Important Announcement
PubHTML5 Scheduled Server Maintenance on (GMT) Sunday, June 26th, 2:00 am - 8:00 am.
PubHTML5 site will be inoperative during the times indicated!

Home Explore Amalias geheimes Tagebuch

Amalias geheimes Tagebuch

Published by mvm007, 2022-03-28 12:31:10

Description: Im geheimen Tagebuch ihrer verstorbenen Großmutter erfährt die 16-jährige Joanna ein dunkles Familiengeheimnis, das auch ihr eigenes Leben bedroht. Ihre Großmutter Amalia lebte in einer Zauberwelt und war in Wirklichkeit eine Hexe, die sich der schwarzen Magie hingab. Vor langer Zeit kämpfte sie gegen einen mächtigen Zauberer, dem sie nur knapp entkam. Als ein geheimnisvoller Vampir bei Joanna auftaucht, muss sie die schwerste Entscheidung ihres Lebens treffen.

Keywords: Amalia,Fantasy,Roman,Tagebuch

Search

Read the Text Version

Amalias geheimes Tagebuch Stefanie Baier

Impressum: © 2017 Parker Verlag Alle Rechte vorbehalten. www.parker-verlag.de Layout, Satz und Einbandgestaltung: MvMDesign, www.mvmdesign.de 2. Auflage Gedruckt in Deutschland





Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Die geheime Truhe Kapitel 2 Magische Erinnerungen Kapitel 3 Der Professor Kapitel 4 Meine Freunde Kapitel 5 Der Angriff Kapitel 6 Alte Feindschaften Kapitel 7 Unterricht in schwarzer Magie Kapitel 8 Der unheimliche Besucher Kapitel 9 Lügen Kapitel 10 Die geheimnisvolle Bibliothek Kapitel 11 Der geheime Treffpunkt Kapitel 12 Kampf um Leben und Tod Kapitel 13 Das Familiengeheimnis Kapitel 14 Versteckt Kapitel 15 Das Leben danach Kapitel 16 Johannas Entscheidung



KAPITEL 1 Die geheime Truhe Joanna stand niedergeschlagen an dem Grab ihrer Großmutter. In ihrer rechten Hand hielt sie eine rote Rose. Der Regen prasselte auf den Re- genschirm, den ihre Mutter über Joannas Kopf hielt. Sie hörte die Worte des Pfarrers, doch es interessierte sie nicht, was er über ihre Großmutter Amalia erzählte. Er hatte sie nicht so gut gekannt wie Joanna. Sie dachte an das unverwechselbare Lachen von ihr. Auch im hohen Alter hatte ihre Großmutter noch dieses wilde Glitzern in den Augen gehabt. „Du bist mir ähnlicher, als du ahnst, meine liebe Joanna“, hatte Amalia ihr oft ins Ohr geflüstert. Joanna hatte sich dann immer gefühlt, als würden die beiden ein ganz besonderes Geheimnis teilen. Sie fühlte sich ihrer Großmutter manch- mal sogar näher als ihren Eltern. Vor Joannas Augen erschien eine Erinnerung nach der anderen wie ein Schleier. Als Kind, wenn sie von ihrer Großmutter vom Kindergarten abgeholt wurde und sie freudig ihr in die Arme lief. Am Spielplatz, als sie sich einmal an der Rutsche verletzte, war ihre Großmutter bei ihr und hatte sie getröstet. Ihr erster Schultag, als sie stolz ihre Schultüte in den Armen hielt, war sie an ihrer Seite. Und wenn Joanna mal krank war, kochte sie ihr Tee und ihr Lieblingsessen. Reisbrei mit Zimt und Zucker. Nur eines konnte sie mit ihrer geliebten Oma nicht mehr mitteilen. Wie sehr sie sie geliebt hatte. Immer mehr Tränen trieben in ihre Augen, die sich nicht mehr länger zurückhalten konnte. Joanna wischte sie aus dem Gesicht. Mit ihrer Großmutter ist ein Teil von ihr gestorben, zumindest fühlte sie sich so. Joannas Mutter selbst sprach über ihre eigene Mutter distanzierter. Ama- lia war ihrer Meinung nach immer sehr anders gewesen und deshalb war Seite 1

es schwer für sie gewesen, als Kind mit ihrer alleinerziehenden Mutter in London aufzuwachsen. „Sie hat sich immer irgendwie anders verhalten“, hatte Joannas Mutter einmal erwähnt. „Deshalb hatte deine Oma leider auch kein Glück in Beruf und Partnerschaft.“ Der Pfarrer beendete seine Rede. Nun konnten sich alle von Amalia Parker verabschieden. Joanna wusste nicht, wie sie das tun sollte. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange, als sie näher an das offene Grab trat. „Oma, du wirst mir unendlich fehlen“, flüsterte sie und warf die Rose auf den dunklen Sarg. „Ich liebe dich.“ Nach der Beerdigung fuhr Joanna mit ihren Eltern nach Greenwich, einem Stadtteil von London, wo sie lebten, zurück. Die wenigen Trauergäste folgten ihnen. Als Joanna das Haus betrat, in dem sie zu viert gelebt hatten, schluckte sie weitere Tränen hinunter. Hier würde es nie mehr so sein wie vorher. Ohne ihre Großmutter kam ihr dieses Haus trotz der anderen Menschen merkwürdig leer vor. Sie starb mit 85 Jahren an Altersschwäche. Friedlich war sie im Kreis ihrer Familie eingeschlafen. „Joanna, du bist ja so groß geworden“, sprach eine Freundin von Amalia sie ihm Wohnzimmer an. „Wie alt bist du denn schon?“ „16“, antwortete sie kurz angebunden. „Amalia war nur ein paar Jahre älter als du und erst seit fünf Jahren in London, als ich sie kennen lernte“, erzählte die alte Frau. Joanna horchte überrascht auf. „Oma hat nicht schon immer in London gelebt?“, wollte sie wissen. „Nein, sie kam nicht von hier“, antwortete die Freundin ihrer Groß- mutter. „Frag mich nicht, wo sie davor gelebt hat. Sie hat es mir nie verraten.“ Seite 2

Sie zwinkerte Joanna geheimnisvoll zu. Joanna runzelte verwirrt die Stirn. Bevor sie noch einmal nachfragen konnte, ging die Frau zum Buffet. Joannas Mutter hatte nie erwähnt, dass ihre Oma als Jugendli- che woanders gelebt hatte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Pfarrer Ama- lias Geburtsort gar nicht erwähnt hatte. Sie wollte ihre Mutter danach fragen, doch sie war gerade in Gespräche mit Trauergästen vertieft. Sie erinnerte sich, dass noch Sachen ihrer Großmutter auf dem Dach- boden standen. Vielleicht befand sich dort eine Geburtsurkunde von ihr. Unauffällig verließ Joanna das Wohnzimmer und lief die Treppe nach oben. Vor der Tür zum Dachboden blieb sie kurz stehen. Eine Gänsehaut überkam sie immer, wenn sie hier oben war. Sie achtete darauf, keine Spinnweben zu berühren, als sie die Tür öffnete. Dann betrat sie den verstaubten Dachboden und schaltete die kleine Glüh- birne an der Decke an. Hier standen viel Gerümpel und einige Kartons herum. Ob Joanna dort etwas Interessantes von ihr fand? Irgendwie tröstete sie der Gedanke, so als wäre sie weiterhin mit ihrer geliebten Großmutter verbunden. Joanna stieß mit den Fuß gegen eine kleine Holztruhe und sie zuckte schmerzerfüllt zusammen. Merkwürdig, diese Truhe hatte sie hier noch nie gesehen. Sie kniete sich davor und hob den Deckel an. „Wow“, staunte sie, als sie den Inhalt erblickte. „Wie eine Schatzkiste!“ Joanna griff nach einem goldenen Gegenstand und holte ihn heraus. Sie strich sich ihr langes, braunes Haar über die Schulter, hielt ihn hoch und betrachtete ihn im gedämpften Licht. Es war ein rundes Goldstück, das wie fremdes Geld aussah. Es war ein Wolf und ein Schloss darauf abgebildet. Joanna fand in der Kiste außerdem ein Tin- tenfass mit einer altmodischen Schreibfeder, ein herzförmiges Medail- lon aus schwarzem Holz und eine Sanduhr mit violettem Sand darin. Sie holte auch ein Papier heraus und faltete es auf. War das etwa eine Karte? Es erinnerte sie an keine Landkarte, die sie kannte. Man konnte Seite 3

nur vier vereinzelte Hügel und ein paar Bäume erkennen. Unten in der Truhe befand sich ein schwarzes Buch. Als Joanna es sah, klopfte ihr Herz auf einmal ganz schnell. Sie wusste nicht wieso, aber es kam ihr so vor, als wäre dieses Buch für sie bestimmt. Sie nahm es in die Hand und betrachtete es mit ihren grünen Augen ganz genau. Es hatte einen schwarzen Einband, auf dem in goldenen Buchstaben stand: Amalias geheimes Tagebuch Joanna zog die Augenbrauen nach oben. Ihre Großmutter hatte ein Tagebuch geführt und es hier verwahrt? Was hatte das zu bedeuten? Als sie das Buch öffnete, fiel ein kleines Foto heraus. Schnell hob sie es auf. So schnell wie Joanna es hochhob, ließ sie es auch wieder fallen. Sie zuckte erschrocken zusammen. Was war das? Sie glaub- te ihren Augen nicht. Hatten sich die Personen auf dem Bild etwa bewegt? So etwas ist nicht möglich. Joanna hob das Bild wieder auf und betrachtete es genauer. Träumte sie? Sie kniff sich in den rechten Arm. Nein, es war kein Traum. Es zeigte ein junges Pärchen, welches sich bewegte und dabei lachte. Die jugendliche Frau hatte langes, schwarzes Haar mit ein paar roten Strähnchen darin. War das etwa ihre Oma, als sie so alt war wie Joanna jetzt? Hinten auf dem Foto stand: „ICH WERDE DICH FÜR IMMER LIEBEN!“ Ihr wurde ganz warm ums Herz. War der Mann auf dem Bild viel- leicht ihr Großvater, den ihre Mutter nie kennengelernt hatte? Er hat- te kurzes braunes Haar und trug einen schwarzen Anzug mit einem weißen Hemd. Seite 4

Der junge Mann sah glücklich aus. Joanna schlug die erste handge- schriebene Seite auf und begann zu lesen. Seite 5

Liebe Joanna, wenn du dieses Tagebuch liest, bin ich nicht mehr bei dir. Ein Zauber hat diese geheime Truhe mit meinem magischen Tagebuch darin bis zu dem Zeitpunkt verborgen, ab dem ich dich nicht mehr beschützen kann. Das ist nun der Fall. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr bei dir bin, auch wenn ich für immer in deinem Herzen bleibe und du in meinem. Wir sind inniger verbunden, als du ahnst. Um das zu verste- hen, möchte ich dir erzählen, was mir als Jugendliche widerfahren ist. Meine törichten Entscheidungen haben das Schicksal meiner Familie und so vieler Menschen besiegelt. Das kann ich leider nicht mehr ändern. Ich kann dich aber davor bewahren, die gleichen Fehler zu begehen. Ich weiß, dass das für dich bestimmt schwer zu verstehen ist, jedoch spüre ich, dass du mir glauben wirst. Deine Mutter weiß nichts von unserem Familiengeheimnis und so sollte es auch bleiben. Es würde nicht in ihre Sicht der Welt passen. Aber du, Joanna, bist wie ich! Meine liebe Enkelin, ich bin eine Hexe! Joanna hörte auf zu lesen und schüttelte ungläubig den Kopf. War das ein Scherz ihrer Großmutter? Ein Versuch, sie nach ihrem Tod aufzumuntern? Oder war ihre Oma wirklich etwas verwirrt gewe- sen, wie Joannas Mutter es gern darstellte? Das wollte Joanna nicht glauben. Ihre Oma sprach hier von einem Zauber und davon, dass sie eine Hexe war. Wie kam sie nur darauf? Sie setzte sich auf den Boden und blätterte weiter. Sie wollte unbedingt wissen, was ihre Großmutter ihr mitteilen wollte. Meine liebe Joanna, wenn du bereit bist, warten viele Antworten in diesem Tagebuch auf dich. Ich werde meine Erinnerungen hier für dich festhalten. Wenn du ein Kapitel aufschlägst und mit dem Finger darüber fährst, wirst du es sehen. Du wirst sehen können, was geschehen ist. Es wird nicht immer leicht zu ertragen sein und ich schäme mich für das Seite 6

Leid, das ich angerichtet habe. Allerdings musst du wissen, dass ich dich nun nicht mehr beschützen kann. Denn immerhin ist ER noch am Leben und er wird die Jagd nach dir nie aufgeben … Zuerst verrate ich dir aber, woher ich wirklich komme, denn ich reiste erst mit 19 Jahren in die Welt, die du kennst, nach London. Geboren wurde ich in Reland in der Stadt Auremoor. Reland besteht aus Bergen, Seen, Wüstenlandschaften und viel kargem Land. Mitten in diesem Land liegt die Stadt Auremoor, die vor 900 Jahren erbaut wurde und von manchen auch die Goldene Stadt genannt wird. Es gab dort ein Gasthaus, das sich „Zum goldenen Löffel“ nannte, ein Rathaus mit vergoldeten Dächern, einen großen vergoldeten Stein im Fluss und in der Nähe des Marktplatzes befand sich eine vergol- dete, stählerne Henne mit einem vergoldeten Ei. Ein altes Schloss, das hoch über unserer Stadt thronte, wurde vor 500 Jahren erbaut. Schon als meine Eltern geboren wurden, erzählte man sich, dass die Prinzessin dieses Schlosses ein Kind zur Welt gebracht habe, von dem keiner wisse, wer der Vater sei. In unserer Stadt lebten seit Jahrhunderten Zauberer, Hexen, Teleporter und Tierwandler friedlich miteinander. Ein besonders mächtiger Zauberer ließ eine Stadtmauer erbauen und diese mit vier Toren versehen, die je in eine Himmelsrichtung zeigten. Er legte zuerst einen Unsichtbar- keitszauber über unsere Stadt. Daraufhin verschwand sie von allen Landkarten. Danach legte er einen Schutzzauber über unsere Stadt und wollte so verhindern, dass gefährlichen Gestalten, die in Reland lebten, in Auremoor eindringen konnten. Dieser mächtige Zauberer erschuf zu seinen Lebzeiten auch etwas, das mit unserem Familien- geheimnis zu tun hat. Um zu verhindern, dass böse Zauberer oder Hexen ihre Hand danach ausstreckten, versteckte er es an einem für ihn vermeintlich sicheren Ort in unserer Stadt. Das ging so lange gut, bis ein anderer Zauberer eines Tages etwas über dieses Geheim- Seite 7

nis und somit über meine Familie herausfand. Obwohl unsere Stadt unsichtbar war, wurdesie zum zusätzlichen Schutz Tag und Nacht von Wächtern bewacht. Sie waren sehr alt und sehr klug, denn sie hatten sich über die Jahrhunderte ein enormes Wissen angeeignet. Außerdem besaßen sie ein sehr gutes Gehör, sehr gute Geruchssinne, schliefen niemals und selbst in der Nacht sahen sie alles und jeden. Es waren Vampire. Und Joanna, stell dir vor, ich hatte einen Zwil- lingsbruder! Sein Name war John und ich habe ihn so sehr geliebt. Er konnte so stur sein wie ich und sah so attraktiv aus, dass er besonders bei den Mädchen sehr beliebt war. Ich vermisse ihn jedem Tag in meinem Leben. Wir wohnten mit unseren Eltern am Stadtrand von Auremoor in der Nähe des Gefährlichen Waldes, der unsere schöne Stadt umgab. Unser Haus war klein, bot jedoch genügend Platz für meine Familie. Es war aus roten Klinkersteinen gebaut, die Fenster weiß und unsere Haustür schwarz. Im Inneren war es für eine Zauberfamilie typisch eingerichtet. Mit einer magischen Uhr, die nicht nur die Zeit, sondern auch das Wetter und den Stand des Mondes und der Sonne anzeigte, und einem magischen Spiegel, der als eine Art Telefon benutzt wurde. In unserem Garten wuchsen Apfelbäume, Kirschbäume und viele Blumen. Zusammen waren wir glücklich, doch das wusste ich leider nicht zu schätzen. Statt an meine Familie und meine Freunde zu denken, sehnte ich mich nach Macht und stürzte uns alle ins Unglück … Dir das zu gestehen, fällt mir nicht leicht, doch es ist wichtig, dass ich dir das erzähle und dir meine Erinnerungen zeige. Du wirst alles mit eigenen Augen sehen und dann hoffentlich verstehen können. Ich liebe dich! Deine Oma Seite 8

Kapitel 2 Magische Erinnerungen Joanna konnte nicht glauben, was sie gerade gelesen hatte. Es sollte eine Stadt geben, die vergoldete Gegenstände hatte und auf keiner Landkarte zu finden war? Dort gab es eine Zauberschule und böse Kreaturen, die im Wald lebten? Das konnte doch kein Tagebuch, sondern nur eine erfundene Geschichte sein. Sie war noch ganz ver- wirrt und in Gedanken versunken, als auf einmal die Stimme ihrer Mutter erklang. „Joanna, komm bitte“, rief ihre Mutter nach oben. „Die Gäste wollen sich verabschieden.“ Joanna sah aus dem Fenster des Dachbodens. Es war bereits dunkel geworden und regnete immer noch. Sie dachte an die Geschichten, die ihre Großmutter ihr immer an ihrem Bett erzählt hatte. Manche waren lustig, andere wiederum traurig gewesen. Ob manche Erzäh- lungen auch wahr waren? Joanna überlegte kurz, was sie mit dem Tagebuch und dem Bild machen sollte. Sie beschloss, beides mitzunehmen und es zunächst in ihrem Zimmer im Kleiderschrank zu verstecken. Die anderen Gegenstände legte sie wieder in die Holztruhe zurück. Joanna stand auf, machte das Licht aus und ging leise die Treppe hinunter. „Ich komme gleich“, rief sie so gelassen wie möglich und rannte schnell in ihr Zimmer. Eine Minute später war sie unten in der Diele bei den Gästen, um sie zu verabschieden. Beim Abendessen herrschte eine bedrückende Stille. Joanna muss- te die ganze Zeit an das Tagebuch denken. Ob ihre Eltern wussten, dass am Dachboden eine alte Truhe stand? Sie könnte ihnen davon erzählen, doch gedanklich hat sie ihrer Großmutter das Verspre- Seite 9

chen gegeben zu niemanden etwas zu sagen. Bevor sie ihren Eltern Fragen über ihre Großmutter stellte oder das Tagebuch zeigte, wollte sie erst mehr darin lesen. Sie wollte unbedingt wissen, was ihre Großmutter ihr so Wichtiges anvertrauen wollte. Als ihre Mutter aufstand, um den Tisch abzuräumen, bot Joanna ihr ihre Hilfe an. „Danke, das ist lieb von dir, aber du siehst müde aus“, lehnte ihre Mutter freundlich ab und wollte, dass ihre Tochter zu Bett ging. Joanna war insgeheim ganz froh darüber, verließ die Küche und ver- schwand in ihrem Zimmer. Dort holte sie aus ihrem Kleiderschrank sofort das Tagebuch heraus, setzte sich auf ihr Bett und schlug es auf. Sie blätterte weiter und sah überrascht, dass auf der nächsten Seite kein Text mehr stand. Stattdessen hatte ihre Großmutter dort in großen, roten Buchstaben geschrieben: Der Zauberspiegel Merkwürdig … Wieso stand dort nur eine Art Kapitel- überschrift und kein Text? Joanna fuhr mit ihren Fingern über die rote Tinte. Es sah fast aus wie Blut. Die Buchstaben leuchteten plötzlich auf. Sie hielt erstaunt den Atem an. Was war das? Wie konnte das sein? Das Leuchten wurde so hell, dass sie kurz ihre Augen schließen musste. Als sie ihre Augen wieder öffnete, waren das Licht und die Buchsta- ben verschwunden. Stattdessen zeigte die Tagebuchseite ein Mäd- chen. Das hatte lange, schwarze Haare mit ein paar roten Strähnchen. Es wirkte nicht viel älter als Joanna und sah ihr sogar ähnlich. Man könnte glauben, dass das Mädchen und sie Geschwister wären. Nur dass Joannas schulterlanges Haar braun und ihre Augen grün waren. „Oma?“, wisperte Joanna perplex. Seite 10

Das konnte nicht sein! Das Mädchen bewegte sich im Buch. Joanna schrie auf und ließ das Buch erschrocken auf das Bett fallen. Sie sprang auf und stand unschlüssig im Zimmer. Wie konnte das sein? Wie war so etwas möglich? „Joanna?“, ertönte die Stimme ihres Vaters vor ihrer Zimmertür. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja“, rief sie schnell. „Alles gut.“ Mit klopfendem Herzen näherte sie sich dem aufgeschlagenen Tage- buch und blickte auf die Seite vor ihr. Das Mädchen lief gerade durch einen Wald und traf dort auf zwei Jungen. „Amalia, da bist du ja“, begrüßte sie ein schlanker Junge mit kurzen, schwarzen Haaren. Er hatte ebenso schwarze Augen wie Amalia und sah ihr ähnlich. Das war bestimmt ihr Zwillingsbruder John. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht“, mischte sich nun der andere Junge ein, der sein braunes Haar verstrubbelt trug. „Warum wolltest du dich mit uns im Gefährlichen Wald treffen?“ „Ich muss euch etwas zeigen!“, meinte Amalia aufgeregt und zog einen kleinen, runden Spiegel hervor. Dieser war aus Gold und auf der Rückseite mit einem roten Rubin, einem grünen Smaragd, einem schwarzen Opal und einem blauen Saphir besetzt. „Den Spiegel habe ich im Büro von Direktor Crow gefunden, als er mich wegen einem Streit mit Roana, zu sich zitierte.“ „Hat er nicht mitbekommen, dass du ihn genommen hast?“, wollte der braunhaarige Junge wissen. „Ach Robert“, lächelte Amalia und ihre Augen blitzten schelmisch auf. „Ich lasse mich dabei doch nicht erwischen.“ Joanna stockte. Das war doch der Junge auf dem Bild, das sie vorhin von ihrer Großmutter gesehen hatte. Seite 11

„Das ist bestimmt ein Zauberspiegel“, meinte John fasziniert und nahm ihn ihr ab. „Lasst uns mal sehen, was er so kann!“ Er sprach einen Zauberspruch und sofort erschien ein Bild. Die drei Jugendlichen beobachteten gespannt, was ihnen der Spiegel zeigte. „Das ist mein Professor“, rief Robert überrascht. „Er verstaut die Prüfungsfragen für morgen in seinem Fach.“ Ein durchtriebenes Lächeln schlich sich auf Johns Gesicht. „Worauf wartest du?“, stichelte er seinen Freund an. „Als Teleporter kannst du sie dir doch schnell holen! Die Eingangstür der Schule ist bestimmt noch offen oder du nimmst ein offenes Fenster.“ Robert grinste nun auch. „Wir müssen uns beeilen. Wenn alles zu ist, kommt Robert nicht in die Schule. Ein Schutzzauber liegt über ihr, welcher das Teleportie- ren verhindert“, drängte Amalia. „Über den Häusern der Stadt liegt auch einer. Nur wer die verbotene schwarze Magie beherrscht, kann diesen Zauber umgehen“, erklärte John noch schnell. „Die beherrschen wir aber nicht.“ „Alles klar“, meinte Robert. „Wartet kurz, ich bin gleich wieder da!“ Im nächsten Augenblick war er auch schon verschwunden. Joanna riss erstaunt die Augen auf. „Wenn das klappt“, sagte John zu seiner Schwester, „müssen wir nie wieder für Prüfungen lernen.“ Die beiden lachten. Einen Moment später tauchte Robert wie aus dem Nichts neben ihnen auf. Triumphierend hielt er ein Blatt in die Höhe. „Geschafft“, freute er sich. „Du bist genial“, meinte Amalia und lächelte den gutaussehenden Jungen verliebt an. „Nein, du bist genial“, widersprach Robert und lächelte zurück. „Im- merhin hast du diesen Spiegel gefunden.“ Seite 12

John verdrehte genervt die Augen. „Wie auch immer“, meinte er, „dieser Spiegel ist ein Segen!“ Nach seinen Worten verschwand das Bild im Tagebuch. Stattdessen erschien wieder die Überschrift: Der Zauberspiegel. Joanna war ganz verwirrt. Das alles ergab keinen Sinn. War das etwa tatsächlich Zauberei? Sie blätterte zur nächsten Seite und stell- te fest, dass ihre Großmutter wieder etwas hinein geschrieben hatte. Liebe Joanna, nun hast du die Magie meines geheimen Tagebuches kennengelernt. Auf diese Weise kannst du dir meine Erinnerungen ansehen. Auf der vorherigen Seite hast du mich mit meinem Bruder und meinem Freund gesehen. Damals dachten wir nur an unseren Spaß und ahnten nicht, was wir in unseren Händen hielten. Hätte ich ge- wusst, wozu dieser Spiegel in der Lage war, hätten wir ihn niemals für solche Albernheiten missbraucht, sondern zerstört. Im Herzen waren wir noch Kinder und genossen unser aufregendes Schulle- ben. Wie gern würde ich in diese Zeit zurückgehen, bevor der Tod in meinem Leben Einzug hielt. Bevor ich die schwarze Magie meinen Freunden vorzog. Leider ist es mir nicht mehr möglich. Aber durch meine Erinnerungen kannst du alles sehen und wirst hoffentlich die Zusammenhänge erkennen, die ich damals nicht begriff. Joanna, bitte pass auf dich auf! Der Verräter darf nicht auch noch dein Leben zerstören! Joanna klappte das Tagebuch zu und holte tief Luft. Das war ihr alles viel zu viel. Sie legte sich auf ihr Bett und starrte an die Zimm- erdecke. So viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Konnte Seite 13

das wirklich alles wahr sein? War ihre Oma eine Hexe gewesen und über ihrer Familie lag schon immer dieses Geheimnis? Joanna hatte das Gefühl, um sie herum würde sich alles drehen. Deshalb schloss sie erschöpft ihre Augen. Sie drückte das Tagebuch fest an ihre Brust, als würde sie ihre Großmutter selbst dadurch umarmen. Egal, wie verrückt das alles auch war, es war die Handschrift ihrer gelieb- ten Oma. Es war das Vermächtnis an ihre Enkelin und das würde Jo- anna in Ehren halten. Bald darauf fiel sie in einen unruhigen Schlaf und träumte von Hexen, die auf Besen durch einen Wald flogen. Seite 14

Seite 15


Like this book? You can publish your book online for free in a few minutes!
Create your own flipbook