DAKAMI
Erika Frost, geboren 1936 in einem kleinen Dorf im Kreis Angerburg in Masuren, ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Im November 1946 wird ihre Familie nach Deutschland zwangsevakuiert. Zwei Monate später, im Januar 1947 kommen sie nach einer langen und beschwerlichen Zeit in Groß-Garz an, wo Erika Frost die Schule besucht und bis zu ihrem Rentenalter in der Landwirtschaft arbeitet.
Erika Frost Gestohlene Kindheit
Besuchen Sie uns im Internet: www.dakami-buch.de Veröffentlicht bei DAKAMI Dienstleister für Selfpublisher Daniela Kayser, Katharina Musial-Buske, Mirko Seeling GbR, Gelnhausen Copyright © by Erika Frost Copyright © 2017 dieser Ausgabe by Daniela Kayser, Katharina Musial-Buske, Mirko Seeling GbR, Gelnhausen Druck und Bindung: Heimdall, Rheine Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier Printed in Germany 2017 ISBN: 978-3-946881-07-0
Meine Vorfahren Meine Vorfahren stammen aus Russland, aus den damali- gen deutschen Kolonien in Wolhynien. Meine Urgroßeltern waren Deutsche. Sie sind dort hinge- zogen, um billig Land zu kaufen. Sie haben Wälder gero- det, das Land urbar gemacht und wieder verkauft. Zuerst lebten sie in Erdhöhlen, aber dann zogen immer mehr Deutsche dort hin. Das Ackerland war fruchtbar und die Ernten auch ohne zu düngen überaus reich. Meine Vorfahren hatten dann ein Sägewerk, in dem das Holz aus den Wäldern gleich zu Bauholz verarbeitet wurde. Aus dem Bauholz entstanden neue Häuser, die wiederum verkauft wurden. (Holzhäuser, wie sie dort in der Zeit so üblich waren.) Mein Großvater Heinrich Lux war ein sehr fleißiger Mann und er ist auf diese Weise schnell reich geworden. Er hatte mit seiner Frau Elsbeth sechs Kinder. Drei davon starben schon im Kindesalter und auch seine erste Frau starb sehr früh. Meine Muter, die Adeline, dann Ida und auch der Leon- hard waren fast erwachsen und sie arbeiteten alle drei auf dem großen bäuerlichen Grundstück. Zur Schule konnten die Kinder nur in den Wintermonaten gehen. Im Sommer mussten sie auf dem bäuerlichen Grundstück arbeiten. 5
In der Schule wurden die Kinder in Deutsch und Russisch, also zweisprachig gebildet. Ein Dorflehrer war damals nicht mehr als ein Knecht auf einem Bauernhof. Meine Mutter verliebte sich in so einen Lehrer, aber das durfte standesgemäß nicht sein. Sie musste sich trennen, weil die Eltern die Verbindung nicht zugelassen haben. Die Menschen dort waren sehr gläubig. Jeden Sonntag fuhr man vierspännig zur Kirche. Der alte Lux, mein Groß- vater, hatte die besten Pferde weit und breit. Die Dörfer lagen weit voneinander entfernt und waren nur mit der Kutsche oder im Winter mit dem Schlitten erreichbar. Es war ein weites und spärlich besiedeltes Land. Es gab dort viele wilde Tiere. Die Wölfe kamen im Winter in Rudeln und sie waren auf Futtersuche. In der Dunkel- heit konnte keiner unbewaffnet unterwegs sein. Die Wölfe fielen auch Menschen und Pferde an. Im Winter brachen die Wölfe in Schafställe ein und sie rissen die Lämmer und Schafe. Wenn Opa Heinrich in die Stadt fuhr und es abends spät wurde, dann mussten zwei Knechte bewaff- net mitfahren zum Schutz gegen die Wölfe. Aber auch Hofhunde wurden gerissen. Die Wölfe kannten keine Hindernisse und sie kamen auch über die höchsten Zäune. Alle Knechte waren deshalb bewaffnet und sie hat- ten ihre Schlafstellen in den Viehställen, damit sie nachts das Vieh beschützen konnten. Jeder Hof hatte seinen eigenen großen Backofen und nach dem Brotbacken nutzte man die Restwärme des Ofens 6
zum Trocknen von Obst. Einmal wollte meine Großmut- ter das Obst wenden, aber da kamen die Wölfe aus dem Backofen gestürzt. Den Wald hatten die Menschen gerodet, aber die Wölfe kamen immer wieder dort hin. Besonders in den Winter- monaten suchten die Tiere die Nähe der Menschen, wo sie dann ja auch Futter fanden. In einer Nacht drangen die Wölfe in den Schafstall ein und sie haben 60 Schafe geris- sen. Die Winter waren in Russland klirrend kalt und der Schnee lag so hoch, dass die Fenster und die Türen freigeschippt werden mussten. Opa Heinrich hat wieder geheiratet. Er war damals schon 52 Jahre alt, seine junge Frau gerade erst 18. Da kam Geld zu Geld. So sollte es sein. Ein Sohn wurde in dieser Ehe auch geboren und er hieß Willi. 1917 sind alle Deutschen in den Wirren des Krieges von ihren Höfen vertrieben worden. Die Menschen mussten all ihr Hab und Gut stehen lassen und nur mit Handgepäck ist die reiche Familie Lux nach Deutschland, nach Ublik auf ein Gut gekommen, nun aber nur als einfache Arbeiter- familie. Auf diesem Gut musste Opa Heinrich mit seinen drei erwachsenen Kindern als Hofgänger arbeiten und ein karges Leben fristen. 7
Sie hatten nicht einmal Betten, nur Strohsäcke und Decken. Später bekam meine Mutter, die Adeline Lux, aus erster Ehe meines Opas eine andere Arbeitsstelle in einer Gaststätte als Dienstmädchen (Küchenhilfe). Zu dieser Zeit lernte meine Mutter dann auch meinen Vater kennen und lieben. Mein Vater, Christoph Richert hat seine leiblichen Eltern erst gar nicht kennengelernt, denn sie sind sehr früh verstorben und die Kinder sind in der Verwandtschaft aufgeteilt worden. Das war früher so üblich. Mein Vater kam zu seiner Tante Eva, meiner lieben Groß- mutter. Sie selbst hatte noch keine Kinder. Mit 16 Jahren wurde sie mit David Richert verheiratet und sie bewirt- schafteten einen Bauernhof in Wolhynien. Im Nachbarort lebte eine ganz arme Familie mit sechs Kin- dern. Der Mann war ein Trinker. Eines Tages erzählte Opa David seiner Frau Eva, dass die Kindsmutter verstorben sei. Er musste nicht lange fragen, da marschierte seine Eva los ins andere Dorf und erreichte die alte Lehmkate, in der die Familie wohnte. Sie öffnete die Tür und fand ein kleines Mädchen, nur mit einem Hemdchen bekleidet, in einem mit Brettern ausgeschlagenen Zimmerchen im Stroh. Die Kleine streckte ihr die Ärmchen entgegen und weinte bit- terlich. Sie war das jüngste von sechs Kindern, und weil die kleine Paula noch so klein war, wollte sich ihrer niemand annehmen. 8
Eva Richert legte die kleine Paula in ihren langen Leinen- rock und wanderte mit dem kleinen Kind nach Hause. Beide Kinder, also der Christoph und die kleine Paula, wurden von Opa David und Oma Eva adoptiert. Sie gaben ihnen ein gutes Zuhause. Sie waren jetzt eine richtige Familie und sie schenkten den Kindern alle Liebe dieser Welt. Ich habe das große Glück erleben dürfen, die Tochter vom kleinen Christoph und damit die Enkelin von Oma Eva und Opa David zu sein. Wir waren ein Leben lang zusammen, wir aßen zusam- men, arbeiteten zusammen und teilten alles miteinander, Freude und auch Leid. Opa David wurde über 70 Jahre alt und Oma Eva sogar 82. Es war so Sitte, dass die Kinder ihre Eltern siezten. Mein Vater und meine Mutter nannten meine Groß- eltern „Vater“ und „Sie“ bzw. „Mutter“ und „Sie“. Wir Kinder kannten es nicht anders und ich meine, es war die Achtung vor dem Alter, die Achtung vor den Eltern. Wir Kinder durften aber einfach „Oma“ bzw. „Opa“ und „du“ sagen. 9
Meine Oma Eva konnte sehr gut nähen. Sie nähte uns die schönsten Kleider und aus Stoffresten die besten Flickenpuppen und in ihrem Zimmer konnte man schön spielen. Sie hatte mit uns viel Geduld und Aus- dauer und in ihrer alten Kommode waren immer Nasche- reien oder die schönsten Äpfel und auch Bienenhonig für uns Kinder. Unsere Eltern Meine Mutter und mein Vater lernten sich in Ublik kennen und lieben. Mein Vater war auch aus Wolhynien und durch die Wirren des Krieges in Russland lernte er das ganze Land kennen mit seinen vielen Dialekten. Er war immer auf der Suche nach seinen Eltern. Die Deutschen hatte man überall hin vertrieben. Von Wolhynien bis an die Wolga und auch bis Kasachstan und Sibirien. Immer auf der Flucht. Die Deut- schen wurden bis in die einsamsten Gegenden getrieben. Als er von seinen Eltern weggerissen wurde, sagte er: „Egal, wohin es euch verschlägt, ich werde euch überall suchen und finden.“ Nach vielen Jahren hatte er dann seine Eltern tatsächlich wiedergefunden, und zwar in Deutschland, in Ublik in Masuren. 10
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Mein Vater Christoph Richert hat seine liebste Lina, Ade- line Lux geheiratet und sie blieben ein Leben lang zusam- men. In Freude und Leid. Oma Eva und Opa David wollten nun in Masuren Fuß fassen und sie kauften für sich und Sohn Christoph mit Frau Ade- line ein altes Grundstück in Neu-Haarschen, wo die jungen Leute dann ihre Familie gründen konnten. Sie hatten drei gemeinsame Kinder. Meinen Bruder Chris- tian, meine Schwester Waltraud und mich, die Erika. Ich bin am 10.07.36 in Neu-Haarschen geboren. Unser Grund- stück war nicht groß, aber es ernährte uns, eine sieben- köpfige Familie. Opa David war ein Bauer mit Leib und Seele und er war auch Imker. Wir waren in allem Selbst- versorger und es fehlte uns an nichts. Ich habe hier die schönsten Jahre meines Lebens erle- ben dürfen. Eine traumhafte Kindheit in einer glücklichen Familie, die mein ganzes Leben geprägt hat. Meine Eltern und Großeltern hatten so viele schöne Pläne, was sie aus dem Grundstück alles machen könnten. Vieles modernisieren und umbauen. Alles verändern. Platz und Land war genügend vorhanden. Aber es sollte alles anders kommen, als man denkt. Der Mensch denkt, aber Gott lenkt und es zogen böse Gerüchte durch unser schönes, unberührtes Land. Man munkelte sogar, dass es Krieg geben wird. Deutschland wollte mit Russland einen Krieg anfangen. 12
Ein altes Grundstück in Neu-Haarschen Hier wurden drei Kinder geboren und im Kreis der Familie aufgezogen und hier verlebten wir Kinder die glücklichste Zeit unseres Lebens. Hier wurden die Kinder im Schoße der Familie gehütet aufgezogen. Das größte Glück ist, eine Familie zu haben. Wir waren eine glückliche Familie in einem kleinen Dorf: Neu-Haarschen in Masuren. 13
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