Important Announcement
PubHTML5 Scheduled Server Maintenance on (GMT) Sunday, June 26th, 2:00 am - 8:00 am.
PubHTML5 site will be inoperative during the times indicated!

Home Explore Dalai Lama, Eugen Drewermann - Der Weg des Herzens. Gewaltlosigkeit und Dialog zwischen den Religionen [1992]

Dalai Lama, Eugen Drewermann - Der Weg des Herzens. Gewaltlosigkeit und Dialog zwischen den Religionen [1992]

Published by NoSpam, 2018-01-20 18:01:36

Description: Dalai Lama, Eugen Drewermann - Der Weg des Herzens. Gewaltlosigkeit und Dialog zwischen den Religionen [1992]

Search

Read the Text Version

Dalai Lama/Eugen DrewermannDer Weg des HerzensGewaltlosigkeit und Dialog zwischen den ReligionenHerausgegeben von David J. KriegerWalter Verlag Zürich und Düsseldorf

4. Auflage 1998 Alle Rechte vorbehalten © Walter-Verlag AG, 1992 Satz: Jung Satzzentrum GmbH, Lahnau Druck und Einband:Lengericher Handelsdruckerei, Lengerich Printed in Germany ISBN 3-530-14133-X

AutorenporträtDer XIV. Dalai Lama und Träger desFriedensnobelpreises hat eine weltweiteAusstrahlung als Lehrer und spiritueller Führer.Eugen Drewermann, geboren 1940, ist habilitierterkatholischer Theologe. 1991 Predigtverbot undSuspension vom Priesteramt. Er ist heute alsSchriftsteller und Therapeut tätig. ZahlreicheVeröffentlichungen, z.B.: 'Kleriker','Tiefenpsychologie und Exegese', 'Worum eseigentlich geht', 'Ich steige hinab in die Barke derSonne', 'Giordano Bruno oder Der Spiegel desUnendlichen' und 'Was uns Zukunft gibt'.

VorwortDieser Band enthält zwei Vorträge Seiner Heiligkeit des XIV.Dalai Lama und einen Text von Eugen Drewermann. Der ersteVortrag des Dalai Lama über interreligiösen Dialog und dieAnsprache von Eugen Drewermann wurden am 18. August1991 in Zürich anläßlich einer Veranstaltung zum Thema «DieSuche nach der Friedenskultur der Religionen» vorgetragen.Für diese Publikation sind die Worte von Eugen Drewermannmit Auszügen aus seinem «Kommentar zumMatthäusevangelium» (Walter-Verlag, Ölten 1992) erweitertworden. Die oben erwähnte Veranstaltung fand im Rahmendes «Internationalen Festes» der 700-Jahr-Feier derschweizerischen Eidgenossenschaft statt. Mitveranstalterwaren das «Internationale Fest» (Thomas Imboden), dasInstitut für Kommunikationsforschung (Meggen, Schweiz) unddie Evangelische Studiengemeinschaft an den ZürcherHochschulen (David Krieger) sowie die Paulus-Akademie(Matthias Mettner), in der die Veranstaltung statt- fand. DieInitiative zu diesem Anlaß hatte Thomas Imboden vom«Interionalen Fest» ergriffen.Die Organisatoren Thomas Imboden, Matthias Mettner und ichdanken an dieser Stelle folgenden Persönlichkeiten undInstitutionen für ihre Mitwirkung und ihre Unterstützung:Hans-Jürg Braun, Barbara Hendricks, Iégor Reznikoff,Wolfgang Somary und die Intercultural Cooperation Stiftung(Zürich), dem Hotel St. Gotthard (Zürich), der katholischenKirchgemeinde «Maria Krönung» (Zürich-Witikon), der StadtZürich. Ich möchte auch an dieser Stelle Pascale Müller fürMithilfe bei der Vorbereitung des deutschen Textes des DalaiLama danken und Dr. Metzinger vom Walter-Verlag, der zur

Verwirklichung dieses Buches wesentlich beigetragen hat. Einbesonderer Dank gebührt Kelsang Gyaltsen und denMitarbeitern des Tibet Office in Zürich, die wesentlich zumGelingen des Anlasses beigetragen haben. Ebenfalls konnte derzweite Vortrag des Dalai Lama über Gewaltlosigkeit, den erwenige Tage nach der Veranstaltung in Zürich in Wiengehalten hat, dank der Mitarbeit des Tibet Office in diesenBand integriert werden.Gemäß dem Wunsch des Dalai Lama und Eugen Drewermannswerden die Profite aus diesem Buch zur Unterstützung desinterreligiösen Dialoges verwendet. David J. Krieger Luzern, im Januar 1992

David J. KriegerEinführung

Gewaltlosigkeit und interreligiöser Dialog bilden zusammendas Thema dieses Buches. Es gibt eine innere Verbindungzwischen Gewaltlosigkeit und einem echten Frieden undgegenseitiger Verständigung unter den Religionen. SchonMahatma Gandhi machte den interreligiösen Dialog zumwesentlichen Teil seines gewaltlosen Kampfes für dieUnabhängigkeit Indiens. Obwohl er Hindu war, las er seinenAnhängern aus dem muslimischen Koran und der christlichenBibel vor. Nur durch Gewaltlosigkeit, lehrte er, könnten dietiefen Differenzen zwischen den Religionen überwunden undein Dialog eingeleitet werden. Auch Seine Heiligkeit, der XIV.Dalai Lama betont in den zwei in diesem Buch vereinigtenVorträgen den Zusammenhang zwischen interreligiöserVerständigung und Gewaltlosigkeit. Das gleiche bezeugt vonchristlicher Seite der Beitrag Eugen Drewermanns.Gewalt und gegenseitige Verständigung sind schlechthinunvereinbar. Jede Gewalt, sei es politischer, wirtschaftlicheroder ideologischer und religiöser Natur, blockiert unduntergräbt die Offenheit und Unvoreingenommenheit, dienotwendig sind, um Andersdenkende und Andersgläubige zuverstehen. Jedes Mal, wenn wir unsere Herzen gegen andereverschließen, verstoßen wir gegen die höchste Forderungunseres eigenen Glaubens, nämlich, andere Menschen in Liebeund Mitgefühl zu respektieren und anzunehmen.Die Geschichte zeigt, daß die blutigsten Kriege, diehartnäckigsten Mißverständnisse und die tiefsten Zerrüttungenzwischen Menschen auf ideologische und religiöse Differenzenzurückzuführen sind. Dies ist auch verständlich, wenn wirbedenken, wie sehr wir das Bedürfnis nach Sinn undGeborgenheit in einer vertrauten Welt spüren. Kein Menschkann in einer sinnlosen und chaotischen Welt leben. So weit

zurück wir in die Geschichte der Menschheit blicken, findenwir immer, daß die Menschen irgendeine Religion hatten.Religion gibt dem Leben Sinn. In ihrer unübersehbaren Füllevon Formen hat Religion immer die Funktion erfüllt, der Weltund der menschlichen Existenz Ordnung und Sinn zuverleihen. In ihren Mythen und Theologien beschreibt sie eineWelt, in der sich der Mensch zu Hause fühlen kann. Aufgrundder Schöpfungserzählungen wird es verständlich, wie die Weltentstanden ist, warum das Land, die Pflanzen und die Tiere sogeschaffen werden, welches die einzigartige Stellung desMenschen im Kosmos ist und wohin ihn sein Leben führt. DieMythologie erklärt den Ursprung der Welt und legitimiert diesozialen Einrichtungen der Gesellschaft. Rituale und Gebetevergewissern die Menschen, daß sie nicht allein undungeschützt dem Tod, der Verzweiflung und dem Leidenausgeliefert sind, sondern in Gemeinschaft miteinander und inVerbindung mit der Quelle des Seins und dem ewigen Lebenstehen. Auch dort, wo nicht die Rede von Gott oder vonGöttern ist, wie z. B. im Hinayana-Buddhismus oder imwestlichen Humanismus und Atheismus, gibt doch jedeWeltanschauung und jedes ideologische System in irgendeinerForm Antworten auf die tiefsten Fragen des Lebens: Wer binich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was soll ich tun? Esdürfte demnach keine Überraschung sein, wenn Menschen sichbedroht fühlen in dem Moment, in dem ihre tiefstenÜberzeugungen in Frage gestellt werden angesichts anderer,ihnen fremder und unverständlicher Weltanschauungen. KeinMensch kann unberührt bleiben, wenn alles, was er für gut undwahr hält, durch eine andere Weltanschauung verneint wird.Deswegen ist die erste Reaktion gegenüber dem Fremden fastimmer Angst und Abwehr. Die Geschichte der Menschheit hatuns immer wieder gezeigt, wie Individuen, Gruppen und ganzeVölker und Staaten ständig bemüht waren, ihre ideologischen

Grenzen zu verteidigen und sich gegen Andersdenkende mitallen möglichen Mitteln zu behaupten und durchzusetzen. Dieheillose Verstrickung der christlichen Mission im westlichenKolonialismus der letzten Jahrhunderte und die gegenwärtigenideologischen Konflikte sind Beispiel genug für daskatastrophale aber typische Verhalten der Völkeruntereinander. Es wäre kurzsichtig zu meinen, es handle sichdabei bloß um wirtschaftliche, politische oder militärischeInteressenkonflikte. Ganz im Gegenteil: Wirtschaftliche undpolitische Differenzen ließen sich viel leichter lösen, wennnicht tiefgreifende ideologische und kulturelle Unterschiedeeine gegenseitige Verständigung und Zusammenarbeitverhinderten. Immer wieder erleben wir, wie schwierig es ist,sogar einfache Probleme zu lösen, wenn keine gemeinsamanerkannten Werte und Prinzipien alle Parteien in einemKonflikt miteinander verbinden. Um praktischeAngelegenheiten durch Zusammenarbeit zu regeln, müssen wirmiteinander reden können. Die Sprache ist das Medium, indem wir Menschen unsere Handlungen koordinieren.Kommunikation über Bedürfnisse, Pläne und Möglichkeiten,der Austausch von Informationen, Ideen und Argumenten undder Konsens über gemeinsame Handlungsstrategien gehören zuden Grundbedingungen menschlicher Existenz. All dies wäreaber kaum möglich, wenn wir einander unsere Vorstellungenvon einem besseren, würdigeren, freieren Leben nicht mitteilenkönnten.Der Mensch ist von Natur her ein soziales Wesen, das nurdurch gegenseitige Verständigung, durch Zusammenlebenaufgrund einer gemeinsamen Hoffnung und einesgemeinsamen Zieles sein Leben gestalten kann. Unter allenWesen ist der Mensch dasjenige, das auf Kommunikation undZusammenleben angewiesen ist, um sich zu verwirklichen.Ohne irgendein gemeinsam anerkanntes Verständnis der Welt

und des Lebenssinnes gäbe es keine Sprache, die fähig wäre,menschliche Gemeinschaft zu vermitteln. Denn Worte undZeichen der Sprache bleiben stumm und unverständlich, wenndie Kriterien für das, was wirklich, sinnvoll und wertvoll ist,fehlen. Wie können wir uns einander öffnen und unsere Ideenund Gefühle einander mitteilen, wenn wir nicht schon imvoraus ein gewisses Verständnis der Welt teilen? Wenn dieseGrundlage fehlt, wie dies in allen interkulturellen undinterreligiösen Konflikten der Fall ist, wird es fast unmöglich,auch nur über die einfachsten Probleme zu reden. Und wenndie Sprache versagt, greifen wir allzuschnell zu den Waffen.Der Dalai Lama spricht von Liebe und Mitgefühl, weil diesezur menschlichen Natur überhaupt gehören. Sie begründen dieFähigkeit, Konflikte gewaltlos auszutragen. Durch Liebe undMitgefühl erleben wir eine Solidarität mit anderen Menschen,die über alle ideologischen, religiösen und kulturellen Grenzenhinwegreicht. Aufgrund von Liebe und Mitgefühl, die nichtkulturell bedingt sind, wird es uns möglich, der Bedrohungdurch eine fremde Kultur und Lebensweise offen undverständnisvoll zu begegnen. Wenn wir anderen Menschen mitLiebe und Mitgefühl begegnen, so fremd ihre Sicht der Weltund ihre Lebensweise uns zunächst auch erscheinen mögen,wird es uns möglich, an ihren Sorgen und Hoffnungenteilzunehmen. Wir können uns in ihre Situation versetzen, undwir können lernen, die Welt so zu sehen wie sie. Nur durcheine echte Teilnahme, die alle Ängste, Vorurteile und billigenAusreden abgelegt hat, können wir die Probleme undBedürfnisse anderer Menschen kennenlernen und somit in dieLage kommen, Lösungen zu finden, die für alle befriedigendsind. Die Mißverständnisse, die entstehen, wenn wirversuchen, andere «Sprachen» zu sprechen, werdenausgeräumt und die Tür zu neuen, gemeinsamen Lösungengeöffnet.

Wir stehen heute am Beginn eines globalen Zeitalters. DasBild vom «Raumschiff Erde», in dem alle Menschen, alleKulturen und Völker sich im gleichen «Boot» befinden undnur durch gegenseitige Kooperation ihre Existenz und dieZukunft der Menschheit sichern können, ist schon einGemeinplatz geworden. Es gibt kein ernsthaftes Problemheute, sei es wirtschaftlich, politisch oder sozial, das nicht auchein globales Problem ist. Was wir auf den Mittagstisch legen,wieviel Energie wir brauchen, wo wir unser Geld investieren,all dies beeinflußt direkt, wie Menschen auf der anderen Seiteder Erde leben, ihre Arbeitsbedingungen, ihre Chancen aufSelbstbestimmung, Entwicklung und Gerechtigkeit. Angesichtsdieser Situation ist interreligiöser Dialog kein Luxus mehr undkein Hobby der Theologen und Kirchenvertreter.Es wird aber keine globale Kultur geben, die nicht bereit ist,die verschiedenen religiösen Überzeugungen der Menschheitanzuerkennen. Dies zeigt zur Genüge die wachsende Gefahrdes religiösen Fundamentalismus. Überall erhebt sich heute einfanatischer, intoleranter, aggressiver Fundamentalismus gegendie Orientierungslosigkeit und den Wertezerfall einer allesnivellierenden, materialistischen Konsumgesellschaft. Wirstehen heute an einem Wendepunkt in der Geschichte, an demsich entscheiden wird, ob die großen religiösen Traditionen derWelt sich gegenseitig anerkennen oder sich in einer nochvehementeren und gefährlicheren Polemik versteifen werden.Heute und in naher Zukunft gibt es nur eine Alternative:fanatischer Fundamentalismus oder interreligiöser Dialog. DerDalai Lama ist ein Botschafter des Weltfriedens im Namen desBuddhismus. Die Gewaltlosigkeit ist aber nicht das spirituelleEigentum des Ostens. Der Theologe und PsychotherapeutEugen Drewermann spricht aus christlicher Sicht. Er sprichteine Sprache des Herzens, der Gefühle, der unbezweifelbarenGewißheit der Liebe. Auch Jesus Christus ist einen Weg der

Gewaltlosigkeit gegangen, und diejenigen, die sein Leben undsein Wort ernstnehmen, wissen, was es bedeutet, ihmnachzufolgen und Zeugnis für ihn in einer Welt der Brutalitätund Unmenschlichkeit abzulegen. Allerdings herrscht imWesten seit Jahrhunderten eine andere Auffassung vor.Innerhalb und außerhalb der Kirchen haben Kritiker über dieJahrhunderte hinweg Jesus als fanatischen Pazifistenabgestempelt, der keine Ahnung von der wirklichen Natursozialer und politischer Konflikte hatte. Wir haben bis heutekaum etwas anfangen können mit dem Wort Jesu: «Ihr habtgehört, daß gesagt worden ist: Auge um Auge und Zahn umZahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Bösesantut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf dierechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin» (Mt5,38-40).Gewaltlosigkeit wird erst dann ein Werkzeug derGemeinschaftsbildung, wenn die Menschen die Macht derWaffen durch die Macht des Geistes ersetzen. Die Geschichteist unausweichlich mit Leiden verbunden. Konflikte wird esimmer geben, und durch jeden Konflikt entsteht Leiden. DieAufgabe des Menschen ist es – und gerade dies hat Jesus unsgesagt und gezeigt –, dieses Leiden freiwillig auf sich zunehmen, damit der Prozeß der Gemeinschaftsbildungschöpferisch und frei wird. Die meisten Menschen aberreagieren in einer Konfliktsituation aus Unwissenheit überdiese ihre wahre Aufgabe und Fähigkeit mit Angst. Sieversuchen, das Leiden auf andere abzuwälzen. Diese«natürliche» Reaktion ist der Ursprung und das Wesen derGewalt. Denn Gewalt ist nichts anderes als der Versuch, demLeiden in einem Konflikt zu entkommen, indem man es aufden anderen abschiebt. Gewaltlosigkeit dagegen besteht darin,daß man dieses Leiden freiwillig auf sich nimmt. Und diesesfreiwillig auf sich genommene Leid ist es, was uns Jesus

Christus vorgelebt und ermöglicht hat. Die Impulse desHerzens wirken sich unmittelbar auf unser soziales undpolitisches Engagement aus. Sie bleiben nicht ruhig undharmlos in einer privaten, rein spirituellen Gesinnung.Christliche Nachfolge ist weltliche, historische Verantwortung.Gegen diese Verquickung von Spiritualität und Politik aber hatsich die bürgerliche Gesellschaft des Westens stets gewehrt.Unter dem Begriff der «Toleranz» haben wir seit dem 17.Jahrhundert versucht, alle religiösen Ansprüche von der Politikfernzuhalten und in die Privatsphäre zu verbannen. DieTrennung von Kirche und Staat, so nötig sie war und trotzallen ihren positiven Wirkungen, bedeutet – und das müssenwir lernen anzuerkennen –, daß der absoluteWahrheitsanspruch des Herzens nichts mehr mit der Politikund der historischen Wirklichkeit zu tun haben darf. Dasmenschliche Zusammenleben in der Gesellschaft ist derBereich der relativen Wahrheit. Jeder Bürger darf an deröffentlichen Meinungsbildung teilnehmen, aber nur wenn ergleichzeitig bereit ist, Kompromisse einzugehen undMehrheitsbeschlüsse anzuerkennen. Die absolute Wahrheit desHerzens jedoch läßt sich nicht kompromittieren, noch könnenwir über sie abstimmen. Was Recht ist, entspricht nicht immerden Interessen der Mehrheiten oder der Mächtigsten, und wennman für die Rechte des Herzens einsteht, bedeutet dies einegroße Gefahr für den Staat. Ein religiös motivierter Mensch istoft bereit, Leiden auf sich zu nehmen, sein Eigentum und sogarsein Leben zu opfern, um für den absoluten Anspruch derLiebe Zeugnis abzulegen. Wer aber bereit ist, für seinGewissen zu sterben, der entzieht sich denjenigenRegelungsmechanismen, welche die Bürger durch Angst vorStrafe im Zaume halten.Im Westen haben wir versucht, dieses Problem durch einedoppelte Moral zu lösen. Im öffentlichen Leben gelten andere

Normen als im privaten Bereich. Unsere offiziellen Exegeten,Drewermann ausgenommen, sagen es immer wieder: DieGebote der Bergpredigt seien nicht politische und sozialeHandlungsanweisungen, sondern sie hätten «nur» spirituelleBedeutung, sie seien ein Verweis auf das kommendeHimmelreich. Auf Erden, so lautet die offizielle Doktrin,gelten die Regeln der Zweckdienlichkeit und der Realpolitik.Aber der Gott der Juden und Christen ist ein Gott derGeschichte! Und der große Beitrag des Westens zuminterreligiösen Dialog ist die Überzeugung, daß diesehistorische Welt gerettet werden kann. Die Zurückgezogenheitund Weltentfremdung des «religiösen» Menschen istunvertretbar in einer Zeit, in der die Mechanismen der Gewaltund Herzlosigkeit so stark geworden sind, daß Menschen sichnicht einmal mehr trauen, einander ihre Gefühle zu zeigen,Mitleid und Zuneigung ihr Leben bestimmen zu lassen. Geradeder Anspruch religiöser Wahrheit, einen Sinn des Lebens zuerschließen, verlangt, sich für das Wohl aller Menschen auf derErde zu engagieren.Es geht in diesem Verständnis der christlichen Botschaft nichtum die Durchsetzung eines bestimmten Programms, sondernum die grundsätzliche Frage der Fähigkeit, zu lieben und sichfür das Gemeinwohl einzusetzen in einer von sogenanntenSystemzwängen ausgehöhlten Gesellschaft. Es geht also nichtum eine vermeintlich gewaltlose Methode, die uns in die Lageversetzen soll, die eigenen Interessen durchzusetzen. Es gehtdarum, die Wahrheit, der wir alle, aber je in unserer eigenenArt und Weise, unausweichlich verpflichtet sind, so zuvertreten, daß wir uns auch über ihre Grenzen hinaus mitanderen solidarisch verhalten können.Es mag hier eingewendet werden, daß eine solche religiösePolitik sich erst verwirklichen ließe, wenn alle Menschen diegleiche Wahrheit haben. Auch wenn wir die Fälligkeit des

Menschen, absolute Wahrheit zu erkennen, durchausrealistisch einschätzen, ist die Stimme des Herzens keine bloßeMeinung, sondern eine bedingungslose Verpflichtung mitabsoluter Autorität. Deshalb ist die Gewaltlosigkeit das einzigeMittel. Denn nur die Gewaltlosigkeit erlaubt es uns, zugleichzu der fundamentalen Wahrheit unseres Gewissens zu stehenals auch für eine Vertiefung und Erweiterung dieser Wahrheitoffen zu sein.Wenn wir unsere Auffassung der Wahrheit anderen durchGewalt aufdrängen, erheben wir eine mögliche Teilwahrheitzur Absolutheit und verhindern den Austausch derverschiedenen Gesichtspunkte, welche allein uns die volleWahrheit geben könnten. Indem wir durch Gewalt jedeKorrektur der eigenen Position verbieten, bleiben wir beiunserer unvollkommenen Wahrheit stehen. Gandhi erklärtedies mit der folgenden Erzählung: «Es scheint, daß dieUnmöglichkeit, die volle Wahrheit in diesem sterblichenKörper zu erfassen, einen alten Weisen zur Erkenntnis vonahimsa (Gewaltlosigkeit) geführt hat. Die Frage, die sich ihmstellte, war: ‹Soll ich diejenigen, die mir Schwierigkeitenbereiten, dulden, oder soll ich sie zerstören?› Der Weise sah,daß derjenige, der andere zerstörte, niemals weiterkam,sondern immer dort stehenblieb, wo er war, während derjenige,der mit seinen Widersachern Nachsicht übte, vorwärts gingund erst noch die anderen mit sich zog.» Das einzige, was eineideologische Verabsolutierung der eigenenWahrheitsauffassung sprengen kann, ist das freiwilligeSelbstleiden und die damit verbundene Feindesliebe. Denn injedem Konflikt wird der erwartete Widerstand des Gegners zurBestätigung der schon gemachten Verurteilung seiner Position.Gewalt in allen Formen wird immer nur Gegengewalthervorrufen und legitimieren.

Wenn wir aber dem Gegner nicht mit Gewalt und Haßentgegentreten, dann kann er nicht unberührt bleiben.Derjenige, der Gewalt braucht, wird sich mit der Zeit fragenmüssen, woher sein «Gegner» die moralische Kraft holt, umsich gewaltlos zu verhalten. Die geistige Kraft derGewaltlosigkeit und des freiwilligen Selbstleidens fordertRespekt. Also muß derjenige, der Gewalt anwendet, seineIdeologie, welche diese Gewalt rechtfertigt, in Frage stellenangesichts gewaltlosen Widerstandes. Wenn der Aggressorsieht, daß wir das Leiden auf uns nehmen und daß ihm selberkein Leid zugefügt wird, dann können sich Angst undMißtrauen in einen echten Dialog auflösen. In einergewaltlosen Auseinandersetzung müssen demnach nicht dieanderen für unsere Fehler leiden, und diese Fehler eskalierennicht zu einem neuen Streit. Man kann bei der Sache bleibenund zu einer konstruktiven Lösung durchdringen.Die religiöse Erneuerung, die überall heute sich unter demSchlagwort «Fundamentalismus» kundtut, zeigt, daß dieVerdrängung von Religion aus dem öffentlichen Lebenfehlgeschlagen ist. Die Beiträge dieses Bandes wollen dieRichtung anzeigen, in der Lösungswege für eine menschlicheZukunft liegen. Sie stellen uns klar vor Augen, was heuteunsere Aufgabe ist: Gewaltlosigkeit und interreligiöser Dialog.

Dalai LamaInterreligiöser Dialog

Liebe Freunde, ich freue mich, daß ein interreligiöser Dialogstattfinden wird, ein Dialog, der dazu beitragen soll, dieFreundschaft und die Harmonie zwischen den Religionen zustärken. Der interreligiöse Dialog soll dazu dienen, daß manvon anderen Religionen lernt, daß man seine Erfahrungen undsein Wissen untereinander austauscht. So wird die Menschheitinsgesamt gefördert. Viele Menschen setzen heutzutage ihreHoffnung in diesen Dialog. Ich glaube deshalb, daß er sehrwichtig ist.Heute erleben wir große Veränderung in der Welt.Verschiedene Ideologien, verschiedene Systeme lebenmiteinander zusammen. Es kommt mehr und mehr zu einemechten Verständnis, zu einem gegenseitigen Respekt, zu einemAustausch zwischen verschiedenen Ideologien und Systemen.Als religiöse Menschen müssen wir diese Gelegenheit nutzen,um unser gegenseitiges Verständnis weiter zu stärken.Ansonsten besteht die Gefahr, daß wir die Zeit verpassen. Mankann immer wieder beobachten, daß die Menschen ein echtesInteresse und eine tiefe Freude empfinden, wenn solcheTreffen Zustandekommen. Das stärkt die Hoffnung undermuntert, in diese Richtung weiterzumachen. Daß ich indieser Atmosphäre zu Ihnen sprechen darf, ist für mich einegroße Ehre, und es stärkt auch meinen eigenen Enthusiasmus.Ich möchte nun über die Entwicklung von Liebe und Mitgefühlsprechen. In allen Religionen, in den verschiedenen Systemenund Traditionen wird sie gleichermaßen gepflegt undgefordert. Dabei möchte ich auch von meinem eigenenStandpunkt her und aus meiner eigenen Erfahrung sprechen.Oft gebrauchen wir die Worte «gut» und «schlecht». Wirsollten uns aber fragen, an welchem Maßstab wir «gut» und«schlecht» messen. Wo ist die Grenze zwischen diesen beidenWertungen?

Ich glaube, gut und schlecht hat mit unseren eigenenEmpfindungen und Gefühlen zu tun. Wenn wir etwas für unsAngenehmes erleben, empfindet unser Geist Freude.Empfinden wir etwas als angenehm, dann bezeichnen wir esals gut. Wenn uns auf der andern Seite etwas Angst macht, unsUnbehagen einflößt, dann nennen wir es schlecht, wirverstehen es als etwas Negatives.Betrachten wir nun die Beziehungen zu anderen. Wenn unseine Person so begegnet, daß sie in uns ein Gefühl der Freude,der Gelassenheit und des Vertrauens auslöst, dann erleben wirdie Begegnung als äußerst positiv. Das gilt nicht nur für unsMenschen, das gilt selbst für die Tiere. Für alle Wesen istLiebe und Zuneigung sehr wichtig und sogar lebensnotwendig.Egal, ob wir von der heutigen Zeit oder von der Zeit vor derEntwicklung unserer Zivilisation sprechen: Immer sehnen sichdie Wesen nach tiefer Zuneigung, nach Liebe und Mitgefühl.Tiere haben keine entwickelte Intelligenz wie wir Menschen.Doch wenn man einem Tier freundlich begegnet, dann merktman sofort seine positive Reaktion. Fügen wir einem TierSchaden zu oder verletzen es irgendwie, merken wir gleich,wie es vor dieser Begegnung zurückschreckt und Angstbekommt. Heutige Wissenschaftler, die sich mit derEntwicklung des Kindes befassen, glauben, daß für dasgesunde Wachstum des ungeborenen Kindes dieAusgeglichenheit der Mutter die wichtigste Lebensbedingungist. Je ruhiger, ausgeglichener und liebevoller der Geist derwerdenden Mutter ist, desto besser ist auch die Entwicklungdes Kindes. Ist die Mutter geistig sehr unausgeglichen, hat daseinen negativen Einfluß auf die Entwicklung des Kindes. Inden ersten Wochen nach der Geburt, sagen dieseWissenschaftler, ist das Wichtigste für die gesundeEntwicklung und Heranbildung des kindlichen Gehirns eineBezugsperson (in der Regel die Mutter), die dem Kind eine

echte Zuneigung zeigt. Wichtig ist auch, daß sich dieseZuneigung durch körperliche Nähe ausdrückt. Selbst dieAusbildung unseres Körpers, sein Wachstum und seineGesundheit hängen mit der Zuneigung und Liebe, die wir vonanderen Menschen erfahren, zusammen. Von der Geburt biszum Tod ist die durch Mitmenschen erfahrene Zuneigung undLiebe einer der wichtigsten Lebensumstände. Nur so kann derGeist friedvoll und ausgeglichen sein. Liebe, Mitgefühl undZuneigung sind die eigentlichen Grundlagen, das Fundamentfür Wohlergehen in unserem Leben. Wenn man dieseEigenschaften in sich zu entwickeln versucht, entsteht dadurcheine starke Entschlossenheit und Willenskraft im eigenenGeist. Wenn wir ein kleines Kind betrachten, so ist dieserMensch noch völlig frei von allen Ideologien und religiösenGrundsätzen. Allerdings ist dieser neu-geborene Mensch nichtfrei vom Bedürfnis nach liebender Geborgenheit. Deshalb kannman sagen: Das wichtigste Kriterium, daß man etwas als «gut»bezeichnen kann, ist, daß etwas mit Liebe und Zuneigungverbunden ist. Daraus folgt, daß alle Religionen Liebe,Zuneigung und Mitgefühl als wesentliche Eigenschaftenentwickeln müssen. Das soll das bedeutendste Element ihrerReligiosität sein. Aus Liebe und Zuneigung entsteht Glück,wird etwas gut, ein Mensch wird ein guter Mensch. DieReligionen sind durch Menschen entstanden und als Hilfe fürdie Menschen gedacht. Deshalb müssen sie das besondersansprechen, was der Mensch am meisten braucht: Liebe undMitgefühl.Wenn die Tugenden eines Religionsgründers beschriebenwerden, nennen alle Religionen zuerst die Barmherzigkeit. DerGründer kann Gott sein, Jesus Christus, Buddha oder wer auchimmer. Die eigentliche Tugend, die man an seinemZufluchtsobjekt, an dem Gründer der Religion schätzt, ist dieBarmherzigkeit. Warum? Weil, wie gesagt, die Menschen von

Natur aus ein tiefes Bedürfnis nach liebender Zuwendung undMitgefühl haben.Als Ziel der Religionsausübung steht in allen Religionen einHimmel, ein Paradies oder ein reines Land. Wenn wir an denHimmel denken oder an das Paradies oder an ein reines Land,dann fällt uns doch zuerst ein, daß dort eine Atmosphäreherrscht, die völlig frei von Krieg und Gewalt ist. Sie istdurchdrungen von einem echten, tiefen Frieden. Wenn wirhören würden, daß es im Himmel Krieg und Haß gibt, würdenwir wohl nicht dorthin wollen. Deshalb betrachten alleReligionen Barmherzigkeit und Liebe als die allerwichtigstenEigenschaften.Auf dieser Welt haben sich verschiedene Religionenentwickelt. Diese Religionen fügten sich gegenseitig viel Leidzu. Die eigene Religion wurde als Grund genommen, gegendie Menschen einer anderen Religion vorzugehen. Religionensind sogar Grund für kriegerische Auseinandersetzungengewesen. Warum? Weil es in den verschiedenen Religionenverschiedene Philosophien, verschiedene Theologien gibt.Einige Religionen glauben an einen Schöpfergott, anderevertreten keinen Schöpfergott. Es gibt die verschiedenstenPhilosophien, die eine Grundlage für Streit zwischen denReligionen bilden. Da diese Unterschiede so grundlegend sind,entsteht Kampf und Streit zwischen den Religionen. Dieallermeisten Menschen denken jedoch, daß Streit undKonflikte auf der Grundlage der Religion oder mit derReligion als Hintergrund eine sehr schlechte und armseligeAngelegenheit ist.Ich glaube, eine Vielzahl von interreligiösen Konflikten in derVergangenheit rührten von der damaligen Lebensweise derLänder her. Früher war es doch oft so, daß Länder für sichlebten, mit ihrer eigenen Kultur, ihren eigenenLebensgewohnheiten und ihrer eigenen Religion. Anderswo

entfalteten sich wieder andere Religionen und Kulturen.Zwischen diesen verschiedenen Religionen und Kulturen gabes praktisch keinen Austausch. Früher konnten Länder relativautonom leben, ohne viele wirtschaftliche oder kulturelleBeziehungen. Deshalb hielt man am eigenen System, an dereigenen Religion fest. So kam es zu Konflikten mit derReligion oder der Kultur anderer Länder.Die Ursache der Konflikte liegt wohl darin, daß es zuwenigVerbindungen gibt, zuwenig Austausch zwischenverschiedenen Systemen und Religionen. Um eine persönlicheErfahrung zu schildern: Als ich vor meiner Flucht in Tibetlebte, gab es nur wenig Kontakte zu anderen Ländern, wenigVerbindung zu anderen Kulturen und Religionen. Das führtedazu, daß ich das Gefühl hatte, meine Religion sei die beste,keine andere besäße diesen Wert und zeige solch guteWirkungen. Als ich nach der Flucht mit Menschen andererReligionen zusammenkam, empfand ich dies anders. Icherlebte Menschen, die durch ihre Religion sehr positiveEigenschaften entwickelt hatten. Sie wandten ihre eigeneReligion an, setzten diese Geisteshaltung in die Tat um undübten ein ethisches Verhalten entsprechend ihren eigenenreligiösen Prinzipien. Diese positiven Eigenschaften erlebteman bei diesen Menschen ganz konkret. Wenn man nicht mehrvon den verschiedenen Theorien in den Schriften ausgeht,sondern von dem Resultat, das sich in der Ausübung derReligion zeigt, entwickelt sich eine immer tiefereWertschätzung der anderen Religion. Ich kam zu derÜberzeugung, daß es in jeder Religion möglich ist, einwirklich guter Mensch zu werden, wenn man die Lehrsätzedieser Religion anwendet. Durch diese Einsicht entsteht eineAchtung und eine Wertschätzung der anderen Tradition.Heutzutage werden die Verbindungen in der Welt immerenger. Nicht nur zwischen benachbarten Ländern, sondern

zwischen ganzen Kontinenten entstehen sehr starkeVerbindungen und Abhängigkeiten. Auch die Politik mußdiese Abhängigkeiten immer mehr beachten. In der Politikbeginnt eine großzügigere Geisteshaltung aufzublühen, eineoffenere Sicht gegenüber anderen Ländern und Ideologien.Früher beharrten die Staaten sehr stark auf ihrer Souveränitätund Einzigartigkeit. Heute hingegen spürt man immer mehr dieNotwendigkeit, eine größere Gemeinschaft zu bilden, um dieProbleme gemeinsam zu lösen. Das zeigt sich beispielsweise inWesteuropa sehr deutlich.Auch für die Religionen ist es nun die richtige Zeit, einegegenseitige Verbindung zu schaffen und sich kennenzulernen.Wie soll man aber mit den Unterschieden in den Religionenumgehen?Man muß sich fragen, wie es zu diesen Verschiedenheitengekommen ist. Bei den Menschen gibt es so vieleunterschiedliche Neigungen, Vorlieben und Veranlagungen.Eine einzige Religion könnte all diesen Veranlagungen undNeigungen der unterschiedlichsten Menschen kaum gerechtwerden. Deshalb sind die vielen verschiedenen Religionen mitden unterschiedlichen Philosophien und Ansichten sehrvorteilhaft. Selbst in einer einzigen Religion gibt esverschiedene Wege, verschiedene Anschauungen. Nehmen wirden Buddhismus: Obwohl diese Religion von einem einzigenLehrer, von Buddha, stammt, gibt es doch Aussagen, die sichauf den ersten Blick widersprechen. Ein Beispiel: Buddha hateinmal gelehrt, daß es ein Selbst gibt, und an einer anderenStelle sagte er, es gäbe kein Selbst. So finden sich eineVielzahl weiterer Aussagen, die sich auf den ersten Blickwidersprechen. Nur so konnte aber Buddha auf die vielenverschiedenen Neigungen und Anlagen der Menscheneingehen. Genau dasselbe gilt für die verschiedenenReligionen: Ihre Unterschiedlichkeit ist äußerst hilfreich. Es

gibt Religionen, die an einen Schöpfergott glauben. Manentwickelt hier den Glauben, daß alles Glück und Leid, dasman erfährt, von Gott stammt. Auf der anderen Seite existierenReligionen, die nicht an einen Schöpfergott glauben(beispielsweise der Buddhismus oder der Jainismus). Hier istder Mensch selbst für sein Glück und sein Leid in der Zukunftverantwortlich. Es gibt Menschen, denen der eine Glaube mehrhilft und eine größere Wirkung erzielt als der andere. Dennochsteuern beide auf ein einziges Ziel hin: ein besserer Mensch zuwerden, ein Mensch, der in sich Eigenschaften wie Liebe undMitgefühl entwickelt. Das ist das Ziel der verschiedenen Artenvon Glauben. Wenn nun der eine sinnvoller undwirkungsvoller ist als der andere, soll der einzelne Menschdoch die Möglichkeit haben, den Glauben zu leben, der für ihnder beste ist. Also ist es klar, daß es sehr vorteilhaft und sogarnotwendig ist, verschiedene Religionen zu haben. Es ist jaauch unmöglich, jedem kranken Menschen mit derselbenMedizin zu helfen. Unterschiedliche Kranke mitunterschiedlichen Krankheiten brauchen auch verschiedeneMedizinen.In den einzelnen Religionen sind ganz besondere undeinzigartige Wege entwickelt worden, die den Menschenhelfen, sich zu verbessern. Das ist etwas, was wir uns vorAugen halten müssen bei unserem gegenseitigenKennenlernen. Das Wesentliche in allen Religionen ist, daß derMensch durch die Ausübung seiner eigenen Religion einbesserer Mensch wird, d. h. daß er die Eigenschaften vonLiebe und Barmherzigkeit in sich entwickelt. Das ist daseigentliche Ziel aller Religionen. Es gibt zwar Unterschiede,wie zum Beispiel verschiedene Vorstellungen vom Paradiesund von der Befreiung, aber das sind Geringfügigkeitengegenüber dem eigentlichen, wesentlichen Ziel, das alle

Religionen verfolgen: die Entwicklung von Liebe undMitgefühl.So kann man sagen, daß die Besonderheiten, die es ineinzelnen Religionen gibt, die Sache des Individuums, desEinzelnen ist. Nur die Entwicklung von Barmherzigkeit,Mitgefühl und Liebe im eigenen Herzen ist das Ziel, das unsalle gleichermaßen angeht.Wenn wir einmal diese Vision von echter Liebe durch dieAnwendung unserer Religion entdeckt haben, dann können wirals einzelne Person in Ruhe mit unserem persönlichen Weg dasgemeinsame Ziel anstreben. Heiße das Ziel nun Befreiung oderParadies oder Himmel: Wenn wir diese gemeinsameGrundlage von Liebe außer acht lassen wollten und mit einemGeiste voller Haß und Ärger versuchen wollten, das Paradiesoder den Himmel oder die Befreiung zu erlangen, so wäre dasdoch unmöglich. Wenn wir ein echter Nachfolger, ein echterGläubiger sein wollen in unserer eigenen Religion, dannmüssen wir das Leben unseres Religionsgründers als Beispielnehmen. Betrachten wir nun die verschiedenen Gründer derReligionen, z. B. Buddha, Mahavira oder Jesus Christus unddenken an ihr Leben, dann sehen wir, daß es bei allen vontiefer Barmherzigkeit für die anderen Menschengekennzeichnet war. Alle haben ihr eigenes Glück völlig außeracht gelassen, um nur das Wohlergehen der anderen Menschenzu erreichen. Wenn wir nun als Nachfolger dieserReligionsstifter untereinander Streit und Krieg beginnen, dannstimmt das überhaupt nicht mit der Absicht und dem Leben derGründer überein. Dann ist es ein wirklich armseligesVerhalten, das wir an den Tag legen.Es gibt sehr viele Konflikte in der Welt, die aufgrundideologischer, finanzieller oder materieller Dinge entstehen.Selbst in der Familie gibt es immer wieder Konflikte undStreitigkeiten. Religionen sollten doch eigentlich als Mittel

dienen, diese Streitigkeiten und Konflikte zu besänftigen unddie verschiedenen Parteien zu beruhigen. Die Religionen redensehr viel von Vergebung, Geduld und Toleranz. Wenn nunMenschen die Religion als Mittel zum Streit statt zuKonfliktlösungen benutzen, so ist das für sie ein beschämendesZeugnis. Deshalb ist es wichtig, daß wir als religiöseMenschen versuchen, ein gutes Verhältnis zueinander zuschaffen und die Religionen als Mittel zu benutzen, Konfliktein der Welt zu lösen.

Dalai LamaGewaltlosigkeit und Weltfrieden

Ich möchte über Gewaltlosigkeit sprechen, über ihre Natur undihr Wesen. Was ihr Wesen angeht: Ich glaube nicht, daß manGewaltlosigkeit als bloße Abwesenheit von Gewaltbeschreiben kann, denn Gewaltlosigkeit ist eine bestimmteGeisteshaltung im Menschen. Ich betrachte Gewaltlosigkeit alseine geistige Eigenschaft, die stark mit Liebe undBarmherzigkeit verbunden ist.Es gibt verschiedene Verhaltensweisen. Es gibt ein Verhalten,das zwar nach außen freundlich wirkt, innen aber vonnegativen oder böswilligen Gedanken ausgeht. Auf deranderen Seite kann ein Mensch nach außen streng erscheinenoder gar zornig wirken, innerlich aber geht er von einerHaltung der Liebe und des Mitgefühls und von einemaltruistischen Gedanken aus. Deshalb ist Gewaltlosigkeitletztlich eine bestimmte Geisteshaltung, die auf die Motivationdes Menschen zurückgeht und nicht auf sein äußerlichesVerhalten. Man kann sogar sagen, daß Gewaltlosigkeit einAusdruck des Mitgefühls im Menschen ist. Gewaltlosigkeit istbesonders in unserer Zeit ein wichtiger Faktor. VieleMenschen denken, daß Gewaltlosigkeit und die damiteinhergehenden Eigenschaften von Liebe und Barmherzigkeitallein zur Religion gehören. Sie glauben, daß Gewaltlosigkeitnur für religiöse oder gläubige Menschen bestimmt ist. Demkann ich nicht zustimmen. Ich glaube, daß Gewaltlosigkeit,Liebe und Mitgefühl für die Zukunft der Menschheit überhauptentscheidend sind und deshalb nicht nur zur Religion gehörendürfen.Die Welt kann nur durch eine liebevolle und barmherzigeHaltung und somit durch Gewaltlosigkeit geschützt werden. Esist unmöglich, die Welt zu bewahren, wenn unsere innereHaltung von Haß und Gewalt bestimmt ist. Besonders heute,wo wir eine große materielle und technische Entwicklung

erleben und der Mensch große Macht in seiner Hand hält, istdie Geisteshaltung von Liebe und Gewaltlosigkeit wichtig.Deshalb sind Gewaltlosigkeit, Liebe und Mitgefühl nicht bloßmoralische Anliegen, sondern heute eine Überlebensfrage.Wir haben oft das Gefühl, Moral sei zwar gut – sie schaffeeinen besseren Menschen – , aber es ließe sich auch ohneMoral ganz gut leben. Gewaltlosigkeit darf heutzutage abernicht nur eine moralische Angelegenheit sein, denn schließlichgeht es um unser eigenes Überleben. Nur wenn wir eine Moralder Gewaltlosigkeit üben, können wir auf diesem Planetenüberleben. Unsere persönliche Lebensführung im Verhalten zuunserer Umwelt kann gewalttätig oder gewaltfrei sein. Wennwir bescheiden und vernünftig leben und den natürlichenRessourcen der Erde Sorge tragen, stehen wir im Einklang mitder Natur. Diese Art von Leben ist frei von Extremen. Wennwir uns so verhalten, können wir für lange Zeit glücklich aufdiesem Planet leben. Ein solches Leben ist auch eine Form vonGewaltlosigkeit. Verfallen wir in ein Extrem, achten nicht aufunsere Umwelt und beuten die Ressourcen der Erde immerweiter aus, dann entstehen neue Krankheiten und all dieProbleme, die wir so gut kennen. Wir üben damit eine Formvon Gewalt aus. Sicher kommen uns Zweifel. Es ist zwarschön, über Mitgefühl und Gewaltlosigkeit zu sprechen, aberist es auch möglich, sie in der Realität zu praktizieren?Für mich ist diese Frage so zu beantworten: Gewalt ist in dermenschlichen Geschichte immer wieder aufgetreten. Man kannsogar sagen, daß Gewalt ein Teil des menschlichen Verhaltensist. Wenn man aber die grundlegende Natur des Menschenbetrachtet, so scheint sie dennoch auf Liebe und Zuneigungbegründet zu sein. Die Natur des Menschen, sein eigentlichesWesen ist Liebe und Mitgefühl. Schauen wir das Leben einesMenschen von der Kindheit bis zum Alter und Tod an. Er ist

das ganze Leben lang von der Zuneigung anderer Menschenabhängig.Mediziner sagen heute, daß die ersten Wochen nach der Geburtausschlaggebend für die weitere Entwicklung eines Kindessind. Viele betrachten die liebevolle Berührung einer Person,beispielsweise der Mutter oder einer anderen Bezugsperson,als ausschlaggebenden Faktor für das gesunde Wachstum unddie Entwicklung des kindlichen Hirns.Betrachten wir den weiteren Werdegang eines Kindes. Wennein Kind in einer Familie aufgezogen wird, in der eineAtmosphäre von Zuneigung, Liebe und Mitgefühl herrscht, sobeeinflußt das die geistige Entwicklung dieses Kindes stark. Eswird körperlich gesünder sein und in der Schule besser lernenkönnen. Wächst hingegen ein Kind in einem Umfeld vonAbneigung, Streit und Haß auf, wirkt sich das negativ auf diegeistige Entwicklung und sogar auf die körperliche Gesundheitdes Kindes aus.Wir alle wissen aus eigener Erfahrung: Wenn wir in der Schuleoder in der Ausbildung von einem Lehrer getadelt wurden, deres gut mit uns meinte, hat das uns nicht verletzt. DieUnterrichtsstunden eines solchen Lehrers prägten sich tief inunser Gedächtnis ein. Wenn wir aber das Gefühl hatten, derLehrer sei mit Abneigung gegen uns erfüllt und habe uns nichtwirklich gern, dann werden seine Stunden nicht in unseremGedächtnis haften bleiben. Und das, obwohl es der gleicheUnterricht ist! Wir haben also ein natürliches Bedürfnis nachLiebe und Zuneigung, wir sind überall darauf angewiesen. Einnegativ eingestellter Mensch, der anderen Menschen Leidzufügt und sich verletzend benimmt, richtet auch in der Politikviel Unheil an. Tritt man aber diesem Menschen mit echter,offener Zuneigung und Liebe entgegen, wird auch in diesemunzufriedenen Gesicht eine innere Freude und einGlücksgefühl aufstrahlen. Meiner Meinung nach ist das ein

deutliches Zeichen für das tiefe Bedürfnis nach Liebe undMitgefühl im Grunde unseres Wesens.Als Neugeborene sind wir noch unbeeinflußt und frei vonIdeologien und Religionen. Nie sind wir aber frei von einemBedürfnis nach Zuneigung und Liebe.Mitgefühl bewirkt aber noch etwas anderes: Es stärkt den Geistund die Willenskraft. Wenn man mit Mitgefühl und Zuneigungauf einen anderen Menschen zugeht, wenn man ihm mit eineroffenen Haltung entgegentritt, dann wird ihm das Mißtrauengenommen. Es entwickelt sich eine harmonischeKommunikation mit der anderen Person, die auf Vertrauen undOffenheit basiert. Dadurch verschwinden Ängste aus derBeziehung. Für sich selber entwickelt man mehr Selbst-Sicherheit, Selbst-Vertrauen und Willenskraft.Wie bereits gesagt, stehen uns heute durch die technologischeEntwicklung mächtige Werkzeuge und destruktive Waffen zurVerfügung. Setzen wir dem Haß und der Böswilligkeit imMenschen nicht Liebe, Mitgefühl und Gewaltlosigkeitentgegen, dann können wir nicht verhindern, daß diesesdestruktive Potential eingesetzt wird. Aus diesem Grund gibtes für uns nur eine Alternative: den Weg der Gewaltlosigkeitzu gehen.In dieser Epoche haben wir erfahren, wieviel Leid die Waffenin unsere Welt tragen können. Wir wissen, welche Angst wirvor dem Einsatz dieser Waffen haben müssen. Aus dieserFurcht heraus hat sich ein tieferes Verlangen nach einemgewaltlosen Weg entwickelt. Betrachten wir dieVeränderungen in der Welt, von den Philippinen bis zu Chileund von Osteuropa bis in die Sowjetunion, so sehen wirstrenge, totalitäre Regimes zusammenbrechen. Wir sehen, wiedies durch das gewaltfreie Handeln der Menschen in diesenLändern geschieht. Sie erkämpfen sich ihre Freiheit auf derGrundlage von Liebe und Gewaltlosigkeit.

Sicher ist die Weltsituation heute ganz anders als früher,unsere Möglichkeiten sind gewachsen. Die Oktober-Revolution wurde einst mit Gewalt ausgetragen. Bei derjetzigen August-Revolution war nun das Gegenteil der Fall.Sie wurde mit dem Willen nach Freiheit und Demokratieausgefochten. Die Menschen standen ohne Gewalt für ihreIdeale ein. Als Zeichen dafür standen die Blumen, die in dieGewehr- und Kanonenläufe der Panzer gesteckt wurden. Dort,wo normalerweise die Kugeln herausgeschossen werden,steckten sie ihre Blumen hinein. Ein klares Symbol für dengewaltlosen Kampf nach Freiheit. Vor zehn Jahren habe ichmeine Gedanken in einer ähnlichen Weise vorgetragen. Ichhabe auch damals auf die Notwendigkeit von Liebe, Mitgefühlund Gewaltlosigkeit hingewiesen. Ich wurde vielleicht alsIdealist abgetan. Heute können diese Ideen nicht mehr einfachals purer Idealismus verurteilt werden. So denke ich, daß sichdie Welt geändert hat. Diese Veränderung wirkt sich in allenBereichen positiv aus. Wir Menschen erhalten die Gelegenheit,unser Leben auf ein echtes Vertrauen und auf Gewaltlosigkeitzu bauen. Natürlich gibt es in uns negative Emotionen, vonHaß und Abneigung bestimmte Gedanken. Diese können sichaber nur zerstörerisch auswirken, wenn wir ihnen dieentsprechenden Mittel, die dafür nötigen Waffen in die Handgeben. Um dieser Gefahr vorzubeugen, müssen wirgleichzeitig mit der inneren, geistigen Abrüstung eine äußereAbrüstung der Waffen vornehmen.Die Zeit für diese innere und äußere Abrüstung ist gekommen.Im Verhältnis zwischen Ost und West spielten nukleareWaffen eine große Rolle, für eine gewisse Zeit haben sie sogarden Frieden aufrechterhalten. Dieser Abschreckungsfriedenwar aber kein echter und dauerhafter Frieden. Diese Waffensollten jetzt abgeschafft werden.

Der Frieden zwischen Ost und West war ein Frieden, der aufFurcht begründet war. Er war durch gegenseitiges Mißtrauengeprägt. Für mich war dieser Frieden nicht echt. Der Frieden,der jetzt nach dem Fall der Berliner Mauer entsteht, wächst aufdem Boden von gegenseitigem Vertrauen. Ich betrachte ihn alseinen echten Frieden. Echter Frieden hängt stark mit derEntwicklung von Mitgefühl zusammen und ist auf die innere,positive Einstellung angewiesen.Unser Ziel sollte eine totale, weltweite Abrüstung sein. Wirsollten versuchen, dieses Ziel zu erreichen. Die echte undvollständige Abrüstung kann nur Schritt für Schritt erfolgen.Als erstes muß der Handel mit Waffen aufhören. Ich erachteWaffenhandel als äußerst schlecht und schändlich. Aus diesemGeschäft läßt sich zweifellos großer Profit schlagen. Geld kannman aber auch ohne Waffen machen. Die Japaner exportierenjedenfalls keine Waffen und verdienen dennoch viel Geld. Ineinem zweiten Schritt sollten alle Atomwaffen abgeschafftwerden. Anschließend könnten die anderen offensiven Waffeneliminiert werden, die Länder würden sich dann auf reineVerteidigung stützen. Später könnten alle nationalen Armeenabgeschafft werden. Sicher kann man davon ausgehen, daßunter den Milliarden von Menschen in der Welt einige Bösesim Sinn haben. Um diese im Zaum zu halten, könnteninternationale Truppen gebildet werden. Als Vorstufe dafürwäre es möglich, regionale Truppen zu bilden, die nicht zueinem bestimmten Land gehören.Als vor Jahren ernsthafte Gespräche vonAtomwaffenabrüstung begonnen haben, sagte mir ein Freundfolgendes: «Es ist leicht möglich, eine gegenseitigeWaffenkontrolle einzurichten, wenn der politische Wille dazuvorhanden ist. Fehlt es an politischem Willen, kann diese nieerreicht werden.» Aus diesem Grund werden kleineDifferenzen zu großen Streitpunkten aufgebauscht, damit

kaum überwindbare Hindernisse entstehen. Wenn eine echteAbrüstung in der Welt unser Ziel ist und wir ernsthaftversuchen, dieses Ziel Schritt für Schritt zu verwirklichen,dann müssen wir den politischen Willen dafür entwickeln. Erstdann haben wir eine realistische Chance, unser Ziel zuerreichen.Die Herstellung von Waffen nimmt viele Menschen inAnspruch und verbraucht unsere Ressourcen. Diemenschlichen Arbeitskräfte und die natürlichen Güter könntenfür andere, notwendigere Dinge eingesetzt werden. Es gibtgroße Unterschiede zwischen Arm und Reich, und das, obwohlwir auf einem einzigen Planeten zusammenleben. In einigenKontinenten, nehmen wir Afrika, sterben die Menschen anHunger und an Krankheiten wie AIDS. Auch umweltpolitischund ökologisch gibt es dort viele Schwierigkeiten. Dieseerfordern unseren Einsatz und alle finanziellen Mittel, die wirzur Verfügung haben. Wenn nun ein Großteil unserer Mittelfür destruktive Dinge wie Waffen verwendet wird, ist dasschlecht.Sie denken vielleicht, meine Worte seien vermessen. Ichglaube aber, daß es Millionen von Menschen auf der Welt gibt,die ähnliche Gedanken haben und diese ebenfalls zumAusdruck bringen wollen. Sie haben aber keine Stimme, um esauszusprechen. Deswegen will ich diese Gedanken im Namendieser Menschen vortragen. Durch die vielen Gleichdenkendenhabe ich das Selbstbewußtsein, dies alles auszusprechen. DerReligion kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Dieverschiedenen Religionen müssen ihre gemeinsameVerantwortung erkennen. Deshalb ist es wichtig, daß sie inHarmonie miteinander leben und miteinander sprechen. Sichergibt es große Unterschiede zwischen den Religionen, aberwenn man offen aufeinander zugeht und den Wunsch hat, sichehrlich auszutauschen und voneinander zu lernen, dann

entdeckt man viele Übereinstimmungen. Ich bin sicher, daßsich eine große gemeinsame Basis finden ließe. Die Religionenkönnten diese Basis in den Dienst der positiven Entwicklung inder Welt stellen.Auch wir Tibeter müssen und wollen einen Beitrag zurweltweiten Abrüstung leisten und die echteFriedensentwicklung fördern. Damit wir dieser Verantwortungnachkommen und durch unsere Kultur und Religion dieAufgabe erfüllen können, ist ein freies Tibet nötig. Dortkönnten wir diese Werte entwickeln und leben. Das Ziel vonmir und den Tibetern ist es, unser Land zu einem Gebiet desFriedens zu machen, zu einem freien Land, in dem dieMenschen auf der Basis ihrer religiösen und kulturellen Wertefriedlich zusammenleben. Wir wollen dieses Ziel auf demgewaltlosen Weg, auf dem Weg des Dialogs erreichen.Wir alle sind Menschen, wir leben zusammen auf diesemPlaneten. Deshalb haben wir alle eine Verantwortung für diepositive Entwicklung der Menschheit und für die Zukunftdieses Planeten zu tragen. Ich möchte Sie bitten, dieseVerantwortung zu tragen, sie wahrzunehmen und sich für dieguten Ziele der Menschheit einzusetzen.

Eugen DrewermannChristentum und BuddhismusLiebe ist stärker als Gewalt

Meine lieben buddhistischen und christlichen Schwestern undBrüder. So darf ich Sie anreden, denn das sind Sie infolge derTatsache, daß Sie alle sich dessen bewußt sind, daß wireintreten müssen in eine Weltgeschwisterlichkeit allerMenschen guten Willens, gleich welcher Religion, Konfessionoder, schlimmer, Ideologie. Meine Bekehrung zum BuddhismusUm die Wahrheit zu sagen, begann meine Bekehrung zumBuddhismus im Alter von 16 Jahren. Man diskutierte damals inder Bundesrepublik über die Wiederbewaffnung, und es wardie katholische Kirche, die vom Papst herab bis zum Vikarerklärte und zur Pflicht vorgab, daß kein Katholik ein Rechthabe, sich auf sein Gewissen zu berufen und den Wehrdienstzu verweigern. Ich wußte damals nicht, ob es einen Gott imHimmel gibt. Ich wußte nur: wenn es einen Gott im Himmelgeben würde, dann würde er dagegen sein, daß Menschen dasTöten lernen gegen Menschen.Ich litt damals an vielem: an der Not in Biafra, demMassenelend im Kongo und in Indien. Ich quälte michentsetzlich über den Anblick der Hasen und der Rebhühner, diein der Vorweihnachtszeit, blutig noch, von den Delikateßlädenausgehängt wurden, um Appetit zu machen und Festtagsfreudezu verbreiten. Und am allermeisten litt ich unter den Leuten,die an all dem überhaupt nicht litten und es ganz normalfanden und sich zuprosteten und lachten bei dem Gedanken,wie ein Lebewesen lebt von anderen Lebewesen und wie abund an Menschen zu Hunderttausenden andere Menschentöten, nur um den Verlauf einer Grenze festzulegen oder umdie Willkür der Mächtigen zu befriedigen.

Inmitten der katholischen Kirche gab es damals erlaubterweiseniemanden, der auch nur ein Problem darin gesehen hätte, daßdiese Welt so blutig und so roh ist wie der Schlachthof vonParis. Sie sahen Gottes Willen sich erfüllen in demMassenelend der Tiere, und sie sahen selbst in einemAtomkrieg gegen Rotchina oder Sowjetrußland einenmöglichen Ausweis des Gerechtigkeitswillens Gottes.Ich selbst aber empfand mich vollkommen allein mitten inmeiner eigenen mir angestammten Religionsform. Da gab eseine Wahrheit, eine menschliche Evidenz des Mitleids mit denTieren, mit den Menschen, aber es durfte sie nicht geben imNamen eines bestimmten Gottesbildes, nicht geben im Nameneiner bestimmten tradierten Theologie, nicht geben im Nameneiner ganzen Vielzahl für heilig gesetzter Autoritäten. Ich wardamals, wie gesagt, 16 Jahre alt, als ich beschloß, mir nichtlänger mehr religiöse Gefühle und moralische Klarheiten vonaußen vorschreiben zu lassen, und ich hatte keinen Geschmackmehr an einer Gemeinde von Gläubigen, diezusammengehalten wird wesentlich durch Angst, Anpassungund erzwungene Meinungskonformität. Ich wollte diesen Gottnicht, der mich zwang, meine besten Gefühle zu verleugnenund meine besten Gedanken zu ersticken, und ich fing an, eineGemeinschaft von Gläubigen zu hassen, deren Glauben nurlediglich in befohlener Gedankenlosigkeit und verordneterGefühlsabstumpfung zu bestehen schien.In diesem Durcheinander von Geist und Gefühl geriet ich anein kleines Büchlein, eine Auswahl der Schriften ArthurSchopenhauers, herausgegeben von Reinhold Schneider. Daschrieb in der Einleitung dieser große, leidende Dichter einesunleidlichen Katholizismus: Für Schopenhauer war es einArgument des Atheismus, einer Bettlerin ansichtig zu werdenauf den steinernen Stufen der Kathedrale von Lissabon. Odermitzuerleben, wie ein Eichhörnchen gejagt wird von einem

Bussard. Und am schlimmsten, hören zu müssen dasschmerzende Triumphgeschrei der Sieger auf denSchlachtfeldern Asiens und Europas, immer im Bewußtsein,dem Recht, der Moral und schließlich sogar Gott zum Siegverholfen zu haben.Es war das erste Mal, daß ich die Beseitigung bestimmterGottesbilder als eine innere Befreiung empfand, und ich wareiner Weltsicht dankbar, in deren Mittelpunkt die Frage nachder Erlösung von dem Leid der Kreaturen und demkreatürlichen Leiden stand. Ich freute mich für eine neuePerspektive der Weltbetrachtung, die es nicht mehr zu tun hatmit einem Bündel von Vorschriften über die Menschen, wohlaber mit einem grundgütigen Mitleid mit aller Kreatur. Es warzum ersten Mal für mich die Frage: Wie befreit man dieleidenden Kreaturen von den Bedingungen der Existenz unduns Menschen von den Bedingungen der kreatürlichenExistenz selber? Der Weg zur Lehre des Siddharta GautamaBuddha war nicht mehr weit.Noch heute hängen in meinem Arbeitszimmer diePhotographie einer Khmer-Plastik aus dem 11. Jahrhundert,entstammend dem Musée Guimet in Paris. Ein offenes,ruhiges, heiteres Menschenantlitz schaut da den Betrachter an,in einem Mandala aus Frieden und Versöhnung. Welch eineSehnsucht nach dem Buddha ergriff mich damals! Das war fürmich ein überwältigender Eindruck. Hier war es erlaubt nichtnur, hier war es ein selbstverständliches Gebot, universellesMitleid und universelles Wohlwollen zu hegen gegenüber allenLebewesen! Hier gab es eine Kultur des Nichtverletzens, desahimsa, der Gewaltlosigkeit. Endlich begegnete ich einerKultur, die nicht an den Rändern bestimmter Anweisungen,sondern in ihrem Zentrum den Gedanken und dasHandlungsprinzip des ahimsa pflegt, des Nichtverletzens,Tieren gegenüber, Menschen gegenüber, einer Gewaltlosigkeit,

die den Worten nach auch in der Bergpredigt betont wird, abernie wirklich die christlich-abendländische Kultur bestimmt hat.Da bildete die Friedfertigkeit des menschlichen Herzens unddas Verständnis der vielfältigen Gründe für Irrtum,Fehlidentifikation, Täuschung und Gewalt den Teil einererhabenen Weisheitslehre, die alle metaphysischen Theorienüber das Göttliche verabscheute, dafür aber die Wahrhaftigkeitund Lauterkeit des Lebens als den rechten Weg derWahrheitssuche erklärte. Da war es nicht nur erlaubt, sondernevidente Selbstverständlichkeit, ein universelles Mitleiden undMitfühlen gegenüber allen leidensfähigen Kreaturen zu pflegenund zu üben als eine alltägliche Meditation. Und ich begegnetein der Gestalt des Buddha einem Weisen, der hart gewordeneTheologenmeinungen als nutzlos betrachtete, dem es einzigdarum ging, die Wahrhaftigkeit des menschlichen Lebens zupflegen durch eine ruhige Aufklärung der falschenIdentifikationen, des inneren Trugs der Weltwirklichkeitgegenüber, der vielfachen Täuschungen unserer Sinne, derimmer bereit war zu verstehen statt zu verurteilen, zuberuhigen, statt aufzuregen, und zu suchen. Es war eineWahrheit, die so offen noch nie vor Menschenaugen lag.Buchstäblich nahm ich damals meine Zuflucht zum Buddha,zum dhamma, zu seiner Lehre. Und daß ich bis heute,unentschlossen, meine Zuflucht nicht nahm zum sangha, zurbuddhistischen Gemeinde, liegt einzig an der Überzeugung,daß es fast gleichgültig sei, welch einer Religionsform jemandäußerlich zugehört, wenn er denn sie nur lebt. Und dieGewißheit ist mir geblieben. Wir, die wir uns Christen nennen,müßten weit buddhistischer werden, um christlicher zu sein.Das Umgekehrte mag ich aus eigener Erfahrung so nichtsagen. Ich hege freilich die Vermutung, daß es auch stimmtund jedenfalls im Sinn des Dalai Lama gesprochen ist: Manmüßte christlicher sein, um noch besser Buddhist zu werden.

Wie verhält es sich mit der Gutgläubigkeit der tibetanischenLa-maisten, die ihr friedliches theokratisches Priesterreich imErbe der weisen Lehre des Buddha durch ein Leben inAbgeschiedenheit und Stille aus den Händeln der Weltpolitikherauszuhalten suchten? Der Dalai Lama wollte selbst nachdem erbarmungslosen und machthungrigen Einfall derRotchinesen nicht daran glauben, daß der große VorsitzendeMao Tse-tung, den er so oft persönlich gesprochen hatte, denBefehl zur Invasion und zur systematischen und konsequentenZerstörung der buddhistischen Religion und Kultur in Tibetgegeben haben könnte. Aber es war so.Im Jahre 1962 war es, daß ich das Buch seiner Heiligkeit, desDalai Lama: My Land and my People (New York, 1962; dt.:Mein Leben und mein Volk. Die Tragödie Tibets, München-Zürich 1962), in die Hand bekam. Darin beschreibt er auseigener Anschauung, wie durch die rotchinesischenOkkupanten ein ganzes Volk kulturell und ethnisch verwüstetund vernichtet werden soll, wie man die Klöster plündert, dieMönche schändet und beginnt, das Volk im Geiste desLeninismus und Marxismus umzuerziehen. Am 9. September1959 schrieb der Dalai Lama von Neu Delhi aus an denGeneralsekretär der UNO folgende Worte:«Exzellenz! Wir beziehen uns höflich auf den Beschluß desLenkungsausschusses der Vollversammlung der VereintenNationen vom Freitag, dem 24. November 1950, daß dieBehandlung der Klage von El Salvador wegen ‹Invasion Tibetsdurch ausländische Kräfte› zurückgestellt werden sollte, umden Parteien Gelegenheit zu einer friedlichen Regelung zugeben. Mit tiefstem Bedauern muß ich Sie davon in Kenntnissetzen, daß der Akt der Aggression wesentlich ausgeweitetworden ist mit dem Ergebnis, daß praktisch ganz Tibet durchchinesische Streitkräfte besetzt ist… Unter diesen Umständenund in Anbetracht der unmenschlichen Behandlung und der

Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Religion, denendas tibetische Volk unterworfen ist, bitte ich um sofortigeIntervention… Sie (sc. die Chinesen, d.V.) haben Tausendenvon Tibetern ihre Habe weggenommen, haben sie desLebensunterhaltes beraubt und sie so in Tod und Verzweiflunggetrieben… Männer, Frauen und Kinder sind inArbeitsgruppen gepreßt und gezwungen worden, ohneBezahlung oder mit einer Bezahlung, die eine solche nur demNamen nach ist, an militärischen Bauten zu arbeiten… Siehaben grausame und unmenschliche Maßnahmen ergriffen zudem Zweck, Männer und Frauen zu sterilisieren in der Absicht,die tibetische Rasse vollkommen auszulöschen… Tausendeunschuldiger Menschen in Tibet sind brutal umgebrachtworden… Viele führende tibetische Bürger sind ohne Ursacheund Rechtfertigung ermordet worden… Es ist jeder denkbareVersuch gemacht worden, unsere Religion und Kultur zuvernichten. Tausende von Klöstern sind dem Erdbodengleichgemacht, heilige Bilder und Kultgegenständevollkommen zerstört worden. Leben und Eigentum sind nichtmehr sicher, und Lhasa, die Hauptstadt des Staates, ist einetote Stadt. Die Leiden, die mein Volk erduldet, sindunbeschreiblich, und es ist dringend notwendig, daß dieseabsichtliche und rücksichtslose Ausrottung meines Volkesunverzüglich beendet wird.»Da Tibet kein Mitglied der UNO war, ging die barbarischeAnnexion Tibets die Vereinten Nationen auch nichts an, undbald schon einigte man sich politisch auf die Meinung derrotchinesischen Propaganda, daß Tibet ein altes chinesischesKulturland sei und man es einer werdenden Großmacht beidem großen «Sprung nach vorn» nicht verwehren könne, dieLeerräume ihrer Interessengebiete zu besetzen. Noch neunJahre später blieb das Bittgesuch des Dalai Lama an die UNOungehört. Im nepalesischen Kathmandu, im indischen Benares

und in der Schweiz kann heute der westliche Reisende dieversprengten Flüchtlinge des letzten Reiches ohne Waffenbesichtigen, die aussterbenden Zeugen der immer wiederbewiesenen menschlichen Unfähigkeit, das menschlichWertvolle und Kostbare, wo schon nicht nachzuahmen, sodoch wenigstens zu respektieren und zu schonen.Der Dalai Lama ist das geistige und weltliche Oberhaupt derTibeter. Gerade das ist er im Sinne seiner eigenen Religion.Der Buddhismus hat die Doppelzüngigkeit undDoppelbödigkeit zwischen Weltlichem und Geistigem nieverstattet, mit der wir im Christentum an einem Sonntag imJanuar des Jahres 1991 beten können für den Frieden, um amDonnerstag der gleichen Woche amtlicherseits kirchengemäßzu erklären, daß ein Krieg, der Hunderttausenden vonMenschen das Leben kosten wird, rechtens undunausweichlich ist.Seit den Tagen des Kaisers Ashoka (272 vor Christus) hat derBuddhismus es vermocht, die Mächtigen und Regierenden indie Pflicht zu nehmen, daß sie der Gewalt abschwören unddem Prinzip des ahimsa bedingungslos sich verpflichten. Dannaber müssen wir wählen und müssen uns fragen, woran wirwirklich glauben: an die Macht des Geldes oder an die Machtdes Geistes. Ihr könnt nicht Gott und des Mammons Knechtesein, heißt es in der Bergpredigt.Als 1983 seine Heiligkeit, der Dalai Lama, nach Müncheneingeladen werden sollte zu einer Veranstaltung, wurde aus derStaatskanzlei in München unter Federführung von F. J. Straußumgehend die Einladung storniert. Man fürchtete sich, denprosperierenden Handel mit Rotchina in Einbuße laufen zusehen. Wir könnten vom Buddhismus lernen, daß man wederdas Herz noch die Zunge eines Menschen spalten darf, wennman wirklich dem Wohl der Menschen dienen will. Als derBuddha zur Welt kam – er war die irdische Inkarnation des

Bodhisattva Avalokiteshvara, des «Herrn, der gütigherabblickt» – , ward ihm verkündet, daß er zwischen zweiWegen werde sich entscheiden müssen: entweder er werdegroß sein an Macht als König oder groß sein an Weisheit alsLehrer der Menschheit – der Weg zur Güte, der Weg zurWahrheit ist anscheinend nicht vereinbar mit dem Weg derMachtgewinnung und der Machtausübung.Ich bin sehr glücklich, erleben zu können, daß seine Heiligkeitacht Jahre später in Zürich sprechen durfte. Und ich glaube, inIhrer aller Namen zu sprechen, wenn ich seine Heiligkeit, denDalai Lama, frage: Was ist mit Deinem Volk, ihm versichernzu können glaube: Wir, die wir hier sind, werden unserMögliches tun, gleich an welchem Platz, geltend zu machenden Freiheitsanspruch des tibetischen Volkes, ob in der Schrift,ob in der Predigt, ob in der Politik, ob in den Zugangswegender Wirtschaft: mächtig ist ein Volk, das weiß, was es will, undohnmächtig sind die Tyrannen. Es ist altasiatische Weisheit:Das Wasser ist stärker als der Stein.Insofern möchte ich in dieser Feierstunde, in diesemGottesdienst, seiner Heiligkeit, dem Dalai Lama, von Herzendanken für ein jahrzehntelanges Beispiel eines Führertums desGeistes, seines Adels an Weisheit und seiner Güte undGelassenheit angesichts seines Volkes im Elend und Exil, inUnterdrückung und Heimatlosigkeit, in Entrechtung unddespotischer Abhängigkeit. Ich danke ihm für die Art undWeise, wie er mit einer fast kindlichen Güte, Freundlichkeit,menschlichen Wärme, einem unglaublichen Charme zumMissionar des Lebens wird, quer durch Europa. Wir dankenihm vor allem für die stille Geduld und die hoffendeGelassenheit in all diesen Jahren des Schreckens, und wirlernen, daß es auf der Höhe des Himalaya möglich war, eineReligion und Kultur des langsamen Reifens zu errichten, dieintegrierend, nicht dissoziierend auf die Psyche des Menschen

wirkt, die die Gewalt verabscheut und die es erlaubt, das Glückeines Menschen zu definieren als eine wohlgelungeneMischung aus Friedfertigkeit und Güte, aus Engagement,Ruhe, geistiger Klarheit und sich verströmender Liebe.Das Zentrum jeder Religion ist das Gebet. Und so möchte ichdie Probe aufs Exempel machen, inwieweit es uns gelingenmag, als Buddhisten und als Christen das Herzstückchristlichen Gebetlebens, das «Vater unser», so zu sprechen,daß es gemeinsam sagbar und sprechbar wird, daß es als einegemeinsame Sehnsucht und Hoffnung aller Menschen gutenWillens erfahrbar wird. Denn dies darf nicht mehr sein, daßsich im Namen Gottes die Betenden, wo sie doch nichts sindals Schwestern und Brüder, untereinander teilen in getrennteLager. Es darf nicht länger mehr sein, daß unser Sprechen vonGott als Vater aller Menschen trennend wirkt zwischen all denKindern Gottes. Wie auch immer wir über die Wahrheit undden Inhalt der verschiedenen Religionsformen denken – wenneine Wahrheit in ihnen lebt, so ist es eine Wahrheit, die injedem Menschen schlummert, die aber nur durch Güte,Menschlichkeit und Sanftmut gefunden und entfaltet werdenkann. Jesus wollte keine neue Religion gründen; was er wollte,nicht anders als der Buddha, war die erlösendeVermenschlichung jeder Religiosität. So laßt uns in diesemSinne das Vaterunser betrachten.

Das Vaterunser∗Buchstäblich in der Mitte der Bergpredigt (Mt 6,9-15) stehtdieses «Gebet des Herrn», das man nicht «auslegen» kann,sondern nur mitvollziehen, nur mitmeditieren. Ein Gedichtkann man nur auslegen durch ein Gedicht, ein Lied nur durchein Lied, ein Gebet nur durch ein Gebet. Das Vaterunser läßtsich nicht interpretieren, indem man es satzweise und Wort fürWort seziert, analysiert und kommentiert, man muß es, willman es verstehen, sich noch einmal vorsprechen, wie seitKindertagen immer wieder, und es in Verbindung setzen zuden Szenen und Bildern, in denen es sich am meistenbewahrheitete und bewährte. Versuchen wir also, das Gebetdes Herrn gemeinsam nachzubeten. Unser Vater, himmlischer DuSo dürfen wir Dich nennen, Du Antwort auf die Fragen derVerzweifelten, Du Trost der müde Gerufenen, Du Licht derSeelenumdüsterten, Du Halt der zu Boden Gesunkenen, DuGeländer am Steg, Du Brücke über dem Abgrund, Duunsichtbare Hand, die den Vogel im Nest birgt, den Fisch aufdem Grund, den Hamster in der Höhle, Du Kraft derSchöpfung, die sich regt in allem und die sich birgt in allem,Du übergroße, un-auslotbare, Du rätselvolle, schrecklicheWirklichkeit hinter der widersprüchlichen Fülle der∗ In Zürich vorgetragen und entnommen: Eugen Drewermann, DasMatthäusevangelium. Bilder der Erfüllung. Erster Teil, S. 526-533 (ohnedie wissenschaftlichen Anmerkungen), Walter-Verlag 1992.

Erscheinungen – Dich nennen wir Vater in unserer Einsamkeit,auf Dich vertrauen wir in unserer Ausgesetztheit. Du machstdiese flüchtige Welt zu unserer Heimat, Du schenkst unsKindern des Exils eine Stätte der Zuflucht; zu Dir blicken wirauf, denn in Dir gewinnen wir Richtung und Weite. Soüberlegen bist Du und unerreichbar, so hoch über allem, wasuns umgibt – ja, himmlischer Du, so nah wie der Atemwindund so fern wie die Sterne, nie Greifbarer und doch stetsGegenwärtiger, Du Träger aller Namen und Begriffe, DuEinheit aller Worte und Gedanken, Du schweigend Redender,himmlischer Vater Du, mach uns zu Deinen Kindern. Denn nurein Teil sind wir in Deinem All, verflochten unauflöslich einermit dem anderen; laß uns eins sein, Du unser Vater; mach, derDu in den Himmeln bist, die kleine Erde zu der WohnstattDeiner Kinder. Geheiligt werde Dein Name (was Du bist, das gelte)Denn nur Du bist, und alles neben Dir verdankt sich DeinerMacht und Deiner Güte; es ist nur als Gedanke DeinerWeisheit und nur als Wort aus Deinem Munde. Drum nenntund rühmt Dich alles durch die Gnade seiner Existenz undträgt in sich das unauslöschliche Gedächtnis seinesHerkommens von Dir. Aus Dir ist es hervorgegangen, zu Dirkehrt es zurück, Du Majestätischer, Du Unabweisbarer, DuEinziger. Dich anzurufen macht den Kranken heil, an Dich zudenken gibt dem Armen Größe, sich Deiner zu erinnern ordnetunser Leben. Von Deiner Wirklichkeit empfängt unsereSchwachheit Stärke, in Deinem Namen richten wir uns auf.Denn weil Du bist, vergeht der Nebel falscher Götzen,versprüht der Gischt der angemaßten Götter, im SchimmerDeines Lichtes fällt der Glanz der Ewigkeit über das

Schattendasein, das wir sind. Du sprichst Dich aus in allemLebenden, Du singst Dich aus im Tanz der Sphären, Du sagstDich aus in allen Fröhlichen, Du klagst Dich aus in allenLeidenden. Du Sehnsucht unseres Suchens, Du Stille unseresStrebens, Du Friede unseres Forschern, erfülle uns mit demGefühl der Heiligkeit und Unantastbarkeit der sonderbarenSchönheit Deiner schützenswerten Welt. Dein Reich komme (was Du wirkst, das komme)Denn was Du bist und wirkst, Dein Reich, das sind dieGalaxien und die Sternenhaufen, das sind die Fixsternsonnenund Planeten, Dein Reich, das sind die Wolken und die Meere,die Berge und die Seen, das sind die Wälder und die Wüstenaus Eis, aus Sand und Salz. Du herrschst im ruhelosen Wogender Gezeiten, Du wirkst im Aufbau der Kristalle, Du formstDich in den Mustern einer Austernschale, Du regst Dich in denGliederfüßchen einer Krabbe, Du schaust uns an imneugierigen Blick des Rhesusäffchens, Du bist die Zärtlichkeit,mit der ein Kätzchen seine Jungen leckt, Du bist die Kraft, mitder die Löwin ihre Beute reißt. Dein Reich ist Liebe, Ordnung,Weisheit und oft schier unbegreifbare Gleichgültigkeit undGrausamkeit; in Dir fügt sich zusammen, was, wenn wir essehen oder tun, sich immer wieder widerspricht. Denn Duherrschst ganz aus innen, und Deine Macht ist in das Wesenaller Dinge eingeschrieben. Dein Reich, das ist derFreiheitswille der Geschändeten, das ist der Ruf nachGleichberechtigung im Mund der Menschen, die als «Farbige»geächtet werden, das ist der Zorn der Kriegsversehrten und derHinterbliebenen, Dein Reich, das ist die mutige Empörung derin Lohnabhängigkeit Versklavten, das ist die Rebellion derewig Ausgebeuteten, das ist der Streik der seelisch ebenso wie

körperlich am Arbeitsplatz Zerbrochenen. Dein Reich, das istzu kämpfen um die Würde jedes Menschen und um dasDaseinsrecht selbst des geringsten Teiles Deiner Schöpfung.Dein Reich, das ist die Wahrheit, die wir deutlich fühlen.Darum: Zerbrich das Lügenreich, in welchem Menschen überMenschen herrschen, vereitle die Eitelkeit der Mächtigen,nimm weg aus unseren Herzen die angstgeduckte Fügsamkeit,die falsche Anpassung, den Untertanengeist des faulen,kopfnickenden, selbstverlorenen Gehorsams. Verteidige DeinEbenbild in uns und: schenke uns die Kraft, nichts Gott zunennen neben Dir. Dein Name, Deine Wirklichkeit, DeinWesen sei das einzige, das gilt. Denn nur wo Du herrschst,werden Menschen groß. Kein Reich der Erde, das sich aufnichts weiter gründet als auf Waffen, Geld und Arroganz,beherrsche fortan unsere Herzen. Herr bist nur Du, Du einzigZuverlässiger, Du einzig Dauerhafter, Du Ziel der Hoffnungaller Menschen – Dein Reich komme! Dein Wille geschehe (was Du willst, geschehe) wie im Himmel so auf ErdenDenn was Du willst, ist das verborgene Gesetz im Innerstender Dinge. Du bist die reifende Gestalt im Herzen einer Rose,Du bist die leise Schwingung einer Kompaßnadel, Du bist dasHeimweh einer Schwalbe, die nach Süden fliegt, Du bist dasGleiten einer Möwe vor dem Sturm; Du bist der Silberscheinüber dem Meer im Sonnenuntergang, Du bist der Regenbogenin den Wolken, Du bist der Perlentau im Herbst aufSpinngeweben, Du bist der Fleiß und die Genauigkeit derRibosome in den Zellen. Du bist, Allmächtiger. Was Du willst,ist, und wieder formt sich, was Du willst, aus Deinem freienSpiel der Kräfte in den Dingen. Gleißendes Licht über demHorizont, Verschmelzungspunkt von Meer und Himmel, o


Like this book? You can publish your book online for free in a few minutes!
Create your own flipbook