begab sie sich jetzt nach Rom und vertraute sich Hildebrand als Seelen- führer an. Während sich Anno um eine Zusammenarbeit mit den Reformanhängern in Italien bemühte, gewann Adalbert von Bremen wieder stärkeren Einfluß auf Heinrich IV. und die Reichspolitik, nicht ohne sich reiche Schenkungen – wie die Klöster Lorsch und Corvey – übertragen zu lassen. Auch als der jungeDeutsche Geschichte

637 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 72 638 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 72 2. Canossa als Wende vom »erzitternden römischen Erdkreis« schreibt, so sieht er einen eschatologischen Zusammenhang in Canossa ist nicht nur eine heute als Ruine darnieder- ähnlicher Weise wie Otto von Freising, der in seiner liegende Felsenburg am Nordostabhang des Appenin, Weltchronik die Absetzung als Zeichen der Endzeit ca. 30 km südwestlich von Reggio nell'Emilia, deren wertet: Die Kirche habe das Reich »in seinem Schluß- frühere Gestalt durch archäologische Grabungen fest- stadium ... zerschmettert, als sie beschloß, den römi- gestellt ist: Canossa ist zugleich ein immer wieder an- schen König nicht wie den Herrn der Welt zu achten, geführtes Symbol, und Bismarcks Ausspruch vom 14. sondern wie ein aus Lehm nach Menschenart geform- Mai 1872 vor dem Reichstag »Nach Canossa gehen tes Geschöpf mit dem Bannschwert zu schlagen«. wir nicht« ist nur ein Beispiel unter vielen. Schon den Zeitgenossen ist das Ungeheuerliche des Geschehens a) Gregor VII. und Heinrich IV. offenkundig gewesen: Als die Bannung des Königs unterm Volk bekannt geworden sei, »erzitterte unsere Das Ereignis von Canossa ist von den Persönlichkei- ganze römische Welt«, schreibt der Gregorianer Boni- ten Gregors VII. und Heinrichs IV. geprägt. Ohne zo von Sutri. Gregor selbst stellte seine Handlungs- dem Grundsatz zu huldigen, daß es allein Männer weise als natürliche Ausübung seines Amtes hin: seien, die Geschichte machen, dürfte kein Zweifel dar- schon der Kirchenvater Ambrosius von Mailand habe über bestehen, daß die Zuspitzung auf Canossa hin an Kaiser Theodosius dem Großen so gehandelt, als von beiden heraufgeführt worden ist, mögen sie auch er ihm die Kirchengemeinschaft bis zur Ableistung Träger verschiedener Weltsysteme, Verkörperungen der Buße verwehrte. Aber weder hatte Ambrosius den zweier Prinzipien darstellen: Auf der einen Seite ein Kaiser abgesetzt, noch hatte er verkündet, daß die päpstlicher Zentralismus, der im Bewußtsein höchster priesterliche Gewalt dem höchsten Laien übergeord- und nur Gott Rechenschaft schuldiger Verantwortung net sei. Die Tat des Seelsorgers Ambrosius ist von an- um die heiligenden Bedingungen in dieser Welt derer Art als die des über allen Laien stehenden geist- kämpfte, auf der anderen Seite ein Königtum, das sich lichen Richters Gregor: der Reformpapst hat die Ord- als Träger einer von Gott gestifteten Herrschaft emp- nung der Welt verändert, und wenn Bonizo von Sutri fand und von der ineinanderwirkenden Harmonie von Kirche und Reich ausgehen mußte. Der Kampf, dem 639 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 73 640 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 73 etwas Unausweichliches anhaftete, war geprägt von den persönlichen Charakteranlagen beider Protagoni- übernahm er die Leitung des Paulsklosters vor den sten, von der fanatischen Unduldsamkeit Gregors VII. Mauern. Päpstliche Legationen führten ihn, der auf und der Mischung von Heimtücke, Leichtsinn, aber diesen Reisen vor König Heinrich III. eine Predigt auch charismatischem Herrscherbewußtsein bei Hein- hielt, 1054 und 1056 nach Frankreich, 1058 zur Kai- rich IV. Der Kirchenbann war in gleicher Weise Gre- serin Agnes, um die Zustimmung für die Wahl Ste- gors ureigenes Werk wie der Gang nach Canossa das phans IX. einzuholen. Als Archidiakon (1059) war er Heinrichs war. Vermögensverwalter der römischen Kirche und seit Beginn der sechziger Jahre die zentrale Figur des Dramatis Personae: päpstlichen Hofes (s. oben S. 67 f.). In tumultuari- Gregor VII. mit dem Taufnamen Hildebrand, was scher Weise – im Verstoß gegen das Papstwahldekret nicht erst Luther, sondern schon feindselige Zeitge- von 1059 – ist Hildebrand während der Begräbnisfei- nossen zu der Wortbildung »Höllenbrand«, »Prandel- erlichkeiten für Alexander II., als der Trauerzug an lus« u.ä. anregte, war 1020/25 wahrscheinlich in der Kirche S. Pietro in Vincoli vorbeikam, unter der Soana in der südlichen Toskana (nicht weit von Bol- demagogischen Regie des Kardinals Hugo Candidus sena) geboren. Vom Vater her scheint er nichtadliger zum Papst erhoben und in der genannten Titelkirche Herkunft gewesen zu sein. Über seine weitere Ver- spontan inthronisiert worden. Nach dem Musterpapst wandtschaft – ob eine Verbindung zur jüdischen Ban- des Mittelalters, nach Gregor I., dessen Worte: »Ich kiersfamilie der Pierleoni aus dem römischen Ghetto bin in die Tiefe des Meeres geraten, und die Flut will besteht oder etwa eine Herleitung von Waldrada, der mich verschlingen« er aufnahm, nannte sich Hilde- Friedelfrau König Lothars II. († 869) – gibt es nur brand Gregor VII.: »Wie Wahnsinnige haben sie sich Vermutungen; zumindest scheint sein Onkel Abt des auf mich gestürzt und mir keine Gelegenheit zum reformoffenen Marienklosters auf dem Aventin gewe- Sprechen oder zur Beratung gelassen«, beteuerte er in sen zu sein. Vielleicht auch leistete er im Aventin- den Wahlanzeigen, die an verschiedene Adressaten Kloster (kaum im burgundischen Cluny) die Profeß. gingen, jedoch nicht an den deutschen König. Seine Nach seiner Exilzeit mit Gregor VI. am Niederrhein Gestalt wird als klein beschrieben, schwarzhaarig, mit und der Rückkehr als Subdiakon 1049 mit Leo IX. einem von manchen Schriftstellern als häßlich be- zeichneten Gesichtsausdruck. Mit Wachs umkleidetDeutsche Geschichte

641 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 74 642 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 74 liegt sein Leichnam, 1954 »auf kanonische Weise an- richteten Wunder zu Lebzeiten und an seinem Grab. erkannt« (canonicamente riconosciuto), in einem in 1606 hat Paul V. den lokalen Kult in Salerno zugelas- den Altar eingelassenen Glassarkophag in einer Sei- sen, 1728 wurde dieser zwar auf die ganze Kirche tenkapelle der Kathedralkirche von Salerno. Sein un- ausgedehnt, aber von katholischen absolutistischen duldsames Wesen machte ihn seiner Umgebung un- Staaten abgelehnt. heimlich, und selbst der friedfertige Petrus Damiani nannte ihn einen »heiligen Satan«, einen Menschen, Wie ist Gregor zu verstehen? Während eine der ihm hoffentlich nicht zum Wolfe werde. deutschnationale Geschichtsschreibung Gregor unter die »Meister der Politik« eingereiht hat, dem Religion Die Hauptquelle für Gregors zwölfjährigen Pontifi- kaum mehr als ein Mittel zur Ausübung von Macht kat ist sein in der Kanzlei entstandenes Briefregister gewesen sei (J. Haller), ist ihm in jüngster Zeit eher mit über 360 Stücken; wenn man von Gregor I. die Bezeichnung eines »religiösen Genies« zuteil ge- (590–604) absieht, sind von keinem früheren Papst in worden (G. Tellenbach). Ihm als Petrusnachfolger, so dieser Form und in dieser Zahl Briefe erhalten, ob- war seine tiefe Überzeugung, kam allein die Verant- wohl sie nur den geringeren Teil der abgeschickten wortung für das gesamtkirchliche Heil zu: »Gott ge- Schreiben darstellen, die man auf gegen 1500 schätzt horchen heißt der Kirche gehorchen und das wieder- (H. Hoffmann). Trotz seiner schon von der Mitwelt um heißt dem Papst gehorchen und umgekehrt. My- anerkannten Bedeutung hat er – vielleicht Zeichen sei- stik und Recht sind in einer Ekklesiologie zusammen- ner bis zur Unmenschlichkeit reichenden Zielstrebig- geflossen, die zugleich sehr spirituelle und sehr insti- keit – keinen adäquaten Biographen gefunden, anders tutionell-kirchenrechtliche Züge trägt« (Y. Congar). als die zahllosen schlichten und unauffälligen mittel- alterlichen Äbte und Bischöfe, denen ein anhänglicher Ähnlich wie Leo IX. benutzte Gregor Synoden, um Schüler oder ein Ortschronist eine liebevolle Vita Grundsätze und Programme zu verkünden. Bei ihm widmete. Der Regensburger Augustinerchorherr Paul sind es die römischen Konzilien der Fastenzeit, und von Bernried hat rund zwei Generationen später (ca. nach der Fastensynode von 1075 ist im Briefregister 1128) eine Biographie verfaßt, die als Indiz der Nach- Gregors VII. der sogenannte »Dictatus Papae« einge- wirkung aufschlußreicher ist als für Gregor selbst. tragen: »27 päpstliche Leitsätze« (E. Caspar), die Gregor VII. war ein ungeliebter Papst, trotz der be- neben altem Rechtsgut auch Forderungen stellen, die von der Tradition nicht voll abgedeckt sind. Niemand 643 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 75 644 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 75 z.B. hatte vorher behauptet, daß der Papst mit der ka- nonischen Ordination »unzweifelhaft heilig« würde, über der Frage, welcher der Prälaten den vornehmeren daß er Abwesende und daß er den Kaiser absetzen Platz einnehmen dürfe, zu Mord und Totschlag kam; könne, daß alle Fürsten nur des Papstes Füße küssen sodann der großzügige und prachtliebende Regie- sollten. Diese Leitsätze waren wahrscheinlich ausge- rungs- und Lebensstil des Hamburger Metropoliten formt, bevor es zu Canossa kam. – Adalbert, dem er, gerade eben für mündig erklärt, von den Fürsten gezwungen 1066 seine Huld entziehen Heinrich IV. war – 1050 geboren – rund eine Ge- mußte – eine förmliche Bestrafung. Dieses Herumge- neration jünger als Gregor VII.; ihm fehlte der religiö- stoßenwerden erzeugte bei Heinrich offenbar das Be- se Ernst des Vaters, aber auch dessen freudlose Dü- wußtsein, auf die Fürsten sich letztlich nicht verlassen sternis. Für einen Laien seiner Zeit hat er eine vorzüg- zu können und seine Entscheidungen allein fällen zu liche Ausbildung genossen, war lese- und auch müssen. So erklärt sich der für seine Zeit unerhörte, schreibkundig, hatte Lateinkenntnisse und besaß 1069 öffentlich geäußerte Wunsch, sich von seiner Freude an der Lektüre, wie er auch Künstlern gegen- Frau Bertha von Turin, die ihm nach zehnjähriger über aufgeschlossen war. Die Kindheitseindrücke Verlobung 1065 angetraut worden war, zu trennen. dürften von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf Niemand hielt dem jungen König die Unbilligkeit sei- seine späteren Entscheidungen gewesen sein: die nach nes Verlangens vor Augen. Der Einsiedler Petrus Da- Selbstheiligung trachtende egozentrische Religiosität miani übernahm diese Aufgabe, und der König zog der Mutter, bei der er bis zum zwölften Lebensjahr seine Scheidungsforderung zurück. Es deuten sich aufwuchs; die brutale Entführung durch Erzbischof Leichtsinn, Skrupellosigkeit und eine Portion Hinter- Anno von Köln bei Kaiserswerth 1062, der er sich hältigkeit an, die ihm später seine Gegner vorwerfen durch einen Sprung über Bord des ablegenden Schif- sollten. Stets aber – und das hat auch Lampert von fes in den Rhein hat entziehen wollen; der ständige Hersfeld, einer seiner ärgsten literarischen Gegner zu- Druck der Fürsten, ihnen durch Rechtsübertragungen gestanden – war Heinrich von der Würde seines Kö- zu Willen zu sein; der folgenlose Friedensruf des drei- nigtums durchdrungen, die er auch äußerlich – ein zehnjährigen Königs bei einer Pfingstfeier in der Kir- hochgewachsener, ansehnlicher Mann – zur Schau che zu Goslar, als es zwischen den Ministerialen des trug: »Jener Mann, als Herrscher geboren und aufer- Bischofs von Hildesheim und des Abtes von Fulda zogen, zeigte ... bei allen Mißgeschicken stets einenDeutsche Geschichte

645 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 76 646 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 76 königlichen Sinn; er wollte lieber sterben als unterlie- b) Heinrich IV., die Fürsten und die sächsische gen.« Im Gegensatz zu Gregor VII. hat Heinrich einen Opposition zeitgenössischen Biographen gefunden, der seine Le- bensbeschreibung mit der Klage des Propheten Jere- Welcher Unterschied zwischen den Regierungsanfän- mias anheben läßt: »Wer wird meinem Haupte Was- gen Heinrichs III. und denen seines Sohnes! Heinrich ser reichen und einen Tränenquell für meine Augen, III. hatte drei Herzogtümer (Bayern, Schwaben, Kärn- auf daß ich trauere.« Die erschütternde Totenklage, ten) in seiner Hand, Heinrich IV. keines. Zum großen die den König u.a. als besonderen Beschützer der Teil war auch das Königs- und Reichsgut entfremdet, Armen preist, ist anonym, wahrscheinlich aus Furcht zusammen mit dem liudolfingischen Hausgut. Beim des Verfassers, »nach dem Tod Heinrichs IV. als des- entglittenen Reichsgut im thüringisch-sächsischen sen Anhänger noch persönlichen Nachteil zu erfah- Raum setzte Heinrich etwa ab 1068 mit seiner energi- ren« (F.-J. Schmale). schen Wiedererwerbspolitik ein, ohne der mannigfal- tigen sächsischen Sonderrechte zu achten, die noch 647 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 77 Heinrich II. und Konrad II. bestätigt hatten. Konnte z.B. nach germanisch-sächsischer Auffassung stritti- West- und Südharz verfügte und dem die Kaiserinwit- ger Besitz durch Zeugen und gerichtlichen Zweikampf we Agnes 1061 das Herzogtum Bayern übertragen entschieden werden, so ließ Heinrich eine Art Inquisi- hatte. Heinrich bezichtigte Otto einer Attentatsab- tionsverfahren anwenden: der Tatbestand wurde er- sicht, lud ihn vor Gericht und verhängte über ihn die mittelt. Werkzeuge seines Vorgehens waren haupt- Acht wegen Kontumaz, als er die Aufforderung zu sächlich schwäbische Ministeriale, landfremde Un- einem unter fraglos unbilligen Bedingungen angesetz- freie also. Diese Dienstmannen sollten Rückhalt in fe- ten Zweikampf ablehnte. Das Herzogtum Bayern sten Königsburgen finden, für die wiederum sächsi- wurde Otto genommen und 1070 Welf IV., dem Be- sche Bauern zu Hand- und Spanndiensten herangezo- gründer des jüngeren Welfenhauses, übertragen. Otto gen wurden. von Northeim verband sich mit dem Sachsenherzog Magnus Billung, doch mußten sich beide unterwerfen Als Hauptgegner des Königs mußte Otto von Nort- und wurden in Haft genommen. Während Otto bereits heim erscheinen, der über reichen Eigenbesitz am 1072 freikam, blieb Magnus Billung in Gewahrsam, obwohl in dieser Zeit sein Vater gestorben war. Die 648 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 77 sächsischen Großen sahen darin eine Ungerechtigkeit gegenüber ihrem Standesgenossen und verweigerten milie schändeten. Die Stimmung schlug gegen die 1073 die Heeresfolge. Als Heinrich sich auch die süd- Sachsen um. Das aufgerufene Reichsheer, angeführt deutschen Herzöge entfremdete – Rudolf von Schwa- vom Schwabenherzog Rudolf von Rheinfelden, über- ben, Berthold von Kärnten und selbst Welf IV. von rannte das sächsische Bauernheer. Der sächsische Bayern –, die sogar Absetzungspläne erwogen haben Adel unter Otto von Northeim lenkte ein, als der sollen, mußte er von seiner Feste Harzburg heimlich König günstigere Bedingungen stellte. Otto von Nort- entweichen, suchte und fand Schutz bei den Bürgern heim erhielt alle Reichslehen zurück, allerdings nicht von Worms. Heinrich erklärte sich schließlich bereit, das bayerische Herzogtum; stattdessen bestellte ihn die Burgen zu schleifen. Als er zögerte, die Harzburg Heinrich zum Verweser Sachsens und hoffte wohl auf niederzulegen, wurde sie von sächsischen Bauern ge- seine Unterstützung. stürmt, die in ihrer Zerstörungswut auch die Gräber der dort beigesetzten Mitglieder der königlichen Fa- Ende 1075 war der König Herr der Lage und hatte reichlich Reichsgut zurückgewonnen. Aber er hatteDeutsche Geschichte wieder taktische Kniffe angewandt: Magnus Billung über Gebühr in Haft gehalten; die Herzöge dem Reichsregiment weiter entfremdet und sich auf unfreie Dienstmannen gestützt; die Zusage, die Burgen zu schleifen, nur lau erfüllt. Dennoch: so hoch wie 1075 hatte das königliche Ansehen seit über zwei Jahrzehn- ten nicht gestanden.

649 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 78 650 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 78 c) Von Tribur nach Canossa die Schwäche der reichsfeindlichen Pataria ausnützen zu sollen und ersetzte Gottfried durch seinen neu in- Im gleichen Jahr 1075 hatte die Spannung zwischen vestierten Hofkaplan Tedald. Jetzt ging Gregor VII. Gregor VII. und Heinrich IV. zugenommen. 1073 energisch gegen die königlichen Räte vor, zugleich waren einige Räte »de familia Heinrici regis« gebannt gegen diejenigen Reichsbischöfe, denen Ungehorsam und der König aufgefordert worden, sich von diesen oder simonistischer Amtserwerb vorgeworfen wurde, zu trennen. Heinrich, damals in die sächsischen z.B. gegen Liemar von Bremen, Werner von Straß- Kämpfe verwickelt, schickte eine Ergebenheitsadres- burg, Heinrich von Speyer, Hermann von Bamberg. se, über die Gregor VII. erstaunt war: so ehrerbietig habe noch kein Herrscher an den Papst geschrieben. Im Hochgefühl seiner Stärke hielt Heinrich in Jetzt, 1075, nach dem guten Ausgang der sächsischen Worms am 24. Januar 1076 eine Versammlung ab, Kämpfe, nahm Heinrich eine andere Haltung ein. Zur die im Stil damaliger Zeit Reichstag und Reichssyn- Kraftprobe wurde die Besetzung des Mailänder Me- ode zugleich war. Zwei deutsche Erzbischöfe und 24 tropolitenstuhles. 1070 hatte – zermürbt von den Bischöfe waren erschienen, zu denen der Scharfma- Kämpfen mit den Patarenern – Erzbischof Wido, ein cher Kardinal Hugo Candidus stieß, der – obwohl der Capitaneo, resigniert, in damaliger Zeit eine Ausnah- Regisseur der tumultuarischen Wahl Gregors VII. – me. Heinrich IV. investierte 1072 Gottfried, einen in Rom in Ungnade gefallen war. Hugo Candidus farblosen Mailänder Adligen, gegen den die Patarener wußte mit schweren sittlichen Vorwürfen gegenüber und die Mailänder Bürgerschaft Atto, einen im Kir- Gregor aufzuwarten, und in dieser angeheizten Stim- chenrecht bewanderten Reformer, erhoben. In der mung wurden zwei Schreiben abgefaßt, ein kürzeres Stadt Mailand selbst waren anarchische Zustände aus- an den Papst, ein längeres für die Verbreitung in gebrochen; es kam zu Straßenschlachten, in deren Deutschland bestimmt – zum ersten Male begegnet so Verlauf auf Patarener-Seite der valvassorische Ritter etwas wie amtliche Propaganda in der deutschen Ge- Erlembald erschlagen worden ist; Erlembald galt als schichte. Rauhe Töne waren angeschlagen, und das Märtyrer: »der erste ritterliche Heilige der Weltge- längere, manifestartige Schreiben war adressiert: schichte« (C. Erdmann). Heinrich glaubte offenbar, »Hildebrand, nicht mehr Papst, sondern dem falschen Mönch« (Hildebrando non iam apostolico, sed falso 651 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 79 monacho); am Schluß hieß es: »Wir, Heinrich, König von Gottes Gnaden, mit allen unseren Bischöfen 652 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 79 sagen dir: steige herab, steige herab« (erst eine spä- tere Zeit hat die Worte angehängt: »in Ewigkeit Ver- mehrerer Interessengruppen. Da war der Papst mit dammenswerter«). einem Teil des deutschen Episkopats, in Kontakt mit der oberdeutschen und sächsischen Fürstenopposi- Die Vorgänge erhielten etwas Szenisches, denn der tion, der bislang inhaftierte und jetzt freigelassene Wormser Brief erreichte den Papst im Februar 1076, sächsische Adlige zuströmten, und schießlich als gerade während der Fastensynode, wo Gregor Pro- wohl schwächste Partei der König und sein Anhang, grammerklärungen abzugeben pflegte. Gregors Ant- zu dem besonders die oberrheinischen Städte gezählt wort 1076 war die Absetzung und Bannung Heinrichs werden konnten. Die Fürsten kamen in Tribur im Ok- IV., die er in eine besonders feierliche Form, in ein tober 1076 zusammen, um zu beraten, wie mit dem Gebet an den Apostel Petrus, kleidete: »Heiliger Pe- abgesetzten und exkommunizierten König zu verfah- trus, Fürst der Apostel, höre mich, deinen Knecht ... ren sei, und nach Tribur kamen auch Gesandte des Kraft deiner Vollmacht, zur Ehre und zum Schutz dei- Papstes. Auf der anderen Rheinseite, in Oppenheim, ner Kirche, im Namen des allmächtigen Gottes unter- lagerte Heinrich IV. und wartete auf den Fürsten- sage ich dem König Heinrich, Kaiser Heinrichs Sohn, spruch. Heinrich fand sich bereit, die ihm treue Stadt der gegen deine Kirche mit unerhörtem Stolz sich er- Worms preiszugeben und sich von den gebannten hoben hat, die Regierung des deutschen Reiches und Räten zu trennen. In schriftlicher Form versprach Italiens, entbinde alle Christen des Eides, den sie ihm Heinrich dem Papst Gehorsam und Buße. Eine Son- geleistet haben und noch leisten werden, und untersa- dervereinbarung mit den Fürsten legte fest, daß sie ge hierdurch, daß irgendjemand ihm als König Heinrich nicht mehr als ihren König betrachteten, diene.« wenn er sich nicht binnen Jahresfrist vom Banne löse. Zugleich forderten die Fürsten Gregor VII. auf, als Es dürfte für Heinrich IV. eine schmerzliche Erfah- Schiedsrichter zum 2. Februar 1077 nach Augsburg rung gewesen sein, daß er in diesem kritischen Au- zu kommen – als rechneten sie nicht damit, daß Hein- genblick von den Männern, die ihm das Absetzungs- rich sich vom Bann lösen könne. schreiben suggeriert hatten, im Stich gelassen wurde. Die Nachricht, daß Heinrich gebannt und abgesetzt Wie sollte er auch? Die drei süddeutschen Fürsten sei, führte geradezu schlagartig zur Herausbildung Rudolf von Schwaben, Welf von Bayern und Berthold von Kärnten, standen fest im Lager der Feinde undDeutsche Geschichte

653 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 80 654 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 80 versperrten die nächstliegenden Alpenpässe. Gregor zog nach Augsburg abholen sollte, als ihn die Mel- VII. brach zu seiner Schiedsrichterrolle auf, und hinzu dung vom Kommen Heinrichs erreichte. Er machte sollte ein Jahrhundertwinter kommen (s. oben S. 20). sofort kehrt und zog sich in die Burg Canossa zurück, Mit seiner Gemahlin Bertha und dem zweijährigen eine dreifach ummauerte uneinnehmbare Festung sei- Söhnchen Konrad wich Heinrich nach Burgund aus ner treuen Beschützerin, der Markgräfin Mathilde von und überwand die Alpen von Westen her über den Tuszien. Mathilde, 1046 als Tochter der Beatrix und rund 2000 m hohen Gebirgspaß des Mont Cenis – im des Markgrafen von Tuszien geboren, hatte Gottfried Januar. Von Bergführern hat sich Heinrich geleiten den Buckligen, den Sohn ihres Stiefvaters Gottfried lassen, und der Abstieg in die piemontesische Ebene, des Bärtigen von Lothringen, geheiratet. Seit 1076 das Herrschaftsgebiet seiner Schwiegermutter Adel- war sie Witwe, zugleich Erbin der Allode und Reichs- heid von Turin, erhielt selbstmörderische Ausmaße: lehen in Tuszien, Emilia und Lombardei, gepriesen »bald kroch (die Gruppe) auf Händen und Füßen vor- als »Tochter des heiligen Petrus« unterhielt sie einen wärts, bald stützten sie sich auf die Schultern ihrer großen Hof mit Panegyrikern und Theologen. Hein- Führer und manchmal, wenn sie auf dem glatten rich kam zu Mathildes Burg als Büßer, nicht als Feld- Boden ausglitten, fielen sie auch hin und rutschten ein herr. In einem weit verbreiteten Brief hat Gregor spä- ganzes Stück hinunter ... Die Königin aber ... setzte ter verkündet, in welchem Aufzug Heinrich »ohne man auf Rinderhäute ... Die Pferde ließen sie teils mit alles königliche Gepränge, vielmehr ganz erbar- Hilfe gewisser Vorrichtungen hinunter, teils schleiften mungswürdig, nämlich barfuß und in härenem Ge- sie sie auch mit zusammengebundenen Beinen hinab. wand«, vor dem Burgtor erschienen sei. Vor und Dennoch kamen viele beim Hinunterschleifen um, neben der Bußleistung liefen intensive Verhandlun- viele wurden schwer verletzt, und nur ganz wenige gen, und bei aller zur Schau getragenen Reue scheint entrannen heil und unverletzt der Gefahr.« Heinrich doch mit Berechnung vorgegangen zu sein, als er am 25. Januar 1077, am Tage der Bekehrung In der Lombardei verbreitete sich das Gerücht vom des Apostels Paulus, einem Mittwoch, – eingelassen Nahen Heinrichs IV., und königstreue Anhänger in den inneren Mauerring – mit der Buße begann, die strömten zusammen in der Annähme, es ginge mit drei Tage dauerte. Der Bußübung konnte Gregor die Waffen gegen den Papst. Gleiches nahm Gregor an; er Rekonziliation schwer verweigern, und es scheint, war auf der Höhe Mantuas, wo ihn ein deutscher Her- 656 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 81 655 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 81 die Kirche aufgenommen, aber seine Ersetzbarkeit daß die Anwesenden, Gräfin Mathilde, Heinrichs war sichtbar geworden. Taufpate Abt Hugo von Cluny und Heinrichs Schwie- germutter Adelheid von Turin, Gregor überzeugt haben, daß er die Absolution erteilen müsse. Vorher aber ließ sich Gregor schriftlich und eidlich versi- chern, daß Heinrich sich dem Urteilsspruch des Pap- stes fügen und dessen Reise »über das Gebirge oder in andere Teile der Welt« sichern würde. Sodann hob Gregor den vor ihm in Kreuzesform mit ausgebreite- ten Armen auf dem Boden liegenden Heinrich auf, reichte ihm und seinen Begleitern das Abendmahl. Beim anschließenden Versöhnungsessen soll Heinrich sich finster und wortkarg gegeben haben; die Speisen habe er nicht angerührt und mit den Fingernägeln auf der Tischplatte herumgekratzt. Das Geschehen von Canossa hat bereits die Zeitge- nossen zu widersprüchlicher Beurteilung herausgefor- dert. Fraglos hatte Heinrich einen Augenblickserfolg errungen; der Papst hatte ihn vom Banne gelöst; er war wieder rechtmäßiger König – gegen die Erwar- tung der Fürsten. Aber das Gottesgnadentum, die Gottesunmittelbarkeit seines Herrscheramtes, war an- getastet: auch der König steht sichtbar unter der Kir- chenhoheit als ein Sünder, den der Papst prüft und richtet. Gregor VII. hat selbst dieses Richteramt be- tont; schon seine Vorgänger Zacharias und Stephan hätten Pippin zum König gemacht. Heinrich war inDeutsche Geschichte

657 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 81 658 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 82 d) Gespaltenes Reich und gespaltene Kirche verhielt sich neutral. Zwar hat Gregor, ohne Heinrich am Verfügen über kirchliches Reichsgut zu hindern, Auf den 2. Februar 1077 hatten die Fürsten das Augs- das Verbot der Laieninvestitur 1078 erneuert, aber of- burger Treffen mit dem Papst anberaumt: wenige fenbar war er der Meinung, daß seine Sache, Gottes Tage vorher war Heinrich von Gregor vom Bann ge- Sache, von sich aus zum Siege kommen müsse. Nach löst worden. Die Fürsten fühlten sich geprellt: »Zu- dreijährigem Stillehalten schlug er zu: Auf der Fasten- rückweichen ist unehrenhaft«, wie es in einem ihrer synode 1080 bannte und entsetzte er Heinrich aber- Briefe an Gregor VII. hieß. Auf einem Fürstentag im mals, wiederum in Form eines Gebets. In einer Oster- fränkischen Forchheim – in einer Königslandschaft predigt prophezeite er Heinrich einen baldigen Unter- also – wählten sie mit Billigung des päpstlichen Le- gang als Gottesstrafe, wenn er nicht umgehend Buße gaten den Schwabenherzog Rudolf von Rheinfelden täte. Gregor erklärte jetzt Rudolf von Schwaben zum zum deutschen König: das erste deutsche Gegenkö- allein legitimen König, aber Rudolf starb schon im nigtum, die erste freie deutsche Königswahl. Freilich Oktober 1080, nachdem ihm in der Schlacht die »ver- sollte der Akt von Forchheim nicht überschätzt wer- fluchte« rechte Hand abgehauen worden war, mit der den; nur 10–15 Fürsten haben teilgenommen. Rudolf er Heinrich Gehorsam geschworen hatte. Der Unter- stand dem salischen Herrscherhaus nahe, hatte er gang Rudolfs wirkte wie ein Gottesurteil. Zwar erho- doch vor Übernahme des schwäbischen Herzogtums ben die Fürsten einen Nachfolger, vermieden aber eine Schwester Heinrichs IV. geheiratet, die aller- deutlich die Wahl eines mächtigen Magnaten. Der dings frühzeitig starb. Immerhin mußte Rudolf auf die Lützelburger Graf Hermann von Salm konnte sich als Designation seines Sohnes als Nachfolger verzichten. König kaum halten, mußte vorübergehend nach Däne- Dem Papst sagte er freie Wahl der Bischöfe zu und mark ausweichen, und als er 1088 bei der Belagerung versprach unbedingten Gehorsam; sein Eid hatte va- einer lothringischen Burg fiel, erlosch ein bedeutungs- sallitische Form. loses, von den Fürsten nicht getragenes Gegenkönig- tum. Mit Recht konnte Heinrich hoffen, daß von dem Gegenkönig keine tödliche Gefahr ausging, solange Die zweite Bannung und Absetzung Heinrichs IV. dieser vom Papst nicht unterstützt wurde, und Gregor fand ein gespaltenes Echo; sie wurde von nicht weni- gen als ungerecht angesehen. Obwohl der weitere 659 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 82 660 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 83 Umgang mit Heinrich IV. gemäß Kirchenrecht die au- tomatische Exkommunikation nach sich zog, hielt der gen dreizehn Kardinäle zu Heinrich über, und die größere Teil des deutschen Episkopats zum gebannten Römer öffneten die Stadt. Gregor zog sich in die un- König, so die Erzbischöfe von Köln, Trier, Hamburg- einnehmbare Engelsburg zurück. Wenige hundert Bremen und nach 1084 auch der von Mainz. Im Meter entfernt wurde Ostern 1084 in der Peterskirche Süden bildeten die von ihren Residenzen vertriebenen Clemens III. inthronisiert; von ihm empfingen Hein- Gebhard von Salzburg und Altmann von Passau die rich IV. und Bertha die Kaiserkrone. Gregor VII. Stützen der gregorianischen Partei. In Sachsen besaß wurde zwar von den Normannen entsetzt, die ihrem sie mit Erzbischof Hartwig von Magdeburg und sei- päpstlichen Herrn, entsprechend der Lehnspflicht, zu nem Anhang das Übergewicht. Manche Diözesen Hilfe kamen, aber ihre Plünderungen und Übergriffe waren doppelt besetzt, von einem königlichen und brachten die römische Bevölkerung so sehr auf, daß einem päpstlichen Parteigänger; dieser verwirrende Gregor VII., den man für das Unglück verantwortlich Zustand herrschte z.B. in Paderborn, Minden, Kon- machte, mit seinen Befreiern die Stadt verlassen stanz und Augsburg, und Altmann von Passau konnte mußte. In Salerno, unter dem Schutz der Normannen, sich wohl im östlichen Teil der Diözese aufhalten, in ist Gregor VII. am 25. Mai 1085 gestorben. Seine Passau selbst aber herrschten königlich gesinnte letzten Worte – eine Abwandlung des 44. Psalms – Domherren. Der Augsburger Annalist klagt: »O be- scheinen historisch gesichert: »Ich habe die Gerech- jammernswertes Antlitz des Reiches. Wie man bei tigkeit geliebt und das Unrecht gehaßt: deshalb sterbe einem Komödiendichter (Plautus) liest: Alle sind ge- ich in der Verbannung.« Es ist die Haltung des märty- doppelt; so sind die Päpste gedoppelt, die Bischöfe rerhaften Bekenners, der sich selbst in der Todesstun- gedoppelt.« Denn Heinrichs IV. Antwort auf die er- de sein richtiges Handeln bestätigt: nur eine heilsab- neute Bannung war die Erhebung des Erzbischofs gewandte Welt konnte ihm, dem Beauftragten Gottes, Wibert von Ravenna zum Papst Clemens III. (Brixen, ein solches Schicksal bereiten. Juni 1080), den er nach Rom zu führen gedachte. Aber die alljährlich unternommenen Vorstöße hatten Der hierokratische Anspruch des Papstes schien erst Erfolg, als Gregor von den Römern und von sei- zusammengebrochen. Heinrich bereinigte die Lage in ner nächsten Umgebung verlassen wurde: 1084 gin- Deutschland; die Gefahr der sächsischen Opposition schwand nach dem Tode Ottos von Northeim (†Deutsche Geschichte 1083) und endgültig nach der Ermordung des geäch-

661 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 83 662 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 83 teten Grafen Ekbert von Meißen († 1090). Gemein- zehnjährigen Welf (V.) von Bayern, der seiner ältli- sam mit dem Reichsepiskopat konnte Heinrich 1085 chen Gemahlin zwar bald davonlief, aber in den ent- für das ganze Reich einen Gottesfrieden verkünden. scheidenden Jahren nach 1089 eine königsfeindliche 1087 ließ Heinrich seinen ältesten Sohn Konrad zum Kräftekonzentration herbeigeführt hatte. 1093 sagte deutschen König krönen, 1089 – Bertha war 1087 ge- sich der junge König Konrad von seinem Vater los, storben – heiratete er Adelheid (Eupraxia, Praxedis), Adelheid-Praxedis trennte sich von Heinrich IV. und eine russische Fürstentochter und Witwe des Mark- brachte die unsinnigsten Beschuldigungen sittlicher grafen der Nordmark. Als Heinrich 1090 nach Italien Verfehlungen über ihren Gatten vor. Innerhalb kurzer zog, durfte er glauben, seine Gegner überwunden zu Zeit hatte sich das Blatt gewendet. Heinrich saß sie- haben. ben Jahre – 1090–1096 – in einer Burg bei Verona und konnte sich nicht rühren, ohne Gefahr zu laufen, Nach einem kurzen Zwischenpontifikat des sich gefangengenommen zu werden. Weltgeschichtliche gegen die Wahl sträubenden Mönchspapstes aus Veränderungen gingen vor, als existiere ein Kaiser, Montecassino Viktor III. (1086–1087) war Urban II. ein deutscher König, ein Heinrich IV. nicht. (1088–1099) erhoben worden, vormals Kardinalbi- schof Otto von Ostia, ein Nordfranzose, einst Prior 664 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 84 von Cluny, der als päpstlicher Legat 1084/85 Deutschland kennengelernt hatte und unter den von ker aus der Umgebung des Erzbischofs Werner von Gregor VII. zur Nachfolge ausersehenen Kandidaten Magdeburg, mit seinem »Buch vom Sachsenkrieg«, sich befunden hatte. Urban II., der seinen Papstnamen dessen königsfeindlicher, streng sächsischer Stand- vielleicht aus Reverenz gegenüber dem Märtyrerpapst punkt offen zutage tritt, einbezogen in eine augustini- Urban I. wählte, dem eine fiktive Tradition die Stif- sche staatabwertende Grundhaltung. Auch die Boden- tung der apostolischen Lebensform (vita apostolica, seechronistik trägt Züge oppositioneller Haltung: vita communis) untergeschoben hatte, war ein Mann Gregorianer sind Berthold von Reichenau († 1088) von taktisch-politischem Genie: nicht nur gelang ihm und Bernold von Konstanz († 1100), dessen noch als schließlich 1093 die gesicherte Rückkehr nach Rom, Autograph erhaltene Weltchronik viele Vorgänge sin- er stiftete eine politische Ehe zwischen der dreiund- gulär berichtet. vierzigjährigen Mathilde von Tuszien und dem sieb- Man sieht die »Anfänge der staatlichen Propagan- 663 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 84 da« in Heinrichs IV. Wormser Absetzungsschreiben von 1076, aber der Erfolg scheint nicht eben groß ge- 3. Die Streitschriften-Literatur und die Anfänge wesen zu sein, im Gegensatz zu Zeugnissen päpstli- scholastischen Denkens cher Rührigkeit. Mehrere Briefe Gregors VII. weisen eine breite Überlieferung auf und lösten vielfältige Mit dem Streit um die Investitur und Reform kommt Antworten aus, zumal sie zugleich in literarische eine heftige Diskussion auf, die sich auch in der Lite- Werke eingerückt wurden. Die königliche Seite war ratur niederschlägt und die übliche Quellentypologie der päpstlichen hier fraglos unterlegen, denn die kö- sprengt. Es werden von einer »willkürlichen« Gestal- nigliche Kanzlei war auf solcherart propagandistische tung auch Literaturgattungen erreicht, die früher eher Aktivitäten nicht eingerichtet; auch standen dem in trocken annalistischer Form von dem Geschehen Papst zahlreiche Zwischenträger für seine Botschaften berichteten, wie Annalen und Chroniken. Die Partei- zur Verfügung, so etwa die Hirsauer Mönche, die so- ungen gehen mitten durch die Konvente und Gemein- wohl als Boten wie als Volksredner auftraten. Als schaften. Lampert – dessen Annalen sich von »Herumstreuner« (gyrovagi), die durch die Lande 1069–1077 zur Reichsgeschichte ausweiten und eine schweiften und schlichtere Gemüter täuschten, sind konsequent königsfeindliche Haltung offenbaren – sie von den Lorscher Mönchen verspottet worden, die lebte als Mönch im vorwiegend königsfreundlichen Kloster Hersfeld, bis er 1081 in das vom Kanoniker- stift zum Benediktinerkloster umgewandelte Hasun- gen überwechselte und dessen erster Abt wurde. Ha- sungen war Eigenkloster des Erzbischofs Siegfried von Mainz, eines erklärten Gregorianers. Dessen Nachfolger Wezilo hielt zu Heinrich IV. und zwang die inzwischen zur Hirsauer Reform sich bekennen- den Mönche, Hasungen zu verlassen. Dem Königs- gegner Lampert († nach 1081), dessen Annalen Ranke »nie ohne eine gedrückte Stimmung aus der Hand« hat legen können, steht Bruno nahe, ein Kleri-Deutsche Geschichte

665 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 85 666 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 85 zugleich die Sorge äußern, daß »die ganze Erde von protzenden Wander-Grammatiker. Auch wurde es üb- häufigen Streitereien Schmerz empfinde«. Gregor VII. lich, sich nicht an seinem Heimatort unterrichten zu selbst wurde der Vorwurf gemacht, daß er »die Ein- lassen, sondern in der Fremde, und wer nur an einem heit zerstört und seine Schriften über den Erdkreis Ort studiert hatte, wurde fast verachtet. Frankreichs verstreut« habe. Jeden spannte er ein. Den Grafen Ro- Schulen erhielten starken Zustrom aus Deutschland; bert von Flandern wies er an, »diese unsere Worte Adalbero von Würzburg und Gebhard von Salzburg häufig zu lesen ... und alle Geistlichen und Laien dazu hatten in Paris studiert, Friedrich von Köln in Angou- anzuhalten, diese Wahrheit zu verkünden«. Ein zen- lême. Zugleich fand ein Austausch der Lehrer statt: trales Stück der Propaganda Gregors VII. war jener der Sachse Bernhard war vorübergehend in Konstanz; lange Brief vom März 1081 an Bischof Hermann von Benno, Scholasticus in Hildesheim, kam aus Schwa- Metz, in welchem er die Gründe für die zweite Abset- ben; in Würzburg lehrte der Schotte David. Zu dieser zung Heinrichs IV., die selbst in gregorfreundlichen geistigen Unruhe kam die Diskussion über Themen Kreisen auf Unverständnis stieß, breit darlegte. der Reform. 3600 Geistliche der Diözese Konstanz hatten sich 1075 zu einer Synode zusammengefunden, Die geistig-geistliche Unruhe, die damals weite veranlaßt durch das strenge gregorianische Gebot des Teile der Bevölkerung erfaßte, scheint groß gewesen Zölibats: sie verwarfen es, denn es war vor allem der zu sein, doch äußerte sie sich anders, als die Literatur- niedere Klerus, der sich gegen die Ehelosigkeit wehr- geschichten und Quellenkunden es erkennen lassen. te. Briefe, die auf Tagesereignisse Bezug nahmen, Es gab einzelne Lehrer in Deutschland, die keiner wurden durch das Land geschickt und Lehren von der Korporation angehörten und somit ohne feste Stellung Kanzel verkündet. Bruno schildert, wie 1075 in und Einkommen waren; sie waren die ersten, die es Mainz während der Osterpredigt bei Anwesenheit des wagten, von ihrem Lehrberuf zu leben. Benno von Königs ein Bote mit einem Schreiben der Sachsen Osnabrück scheint Schüler eines solchen freien Magi- eintrifft; der Bote fordert, daß es von der Kanzel sters gewesen zu sein, und Manegold von Lautenbach »allem Volk vorgetragen und ausgelegt werde«; als zog mit Frau und Töchtern als Wanderlehrer durch dies verhindert wird, erklärt der Bote selbst den Inhalt Frankreich, bis er nach »vielen Umtrieben« in das dem Volk. Mit Empörung berichten einige Autoren, Augustinerchorherren-Stift Lautenbach im Elsaß ein- daß lateinische Schriften von Handwerkern, Kaufleu- trat. Italien kannte schon lange den mit seiner Bildung 668 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 86 667 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 86 ausgerechnet, daß im 11. Jahrhundert und bis zur Zeit ten und Frauen behandelt würden, daß sie also in die des Wormser Konkordats 1122 mindestens fünfmal Volkssprache – wahrscheinlich mündlich – übertra- so viele geschichtliche Werke geschrieben worden gen wurden, und Manegold von Lautenbach wirft sei- sind wie im Jahrhundert davor. Zahlreiche Schriften nem Gegner Wenrich von Trier vor, seine Schrift mit Reformthemen treten auf, bekannt sind weit über würde »durch alle Straßen und abseitigen Gassen zum 150 von beinahe hundert Autoren. Fast alle waren Gespött der Kirche verbreitet« – während Manegolds Geistliche, die häufig Einzelfragen behandelten: die Abhandlung gegen Wenrich nur in einer einzigen Simonie, den vom niederen Klerus vielfach abgelehn- Handschrift auf uns gekommen ist. ten Zölibat, die Laieninvestitur und am häufigsten, ob Gregor VII. den deutschen König Heinrich IV. habe Das ist zu beachten: Es wird von »Streitschriften- absetzen dürfen. Schimpf- und Schmähworte flogen Literatur«, »Flugschriften« und »Publizistik« gespro- hin und her: solche typologischer Art, daß Erzbischof chen, aber die Überlieferung nicht weniger dieser Anno von Köln z.B. ein neuer Hoherpriester Annas, Werke ist so schmal, daß sie in ihrer Zeit kaum die Schwiegervater des Kaiphas, und Heinrich IV. ein an- Funktion einer Streit- oder Flugschrift gehabt haben derer Nero sei, oder Namen wurden verunstaltet: Ur- dürften, die die Öffentlichkeit erreicht hat. Humberts banus wurde zu Turbanus (dem Durcheinanderbrin- von Silva Candida »Drei Bücher wider die Simoni- ger) usw. Der einzige Laie unter den Streitschriftenau- sten«, die Werke Manegolds von Lautenbach, die toren scheint der zum Kreis um Wibert von Ravenna Traktate des sogenannten Normannischen Anonymus (Gegenpapst Clemens III.) gehörende Petrus Crassus sind jeweils nur in einer einzigen Handschrift überlie- gewesen zu sein, der die Selbständigkeit und Unab- fert, und vom Liber de unitate ecclesiae conservanda, setzbarkeit des Königs aus dem römischen Recht hat einer königsfreundlichen Ausgleichsschrift, existiert beweisen wollen. Seine Argumentation ist Zeichen nur ein von Hütten besorgter Druck. Die Verbreitung einer Neuorientierung: von nun an riß die Beschäfti- einer Schrift ist kein Gradmesser für ihre intellektuel- gung mit dem römischen Recht nicht mehr ab. Über len und moralischen Qualitäten. Gerade die genannten ein halbes Jahrtausend wurde eine Brücke geschlagen; Werke gehören zu den gehaltvollsten der gesamten seit der Zeit Papst Gregors I. (590–604) waren die Investiturstreitsliteratur – ohne diese sichtbar beein- Digesten – der Teil des Corpus Iuris Civilis, in wel- flußt zu haben. Die geistige Aktivität nahm sprunghaft zu. Man hatDeutsche Geschichte

669 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 87 670 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: Das ... DG Bd. 2, 87 chem die Stellungnahmen der römischen Juristen ge- den kann. Die Abfolge ist freilich unumstößlich: sammelt waren und der sich zum Erörtern von Credo, ut intelligam (Ich glaube, also begreife ich), Rechtsproblemen besonders eignete – nicht mehr zi- oder in noch präziserer Umschreibung des heuristi- tiert worden. Jetzt wurden sie in Bologna unter dem schen Verfahrens: Fides quaerens intellectum (Der Magister artium Irnerius-Werner (ca. 1075–1130), Glaube, der das Verständnis sucht). Beide Axiome möglicherweise einem Deutschen, zum Hauptgegen- stammen vom ersten großen Vertreter der Frühschola- stand der Rhetorik-Studien erhoben, bis bald eine ei- stik, von Anselm von Canterbury († 1109), dessen er- gene Rechtsschule entstand, die im 12. Jahrhundert klärtes Ziel es war, den ungläubigen Gegner von der immer mehr Studenten anzog. Vernunftmäßigkeit der Glaubenswahrheiten zu über- zeugen; daher seine Frage, »warum Gott Mensch« ge- Das Abwägen des Für und Wider wurde, erzwun- worden sei (Cur deus homo), daher sein Gottesbe- gen durch die Diskussion, zum festen Bestandteil weis, der erste in einer langen Reihe. Auf ontologi- einer Argumentation. Es genügte nicht mehr, Autori- schem Wege versucht er darzulegen, daß aus dem Be- täten aneinanderzureihen, es bedurfte der Einbezie- griff der Vollkommenheit, die Gott zugehört, auch hung der widersprechenden Argumente, um eine Lö- seine Existenz abzuleiten sei. sung anzubieten. Die Herausbildung der dialektischen Methode ist bereits bei Bernold von Konstanz († Man wird nicht sagen können, daß die Deutschen 1100) greifbar, bevor sie Abaelard (1079–1142) mit bei diesem geistigen Aufbruch abseits standen, aber seinem »Sie et Non« anbietet. Indem die rationale Be- die starke Politisierung innerhalb des deutschen Rei- gründung zum Pro und Contra gehört, damit die con- ches band die geistige Kraft. clusio gezogen werden kann, beginnt die Vernunft Ei- genständigkeit zu erwerben: der Geist beginnt zu ex- 703 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 103 perimentieren. Der Investiturstreit mit seinem geistig- agonalen Charakter ist eine Voraussetzung für die Tochter des englischen Königs Heinrich I., einge- heraufkommende Scholastik. Man wird sich bewußt, bracht hatte. Mit mächtigem Truppenaufgebot zog daß Glauben und Denken einander nicht ausschlie- Heinrich über den Großen Sankt Bernhard nach Itali- ßen; daß im Gegenteil die heilige Tradition durch den en; 1109 hatten königliche Unterhändler der Kurie Intellekt tiefer erfaßt und damit stärker gesichert wer- eine Abhandlung vorgelegt, in welcher – gestützt frei- lich auf manche Dokumente, die als Fälschungen erst 702 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 102 wenige Jahrzehnte vorher entstanden waren – dem deutschen Herrscher ausdrücklich das Investiturrecht 3. Die Etappen zum Wormser Konkordat (1122) zugesprochen war. Dieser anonym überlieferte Traktat »Über die Investitur der Bischöfe« stammte aus der Heinrich V. hatte sich von dem Eide, den er seinem Feder des königlich gesinnten Mönches Sigebert von Vater geleistet hatte, durch die Kirche lösen lassen Gembloux († 1112), der bereits einmal Papst Paschal und Rückhalt bei den Fürsten gesucht. Sofort zu Be- energisch entgegengetreten war, als dieser den vom ginn der Alleinherrschaft zeigte sich jedoch, daß Kreuzzug zurückgekehrten Grafen Robert II. von Heinrich nicht beider Kreatur sein wollte. Unbeirrt Flandern zu gewaltsamem Vorgehen gegen die kaiser- übte er weiter die Investitur. Eine päpstliche Synode lichen Orte Cambrai und Lüttich aufforderte: Schlim- in Guastalla (Prov. Emilia) im Frühjahr 1106 erneu- mer als Alarich sei Paschal, denn der gotische Barbar erte das Verbot der Laieninvestitur; der Abgesandte habe wenigstens die Kirchen des eroberten Rom ge- Heinrichs V. auf dieser Synode, Erzbischof Bruno schont. Sigebert verstand es, dem Papst peinliche Tat- von Trier, behauptete dagegen unbeeindruckt das und Rechtsbestände geschickt zu formulieren. Die Recht des Königs auf Investitur. Beide Seiten gaben Vorgespräche mit der Kurie hatten keine Fortschritte sich grundsätzlich, duldeten aber den Widerspruch, erzielt, als König Heinrich V., der auf dem Romzug und der Papst erkannte fast alle vom König investier- das zusammengebrochene Reichsregiment in der ten Bischöfe an. Verhandlungen mit dem deutschen Lombardei wiederaufrichten konnte, zu Beginn des König wurden eingeleitet. Jetzt, 1107, wurde zum er- Jahres 1111 entscheidende Verhandlungen einleitete. sten Mal definiert, was unter Regalien zu verstehen sei. Aber Heinrich, mit Ostkriegen und fürstlicher Seine Abgesandten erklärten dem Papst, der König Opposition beschäftigt, konnte das Gespräch nicht könne die angeblich seit Karl dem Großen geübte weiterführen. Abrupt, wie es seine Art war, kündigte er 1110 einen Romzug an. Es war nicht nur die politisch gün- stige Situation, die ihn zu diesem Entschluß bewogen haben dürfte, sondern auch die reiche Mitgift von 10000 Mark Silber, die seine Verlobte Mathilde, dieDeutsche Geschichte

704 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 103 705 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 104 Praxis der Investitur keinesfalls aufgeben. Paschal In feierlichem Zeremoniell wurde Heinrich V. in reagierte mit einem theoretisch einleuchtenden Vor- die Peterskirche hineingeleitet. Vor dem Krönungsakt schlag: Der König möge auf die Investitur verzichten; sollten die beiden vorgefertigten Urkunden verlesen alle Hoheitsrechte und das den Kirchen überlassene werden. Als die königliche vorgetragen wurde, ent- Reichsgut sollten ihm zurückerstattet werden, denn stand schon Unruhe, die sich bei der päpstlichen zu die Kirchen könnten sehr wohl vom Zehnt und den einem Proteststurm steigerte: »Wir untersagen auch Schenkungen leben. Es ist gerätselt worden, was Pa- und verbieten, daß ein Bischof oder Abt, jetzt und in schal II. zu dieser weltfremden Antwort bewogen Zukunft, diese Regalien wahrnimmt, das heißt: Städ- haben könnte: seine militärische Hilflosigkeit, die ein te, Herzogtümer, Markgrafschaften, Grafschaften, Einlenken angeraten erscheinen ließ (denn sein Appell Münzrechte, Zölle, Märkte, Reichsvogteien, niedere an die Städte der Lombardei und selbst sein Notruf an Gerichtsbarkeiten und Königshöfe mit ihrem Zube- die päpstlichen Lehnsleute, an die Normannen, blie- hör, Kriegsmannschaft und Burgen des Reiches.« Die ben ungehört), oder seine monastische Weltfremdheit. Bischöfe und Äbte protestierten, weil sie auf ihre Auf jeden Fall dürfte Paschal das Ausmaß der Ver- Reichslehen verzichten sollten, und die weltlichen quickung von kirchlichen Ämtern und weltlichen Gü- Fürsten, weil sie auch kirchliche Lehen übernommen tern in Deutschland unterschätzt haben. Der päpstli- hatten und sie aufgeben mußten. Die Urkunde sei che Vorschlag wurde in geheimen Beratungen am 11. falsch, sei nicht rechtsgültig, sei Ketzerei, wurde Februar 1111 in der Kirche S. Maria in turri – einem durcheinandergebrüllt, und der Tumult war so groß, kleinen Bau, der im 16. Jahrhundert dem neuen Pe- daß die Kaiserkrönung nicht erfolgen konnte. Da der tersdom weichen mußte – in eine Art Vertragsform Papst den Vertrag nicht erfüllt hatte, kehrte Heinrich gebracht: Der König sollte bei der Kaiserkrönung auf zur Forderung der vollen Investitur zurück. Jetzt wei- jegliche Investitur von Geistlichen verzichten und eid- gerte sich Paschal, die Kaiserkrönung vorzunehmen. lich dies auch für die Zukunft zusichern; der Papst Kurzentschlossen brachte Heinrich Paschal und die würde dann unter Bannandrohung befehlen, daß die Kardinäle in seine Gewalt, durchbrach den Ring der Geistlichen die Regalien zurückgeben. Als Datum der bewaffneten Römer um die Peterskirche und zog sich Krönung und Verkündung war der nächste Tag, der verwundet auf feste Burgen in der Nähe Roms zurück. 12. Februar 1111, ein Samstag, vorgesehen. Die nächsten Wochen in der Hand des deutschen Kö- 706 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 104 707 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 105 nigs zermürbten den Papst. Am 11. April 1111 kam das Haus der Billunger in männlicher Linie ausgestor- es in Ponte Mammolo bei Tivoli zu einem neuen Ver- ben, und Heinrich hatte das Herzogtum ohne Rück- trag. Der Papst gestand dem deutschen König die In- sicht auf andere Anwartschaften an Lothar von Sup- vestitur im ganzen Reich mit den Symbolen Ring und plinburg ausgegeben. Wie immer sich Heinrich ver- Stab zu, vorausgesetzt, der Gewählte sei ohne Simo- hielt, in irgendeiner Weise mußte er Fürsten- und Dy- nie ins Amt gekommen. Paschal gelobte, Heinrich nasteninteressen verletzen, und er begann, auf die wegen der Übertretung des Verbots der Laieninvesti- Stützen der Politik seines Vaters zurückzugreifen: auf tur nicht zu bannen, und sagte die Kaiserkrönung zu. die Ministerialität und auf die Städte. Daß Sachsen Heinrich versprach als Gegenleistung die Freilassung zum Hort des Widerstands wurde, war nicht nur eine von Papst und Kardinälen. Am 13. April, an einem gewisse Tradition; Heinrich V. hatte hier Erbansprü- gewöhnlichen Donnerstag – ein Zeichen der Eile –, che brutal verletzt, und der neue Herzog von Sachsen fand die erpreßte Kaiserkrönung statt. Beide Seiten Lothar versuchte seine Herrschaft auszubauen. 1111 gaben Rechtfertigungsschreiben heraus, die die Span- übertrug er die Grafschaften Holstein und Stormarn nung eher noch verstärkten. Auf einer Lateransynode an den Grafen Adolf von Schauenburg. Holstein und 1112 beteuerte der freigelassene Paschal, er sei vom Stormarn waren noch altsächsische Volksgaue, wo es Pfad seiner Vorgänger Gregor VII. und Urban II. keine Ministerialität und kein Lehnswesen gab, so nicht abgewichen. Das abgezwungene Privileg von daß eine gewisse Autonomie gegenüber dem Reich Ponte Mammolo wurde bald als »Pravileg«, als gegeben war. Als sich der christliche Obodritenfürst Schandrecht, verschrien. Paschal waren durch den Eid Heinrich – ein Sohn des 1066 im Wendensturm um- die Hände gebunden, aber eine von dem Erzbischof gekommenen Königs Gottschalk und ein Enkel des Guido von Vienne abgehaltene südfranzösische Syn- Dänenkönigs Sven Estridsen – einen neuen Herr- ode sprach über den Kaiser, einen »zweiten Judas«, schaftsbereich mit dem Zentrum in Alt-Lübeck (nord- das Anathem aus, und Paschal bestätigte die Be- östlich des heutigen Lübeck) aufbaute, fand er Rück- schlüsse. halt bei Lothar, der hier einen Brückenkopf christli- cher Mission sah. Sachsen war stark entfremdet, als Heinrich V. war nach Deutschland zurückgekehrt, Heinrich V. 1112 eingreifen und die königliche Herr- wo sich eine Opposition mit dem Zentrum in Sachsen schaft stärker ausbauen wollte. aufgebaut hatte. Hier war 1106 mit Magnus BillungDeutsche Geschichte

708 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 105 709 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 106 Die Seele des fürstlich-sächsischen Widerstands kleinem Gefolge, brach Heinrich nach Italien auf. war jener Erzbischof Adalbert I. von Mainz Hauptsächlich ging es um die schon legendären »Ma- (1109–1137), der 1106 als erster Kanzler Heinrichs thildischen Güter«, denn Mathilde hatte in ihrem sieb- V. und später als maßgeblicher Berater mit der Kurie zigjährigen Leben ihren Sinn mehrfach geändert: verhandelt hatte; ihn dürfte hauptsächlich die Abwei- 1079 ihre Güter an die römische Kirche geschenkt, chung der königlichen Politik von fürstlichen Interes- die Schenkung jedoch zurückgenommen, 1102 wieder sen in die Opposition getrieben haben. Kurzent- erneuert, 1111 schließlich Heinrich V. als Erben ein- schlossen setzte ihn Heinrich 1112 gefangen. Das gesetzt, der nicht nur die Reichslehen, sondern auch energische Vorgehen brachte zunächst Erfolg; selbst das Privatvermögen beanspruchte. Der Romzug 1116 Lothar von Supplinburg unterwarf sich 1114. Aber erwies Heinrich V. als Meister politischer Winkelzü- der Widerstand flackerte wieder auf, als Heinrich eine ge. Auf seinem Wege verteilte er großzügige Stadtpri- allgemeine Reichssteuer nach englischem Vorbild ein- vilegien und nahm zeitig Verbindung mit der römi- führen wollte; die Übertragung einer solchen moder- schen Opposition des Papstes auf, zu der zuletzt auch nen Steuerabgabe von einem straff durchorganisierten Mathilde Kontakt gehalten hatte. Als Verhandlungen und mit starker Zentralgewalt versehenen Staat auf mit der Kurie ergebnislos verlaufen waren, die weiter- eine Herrschaft, die ihren Hauptrückhalt in der An- hin die Zurücknahme des »Pravilegs« und den Ver- häufung einiger Rechte und in der Nutzung von stän- zicht auf jede Investitur eines Geistlichen forderte, dig gefährdetem Reichs- und Eigengut besaß, war of- nützte Heinrich den Tod seines Gegenspielers Paschal fensichtlich unmöglich. 1115 wurde der kaiserliche († 21. I. 1118), um einen eigenen Papst zu erheben, Feldherr Graf Hoyer von Mansfeld von den Sachsen den Erzbischof Mauritius von Braga, der die Rechte am Welfesholz (nördlich Eisleben) vernichtend ge- seiner Kirche durch Paschal verkürzt wähnte. Der schlagen; Graf Hoyer fiel. Heinrich, dem militärische neue Papst, den immerhin die Frangipani in Rom und Fähigkeiten abgingen, mußte Sachsen fluchtartig ver- der Bologneser Rechtsgelehrte Irnerius unterstützten, lassen. nahm den Namen Gregor VIII. an, zeigte also durch- aus ein Bekenntnis zur Reform. Von den Kreisen um Vor weiteren Rückschlägen wurde Heinrich durch Paschal war der bisherige Kanzler der römischen Kir- den Tod der Markgräfin Mathilde von Tuszien († 24. che Johannes von Gaeta als Gelasius II. gewählt wor- VII. 1115) bewahrt. Ohne Reichsheer, lediglich mit 711 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 107 710 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 106 Bald nach Pontifikatsbeginn Kalixts, der die nächsten den, der jedoch die Stadt verlassen mußte. Aber auch Monate in Frankreich blieb, begannen Verhandlun- Gregor VIII., dem seine Gegner den Namen »Burdi- gen, die auf päpstlicher Seite Abt Pontius von Cluny nus« (spanischer Esel) gaben, sah sich bald im Stich und Bischof Wilhelm von Champeaux führten. Wil- gelassen und schließlich aufgegeben, als nach dem helm war vor seiner Erhebung zum Bischof von Châ- Tode des Gelasius in Cluny im Januar 1119 am sel- lons-sur-Marne (1113) einer der Begründer der Schu- ben Ort Kalixt II. zum Papst erhoben wurde: jener le von St. Victor gewesen, berühmt wegen seines Un- Erzbischof Guido von Vienne, der in päpstlichem terrichts in Dialektik und Rhetorik – Petrus Abaelard Sinne ohne offenen päpstlichen Auftrag 1112 Kaiser hatte ihn mehrere Jahre gehört –, zugleich einer der Heinrich V. gebannt hatte. Die Erhebung Kalixts- Mitbegründer der die Distinktionsfähigkeit fördern- Guidos ist in mehrfacher Weise bemerkenswert: er den Quästionenliteratur; wenn auch in seiner Argu- entstammte dem burgundischen Hochadel und war mentation die auctoritas noch Vorrang genießt, so entfernt verwandt mit dem salischen Hause; nach Gre- nimmt die ratio, das Vernunftargument, doch einen gor VII., nach fast einem halben Jahrhundert mönchi- weiten Raum ein. Schon bei ersten Verhandlungen in scher Päpste also, war er der erste Weltgeistliche; ob- Straßburg machte sich die Unterscheidungsfähigkeit wohl nicht Mönch, war er in den Mauern des mäch- der neuen päpstlichen Unterhändler bemerkbar: mit tigsten und reichsten Klosters der damaligen Chri- dem Verzicht auf eine Investitur in ein geistliches stenheit gewählt worden. Wenn man von ihm nach Amt verliere der deutsche König – so wurde Heinrich Jahrzehnten starrer Politik ein Eingehen auf die Erfor- bedeutet – durchaus nicht die Leistungen der Reichs- dernisse der Situation erwartete, so war man an den kirche. Auf den 24. Oktober 1119 wurde ein Treffen richtigen Mann geraten, und kaum etwas kennzeichnet zwischen Papst und Kaiser in Mouzon nahe bei seinen pragmatischen Geist besser als die Tatsache, Reims, wo zur gleichen Zeit ein Konzil tagte, verein- daß er als Papst Kalixt II. Privilegien bestätigte, die bart. Diese Darbietung geistlicher Macht mag die er als Metropolit von Vienne hatte fälschen lassen. Kurie zu stärkerem Selbstbewußtsein geführt und schließlich bewogen haben, von Heinrich den Ver- Heinrich V. konnte sich nicht verhehlen, daß der zicht auf jegliche Investitur zu fordern. Heinrich ließ Vertrag von Ponte Mammolo von 1111 letztlich einen nun von der geplanten Zusammenkunft mit Kalixt ab, Fehlschlag darstellte, denn weder war er durchführ- bar, noch war ein Ausgleich zustandegekommen.Deutsche Geschichte

712 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 107 713 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 108 und unter erneuter Bannung verbot der Papst die kö- heute im Original beim Empfänger liegt – im päpstli- nigliche Investitur für Bistümer und Abteien: der chen Archiv –, ist der Text des Calixtinum nur in Ab- weltliche Besitz, die Temporalia, wurden nicht er- schriften überliefert. wähnt. Was sagen die beiden Urkunden, bei denen man Neben dem König und neben einer unnachgiebigen glaubt, das Ringen um jedes Wort zu spüren? Hein- Opposition, an deren Spitze Erzbischof Adalbert von rich verzichtete auf die Investitur mit Ring und Stab, Mainz als päpstlicher Legat stand, bildete eine Grup- den geistlichen Symbolen; damit wurde deutlich, daß pe von Fürsten eine dritte Kraft; sie arrangierte im nicht eine Laieninvestitur in ein geistliches Amt vor- Herbst 1121 eine Friedenskonferenz in Würzburg, die genommen wurde. Das Investitursymbol war das neu- als »Fürstenweistum« eine Zusammenkunft empfahl. trale Zepter (im Gegensatz zur Fahne bei weltlichen Sie kam in Worms zustande, wo Heinrich V. 1122 Lehnsträgern); der König sagt die kanonische Wahl gerade eine Herbstsynode abhielt. Eine päpstliche Ge- und die freie Weihe zu; zugleich verspricht er die sandtschaft mit weitgehenden Vollmachten unter Füh- Rückgabe entfremdeten Gutes sowohl an die römische rung des Kardinalbischofs Lambert von Ostia, des wie an die anderen Kirchen. In Übereinstimmung mit späteren Papstes Honorius II. (1124–1130), verhan- seiner kaiserlichen Pflicht verspricht Heinrich dem delte mit dem König. Am 23. September 1122 wurde Papst und den Seinen Hilfe. Auf der anderen Seite ge- auf der heute nicht mehr lokalisierbaren »Laubwie- steht Kalixt zu, daß »die Wahlen von Bischöfen und se« – der Allmende also – bei Worms das sogenannte Äbten des deutschen Reiches« in Gegenwart Hein- Wormser Konkordat verkündet, nach herkömmlicher richs stattfinden, »ohne Simonie und Gewalt«. Bei Einschätzung, nach welcher darunter ein »völker- unentschiedener Wahl möge er »dem besseren Teil« rechtlicher Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und (sanior pars) – ein kirchenrechtlicher Begriff – Zu- einem Staat über ihre kirchenrechtlichen Beziehun- stimmung und Hilfe leisten. Der Erwählte soll die Re- gen« zu verstehen sei, »das älteste Konkordat deut- galien mit dem Symbol des Zepters empfangen, und scher Nation«: so hat es als erster Leibniz 1693 ge- zwar in Deutschland vor der Weihe, während in Itali- nannt. Formal ist es in je einem »Privilegium« festge- en und Burgund die Regalieninvestitur innerhalb der legt, nach den Ausstellern Heinricianum und Calix- nächsten sechs Monate auf die Weihe folgen sollte; tinum genannt. Während die Urkunde Heinrichs noch der Kirchenstaat war von der Regelung ausgenom- 714 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 109 715 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 109 men. Obwohl im Calixtinum nur Heinrich als Emp- zufrieden gewesen sein. Während auf einem Bamber- fänger genannt war, im Heinricianum dagegen »Gott, ger Reichstag 1122 die deutschen Fürsten, die in die heiligen Gottesapostel Petrus und Paulus, die hei- Worms gefehlt haben, zustimmten, kam es in Rom lige katholische Kirche«, dürfte auch die Kurie letzt- auf der päpstlichen Lateransynode von 1123, der man lich einen Dauervertrag im Sinne gehabt haben. später ökumenischen Rang zuerkannte, zu einem Zwi- schenfall, als die Urkunde Kalixts vorgelesen wurde. Beide Parteien meinten, bei der Wormser Einigung Rufe der Ablehnung wurden laut, und man beruhigte gut abgeschnitten zu haben. Der König konnte sich sich erst bei der Einsicht, daß wegen des Friedens bei dem Weg eines Prälaten ins Amt eine mehrfache manches hingenommen werden müsse. Immerhin Einflußnahme ausrechnen: bei der in seiner Gegen- hatte das Papsttum erreicht, daß das geistliche Amt in wart stattfindenden Wahl und bei der mit einem seinem spirituellen Wirkgrund sichtbar wurde, nicht Lehnseid verbundenen Regalienleihe. Der Ablauf äh- abgeleitet von weltlichem Besitz und übertragenen nelt der Einigung im sogenannten Londoner Konkor- Hoheitsrechten. dat von 1107 mit den Kernpunkten: kanonische Wahl, keine Investitur mit den alten, geistlichen Sym- Mit dem Wormser Konkordat endete die Herr- bolen, aber vor der Weihe eine mit dem Zepter durch- schafts- und Organisationsform des sogenannten otto- zuführende Regalieninvestitur, die in England mit der nisch-salischen Reichskirchensystems. »Auf der Leistung des Mannschaftseides – nicht nur eines Grundlage des Wormser Konkordats verwandelt sich Treueversprechens – verbunden war. In Worms die unmittelbare Reichskirchenverwaltung in eine scheint der Ausdruck hominium bewußt vermieden durch lehnrechtliche Beziehungen vermittelte« (H. worden zu sein; der Erwählte möge, so heißt es um- Mitteis). Der König – von sakralen Handlungen ge- schreibend in der Kalixt-Urkunde, »leisten, was er trennt – hörte auf, Herr über Reichsklöster und -bistü- dir – dem König – rechtens schuldet«. Auf der ande- mer im Sinne der Eigenkirchen-Lehre zu sein, denn es ren Seite hat die Kurie Worms fraglos als Sieg be- war ihm untersagt, in das geistliche Amt einzuführen, trachtet, denn Kalixt ließ im geheimen Beratungszim- auch wenn die königliche Wahlbeeinflussung so weit- mer des Lateran ein Gemälde anbringen, das beide reichend erscheinen konnte, daß Eike von Repgow in Texte wiedergab. Teile vornehmlich des römischen seinem Sachsenspiegel hundert Jahre später schrieb, Klerus sollen freilich mit dem Wormser Ergebnis un- der Kaiser ernenne die Bischöfe. Die Geistlichen blie-Deutsche Geschichte

716 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 109 717 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 110 ben über die Regalien, für die sie das hominium lei- sterung durch das Land: die Oriflamme (Auriflamma), steten, im Reichsverband und bildeten die nur in das Bahrtuch des heiligen Dionysius, wurde vom Deutschland anzutreffende Gruppe der »geistlichen Altar in St. Denis gehoben, um dem Heere vorange- Reichsfürsten«, deren Stand zu nachhaltigem Einfluß tragen zu werden. Diese Geschlossenheit und Macht- für die deutsche Geschichte gelangen sollte. demonstration hatte Heinrich V. nicht erwartet. Er re- signierte und kehrte um. Wenig später erkrankte er Das Wormser Konkordat war die letzte große poli- schwer – wahrscheinlich an Krebs – und starb am 23. tische Leistung Heinrichs V., zumal ein anderer er- V. 1125 in Utrecht, 39 Jahre alt und kinderlos. hoffter Erfolg sich nicht einstellte. Als 1120 Hein- richs I. von England einziger Sohn bei der Überfahrt Mit Heinrich V. verlosch das Geschlecht der Salier im Ärmelkanal ertrunken war, entstand die Möglich- im Mannesstamm; mit ihm ging aber auch, wenn keit einer Verbindung des deutschen und des engli- nicht ein Zeitalter, so doch eine in archaische Zeit zu- schen Reiches, denn Heinrich V. war der Gemahl der rückreichende Herrschaftsform zu Ende: jene Welt, einzigen Tochter des englischen Königs. Nimmt man die aufgebaut war auf die Einbeziehung des Geistli- hinzu, daß Heinrich I. von England sich des norman- chen in die Reichs- und Herrschaftsstrukturen, wie nischen Herzogtums bemächtigt hatte, über welches umgekehrt der Laie einen bestimmenden Platz in der er in einem vasallitischen Verhältnis zum französi- Kirche hatte. Nun sollten Staat und Kirche getrennt schen König stand, so hätte sich ein weitgreifendes sein; ohne Zugriff auf das Amt verlieh der König den Geflecht europäischer Beziehungen zugunsten des geistlichen Reichsfürsten nur die Regalien. Heinrich deutschen Königs ergeben können. Aber eine solche V. dürfte manches kaum mehr verstanden haben, Kalkulation übersah die gewandelte Situation in nicht die Scholastik und nicht den neuen Stil der Frankreich. Philipps I. Sohn Ludwig VI. Frömmigkeit. Noch weniger als sein Vater hatte er (1108–1137) mit dem Beinamen »Le Gros«, der Dik- Sinn für geistliche Strömungen. Die Chronistik hat ke, hatte zum Ratgeber Suger, 1122–1151 Abt von von Heinrich V. nur ein schwach konturiertes Bild ge- St. Denis, dem so etwas wie eine nationale Erwek- zeichnet, und die wenigen Züge sind meist dunkel ge- kung gelang. Als 1124 ein deutsches Heer im Begriffe halten. Er stieß ab durch seine Treulosigkeit und seine stand, zur Unterstützung englischer Ansprüche nach Habgier und führte die Gegner zuweilen durch seine Frankreich vorzustoßen, ging eine Welle der Begei- Ungerechtigkeiten zusammen. Auch ihm wird man718 Zweiter Teil: Vom Christus Domini zum Antichrist: ... DG Bd. 2, 110 das Gefühl für Würde nicht absprechen können, aber es fehlte ihm an menschlicher Wärme. Ihm schrieb niemand eine Totenklage, wie es der Autor der Vita Heinrici IV. für seinen Vater getan hatte.Deutsche Geschichte


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