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Leseprobe Amalias verzauberter Spiegel

Published by mvm007, 2020-03-29 15:52:56

Description: Leseprobe Amalias verzauberter Spiegel

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Amalias verzauberterSpiegel Stefanie Baier

Impressum: © 2020 Parker Verlag Alle Rechte vorbehalten. www.parker-verlag.de Layout, Satz und Einbandgestaltung: MvMDesign, www.mvmdesign.de 1. Auflage Gedruckt in Deutschland ISBN 978-3-00-065169-4





Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Geboren um zu leben. . . . . . . . . . . Seite 1 Kapitel 2 Geburtstag mit unerwarteten Hindernissen. . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 47 Kapitel 3 Gefangen zwischen den Welten. . . Seite 99 Kapitel 4 Eine große, unsterbliche Liebe. . . Seite 148 Kapitel 5 Der Angrif auf Auremoor . . . . . . . Seite 183 Kapitel 6 Dem Sieg so nahe. . . . . . . . . . . . . Seite 241 Kapitel 7 Der verzauberte Spiegel . . . . . . . . Seite 300 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 325



GeborenK,aupimtel 1zu leben „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, dachte Joanna traurig. Diese Stille. Niemand würde heute zum Gratulie- ren vorbeikommen. Was für ein einsamer Tag. So hatte sie sich ihren 17. Geburtstag nicht vorgestellt. Was wohl ihre Eltern gerade taten? Was für Ängste muss- ten sie immer noch durchstehen? Glaubten sie überhaupt noch daran, dass sie am Leben war? Würde ihre Mutter auch heute, in der Hoffnung, dass sie plötzlich wieder da war, ihren Lieblingskuchen backen? Nachdenklich saß Joanna auf einem Stein, fuhr sich durch ihr braunes, schul- terlanges Haar und ließ ihre Gedanken kreisen. „Du kannst jederzeit gehen. Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst“, durchbrach eine schneidende Stimme die Stille. Joanna hasste nicht nur sie, sondern auch die dazu gehörige verachtende, niederträchtige und widerwär- tige Person. „Das würde Ihnen so passen“, entfuhr es ihr wütend. „Du bist noch so jung. Willst du wirklich bis zu deinem Lebensende an mich gebunden sein?“, hallte die spöttische Frage zu ihr. „Um meine Freunde in Sicherheit zu wissen, bin ich für dieses Opfer bereit.“ „Sind sie das wert? Würden sie das gleiche auch für dich tun?“, bohrte die Stimme weiter, um sie zu verunsichern. „Ich bin kein Monster wie Sie. Oder sollte ich besser sa- Seite 1

gen, kein Verräter? Ich wäre nie so charakterlos! Deshalb habe ich Freunde, auf die ich mich immer verlassen kann. Im Gegensatz zu Ihnen.“ Joanna schäumte vor Wut und sprang auf. Am Liebsten würde sie diesem Verräter das Herz herausreißen, doch das würde auch ihr Ende bedeu- ten. „Es wird der Tag kommen, an dem du mich gehen lässt“, beharrte er mit selbstsicherer Stimme. „Niemals!“, schrie sie. „Ich bin bereit, mein Leben für Tau- sende von Menschen zu opfern. Sie hingegen vernichten lieber Tausende!“ Joanna fröstelte es auf einmal. Wie viele Stunden war sie schon hier unten? Sie rieb sich die Hände und hauchte sie an. Ihre Leuchtkugel erhellte nur einen kleinen Teil der Höhle, spendete aber keine Wärme. „Wie wäre es mit einem Feuer“, schlug der Verräter herab- lassend vor, „bevor du erfrierst?“ „Wenn Sie dieses Schicksal ereilen würde, hätte ich ein Problem weniger“, sprach sie laut in seine Richtung. „Ich werde dich nicht daran hindern, aber wir wissen beide, dass du nicht den Mut dazu hast, denn das würde auch deinen Tod bedeuten! Hast du das vergessen?“ „Sie zweifeln meinen Mut an?“ Joanna portierte sich aus der Höhle und war einen Moment später mit einem klei- nen spitzen Ast zurück. „Damit willst du ein Feuer machen?“, kam es höhnisch. „Sind Sie sich da so sicher?“ Den spitzen Ast auf ihr Herz gerichtet, sah Joanna dem Verräter, der seine Kapuze wie Seite 2

immer tief ins Gesicht gezogen hatte, hinter einer un- sichtbaren Mauer an. Joanna hatte ihn mit einem Barrie- rezauber dahinter eingesperrt und wartete mit mulmigem Gefühl auf seine Reaktion. „Das wirst du nicht wagen.“ Etwas verunsichert blickte der Verräter unter dem Rand seiner Kapuze hervor. So sicher war er sich jetzt wohl doch nicht mehr. „Wenn du das tust…“ „Was dann? Bringen Sie mich um? Ich werde das für Sie übernehmen.“ Noch bevor der Verräter etwas sagen konnte, rammte sie sich den Ast in ihr Herz und brach zusammen. „Sag den Zauber!“, befahl er ihr und trommelte heftig gegen die unsichtbare Mauer. Einen Augenblick später spürte er auch einen starken Schmerz im Herzen. Un- gläubig fasste er an die Stelle und fühlte, wie sein Hemd immer feuchter wurde. Er fiel auf die Knie. Er hob seine Hand und sah das Blut, das unaufhaltsam strömte. Joanna spürte, dass sie langsam das Bewusstsein verlieren würde. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. „Wo befindet sich Taronia mit dem Spiegel?“, fragte sie ihn schwer atmend. „Das werde ich dir nicht sagen!“ „Dann werden wir hier und jetzt sterben.“ Joanna konnte ihre Augen kaum mehr offen halten und drohte das Be- wusstsein für immer zu verlieren. Auch er fühlte, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde. „Heile dich!“, schrie er. Seite 3

„Joanna, er ist es nicht wert“, konnte sie, wie aus weiter Entfernung, die eindringliche, aber sanfte Stimme ihrer Großmutter wahrnehmen. Sie kniete neben ihr nieder und hielt ihren Kopf. „Sprich sofort den Zauber, um die Blutung zu stoppen. Du wirst noch gebraucht! Meine Magie hat bei dir keine Wirkung.“ Sie zog den spitzen Ast aus ihrem Herz und die Atmung wurde schlagartig wieder regelmäßiger. Gedank- lich sprach Joanna mit letzter Kraft den Zauber. „Ich hoffte so sehr, dass er mir den Ort verraten würde“, schluchzte sie verzweifelt und Tränen kullerten über ihre Wangen. „Die Lösung ist so einfach. Lass mich frei und du kannst zu deinen Eltern zurückkehren“, hauchte der Verräter noch geschwächt, aber arrogant. „Sie werden diese Höhle nicht lebend verlassen. Das schwöre ich Ihnen“, drohte Joanna ihm mit bebender Stimme. „Sich an seinem 17. Geburtstag das Leben zu nehmen, ist bestimmt auch nicht die Lösung deiner Probleme“, warf Amalia ein, die bald 18 Jahre alt werden würde. „Woher weißt du, wann ich geboren bin?“ Erstaunt blickte Joanna sie an. „Ich habe dir vor zwei Tagen einen Wahrheitstee zusam- mengebraut. Die besonderen Kräuter dazu habe ich aus dem Kräutergarten unserer Schule gepflückt“, gab Amalia kleinlaut zu. „Gestohlen wolltest du sagen“, berichtigte Joanna sie. Seite 4

„Erwischt!“, gab ihre Großmutter mit einem Lächeln zu. „Nachdem du ihn getrunken hattest, warst du wie in Trance und ich hatte ein paar Minuten Zeit, um…“ „Um mich auszuspionieren“, unterbrach Joanna sie vor- wurfsvoll. „Aber woher kennst du die Zutaten, die man dafür braucht? Der Zauber fällt unter die Rubrik Verbote- ne Zaubersprüche.“ „Ich habe gespürt, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt und habe überlegt, wie ich herausfinden kann, was dich bedrückt. Und gestern fand ich zufällig in meinem Ge- schichtsschulbuch einen Zettel, auf dem alle Zutaten standen, die ich für diesen Zauber benötigte.“ „Zufällig? Ich glaube, dass jemand deine Gedanken ge- lesen hat und dir daraufhin diesen Zettel heimlich zu- kommen ließ. Hast du eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?“ „Nein!“ Amalia überlegte fieberhaft, aber es fiel ihr nie- mand ein. „Wobei es schon merkwürdig ist. Es tut mir leid, aber es war die einzige Möglichkeit. Den Gedankenlese- zauber beherrsche ich leider auch noch nicht, so wie einige andere verbotene Zaubersprüche“, begann sie auf einmal zu flüstern. „Ein gewisser Jemand wird sie mir hoffentlich bald alle beibringen.“ Amalia musste sehr vorsichtig sein, was sie in der Gegenwart des Verräters sagte, um nicht den Namen des Professors preiszugeben. „Das wird er“, bestätigte Joanna leise und versuchte aufzu- stehen. „Ihr zwei hinterlistigen Hexen! Was wollt ihr mir verheim- Seite 5

lichen?“, trommelte der Verräter erbost gegen die unsicht- bare Mauer. „Das geht Sie nichts an“, rief Amalia wütend und half Joanna hoch. „Wieso willst du Tag und Nacht hier unten bei ihm bleiben? Du musst mal wieder ans Tageslicht. Oder hast du Angst, er würde dir entkommen? Mach dich unsichtbar und komm zu mir nach Hause. Du kannst den dort …“ Dabei deutete sie auf den Verräter. „ … täglich etwas zum Essen zaubern. Mehr Zuwendung hat er nicht verdient.“ „Vielleicht hast du Recht. Gemütlich ist was anderes.“ Jo- anna hob ihren Zauberstab auf und verstärkte den unsicht- baren Barrierezauber. „Man weiß ja nie.“ Doch bevor beide verschwanden, flüsterte ihre Großmut- ter ihr noch etwas ins Ohr. „Versprich mir bitte, niemals meinen Ring abzulegen. Er ist deine einzige Möglichkeit, andere mit dieser schwarzen Magie aufzuhalten oder sie sogar zu töten. Deine eigene Magie funktioniert nur bei dir. Denk immer daran.“ So ließen sie den verärgerten, frustrierten Verräter alleine. An der Oberfläche angekommen, blieb Joanna weiterhin unsichtbar. „Was wünscht du dir eigentlich zum Geburtstag?“, fragte Amalia ihre Enkelin. „Dass unsere Freunde bei uns sind, wäre mein größter Wunsch.“ Sehnsüchtig blickte Joanna in die Ferne. „Das sind sie in gewisser Weise ja, auch wenn es keine Aufmunterung für dich sein wird. Ihre Doppelgänger leben Seite 6

unter uns.“ „Die mich noch nie zuvor gesehen haben, vergiss das nicht. Patrick ist der Einzige, der mich kennt, aber er wurde noch nicht geboren. Dafür begegnet mir jeden Tag sein Großva- ter.“ „Sie werden dich sowieso nicht sehen, da du unsichtbar bist“, erinnerte Amalia sie. „Übrigens, magst du Robert?“ Ein bisschen eifersüchtig war sie schon auf Joanna. Sah sie in ihr etwa eine Konkurrentin? „Da kann ich dich beruhigen. Er ist nicht mein Typ“, ant- wortete Joanna. „Dafür sein Enkel und Andrew. Ich weiß, dass du beide magst.“ „Moment! Wie kommst du darauf, dass ich Patrick mag?“ „Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, bevor er versuchte, A­ ndrew zu ermorden“, meinte Amalia. Joanna überlegte, woher Amalia das mit dem Angriff in der Scheune wissen konnte. „Hat mir Andrew erzählt“, half Amalia ihr auf die Sprünge. „Du magst ihn ebenfalls und Robert. Wie du siehst, haben wir einiges gemeinsam. Wir lieben beide zwei Männer“, gestand Joanna. Denn tief im Inneren fühlte sie sich auch zu Patrick hingezogen, obwohl er Andrew das angetan hatte. „Selbst, wenn wir uns für einen von beiden entscheiden, werden wir am Ende die Verlierer sein.“ „Wie meinst du das?“ Joanna schaute sie fragend an. „Ich habe Auremoor verlassen und somit Robert und Seite 7

A­ ndrew zurückgelassen. Du wirst eines Tages wieder in deine Welt gehen, sofern alles nach Plan verläuft und ­Patrick und Andrew zurücklassen.“ „Wieso sollten beide nicht mitkommen wollen? Patrick kann sogar mit seiner Familie in London in einem eigenen Haus leben.“ „Joanna! Erstens: Niemand darf erfahren, dass sie Tele- porter sind. Zweitens: Wenn irgendjemand von den Men- schen in Gefahr sein würde, dürften weder Patrick, noch seine Familie eingreifen, um zu helfen. Sonst würden sie sich verraten. Hast du darüber schon einmal nachgedacht? Drittens: Wie soll Andrew ohne Schutzzauber in London überleben? Glaubst du deine Magie wird ausreichen, um einen Zauber über diese Stadt zu legen?“ „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, gestand Joanna. „Er würde verbrennen oder kann nur nach Son- nenuntergang seine Wohnung verlassen.“ „Lass uns nach Hause gehen“, flüsterte ihre Großmutter und holte hinter einer Hecke ihren Besen hervor. „Portie- ren würde schneller gehen, aber man weiß nie, wer mich beobachtet. Du musst unbedingt unsichtbar bleiben.“ Joanna nahm hinten Platz und sie flogen los. Amalias schwarzes, schulterlanges Haar mit den roten Strähnchen wehte in Joannas Gesicht. „Wie schnell fliegt so ein Besen überhaupt?“, fragte sie. „Wenn Kiki alleine fliegt, gehört sie zu den Schnellsten“, juchzte ihre Großmutter vergnügt. „Wer ist Kiki?“, fragte Joanna irritiert. Seite 8

„So heißt mein Besen, aber bitte verrate es niemandem. Sie würden mich für verrückt halten.“ „Du hast deinem Besen einen Namen geben? Du bist ver- rückt!“ Joanna fing lauthals an zu lachen. „Halt dich fest. Ich werde dir zeigen, was Kiki alles kann.“ Kaum hatte Amalia das gesagt, zeigte sie ihrer Enkelin, was für Kunststücke sie mit dem Besen machen konnte. „Flieg bitte langsamer und keine Überschläge mehr. Mir wird schlecht“, rief Joanna. „Du solltest Kiki nicht unterschätzen.“ Nach einer turbulenten Minute setzte Kiki zum Landen im Garten an. „Du kannst deinem Besen auch einen Namen geben. Ich werde es niemandem verraten“, schwor Amalia mit flüs- ternder Stimme. „Ich weiß nicht. Das ist peinlich.“ „Wie wäre es mit Nora oder Lea?“, schlug sie vor. „Ich werde mir darüber Gedanken machen.“ Joanna schüt- telte verwundert ihren Kopf. „Dass du deinem Besen einen Namen gegeben hast, stand nicht im Tagebuch.“ „Ich hatte wohl Bedenken, dass meine Enkelin es eines Tages liest und sich darüber lustig macht.“ Amalia lächel- te und pflückte einen Apfel vom Baum. „Willst du auch einen?“ „Ja, bitte.“ Genüsslich bissen sie hinein und liefen vergnügt zum Haus. Was keiner der beiden registrierte war, dass der Ap- fel den Joanna in ihrer rechten Hand hielt, für andere aus- Seite 9

sah, als würde dieser neben Amalia schweben. Sie wollte gerade die Türe öffnen, als diese schwungvoll aufgerissen wurde und jemand stürmisch hinauslaufen wollte. „Immer langsam!“, brauste Amalia auf. Es war ihr Zwillingsbruder John, der ihr in die Arme lief und noch gegen jemand anderen stieß. Dass es Joanna war, konnte er nicht wissen. Ihr Aufschrei ließ ihn verwundert zusammenzucken. Dabei verlor sie ihren Apfel. Amalia bückte sich schnell danach und tat so, als wäre ihr der Apfel aus der Hand gefallen. „Ich habe es furchtbar eilig“, rief John seiner Schwester im Vorübergehen zu. Joanna sah zu John auf, der größer als sie war und seine kurzen, schwarzen Haare gestylt hatte. Er rannte mit seinem Besen in der Hand auf den Gehsteig, von wo aus er in Richtung Süden flog. „Was ist denn mit dem los?“, fragte Joanna und folgte ihre Großmutter leise in die Küche, wobei sie weiterhin un- sichtbar blieb. „Vielleicht hat er ein Rendezvous mit Isabella? Das wegen mir niemals stattfinden wird“, flüsterte Amalia. „Welcher Tag ist heute?“, wollte Joanna wissen. „Mittwoch der Achte. Warum?“ „Dann ist es nicht der Tag, an dem John die Verabredung mit Isabella sausen lässt und dafür dir heimlich zum Alten Haus folgt. Wir haben noch ein paar Wochen Zeit, bis der Tag deiner Eltern kommen wird. Aber du musst dich auf dieses gefährliche Spiel mit Professor Blair einlas- sen. Ohne deine schwarze Magie stehen unsere Chancen Seite 10

schlecht. Er darf keinen Verdacht schöpfen. Vergiss nicht, dass sein anderes Ich in meiner Zukunft lebt und mich kennt. Für den, den ich morgen treffe, wird es mehr als eine Überraschung werden. Denn ich habe keine Ahnung, wie ich erklären soll, wer ich bin.“ „Manipuliere Professor Blair doch“, schlug Amalia ihr vor. „Die Idee hatte ich auch schon“, meinte Joanna. „Aber ich komme nicht an ihn heran. Vor ein paar Tagen habe ich mich heimlich aus der Höhle portiert, um ihn aufzusu- chen. Als ich ihn zufällig im Klassenzimmer fand, wandte ich sofort den Manipulationszauber an, aber er hat nicht funktioniert. Ich vermute, dass er einen Antimanipulati- onszauber über sich gelegt hat. Also wartete ich, bis er das Klassenzimmer verlassen hatte, und folgte ihm zu seinem Büro. Immer wieder drehte er sich um, als spüre er meine Nähe. An der Bürotüre angekommen, portierte er sich hinein. Das Gleiche wollte ich auch machen, aber ein Antiportierzauber verhinderte es.“ „Du bist unsichtbar. Warum portierst du dich nicht in sein Haus und versuchst es dort?“, fragte Amalia. „Auch über seinem Haus liegt eine Antiportierzauber. Ich habe versucht, diesen zu brechen, aber es ging nicht“, ant- wortete Joanna. „Verwandle dich doch in eine andere Person, die in Aure- moor lebt. In eine Schülerin, die zufällig morgen krank ist.“ Amalia fand ihre Idee perfekt. „Zufällig! Du möchtest, dass ich sie verzaubere und außer Gefecht setzte.“ Seite 11

„Wende bei der Schülerin doch den Vergessenheitszauber an. Sie soll denken, morgen ist Samstag und somit keine Schule.“ „Du weißt schon, dass dieser Zauber zu den Verbotenen gehört“, mahnte Joanna. „Deshalb sollst du ihn ja an dir ausprobieren.“ „Und wenn er schief geht?“ „Berufsrisiko!“, kicherte Amalia. „Glaub mir, Großmutter, diesen Beruf hätte ich nie freiwil- lig gewählt.“ „Dann sieh es als dein Schicksal an.“ „Was ist mit ihren Eltern? Insofern sie noch welche hat“, wollte Joanna wissen. Amalia verging auf einen Schlag ihr Lachen. „Das war sarkastisch. Tut mir leid“, meinte Joanna. „Schon in Ordnung. Ich bin ja daran schuld, dass es soweit kam“, sagte Amalia. „Lass auch ihre Eltern in dem Glau- ben, morgen sei Samstag. Gib dich doch am Telefon als ihre Tochter aus und melde ihre Eltern beim Amt für Zau- berei krank. Dann haben sie eben was Falsches gegessen.“ „Du bist aber eine ganz schön hinterlistige Großmutter“, stellte Joanna mit einem Grinsen fest. „Gib es zu, du hattest doch die gleiche Idee! Zumindest so ähnlich?“, gab Amalia zurück. „Ich muss gestehen, deine Idee gefällt mir sehr gut. Was ich dich schon lange fragen wollte: Wieso gibt es in deiner Welt ein Telefon? Wieso schickt ihr nicht Tauben oder Eulen zu den Empfängern?“ Seite 12

„Tauben oder Eulen?“ Amalia runzelte ihre Stirn. „Wir halten keine Tiere als Gefangene, die dann unsere Dienste ausüben müssen. Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass Tiere sowas machen?“ „Zu viele Filme.“ Dabei dachte Joanna an einen bestimm- ten Film. „Und du hast eine ganz bestimmte Schülerin für dieses gewagte Experiment auserwählt?“, lenkte sie vom Thema ab. „Ja, da gibt es eine, die ich nicht besonders leiden kann. Ihr einmal einen Denkzettel zu verpassen, würde meiner Seele gut tun.“ Amalias Augen funkelten vor Schadenfreude. „Wie heißt sie?“ „Drusila Morgan. Sie ist sehr eingebildet und arrogant.“ „Dann lass das Spiel beginnen“, grinste Joanna. Nachdem Joanna die Adresse erhalten hatte, portierte sie sich dorthin. Eine halbe Stunde später kam sie wieder zurück. „Alles gut gegangen?“, fragte Amalia aufgeregt. „Auftrag ausgeführt!“, berichtete Joanna. „Aber muss ich wirklich so aussehen wie sie? Gibt es keine andere, der du eins auswischen möchtest?“ „Nein. Und denke daran, wende den Verwandlungszauber erst an, bevor wir mit dem Unterricht bei Professor Blair beginnen. Ich weiß nicht, wie lange der Zauber wirkt.“ „Der Zauber hält nur eine Stunde, danach bin ich wieder ich selbst. Hoffentlich geht alles gut.“ Joanna hatte da so ihre Bedenken. „Ich liebe Abenteuer.“ Seite 13

„Die im Chaos und mit dem Tod enden“, vervollständigte sie den Satz ihrer Großmutter. „Sieh nicht immer alles so negativ. Alles Schlechte hat auch etwas Gutes“, behauptete Amalia. „Und was?“, fragte Joanna. „Du hast mich als junge Frau kennen gelernt. Wer hat schon dieses Glück? Wenn du mein Tagebuch nicht ge- funden hättest, hätten weder Andrew, noch Patrick die Möglichkeit gehabt, dich in unsere Welt mitzunehmen, um alles, was ich falsch gemacht habe, zu ändern.“ Amalia wirkte nachdenklich und traurig. „Kopf hoch. Gemeinsam werden wir es schaffen“, versuch- te Joanna sie aufzumuntern. Sie setzten sich an den Küchentisch und tranken warmen Tee. Wenn jetzt jemand durch das Küchenfenster gespäht hätte, hätte er eine fliegende Tasse neben Amalia gesehen. „Irgendwie habe ich mir dein Zuhause immer anders vor- gestellt“, meinte Joanna nun. „Wie?“ Amalia stand auf und lief zum Kühlschrank. „Magischer!“ „Hungrig?“, fragte sie. „Ja! Mein Bauch redet schon mit mir.“ Joanna stand auf. Sie nahm zwei Teller aus dem Küchenschrank und zwei Messer aus der unteren Schublade, die nun ebenfalls durch den Raum schwebten. Währenddessen deckte Amalia den Tisch mit Brot, Butter, Käse und Wurst. „Wie meinst du denn magischer?“ „Naja, dass vielleicht kleine Kobolde oder Gnome die Seite 14

Hausarbeit übernehmen.“ Joanna schaute sich um. „Es gibt Kobolde in unserer Welt“, erzählte Amalia ihr. „Sie glitzern im Sonnenlicht und haben eine magische Fähigkeit. Sie können Gedanken lesen! Allerdings können sie das nur bei anderen Kobolden. Unter sich haben sie auch eine ganz eigene Koboldsprache.“ Joanna lauschte ihr gespannt. „Wir halten solche Wesen nicht als unsere Gefangene“, erklärte Amalia, „aber einige böse Hexen und Zauberer, damit meine ich die Verbündeten, tun das. Sie behandeln sie wie ihr Eigentum und missbrauchen sie, um den Haus- halt und Einkäufe für sie zu erledigen. Manchen Kobolden gelingt die Flucht. Sobald ein Kobold an eine Türe klopft und ihm Einlass gewährt wird, ist er frei von seinem Vor- besitzer. Gute Hexen und Zauberer würden Kobolden so etwas nie antun. Sie zaubern lieber alles sauber.“ „Hat bei euch schon mal einer angeklopft?“ Joanna hätte gerne einmal so ein Wesen gesehen. Wie es wohl aussah? Bestimmt klein und hässlich. „Ich vertraue dir jetzt etwas an, aber du musst mir verspre- chen, es niemandem zu erzählen.“ „Ehrenwort!“ Joanna hob verschwörerisch ihre rechte Hand und überkreuzte Zeige- und Mittelfinger. „Vor einigen Jahren hat jemand spät am Abend an die Tür geklopft“, erzählte Amalia. „Mein Vater hat geöffnet. Im ersten Moment war niemand zu sehen, aber dann hörten wir eine piepsige Stimme sagen: ‚Ich bin hier unten.‘ Da stand tatsächlich ein Kobold!“ Seite 15

„Wie sah er aus?“, wollte Joanna wissen. Amalia erinnerte sich noch genau. „Er war mausgrau, ungefähr 60 cm groß und hatte große, spitze Ohren. Seine Augen waren schwarz und rund, so groß wie Goldmünzen. Sein Gesicht war eher schmal, seine Haut ganz runzlig und seine Nase lang und spitz. Seine kleinen Füßen hatten nur 3 Zehen, wie es bei allen Kobolden der Fall ist.“ Joanna konnte sich den kleinen Kobold gut vorstellen. „Als er vor unserer Tür stand, war sein Blick unglaublich verängstigt und seine großen Ohren aus Angst geknickt. Er trug nur ein altes, zerrissenes Leinentuch am Leib und bat zitternd um Einlass“, erzählte Amalia. „Und dein Vater gewährte dem Kobold Einlass? Das ist doch wunderbar“, meinte Joanna. „Wo ist er jetzt?“ „Tot!“ Amalia legte ihr Brot, in das sie gerade beißen wollte, auf den Teller zurück. „Ich werde diesen Tag nie vergessen.“ „Wer hat ihn getötet?“ Joanna bekam Mitleid mit diesem Kobold, den sie noch nie gesehen hatte. „Sein vorhergehender Besitzer! Mit einem Lokalisierungs- zauber hatte er ihn ausfindig gemacht und war ihm bis zu unserem Haus gefolgt. Noch bevor mein Vater ihn herein- bitten konnte, wurde der Kleine aus dem Hinterhalt ermor- det! Ich habe das alles von der Treppe aus beobachtet. In dieser Nacht konnte ich kein Auge zumachen. Tagelang hatte ich Alpträume von dieser grausamen Tat.“ „Wie alt warst du?“, fragte Joanna. „Zehn!“, antwortete Amalia. Seite 16

„Noch ein Kind. Das tut mir leid!“, sagte Joanna mitfüh- lend. „Joanna, du kannst doch nichts dafür“, meinte Amalia. „Hat sein Besitzer ihn mitgenommen?“, fragte Joanna. „Nein. Herablassend sagte er zu meinen Vater, dass er ihn gerne behalten könne, da dieser für ihn an Wert verloren hat.“ „So etwas Gemeines.“ „Ich habe den Namen dieses Kobolds nie erfahren. Als wir ihn in unserem Garten beerdigten, gab ich ihm den Namen Laliwandi.“ „Ein sehr außergewöhnlicher Name“, stellte Joanna fest. „Ich fühlte, dass er etwas Besonderes war. Er hätte es be- stimmt verdient gehabt, seine Ruhe in Würde anzutreten.“ Amalia stiegen Tränen in die Augen. Auch nach so langer Zeit ließ ihr der Tod dieses Kobolds noch immer keinen Frieden. „Wo ist sein Grab? Ich würde es gerne sehen.“ Joanna legte ihren Arm behutsam um sie. „Im Garten unter der alten Eiche.“ Sie verließen das Haus und standen kurz darauf vor einem kleinen Grab, auf dem eine verwelkte Rose lag. „Ich weiß nicht, wann er Geburtstag hatte“, meinte A­­ malia, „deshalb bringe ich ihm immer an dem Tag, an dem er ermordet wurde, eine Blume.“ „Das ist eine schöne Geste von dir“, sagte Joanna. „Ist seit diesem Tag nochmals ein Kobold bei euch aufgetaucht?“ „Nein! Es hat sich bestimmt herumgesprochen, was damals Seite 17

passiert ist. Aus Angst bleiben die Kobolde lieber bei ihren Peinigern und lassen die Qualen über sich ergehen.“ „Wir müssen sie befreien“, schlug Joanna vor. „Und wie? Willst du an jeder Türe klopfen und fragen, ob sie einen Kobold gefangen halten? Du weißt überhaupt nicht, wer von den Bewohnern ein Verbündeter ist.“ Ama- lia war nicht gerade davon begeistert, was ihre Enkelin vorhatte. „Du hast gerade angefangen, schwarze Magie zu praktizie- ren“, meinte Joanna. „Wäre es da nicht von Vorteil, diesen besonders wichtigen Zauberspruch zu beherrschen?“ „Welchen?“, wollte Amalia wissen. „Den Unsichtbarkeitszauber!“, antwortete Joanna. „Da über den Häusern der Verbündeten ein Antiportierzauber liegen muss, werden wir nicht einfach hineingelangen. Wenn wir anklopfen, sieht uns niemand und bevor der Be- sitzer die Türe wieder schließt, betreten wir dessen Haus. Dort werden wir leise jedes Zimmer durchsuchen.“ Joanna war hin und weg von ihrer Idee. Im Gegensatz zu ihrer Großmutter. „Du bist total verrückt“, meinte Amalia. „Nicht nur ich“, erwiderte Joanna. „Alles und jeder in die- ser Zauberwelt ist verrückt. Mein Leben wäre anders ver- laufen, wenn die Umstände normal gewesen wären. Damit meine ich, wenn es den Verräter überhaupt nie gegeben hätte. Mein Zuhause würde hier sein.“ „Laut meinem Tagebuch, was ich ja erst in deiner Welt schreiben werde, gab es hier viele Gefahren. Glaube mir, Seite 18

Joanna, es war besser so für dich. In deinem London fühlst du dich doch wohl?“ „Es ist eine große Stadt, viel größer als Auremoor.“ „Dort hast du bestimmt auch Freunde, die dich sehr ver- missen“, vermutete Amalia. „Kathrin und Peter“, erzählte Joanna. „Ich vermisse sie sehr und natürlich auch meine Eltern. Wie es ihnen wohl geht? Welche Ängste sie gerade ausstehen müssen?“ Joan- na setzte sich nachdenklich neben Laliwandis Grab. „Wir sollten besser wieder reingehen, nicht dass mich jemand für verrückt hält, wenn ich mit einem Grab rede.“ Amalia schaute sich besorgt um. „Du hast Recht“, flüsterte Joanna. Langsam ging die Sonne unter und der Abend brach über Auremoor herein. Das Zwitschern der Vögel war längst verstummt und man hörte das Heulen der Werwölfe. In diesen drei Nächten verwandelten sich die Menschen wieder unter Schmerzen und Qualen. Es gab anscheinend keinen Zauber, der diese Verwandlung aufhalten konnte. Joanna schaute gedankenversunken aus Amalias Fenster. Sie würde heimlich im Gästebett schlafen, was weder Amalias Eltern, noch John wussten. Morgen würde ihr erster Schultag sein. Wie sollte sie sich dem Professor gegenüber verhalten? Es würde ein schwieriges Unterfan- gen werden. Plötzlich klopfte jemand an die Türe. Joanna konzentrierte sich auf diese Person. Es war John. Zum Glück war Joanna unsichtbar. „Dein Bruder“, flüsterte sie. Seite 19

„Komm rein“, forderte Amalia ihn auf. „Es tut mir leid, dass ich es heute Nachmittag so eilig hat- te“, meinte John. „Kein Problem. Darf ich wenigstens erfahren, was dich so in Aufruhr versetzt hat?“ „In zwei Wochen ist unser 18. Geburtstag“, antwortete er. „Ich weiß. Weiter!“ „Aber ich wusste nicht, was ich dir schenken soll.“ „Lass mich raten. Du hast jetzt was gefunden“, sagte ­Amalia. „Für meine liebe Schwester muss es doch etwas Besonde- res sein.“ John rieb sich freudig die Hände. „Hast du für mich auch schon was?“ Seine Neugierde war groß. „Wenn ich ehrlich bin, ja“, antwortete Amalia. „Ein Haustier! Eine Spinne oder eine Ratte?“, vermutete John. „John! Ich werde dir bestimmt nicht solche ekeligen Tiere schenken.“ „Ein kleiner Hinweis vielleicht?“ „Ich weiß, dass du ein sehr neugieriger Junge bist, aber das Geschenk befindet sich nicht hier im Haus. Du brauchst gar nicht danach zu suchen. Du kannst jetzt gehen“, bat sie ihn. Joanna musste innerlich grinsen, denn sie wusste genau, was für ein Geschenk es für den jeweils anderen sein ­würde. Nachdem John schmollend gegangen war, verab- schiedete sie sich von ihrer Großmutter. Seite 20

Die ganze Nacht wälzte sich Joanna hin und her. Sie k­ onnte kein Auge zumachen. Inzwischen schlug die Kirch- turmuhr Mitternacht. Irgendwie hatte sie ein merkwürdi- ges Gefühl wegen Professor Blair. Ihre Gedanken durfte sie ihm gegenüber unter keinen Umständen preisgeben. Aber noch etwas anderes beunruhigte sie. Leise schlich Joanna sich aus dem Bett und portierte sich in das Zimmer ihrer Großmutter. Dort beugte sie sich über Amalia und sagte den Vergessenheitszauber auf, der dank des magi- schen Rings funktionierte. „Es ist zu deiner eigenen Sicherheit, dass du keine Erinne- rung mehr an mich hast“, flüsterte sie. Am nächsten Morgen saßen alle beim Frühstück, nur J­ oanna schaute von der letzten Treppenstufe in die Küche. „Eine glückliche Familie“, kam ihr der Gedanke. Sie hatte ihr Frühstück bereits heimlich im Gästezimmer eingenom- men und wartete jetzt nur noch auf Amalia, bis sie fertig war. „So, ihr müsst jetzt zur Schule. Schaut mal auf die Uhr.“ Amalias Vater deutete mit seinem linken Zeigefinger zur Wand. „Was für eine seltsame Uhr“, dachte Joanna. So eine gab es nirgendwo in ihrer Welt zu kaufen. Sie war aus schwar- zem Holz mit zwei Zifferblättern in der Mitte und die drei Zeiger liefen rückwärts. „Dad hat Recht. Es ist schon spät. Wir müssen uns beeilen“, drängte John. Er lief zu seinem Besen und öffnete schnell die Haustüre. Seite 21

Amalia verabschiedete sich von ihren Eltern. „Ich habe euch lieb“, meinte sie und umarmte beide so, als würde es das letzte Mal sein. Joanna hingegen portierte sich aus dem Haus direkt in die Mädchentoilette, um den Verwandlungszauber bei sich durchzuführen. Sekunden später sah sie aus wie diese D­ rusila Morgan. Anschließend rannte sie ins Klassenzim- mer. Dort hatte der Unterricht gerade begonnen. Am Schreibtisch saß ein Mann, der sie mit mürrischem Blick ansah. Amalia hatte bereits neben Isabella und John neben einem Mitschüler Platz genommen. Joanna wollte sich gerade vorne in die erste Reihe neben eine Mitschüle- rin setzen. Doch da ertönte: „Miss Morgan. Sie sind spät.“ Es war kein geringerer als Professor Blair. Langsam kam er auf sie zu und musterte sie von Kopf bis Fuß. Dieser Gesichts- ausdruck von ihm ließ nichts Gutes verheißen. „Entschuldigen Sie die Verspätung“, sagte Joanna. „Kommen Sie doch bitte nach Ende des Unterrichts in mein Büro“, bat er sie überaus höflich. „Was, wenn er meine Gedanken gelesen hat? Aber das kann nicht sein, ich habe doch den Blockierzauber ange- wandt. Ist es trotzdem möglich, ihn zu brechen?“, dachte Joanna und konnte nur hoffen, dass der Ring seine Macht nicht verlieren würde. Wie versteinert blieb sie stehen und versuchte gedanklich herauszufinden, was der Professor als Nächstes mit ihr vorhatte. Jedoch waren auch seine Gedanken verschlossen. Seite 22

„Setzen Sie sich doch!“ Dabei machte der Professor eine Handbewegung und der Stuhl begann zu wackeln. Still- schweigend nahm Joanna Platz und ließ die Schulstunde über sich ergehen. „Was will er von ihr?“, dachte Amalia und in dem Moment drehte sich der Professor zu ihr um. „Wie war es ihm möglich, meine Gedanken lesen zu kön- nen, ohne direkt vor mir zu stehen?“, kam ihr ein erneuter Gedanke. Sofort nach dem ersten Glockenschlag sprang Joanna auf und verließ hastig das Klassenzimmer. Amalia wollte ihr folgen, obwohl sie Drusila nicht lei- den konnte, und lief schnell hinterher. Doch an der Türe angekommen, war ihre Mitschülerin wie vom Erdboden verschwunden. „Drusila, wo bist du?“, rief Amalia leise. Doch es kam keine Antwort. „Die hat es aber eilig“, sagte Isabella verwundert. „Lass sie doch gehen. Was willst du überhaupt von ihr?“ „Du hast Recht. Wir reden seit Jahren kaum ein Wort mitei- nander. Aber merkwürdig ist ihr Verhalten schon.“ Während die Mitschüler von Amalia und Isabella fröhlich miteinander redeten und an ihnen vorbei liefen, schaute Amalia in ein leeres Klassenzimmer. Wo war auf einmal der Professor? Vor ein paar Sekunden war er doch noch hier gewesen. Wie kam er an ihr vorbei? Sie stand, wäh- rend sie nach Drusila gesehen hatte, die ganze Zeit an der Türe. War sie vielleicht gedanklich so abwesend gewe- Seite 23

sen, dass sie ihn nicht bemerkt hatte? Irritiert lief sie mit I­sabella in den Pausenhof. Währendessen wartete Joanna noch immer als Drusila vor der Bürotüre von Professor Blair. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, bis sie wieder sie selbst sein würde. Sie hatte sich, als sie das Klassenzimmer verließ, blitzschnell unsicht- bar gemacht und den Portierzauber aufgesagt. Minute um Minute verging. Das Ticken des Sekundenzeigers an der großen Uhr, die im großen Flur hing, war zu hören. Was hatte er wohl mit ihr vor? Plötzlich, wie aus dem Nichts, erschien der Professor voller Wut vor ihr. Mit einer Hand- bewegung öffnete er die Türe und zog sie unsanft hinein. Er drückte sie stark an die Wand und zog ihr blitzschnell den Ring vom Finger. Joanna wollte sich daraufhin sofort unsichtbar machen, doch dafür blieb ihr keine Zeit mehr. Der Professor wandte den Erstarrungszauber an und somit verharrte Joanna in der Position, in der sie sich befand, und konnte nur noch sprechen. Ihre eigene Magie war nicht stark genug, um sich zu befreien. „Wer sind Sie?“, rief er erzürnt. „Und warum haben Sie die Gestalt von Drusila Morgan angenommen?“ „Ich bin Drusila“, behauptete Joanna. „Das werden wir herausfinden. Der Verwandlungszauber hält nicht ewig, auch wenn Sie sich nicht bewegen kön- nen.“ Kaum hatte er das gesagt, verwandelte sich Joanna zurück. „Drusila ist krank und ich wollte nicht, dass es heraus- kommt“, sagte sie schnell. „Deshalb habe ich mich in sie Seite 24

verwandelt.“ „Sie lügen!“, schrie Professor Blair. „Sie haben sie und ihre Eltern vergessen lassen, welcher Tag heute ist, und Sie beherrschen schwarze Magie. Sie kommen nicht aus Auremoor! Sie fragen sich, wie ich das mit Miss Morgan herausgefunden habe. Der Ring. Miss Morgan hat keinen und wissen Sie, warum? Sie ist allergisch auf Metall und jegliche sonstige Metalle. Lassen Sie mich raten, wer Ihnen schwarze Magie beigebracht hat. Jack Rombush. Und Sie heißen Joanna Rickman und kommen aus London. Das ist die Welt, in die mein Meister möchte. Ein gewisser Patrick Grant ist zusammen mit dem Vampir Andrew und Jack durch das Portal dort angekommen.“ „Soll ich weiter machen?“, fuhr der Professor fort. „Amalia Parker ist Ihre Großmutter, die aus Auremoor geflohen ist und Sie haben sie gestern Nacht vergessen lassen, dass sie Sie kennt. Kluges Kind. Machen wir also weiter. Nachdem Sie das Tagebuch von ihr gefunden und gelesen hatten, ha- ben Sie beschlossen, hierher nach Auremoor zu kommen, um meinen Meister zu töten. Sie haben ihn seiner Magie beraubt, die sich in diesem hübschen Ring befindet. Zu dumm nur, dass sich das alles in Ihrer Zukunft abgespielt hat. Mit einer Sanduhr sind Sie mit Ihrer Großmutter in die Vergangenheit gereist. Und bevor ich es vergesse: Mei- ne Magie befindet sich ebenfalls in dem Ring, weil ich sie dort aufbewahren werde, bevor ich mich in einen Vampir verwandle. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass ich diese absurde Entscheidung in der Zukunft treffen werde, Seite 25

aber in Ihren Gedanken lese ich, dass es wahr sein muss.“ „Sie werden früher oder später erkennen, dass es ein großer Fehler ist, dem Verräter zu vertrauen. Deshalb haben Sie Ihre Magie in dem Ring versteckt“, entgegnete Joanna. „Was für ein Unsinn!“ Der Professor war noch immer au- ßer sich vor Wut. „Als Sie mein Klassenzimmer betraten, konnte ich Ihre Gedanken nicht lesen. Da wusste ich, dass Sie nicht Miss Morgan waren. Kein Schüler betritt mein Klassenzimmer, ohne dass ich in der Lage wäre, seine Gedanken zu lesen. Ein Antiblockierzauber macht das möglich.“ „Wenn Sie schon alles wissen, warum erzählen Sie nicht weiter?“ „Was sollte noch so wichtig sein, dass ich Sie nicht auf der Stelle töte?“ „Sarah! Klingelt es da bei Ihnen?“, fragte Joanna. „Sie hat sich für diesen Daniel entschieden. Das ist mir doch egal.“ „Das meine ich nicht. Lesen Sie weiter“, forderte sie ihn auf. Der Professor konzentrierte sich wieder auf ihre Gedanken. „Ich soll sie getötet haben. Aber ich würde ihr nie etwas antun“, sagte er. „Doch das werden Sie. In ein paar Wochen. Sie haben Sarah geliebt und nur weil sie sich für jemanden anderes entschieden hatte, haben Sie sie umgebracht.“ „Ich habe und werde sie nicht töten“, schrie er außer sich und hielt seinen Zauberstab in Joannas Gesicht. Seite 26

„Wer soll es denn dann gewesen sein? Ein Geist?“ Joanna versuchte, ihn noch mehr zu reizen, um endlich die Wahr- heit zu erfahren. „Jemand, der den Verwandlungszauber beherrscht.“ „Doppelgänger!“ Joanna konnte sich mit diesem Gedanken nicht anfreunden. „In Ihren Gedanken lese ich, dass Wächter gesehen hät- ten, dass Julia und ich über die Opfer gebeugt waren. Das mag stimmen, aber was ein paar Minuten zuvor mit ihnen passiert ist, kann niemand bezeugen.“ „Dann finden Sie es heraus“, bestand Joanna darauf. „Und wie, wenn es noch gar nicht stattgefunden hat? Ihre Gedanken können keinen Beweis aufbringen, wer die Tat begangen hat. Schluss jetzt. Sie werden erwartet.“ Er packte sie und portierte sich mit ihr in eine Höhle. „Wo sind wir?“, fragte Joanna ängstlich. Kaum hatte sie das gesagt, erschien ein Mann aus dem Schatten einer Leuchtkugel. Jetzt wusste sie, wo sie war. Unter der Erde. Und es war ihre eigene Leuchtkugel, die sie zurückgelas- sen hatte. Der Professor hatte durch das Gedankenlesen ebenfalls herausgefunden, wo sich der Verräter aufhielt. Aber hatte er auch herausgefunden, dass der Verräter nicht der war, den er aus dieser Zeit kannte? Joanna versuch- te, an nichts mehr zu denken. Das dürfte allerdings nicht einfach werden. „Wen haben wir denn da?“, hörte sie seine tiefe, nieder- trächtige Stimme. Es war die des Verräters. Seine Kapuze hatte er wieder tief ins Gesicht gezogen. Seite 27

„Was haben Sie mit mir vor, Professor?“ Joanna konnte weder seine Gedanken, noch die des Verräters lesen. Der Ring blockierte diese. „Hab Geduld!“, herrschte Professor Blair sie an. „Meister! Dieses Mädchen, das sich Joanna Rickman nennt, wird fähig sein, uns den Weg in ihre Welt zu ermöglichen. Ich kenne die Wahrheit. Weshalb wir weder Amalia, noch John für Ihren Plan benötigen. Sie sieht Amalia nicht nur ähnlich, es fließt auch das gleiche Blut in ihren Adern. Sie wird in der Lage sein, das Portal erneut zu öffnen. Ich habe alles in ihren Gedanken gelesen und diese wurden nicht manipuliert, so wie die einiger.“ Professor Blair machte eine Anspielung auf die Familie Morgan. „Ich weiß, dass sie aus der Zukunft kommt. Sobald wir in ihrer Welt angekommen sind, wird ihr Leben nichts mehr wert sein“, kam es schadenfroh und äußerst zufrieden vom Verräter. „Solange sollte sie jeden Atemzug genießen. Sie weiß nie, wann es der Letzte sein wird!“ „Meister! Wieso manipulieren wir sie nicht und sie bleibt hier.“ Der Verräter schüttelte den Kopf. „Niemals! Jemand hat ihr schwarze Magie beigebracht und ich weiß auch wer. Finden Sie ihn und töten ihn!“ „Wer soll das sein?“ „Wieso stellt der Professor dem Verräter so eine dumme Frage?“, dachte Joanna. Er weiß doch, dass es Jack war. Dies hatte er doch in ihren Gedanken, als sie noch im Büro Seite 28

waren, gelesen. Ein undurchschaubarer Blick vom Profes- sor traf sie. „Wer soll das sein?“, wiederholte der Verräter die Frage des Professors. „Jack natürlich. Durch einen Zauber, den er ihr beigebracht hat, hat sie mich außer Gefecht gesetzt und hierher verbannt. Ich besitze keine Magie, denn diese hat sie in einem goldenen Ring versteckt, den sie bei sich haben muss. Durchsuch sie“, befahl er dem Professor. „Den Ring habe ich ihr bereits abgenommen.“ „Gib ihn mir. Sofort!“ Der Professor zog ihn von seinem Finger und ließ ihn auf den Boden fallen. Ein Klimpern war zu hören. „Der Ring!“, dachte Joanna. „Ob ich ihn jemals wieder zurückbekommen werde?“ Ein erneuter sonderbarer Blick vom Professor traf sie. Welch makaberes Spiel trieb der Professor mit ihr und dem Verräter? Seite 29


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