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Weihnachtsanthologie 2017

Published by seeling, 2018-01-05 11:56:22

Description: Weihnachtsanthologie 2017

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Die vergessenen Nüsse Renate Kafurke Vier Wochen vor Weihnachten entdecke ich sie. Walnüsse vom Vier Wochen vor Weihnachten entdecke ich sie. Walnüsse vom letzten Jahr. Ich nehme einige davon und lege sie auf die letzten Jahr. Ich nehme einige davon und lege sie auf die Terrasse. Ein paar habe ich aufgeknackt. Mal sehen, was Terrasse. Ein paar habe ich aufgeknackt. Mal sehen, was geschieht, denn in einer Eiche des Nachbargrundstückes wohnt ein Eichhörnchen. Nichts passiert. Drei, vier Tage vergehen und ich werfe immer wieder einen Blick nach draußen. Doch dann traue ich meinen Augen nicht. Alles ist wie weggefegt. Kein Krümchen mehr da! Na warte, denke ich, Dich heimlichen Dieb werde ich überlisten, und lege drei noch geschlossene Walnüsse auf die gleiche Stelle. Dabei vergesse ich, das Körbchen mit den restlichen Nüssen, noch etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Stück, wieder mit ins Haus zu nehmen. Am nächsten Morgen stehe ich wie angewurzelt hinter der Terrassentür. Die Nüsse sind weg – und zwar alle! Die im Körbchen und die auf dem Boden. Gibt es denn so etwas? Aber es kommt noch besser: Freund Paul, so nennen wir das Eichhörnchen, sitzt gemütlich auf unserem Terrassentisch. Er lässt sich überhaupt nicht stören. Ich hole den Fotoapparat. Aber auch das aufblitzende Licht bringt ihn nicht in Hektik. Seelenruhig hält er mit beiden Vorderpfötchen eine Nuss, dreht sie blitzschnell und nagt mit seinen spitzen Zähnen so lange daran, bis sie aufgeht. 52

Dann springt er mit der „geknackten“ Nuss davon. Ich staune, denn eigentlich waren die Nüsse vom letzten Jahr nur deshalb noch da, weil sie einfach nicht aufzukriegen waren ... 53

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Tagesbefehl Wolfgang Schneller Es geschah auf freiem Feld In hoffnungsloser Nacht Ein Wort wie Blitz, wie Himmelslicht Ein Freudentaumel aller Welt Ein Befehl von and’rer Macht: Fürchtet euch nicht! Off‘ne Münder, off’ne Ohren Augen, die vor Staunen weit Spüren, wie die Angst zerbricht. Der Retter ist geboren Und neue Friedenszeit - Fürchtet euch nicht! Ein Kind zersprengt der Herzen Enge, Befreit zum großen Glück Von aller Schuld Gewicht. Der Engel Lobgesänge Tagesbefehl: kein Weg zurück! Fürchtet euch nicht! 55

Mein neues Weihnachten Sandra Lotz Wie mir meine Krebserkrankung geholfen hat, mich wieder so richtig auf Weihnachten zu freuen Als ich im Frühjahr 2017 an Brustkrebs erkrankte, dachte ich kurz, dass ich das nächste Weihnachtsfest vielleicht nicht mehr erleben würde. Das war sicherlich überdramatisiert und meinem Schock nach der Diagnose geschuldet. Dennoch: Das Gefühl, ein zweites Leben geschenkt bekommen zu haben, bleibt. Und zwar ein Leben, in dem ich einige Dinge anders machen kann, als ich sie in meinem ersten Leben gemacht habe. Zum Beispiel die Sache mit Weihnachten. Alle Kinder lieben Weihnachten und so erging es auch mir. Auch als junge Erwachsene fuhr ich jedes Jahr mit viel Freude und Aufregung im Bauch über die Festtage heim zu meinen Eltern. Es wurde zwar von Jahr zu Jahr stressiger. Aber das tat meiner Vorfreude keinen Abbruch. Weihnachten war immer ein beson- deres Fest für mich, und ich liebte die Zeit mit meiner Familie. In den letzten zwei Jahren schlich sich dann eine für mich neue Unlust ein. Es wurde mir alles zu viel: Die vielen Menschen, die vielen Dinge, die ich tun und an die ich denken musste. Und dann die Geschenke. Was sollte ich nur kaufen und wohin sollte ich mit all den Dingen, die ich erhielt? Dazu kam die Distanz zu meiner Familie, die mehr als 400 km entfernt wohnt. Kurzum: Ich hatte nicht mehr so richtig Bock auf Weihnachten und wollte es 56

so ruhig und reduziert, wie möglich, haben. Also blieb ich kur- zerhand zu Hause und feierte ohne Geschenke nur mit meinem Partner. Und es war schön und genau richtig in diesem Moment. Aber irgendwie fehlte auch was: Meine Familie. Meine Eltern. Mein Bruder. Der ganze Rest. Die vertraute Umgebung meiner Geburtsstadt. Dann kam die Diagnose Brustkrebs und über Nacht änderte sich mein Leben von Grund auf. Ich war zu diesem Zeitpunkt erst 36 Jahre alt und fühlte mich viel zu jung für so eine schwere Krankheit. Ändern konnte ich es aber nicht. Ich konnte es nur annehmen und irgendwie weitermachen. Und so nutze ich den tiefen Einschlag, den die Diagnose in mir hinterließ, und setze mir in den Monaten danach sukzessive mein Leben wieder neu zusammen. Die „Aufbauarbeiten“ sind noch in vollem Gange. Aber die ersten Veränderungen sind schon spürbar. Meine Erkrankung hatte auch großen Einfluss auf meine Sicht auf Weihnachten. Zu viel war dieses Jahr an intensiven und schlim- men Momenten geschehen. Ich habe gemerkt: In der Krise rückt eine Familie zusammen. Und egal, was für ein gutes Team wir vorher schon waren – jetzt erlebe ich uns als ein noch besseres. Mehrfach durften wir uns in den letzten Monaten als Familie nochmal ganz neu beweisen und zeigen, was in uns steckt. Es gab gegenseitige Unterstützung in jeder Form. Spürbar war, dass jedes Familienmitglied die Rolle eingenommen hat, die am bes- ten passte. Es gab ja auch viel zu tun: OP-Begleitung und Kran- kenhausbesuche, praktische Hilfe in Haushalt und Garten, für Essen sorgen, aber auch Ablenkung, Aufmunterung und Trost in meinen schwächsten Momenten. Ganz natürlich fügte sich alles 57

zusammen. Ich durfte einfach sein, so wie ich in dieser schwieri- gen Zeit meines Lebens war: traurig, aufgedreht, durcheinander, müde, ausgelaugt, ängstlich, hoffnungsvoll, neugierig, streitlustig … und noch viel mehr. Alles war OK. Aus meiner Familie habe ich in dieser Zeit einen starken Rückhalt bekommen, ohne dass ich dafür etwas tun musste. Dieses Jahr stand es daher für mich außer Frage, dass ich das Weihnachtsfest wieder mit meiner Familie feiern würde. Vor- sichtig fragte ich beim letzten Zusammentreffen, ob ich denn wieder dabei sein darf. „Natürlich“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Ich glaube, sie freuen sich, dass ich wieder mit- feiern möchte. Auch die Frage, wann ich denn anreise, konnte ich sofort beantworten: Ich möchte mir dieses Jahr viel Zeit für Weihnachten nehmen. Ganz in Ruhe einige Tage vorher fahren. Bewusst Zeit mit jedem einzelnen Familienmitglied verleben: Mit der Kleinsten – meiner wenige Monate alten Nichte, für die ich so viel Tanten-Liebe in mir habe. Und mit dem Ältesten, meinem lieben Opa – mit seinen 96 Jahren ein großes Vorbild für mich mit seiner inneren Stärke und seinem Durchhaltever- mögen. Mit meinen Eltern, die es dieses Jahr garantiert nicht leicht mit mir hatten. Und die sicherlich einfach nur froh sind, dass es mir mittlerweile verhältnismäßig gut geht und ich mit so viel Power und Freude mein zweites Leben lebe. Und denen ich so wahnsinnig dankbar bin, wie viel sie mir für mein Leben mitgegeben haben. Und mit den neuen Partnern meiner Eltern, die ihre Rolle als ihre Unterstützer wahrnahmen. Dass ich so jung so schwer erkrankt bin, war für alle ein gro- ßer Schock. Umso glücklicher sind wir als Familie über jeden 58

Moment, den wir zusammen erleben dürfen. Auch wenn ab und zu mal Kleinigkeiten nerven, nehme ich es mittlerweile wie es ist. Denn mir ist bewusst geworden, wie sehr ich das liebe, was meine Familie besonders macht. Und so kann ich Dinge, die nicht optimal laufen, annehmen. Nach meiner Erkrankung spüre ich insgesamt eine neue inne- re Gelassenheit und Ruhe. Ich nehme bewusster wahr und bin dankbar für das, was ich habe. Weihnachten ist nun endlich wieder ein Familienfest für mich geworden, dem ich positiv ent- gegenblicke. Bestimmt wäre dieses Gefühl auch ohne Krebs-Di- agnose irgendwann wieder entstanden. Aber durch diesen tief- greifenden Einschnitt fallen mir die Einsichten leichter. Meine Familie ist mir wichtig. Und Zeit ist sowieso eine wertvolle Sache. Beides zu verbinden – und das an Weihnachten – ist im Grunde total einfach. Etwas mehr Fokus auf die wirklich ent- scheidenden Dinge im Leben: Liebe, Anteilnahme, Vertrauen und gemeinsame Erlebnisse. Dafür etwas weniger von selbstgemach- tem Geschenke-Stress, Eltern-Hopping und Feiertagskonfl ik- tem Geschenke-Stress, Eltern-Hopping und Feiertagskonfl ik- ten. Mit dieser Haltung gehe ich also dieses Jahr an ten. Mit dieser Haltung gehe ich also dieses Jahr an mein erstes Weihnachtsfest nach der Krebs-Diag- mein erstes Weihnachtsfest nach der Krebs-Diag- nose und freue mich aus tiefstem Herzen darauf. nose und freue mich aus tiefstem Herzen darauf. 59

Mein Glauben Jürgen Lehrich Der Weg zu Dir, ist oft steinig und schwer, dann stehe ich da und bin völlig leer. Die Sorgen und Nöte, sie drücken mich nieder, oft erkenne ich mich selbst, gar nicht mehr wieder. Ich bin so verzweifelt und dann auch noch hilflos, die Angst wird noch größer, das macht mich dann schlaflos. Die Nächte sind dann, erdrückend und lang, es schnürt mir den Hals zu, mir ist dann so bang. Dann komm ich zu Dir, ich eile hierher, ich knie hier nieder und plötzlich weiß ich nichts mehr. Mir fehlen die Worte, ich will so viel sagen, stattdessen möchte ich auf einmal nur fragen. Schaff ich das Leben, beladen mit Sünden, mit Sorgen und Nöten, kann ich Ruhe finden? Zeig mir bitte einen Weg und gib mir viel Kraft, mit Deiner Hilfe, weiß ich, dass ich es schaff. 60

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Henry Udo Biemüller Ich hatte ihn gesehen! Ganz sicher. Mitten in der Fußgängerzone. Ohne mich zu bemerken, vielleicht, ohne mich bemerken zu wol- len, war er an mir vorbeigegangen: Henry! Schon ein paar Meter zuvor hatte ich ihn bemerkt. Er ging auf mich zu. Zunächst hatte ich ihn eher verstohlen angeschaut. Beinahe zufällig. Dann, auf gleicher Höhe, habe ich ihn regelrecht angestiert. Völlig unmöglich, dass mich mein alter Schulfreund nicht erkannt haben sollte?! Gut, es war ein wunderbarer, sonniger Nachmittag gewesen. Eine belebte Straße voller Menschen. High Noon in dieser glitzernden, bunten Welt voller Angebote und Verlockungen. Da gehen Gesichter schon mal unter, verschwimmen im Getümmel von schwirrenden Menschen. Aber Henry war keinen Meter an mir vorbei geschlendert. Ich hätte ihn anfassen können. Im Nachhinein habe ich mich oft gefragt, warum ich das nicht getan hatte? Vielleicht aus der Unsicherheit heraus, ihn doch verwechselt haben zu können. Vielleicht, weil man so etwas nicht tut. Ansprechen, okay. Aber anfassen? Vielleicht auch einfach aus Angst vor seiner Reaktion. Letztlich wahrscheinlich einfach deshalb nicht, weil es nicht Henry sein konnte. Kein Mensch hatte ihn seit über einem Jahr gesehen. Wie auch? Henry war tot! Mausetot! Daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Er sollte eigentlich friedlich in seiner Gruft schlummern und nicht fröhlich 62

und unbekümmert, so als sei nichts, durch die Fußgängerzone spazieren ... Ich selbst hatte seinen Sarg, zusammen mit Phil, Frank und ein paar anderen Freunden, von der kleinen Kapelle zu dem frisch ausgehobenen Erdloch getragen, das ihn dunkel und modrig muffelnd erwartete. Wir hatten ihn da hinuntergelassen. Beglei- tet von dem zutiefst verstörenden Gefühl, ihn eigenhändig be- graben, ja, ihn geradezu verraten zu haben. Wir ließen ihn allein. Unseren Freund. Alle hatten seitdem an dieser Erinnerung zu knabbern, keiner konnte diesen schmerzhaften Moment hinter sich lassen. Völlig unmöglich also, dass mir heute Henry begegnet war! Oder? Ich musste unwillkürlich an diesen Abend denken, etwa ein hal- bes Jahr vor Henrys plötzlichem Tod. Ein Abend, der mich noch lange beschäftigt, mir keine Ruhe mehr gelassen hatte. Und der dann doch in Vergessenheit geraten war. Wie das so oft geschieht mit Gedanken, die einem wichtig und überlegenswert erscheinen, um schließlich trotzdem im endlo- sen, reißenden Strom bewussten Denkens unterzugehen. Ich setzte mich in ein kleines Straßencafé, bestellte einen großen schwarzen Kaffee und versuchte mich an diesen einen Abend zu erinnern. Wir hatten uns bei Frank getroffen. Die ganze alte Clique. Ge- nau die vier, die schon in der Schule nebeneinandergesessen hatten. Die später alle an der gleichen Hochschule studiert und sich dann doch im Laufe der Zeit mehr und mehr aus den Augen 63

verloren hatten. Diesem Lauf des Lebens hatten auch wir nichts entgegenzusetzen. Da half auch unser Schwur nichts, dass es bei uns, gerade bei uns, ganz anders laufen solle. Nichts und nie- mand solle diese tiefe Verbundenheit jemals auseinanderbrin- gen können. Niemals! Frank war der erste, der ausscherte: er habe seine absolute Traumfrau kennengelernt! Phil folgte ihm nahezu unmittelbar. Mit dem Unterschied, dass er es gar nicht eilig genug haben konnte, sofort zu heiraten und eine Familie zu gründen. Henry ging längere Zeit beruflich ins Ausland. Man sah und hörte kaum noch etwas von ihm. Allein ich hatte das Gefühl, als einziger die Flagge hoch zu halten und den Verlockungen zu widersagen, um hier in unserem kleinen Städtchen unseren Rückzugsort, unsere Curia in Form einer 3 Zimmer Wohnung zu behaupten. Die Lä- cherlichkeit dieses Ausdrucks spätpupertierender Rebellion war mir dabei durchaus bewusst. Nichtsdestotrotz schafften wir es dann doch nach einigen Jahren, uns immerhin einmal im Jahr zusammenzufinden, um in Erinne- rungen zu schwelgen, Neuigkeiten auszutauschen oder einfach mal auszubrechen und für ein paar Stunden nochmal die Unbe- schwertheit früherer Tage zu genießen. Meist soffen wir, was das Zeug hielt. An besagtem Abend allerdings kam alles anders. Und es war Henry, der damit anfing. Henry, der es damals innerhalb kürzester Zeit zu ansehnlichem Wohlstand gebracht hatte. Begünstigt durch eine beachtliche Erbschaft, noch während unserer Studienzeit, war es ihm ge- lungen, eine Firma im seinerzeit aufkommenden Segment der 64

Computertechnologie aufzubauen, um sich damit innerhalb eines Wimpernschlages an die Weltspitze in diesem Bereich zu setzen. Henry hatte Geld. Viel Geld. Ich kam zurück von der Toilette. Alle schienen auf mich zu war- ten. Henry stand am Tisch. Er hielt mir ein Glas entgegen. Cham- pagner. Hui … Ich blickte fragend in die Runde. „Henry möchte einen Toast aussprechen!“, klärte mich Phil auf. Im Nachhinein muss ich sagen, dass das nun keine große Sache war. Ein Toast. So oft schon ausgesprochen, zu allen möglichen Gelegenheiten. Völlig normal. Gerade unter uns, nicht wirklich et- was Besonderes. Vielleicht irritierte mich aber die feierliche Mie- ne, die Henry aufgesetzt hatte. Ich griff nach dem Glas, das er mir entgegenstreckte und setzte mich. „Was gibt´s?“, fragte ich. Er grinste. „Auf was ich mit euch anstoßen möchte, ist ebenso simpel wie erfreulich!“ „Mach´s nicht so spannend!“, forderte ihn Frank auf. Henry räusperte sich noch einmal. „Mein Trinkspruch lautet: Lasst uns darauf anstoßen, dass sich jeder von uns in bester Gesundheit befindet! Vor allem, und da- rauf kommt es mir besonders an: dass wir noch um niemanden aus dieser Runde trauern mussten!“ Wir schauten uns fragend an. „Prost!“ Er hob sein Glas, nickte uns zu und nahm einen Schluck. 65

Wieder blickte ich zu Phil und Frank. Auf ihren Gesichtern spie- gelte sich meine Verwirrung wider. Henry stand noch immer. Er schaute einen nach dem anderen an. Dann drehte er sich von uns weg, um einen Sessel aus der Ecke des Raumes an den Tisch zu schieben. Er ließ sich darin nieder und steckte sich genüsslich eine Zigarette an. Sichtlich zufrieden mit unserer Reaktion. „Na denn: Prost!“, beschloss ich, das Schweigen zu brechen. „Moment mal …“, Phil legte die Stirn in Falten, „… wie meinst du das?“ Henry zog an seiner Zigarette und blies kleine Ringe in die Luft. „Was meine ich wie?“ „Na, …“, fuhr Phil fort, „… mit diesem Spruch! Klar, kann man mal so machen. Aber wieso gerade jetzt?“ „Weshalb nicht?“, Henry setzte sich auf. „Weil bis eben die Stimmung super war. Weil wir endlich mal wieder von alten Zeiten gequatscht und albernes Zeug erzählt haben. Kommt selten genug vor. Mich zieht das jetzt völlig run- ter!“ Frank nickte zustimmend. „Heißt das, ihr macht euch keine Gedanken über den Tod? Kei- ne Gedanken um die eigene Vergänglichkeit?“, fragte Henry. „Doch schon!“, schaltete sich Frank ein, „Das geht wohl jedem mal durch den Kopf. Aber mal abgesehen von einem Unfall oder ähnlichem sind wir doch wohl noch ein wenig zu jung, um uns ernsthaft mit dieser Vorstellung zu beschäftigen?“ „Zu jung?“, man sah Henry deutlich an, dass ihm dieses Thema am Herzen lag, „Hast du ‚zu jung’ gesagt?“ 66

„Ja. Habe ich“, erwiderte Frank, „Findest du nicht?“ „Ganz und gar nicht! Wie kann man denn zu jung für den Tod sein?“, Henry machte eine kurze Pause, „Zweifelsohne ist man irgendwann zu alt zum Leben …“, setzte er kopfschüttelnd nach. „Worauf willst du eigentlich hinaus?“, fragte ich ihn ganz direkt. Er schaute mich einen Moment lang fest an. „Macht euch mal kurz Gedanken über folgende Aussage: Mit den Jahren altert der Körper, aber, und das ist sehr wesentlich, der Geist gewinnt zunehmend an Schärfe! Fällt euch etwas auf?“ „Ach du Schande, was ist denn jetzt los?“, entfuhr es mir. Phil hingegen setzte den skeptischsten Gesichtsausdruck auf, den er besaß: „Willst du damit sagen: Körper und Geist bilden keine Einheit?“ „Genau das ist es doch, mein Lieber!“, Henrys Augen bekamen ein seltsames Leuchten, „Im Laufe des menschlichen Lebens strebt der Körper dem Verfall entgegen, wohingegen der Geist, mit zunehmendem Alter, sich an Verstand und Wissen ständig weiterentwickelt!“ „Aber das würde doch bedeuten, dass Körper und Geist in ihrer Entwicklung irgendwie gegenläufig sind, oder!?“, Frank schien auf einmal interessiert. „So könnte man es ausdrücken“, bestätigte ihn Henry, „Körper und Geist können gar keine Einheit bilden, da beide, von ihrer Bestimmung her, komplett verschieden angelegt sind: Der Alte- rungs- und damit der Verfallsprozess des Körpers steht konträr zum Streben nach Perfektion und Vollkommenheit des Geistes!“ Ich bemerkte ein spöttisches Lächeln, das um Phils Mundwinkel zuckte. 67

Und da hatte ich mich nicht getäuscht: „Aha …“, fing er an, „und wie erklärst du uns aber die zunehmende Senilität oder gar De- menz alter Menschen? Das ergibt deinen Ausführungen zufolge doch überhaupt keinen Sinn! Im Gegenteil: die geistige Beweg- lichkeit müsste sich doch immer weiter steigern? Sie müsste na- hezu permanent hinzugewinnen und wachsen!“ Henry nickte vielsagend. „Selbstverständlich ist das so!“ Wieder schauten wir uns verwundert an. Bis er fortfuhr: „Du darfst dabei allerdings nicht außer Acht lassen, dass das Ge- hirn, als Schaltzentrale unseres Verstandes und somit als Ver- körperung unseres Geistes, dem biologischen Verfall ebenso unterliegt, wie der Rest des Körpers. Oder mit anderen Worten: Bestünde unser menschlicher Geist nicht aus körpereigener Materie, wäre er also losgelöst davon, dann würde genau das geschehen, was du gerade beschrieben hast!“ Eine Sache im Verlaufe des bisherigen Gespräches störte mich, sie ging mir nicht so recht in den Kopf. Ich fragte danach: „Ent- schuldigt! Henry, alles schön und gut … warum aber war es dir vorhin so wichtig, uns darauf hinzuweisen, dass wir uns mit dem Tod beschäftigen sollten?“ Frank reagierte darauf, noch bevor es Henry konnte: „Ich denke, ich weiß worauf unser Freund hinauswollte und will: Der Tod, als das natürliche Ende unseres körperlichen Verfalls, nimmt dem Geist die Möglichkeit zur Vollkommenheit!?“ „Nicht ganz,“ bemerkte Henry, „absolute Vollkommenheit könn- te er nie erlangen, da er ja immer weiter hinzulernen würde. Es kann kein Ende dabei geben. Absolute Vollkommenheit kann nur ein imaginäres Ziel sein, das der Geist allerdings niemals 68

erreichen kann. Vielleicht auch gar nicht will, da er um das Un- fassbare weiß.“ Phil ging zum Kühlschrank, um einige Flaschen Bier zu holen. Er stellte sie auf dem Tisch ab, während Henry seine Ausführun- gen erweiterte: „Was ich vorhin mit meinem Toast im Hinter- kopf hatte, war im Grunde dies: Wir alle können uns wahrhaft glücklich schätzen, uns bis dato bester Gesundheit zu erfreuen. Aber das Leben ist endlich! Auch für uns“, er grinste, „Das sollte man sich immer vor Augen halten und damit umzugehen ler- nen. Manch einer registriert diesen Umstand als unausweichli- che Konsequenz des Daseins. Andere wiederum ignorieren die Tatsache als solche oder versuchen sie zumindest zu verdrän- gen.“ Er atmete tief und hörbar ein. „Und da sind wir dann an einem sehr wichtigen Punkt ange- langt: Der Geist eines jeden Menschen weiß, dass er bedingt durch den körperlichen Verfall sterben muss. Er wird mit dem Körper in den Tod gerissen, ohne sich dagegen auflehnen oder gar wehren zu können. Er ist gezwungen, sich auf diesen Mo- ment einzurichten. Er begreift ihn als unumstößliche Wahrheit.“ Phil stimmte dem zu: „Deswegen sehen ältere Menschen dem Tod oft gelassener ins Auge als jüngere!“ „Aber das ist doch paradox!“, widersprach ich, „Einen alten Menschen und damit einhergehend einen weiter fortgeschrit- tenen Geist, müsste doch der Tod als abruptes Ende auf seinem Weg zur Vollkommenheit viel härter treffen, oder sogar schier verzweifeln lassen!“ 69

„Beides scheint mir richtig“, meinte Henry dazu, „Und dieser Umstand ist nur mit Zwiespalt zu erklären. Eine Zerrissenheit, die nicht aufzulösen ist. Zumindest nicht an diesem Punkt. Viel zu weit weg von absoluter Erkenntnis, ist es unserem geistigen Menschsein nicht möglich … noch nicht möglich … dieses Dilem- ma zu erfassen und zu verarbeiten. Körper und Geist sind ein- fach nicht dazu bestimmt, gemeinsam zu sterben.“ Es entstand ein unbehaglicher Moment des Schweigens. Das Ge- sagte wirkte in uns dreien. Es wühlte auf. Ohne dabei einen fass- baren Gedanken zuzulassen. Frank wandte sich schließlich Henry zu: „Glaubst du, dass ,Geist’ und ‚Seele’ zwei Begriffe für das Gleiche sind?“ Henry überlegte nicht lange: „Nein, das denke ich nicht! Meiner Meinung nach ist das, was man allgemein mit ,Seele’ beschreibt, das gesamte Wesen des Menschen, nur eben in entkörperlichter Form. Sprich: Sein ganzes spezifisches Individuum als solches. Es ist vor allem aber eine Glaubenssache, eine religiöse Deutung. Was auch völlig in Ordnung ist und seine Berechtigung hat, uns aber an dieser Stelle nicht weiterhilft.“ Er machte eine kurze Pause, so als müsse er sich anstrengen, die Konzentration nicht zu verlieren. Um dann aber nahtlos fort- zufahren: „Der Geist dagegen ist das, was als Verstand, als eine Ansammlung von Wissen und Erfahrung, dieses Wesen leitet. Es ist ihm daher nicht möglich, ohne diese Körperlichkeit zu existie- ren. Aber dieses Paradoxon der Symbiose von Körper und Geist könnte man möglicherweise recht leicht beweisen … und wohl auch ebenso einfach beseitigen!“ Ich blickte Henry erstaunt an. 70

Mir schien, als steuere er so allmählich auf den Kern seiner Über- legungen zu. „Ahh! Und wie?“, erkundigte sich Phil mit einer Mischung aus Ab- lehnung und bewusstem Spott. Henry ließ sich eine Menge Zeit bevor er antwortete. Man konn- te förmlich spüren, dass es ihm nun um etwas unerhört Wichti- ges ging, etwas, das er so präzise wie möglich veranschaulichen wollte. „Stellt euch mal folgendes vor: …,“ begann er, „… stellt euch vor, es wäre möglich, den menschlichen Geist vom Körper zu trennen … ihn nach dem Tode seines, ich nenne ihn jetzt mal ,Wirtskörpers’, zu erhalten und zu konservieren. Um ihm dann ein Weiterexistie- ren in einem anderen, neuen Wirtskörper zu ermöglichen. Und dies wieder und wieder! Man käme einer Art Unsterblichkeit und damit der Möglichkeit des Erreichens beinaher Vollkommenheit nahe.“ Seine Worte zeigten augenblicklich Wirkung. „Das sind doch Hirngespinste!“, erregte sich Phil, „Absoluter Blödsinn!“ „Vielleicht, aber ich bin dennoch der Meinung, dass dies durch- aus zu verwirklichen wäre“, entgegnete ihm Henry, „Gentech- nisch scheint es mir kein größeres Problem darzustellen, einen menschlichen Körper zu klonen. Mit Hilfe moderner Computer- technik, beispielsweise Biocomputing, sollte es durchaus irgend- wann möglich sein, den menschlichen Geist zu erfassen, zu ar- chivieren, um ihn später in die neue biologische Hülle, also das Gehirn, einzuspeisen!“ „Gehst du da nicht ein bisschen weit?“, hakte ich ein. 71

„Weshalb?“, erwiderte Henry enthusiastisch, „ Ein alter Mensch- heitstraum würde, auf Umwegen natürlich, wahr werden kön- nen: Ewige Jugend verbunden mit nahezu vollkommener Weis- heit!“ „Du bist entweder verrückt geworden oder aber mittlerweile völ- lig betrunken?!“, ereiferte sich Phil, inzwischen sichtbar angewi- dert, weiter. Frank, der sich eine Weile zurückgelehnt hatte, hüstelte theatra- lisch, um sich nun wieder in die Diskussion einzubringen: „Was du da beschreibst, stellt das menschliche Leben auf absurde Wei- se auf den Kopf!“ Und weiter: „Mal ganz abgesehen davon, dass ein solcher Vor- gang ganz andere, neue Probleme mit sich brächte, würde sich der Mensch in diesem Szenario an die Position Gottes stellen! Ganz gleich ob es einen solchen tatsächlich gibt oder nicht, wür- den wir doch alles, was wir seit alters her mit ,Göttlichem’ verbin- den für uns beanspruchen!“ „Absolut!“, entgegnete Henry, „Wir sind gottgleiche Wesen! Nichts anderes behaupten nahezu alle Religionen. Von daher steht mei- ne Vision nicht im Widerspruch dazu, im Gegenteil: sie erfüllt diese Prophezeiung auf nicht gekannte Weise und vollendet sie!“ Man merkte Phils inneren Kampf deutlich. Sein Realitätsbewusst- sein wurde hier gefährlich auf die Probe gestellt. „Das stellt doch einen evolutionären Widerspruch dar!“ „Ja“, gab ihm Henry recht, „ Evolution, so wie wir sie bisher defi- nierten! Diesen Begriff müssten wir völlig neu beschreiben. Aller- dings nicht im Sinne von Fort- oder Weiterentwicklung! Denn dies geschähe ja auch weiterhin …!“ 72

„Aber“, warf ich ein, „… diese Art der Evolution beträfe nur noch den menschlichen Geist. Der Körper bliebe für alle Zeiten in sei- ner jetzigen Form erhalten. In dieser Hinsicht würde eben keine Weiterentwicklung mehr stattfinden. Und das halte ich für sehr gefährlich!“ „Ach komm!“, winkte Henry ab, „Natürlich könnte man den Kör- per bei Bedarf modifizieren und anpassen.“ „Okay, aber was ist mit Fortpflanzung? Mit unseren Nachkom- men? Darf es die in jetziger Form nicht mehr geben?“, ich gab noch nicht klein bei. Noch nicht! Henry allerdings auch nicht: „Natürlich wirft das Fragen auf! Na- türlich wird es da Probleme geben! Aber die werden lösbar sein!“ „Das beginnt doch schon damit, dass niemand weiß, wie oft ein Körper aus sich selbst ,klonbar’ ist?“, wurde Frank nun pragma- tisch. Mir gingen da eher andere Dinge durch den Kopf: „Ich glaube, die entscheidenden Fragestellungen werden ethischer Natur sein!“, und weiter, „Hat der Mensch überhaupt das Recht nach Vollkom- menheit zu streben? Zudem: Bist du sicher, dass dieses wieder- holt vervielfachte Individuum in hundert Jahren noch dasselbe sein wird?“ „Ich kann mir gut vorstellen, dass diese neue Form der Evolu- tion auch neue Spannungen hervorbringen würde!“, Phil gab seine Strategie der totalen Ablehnung nun auf, „Eine Evolution für Reiche! Eine Evolution an dem, was uns Menschen ausmacht, vorbei!“ Henry nickte abermals: „Ich sage ja: Es wird Probleme geben! Probleme, die wir uns heute noch nicht vorstellen können! Aber 73

ich sage auch: Wenn es möglich ist, lasst es uns versuchen! Lasst uns die Endlichkeit besiegen!“ „Da bin ich mir wirklich nicht sicher!“, schüttelte ich zweifelnd den Kopf. „Ich ebenso nicht!“, Phil wirkte sichtlich angeschlagen. „Freunde ...“, begann Frank, „ich glaube, für heute genügt das! Lasst uns den Abend beenden!“ „Gut!“, stimmte ihm Henry zu, „Machen wir Feierabend!“ Er lachte. „Hören Sie?!“ Ich möchte gerne kassieren! Ich werde gleich abgelöst!“ Ich schaute auf. Die Kellnerin blickte mich eindringlich an. Ich erkundigte mich, was ich denn schuldig sei und bezahlte. Mit einem Male verstand ich, weshalb Henry damals so schnell einverstanden gewesen war, diesen Abend an jener Stelle ausklingen zu lassen: Er hatte alles gesagt! Er war fertig! Zu einem weiteren Treffen mit uns allen war es nie mehr gekommen. Ein paar Monate später hatte ich von Henrys Tod erfahren. Krebs! Gewusst hatte er es wohl schon lange vorher, gesprochen darüber allerdings mit kaum jemandem. Und in dem Moment hatte ich es nun plötzlich furchtbar eilig. Was, wenn Henry gar keine Vision gehabt hatte? Was, wenn er uns einfach seine ganz privaten Zukunftspläne geschildert hatte? Vielleicht konnte ich ihn doch noch irgendwo erwischen, diesen Typen, der mich so nachhaltig an Henry erinnert hatte. 74

Wie im Fieber lief ich die Straßen ab. Schaute hektisch nach links und rechts. Ich begann zu rennen! Hatte jetzt keine Zeit mehr zu verlieren! Wir würden uns viel zu erzählen haben! Henry und ich. Wenn er es denn war … 75

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Engel wohnen Birgit Klein Engel wohnen auf goldenenThronen In glitzernden Sternen Unendlichen Fernen In der leuchtenden Nacht In der Nachbarschaft 77




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