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Test_2020-11-12_ZipA_Transferbericht_formatiert_KB_JH

Published by Jan.Haase, 2020-12-17 16:52:34

Description: 2020-11-12_ZipA_Transferbericht_formatiert_KB_JH

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Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote 2 7 Inhaltsverzeichnis 10 12 Vorwort 22 1. Hintergrund und Fragestellung 42 2. Vorstellung des Forschungsprojektes 52 3. Wie Experten den Zugang zu Unterstützungsangeboten einschätzen 62 4. Was pflegende Angehörige wirklich brauchen 69 5. Angebote der Kreise und Kommunen 71 6. Handlungsempfehlungen für vorbeugende Pflege- und Sozialpolitik 75 7. Transfertagung 8. Fazit 9. Literaturverzeichnis 10. Linkverzeichnis Vorgeschlagene Zitierweise Bohnet-Joschko, Sabine (Hrsg.), Zielgruppenspezifische Unterstüt- zungsangebote für pflegende Angehörige. Transferbericht. Witten 2020 ISBN 978-3-00-067430-3 1

für pflegende Angehörige Vorwort Prof. Dr. Sabine Bohnet-Joschko Angehörige leisten einen wichtigen Beitrag zur Versorgung von Pfle- gebedürftigen in unserer Gesellschaft, sie sollen dabei bestmöglich un- terstützt und entlastet werden. Der „Dschungel“ an Angeboten stellt je- doch nicht nur für pflegende Angehörige, sondern teilweise auch für Beratende eine Herausforderung dar, wenn es darum geht, passende Unterstützungsmöglichkeiten zu finden und in Anspruch zu nehmen. Nicht selten geraten Angehörige bei ihrem Engagement für die zu pfle- gende Person an ihre persönlichen Grenzen. Mit Förderung durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozi- ales des Landes Nordrhein-Westfalen und die Pflegekassen sind wir vor zweieinhalb Jahren angetreten, um zu untersuchen, wie Unterstützungs- angebote für pflegende und betreuende Angehörige stärker zielgrup- penorientiert ausgerichtet werden können – und um Hinweise zu erhal- ten, welche Maßnahmen Städte, Kreise und Kommunen kurz-, mittel- und langfristig umsetzen können. Das Forschungsprojekt ZipA – „Zielgruppenspezifische Unterstüt- zungsangebote für pflegende Angehörige“ betrachtet die Gesamtgruppe pflegender Angehöriger und untersucht die Pflegesituation, Bedürf- nisse und Belastungen dieser Menschen. Das Projekt stellt die Grund- lagenforschung für viele der aktuell an den Start gehenden Unterstüt- zungsmaßnahmen des Landes für pflegende Angehörige dar. Die Ergebnisse des Projekts werden mit diesem Abschlussbericht vor- gelegt. Der Bericht enthält umfassende Erkenntnisse zu der Situation, den Bedürfnissen und Belastungen, aber auch Möglichkeiten zur Un- terstützung und Entlastung pflegender Angehöriger. Im Fokus steht ins- besondere die Situation pflegender Angehöriger in Nordrhein-Westfa- len. Ein besonderes Kennzeichen des Projekts ist die Transfertagung, die in den Projektzeitraum integriert wurde: Pflegeberatende der Städte, Kreise und Kommunen, der gesetzlichen und privaten Kassen wie auch der Selbsthilfe und interessierte pflegende Angehörige nahmen am 13. Dezember 2019 an unserer Transfertagung teil. Wir freuen uns, dass sich Vertreter/innen der Betroffenen und Expert/innen aus den Gebiets- körperschaften an diesem Tag zusammengefunden und gemeinsam nach Strategien und Lösungen gesucht haben, damit Hilfeleistungen und Fördermaßnahmen besser und unkomplizierter bei den Betroffenen ankommen. 2

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Spürbare Verbesserungen gelingen nur, wenn die Erfahrungen und Per- spektiven der Angehörigen, Pflegeberatenden und weiterer Akteur*in- nen einfließen. Denn aufgrund regionaler Unterschiede, individueller Hintergründe und persönlicher Wünsche werden Lösungen stets indivi- duell angepasst werden müssen: Zielgruppenspezifische Unterstüt- zungsmaßnahmen können also nur im Austausch mit Betroffenen ent- wickelt werden. Erkenntnisse aus den interaktiven Formaten der Transfertagung vor dem Hintergrund unterschiedlicher Disziplinen konnten in die Projekt- ergebnisse einfließen und diese bestätigen bzw. ergänzen. So ermög- licht dieser Bericht einen umfassenden Blick auf die komplexen indivi- duellen Situationen pflegender Angehöriger und einen fortlaufenden Diskurs zwischen den beteiligten Disziplinen, welcher in dem Projekt begonnen wurde und fortgeführt werden sollte. Zugleich eröffnen sich hieraus durch eine abschließende Bündelung der Gesamtergebnisse Handlungsempfehlungen und Kennzahlen für die kommunale Steue- rung vorbeugender Sozialpolitik in Nordrhein-Westfalen. Unsere Forschung braucht vielfältige Unterstützung. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich beim Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen und den Landesverbänden der Pflegekassen für die Förderung unseres Projektes zu bedanken. Mein Dank geht auch an die Experten*innen aus Kommunen, Kranken- , Pflege- und Unfallkassen sowie Selbsthilfeorganisationen für die Teil- nahme an unserer Delphi-Studie sowie an die vielen Multiplikator*in- nen aus Vereinen, Initiativen, Netzwerken, ambulanten Pflegediensten und Pflegeberatungsstellen, die uns bei der Rekrutierung von pflegen- den Angehörigen für unsere quantitative Studie unterstützt haben. Sie alle haben dazu beigetragen, dass sich 1.429 pflegende Angehörige an unserer Studie beteiligt haben; es handelt sich damit um eine der größ- ten Untersuchungen in Deutschland zu diesem Thema. Ich danke Ihnen herzlich für dieses Engagement. Besonderer Dank geht an mein enga- giertes Team mit Katharina Bidenko, Jan Haase, Nina Sofie Krah, Len- Julian Liebelt, Prof. Dr. Tanja Segmüller, Dr. Christian G. G. Sorg und Christin Tewes. Wir hoffen mit diesem interdisziplinären kooperativen Projekt und ins- besondere mit den Ergebnissen, die in diesem Bericht dargelegt werden, einen entscheidenden Beitrag zur Gestaltung und Umsetzung zielgrup- penspezifischer Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige zu leisten. Das Projekt stellt die Grundlagenforschung für landesweite, re- 3

für pflegende Angehörige gionale und kommunale Konzepte zu Angeboten für pflegende Ange- hörige dar. Es soll aber auch der zukünftigen Orientierung von For- schungsvorhaben in diesem Bereich dienen. Schlussendlich sollte für und in einem partizipativen Prozess mit pflegenden Angehörigen eine zielgerichtete, individuell angepasste und flächendeckende Unter- stützungs- und Versorgungslandschaft geschaffen werden. Hierbei kön- nen insbesondere die abgeleiteten Handlungsempfehlungen und Kenn- zahlen von Bedeutung sein und als Planungsgrundlage für eine Gesamtstrategie zur Unterstützung pflegender Angehöriger dienen. Prof. Dr. Sabine Bohnet-Joschko Grußwort aus dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Sehr geehrte Damen und Herren, pflegende Angehörige tragen eine große Verantwortung für die Men- schen, die ihnen anvertraut sind. Dabei können sie an ihre Belastungs- grenzen kommen. Pflegende Angehörige zu stärken und zu unterstützen ist ein wichtiges Element der Pflegepolitik unseres Landes. So haben wir im Sommer 2019 die neuen „Regionalbüros Alter, Pflege und De- menz“ wie auch das Landesprogramm „Zeit und Erholung für mich: Kuren für pflegende Angehörige in Nordrhein- Westfalen“ an den Start gebracht. Die Grundlagenforschung für dieses wichtige Thema stellt das For- schungsprojekt „Zielgruppenorientierte Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige“ (ZipA) dar. Lobenswert ist, dass das For- schungsteam sich gemeinsam mit Beratenden und Pflegenden mit zu- kunftsweisenden Unterstützungsmöglichkeiten für pflegende Angehö- rige beschäftigt hat. Wir freuen uns über die große Resonanz der von uns und den Trägern der Pflegeversicherung geförderten Studie und sind sehr gespannt auf die Veränderungen in den Kreisen und Kommu- nen, die aus den Projektergebnissen resultieren können. Gerhard Herrmann Abteilung Alter, Pflege, Demographische Entwicklung Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 4

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Grußwort Prof. Christel Bienstein Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, ohne die vielen pflegenden Angehörigen wäre Pflege in Deutschland undenkbar. Die Unterstützung der pflegenden Angehörigen und auch die bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sind daher wichtige Zu- kunftsaufgaben. Dabei ist es essentiell, auf die individuellen Bedürf- nisse der Betroffenen einzugehen. Wie schön, dass unter der Leitung meiner Kollegin Prof. Dr. Sabine Bohnet-Joschko ein derart nützliches Projekt zu „zielgruppenspezifi- schen Unterstützungsmöglichkeiten für pflegende Angehörige“ reali- siert wurde. Als Präsidentin des deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe freue ich mich, dass die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes mit den Be- troffenen diskutiert wurden. Die abgeleiteten Handlungsempfehlungen und Kennzahlen für die kommunale Steuerung vorbeugender Sozialpo- litik in Nordrhein-Westfalen werden zukünftig wichtige Richtlinien in Beratungsprozessen pflegender Angehöriger darstellen. Prof. Christel Bienstein Grußwort Prof. h. c. Dr. Angelika Zegelin Sehr geehrte Damen und Herren, oft hochbelastet, suchen pflegende Angehörige Hilfe in der Nähe – im Quartier. Für pflegende Angehörige selbst gibt es nur wenige Möglich- keiten der Entspannung und zur Aussprache. Neben der Vielzahl von Angeboten sollten wir alle daran arbeiten, Pflegebedürftigkeit in unse- rer Gesellschaft allerorts „salonfähiger“ zu machen. Für Betroffene ist es oft schwierig, Hilfe anzunehmen. Das Angewiesensein wird als Pri- vatsache betrachtet – dabei wird es zunehmend mehr hilfesuchende Menschen geben. Gemeinsam mit Prof. Dr. Sabine Bohnet-Joschko und Prof. Dr. Tanja Segmüller habe ich im Praxisprojekt „Quartiersnahe Unterstützung pflegender Angehöriger“ (Quart-UpA) in den Jahren 2013 bis 2015 die Quartiersentwicklung zur Unterstützung pflegender Angehöriger unter- sucht. 5

für pflegende Angehörige Nach diesem Projekt haben wir uns als Autorinnen gewünscht, eine An- regung für andere Unternehmungen dieser Art geben zu können. Dieser Wunsch ist nun in Erfüllung gegangen: Ich freue mich, dass auf Basis des vorangegangenen Projektes Quart-UpA nun eine wichtige Studie entstanden ist. Auch wenn viele Maßnahmen nicht von heute auf morgen umgesetzt werden können, ist es wichtig, darüber mit verschiedenen Akteuren*in- nen zu diskutieren. Dieser partizipative Austausch wurde im ZipA-Pro- jekt realisiert. Prof. h. c. Dr. Angelika Zegelin 6

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote 1. Hintergrund und Fragestellung Angehörige sind oft die ersten und wichtigsten Unterstützungspersonen von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen. Durch zahlreiche Heraus- forderungen verbunden mit der Pflege, Betreuung, und Versorgung in der häuslichen Umgebung, sind Angehörige häufig auch selbst auf Un- terstützung und Hilfe angewiesen. Um eine gelungene Versorgung von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen zu gewährleisten, ist es unab- dingbar, die Situation von pflegenden Angehörigen näher zu betrach- ten.  Über 70% der Pflegebedürftigen in Deutschland werden im häus- lichen Umfeld versorgt Von den insgesamt 3,4 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden 2,6 Millionen (76 %) von pflegenden Angehörigen im häusli- chen Umfeld versorgt, zum Teil mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes (Statistisches Bundesamt, 2018). Damit stellt die Pflege und Betreuung durch die Gruppe der informell Pflegenden die wich- tigste Versorgungsform zur Bewerkstelligung der Pflegesituation dar. 7

für pflegende Angehörige  Die Pflegebedürftigkeit nimmt stark zu Bis zum Jahr 2030 ist mit einer Zunahme der Zahl der Pflegebedürfti- gen auf bis zu 3,5 Millionen zu rechnen – im Gegensatz dazu zeigt sich, dass das Potential pflegender Angehöriger abnehmen wird (Nowossa- deck et al., 2016). Gründe dafür sind nicht nur der demographische Wandel, sondern u.a. auch die verlängerte Erwerbstätigkeit und die zu- nehmende Erwerbstätigkeit von Frauen. Umso bedeutender ist es, die Pflegefähigkeit und -bereitschaft von Angehörigen zu erhalten und zu fördern, denn diese tragen dazu bei, dass hilfe- und pflegebedürftige Personen in der häuslichen Umgebung bleiben können, was sowohl der bevorzugte Wunsch der Angehörigen als auch der Hilfe- und Pflegebe- dürftigen ist.  Pflegende Angehörige stehen oft unter hoher Belastung Allerdings zeigen Erfahrungsberichte pflegender Angehöriger und Stu- dienergebnisse, dass die Übernahme von Tätigkeiten im Kontext der pflegerischen Versorgung und Betreuung, oft über Jahre hinweg, mit gesundheitlichen, zeitlichen, emotionalen, sozialen sowie finanziellen Belastungen einhergeht.  Information und Beratung vermitteln Entlastungs- und Unterstüt- zungsleistungen Die skizzierte Situation weist auf einen Unterstützungsbedarf dieser Personengruppe hin. Information und Beratung fungieren hier als Schnittstelle zu entsprechenden Entlastungs- und Unterstützungsleis- tungen. Frühzeitig wahrgenommene Beratungsangebote können zur Gesundheitsförderung und Prävention von Erkrankungen der pflegen- den Angehörigen sowie Pflegebedürftigen beitragen, was die häusli- chen Pflegearrangements stabilisiert und aufrechterhält. Obwohl ein Unterstützungsbedarf vorhanden und die Angebotslandschaft vielfältig und groß ist, führt dies nicht automatisch zu einer Inanspruchnahme entsprechender Angebote zur Beratung, Schulung und Entlastung.  Vorhandene Angebote für pflegende Angehörige werden oft nur wenig genutzt Studien zeigen, dass solche Angebote oftmals nur wenig in Anspruch genommen werden. Gründe dafür sind bisher nicht abschließend ge- klärt und erfordern eine detaillierte Untersuchung. 8

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote  Sind die vorhandenen Angebote nicht bekannt oder entsprechen die Angebote nicht den individuellen Bedürfnissen der Zielgruppe? Offensichtlich bleiben die Bedürfnisse durch die angebotenen Leistun- gen häufig ungedeckt. Ein Grund dafür könnte in der Heterogenität der Gruppe pflegender Angehöriger liegen, die sehr unterschiedliche Be- dürfnisse aufweist, die beispielsweise je nach Alter und Geschlecht va- riieren können.  Es braucht ein besseres Verständnis des Zusammenspiels von Be- dürfnissen und Inanspruchnahme von Angeboten zur Entlastung pflegender Angehöriger. Die hier beschriebene Sachlage demonstriert die Relevanz und Dring- lichkeit, zu einem besseren Verständnis und damit zu einer Nachvoll- ziehbarkeit und Erklärbarkeit hinsichtlich des Zusammenspiels von Be- dürfnissen und Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten zu gelangen. Denn offensichtlich existiert eine Diskrepanz zwischen Be- dürfnissen und Inanspruchnahme. In Anbetracht dieser Erkenntnisse liegt der Fokus der vorliegenden Untersuchung auf den folgenden Aspekten: – Wodurch fühlen sich pflegende Angehörige belastet? – Welche Unterstützungsmöglichkeiten für pflegende Angehörige gibt es? – Warum nehmen pflegende Angehörige wenig Beratung und prak- tische Hilfe in Anspruch? – Welche Unterstützung brauchen pflegende Angehörige wirklich? 9

für pflegende Angehörige 2. Vorstellung des Forschungspro- jektes  Allgemeine Informationen Das Projekt „Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote für pfle- gende Angehörige (ZipA)“ wird vom Ministerium für Arbeit, Gesund- heit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen und von den Pflege- kassen gefördert. Durchgeführt wird das ZipA-Projekt durch das Forschungsteam der Universität Witten/ Herdecke in Kooperation mit der Hochschule für Gesundheit Bochum. Das Projekt begann im Juni 2017 und endet im Juni 2020.  Zielsetzung Ziel des Projektes ist es, Gruppen pflegender Angehöriger mit spezifi- schen Unterstützungsbedürfnissen zu identifizieren und anhand von persönlichen Merkmalen und Besonderheiten der häuslichen Betreu- ungssituationen zu beschreiben. Außerdem werden die Bedürfnisse pflegender Angehöriger, ihre Kenntnis und Nutzung von Unterstüt- zungsangeboten sowie ihre individuellen Belastungen dargestellt. Aus diesen Erkenntnissen werden Kennzahlen und Handlungsempfehlun- gen für die kommunale Steuerung vorbeugender Sozialpolitik in Nord- rhein-Westfalen entwickelt.  Untersuchungsmethodik Die Studie folgt einem Mixed-Methods-Design mit Einsatz qualitativer und quantitativer Verfahren. Die erste qualitative Untersuchung diente der Exploration der für das Forschungsprojekt relevanten Themenge- biete und stellte eine Grundlage für die Planung der quantitativen Da- tenerhebung sowie die Entwicklung eines Fragebogens dar. In einer mehrstufigen Delphi-Befragung wurden Einschätzungen von Expertin- nen und Experten zu Bedürfnissen, Unterstützungsangeboten und Bar- rieren der Inanspruchnahme erhoben und analysiert. Anschließend er- folgte eine Befragung pflegender Angehöriger mittels eines schriftlichen Fragebogens. Zur Analyse der Befragungsergebnisse ka- men statistische Auswertungsmethoden wie z. B. eine Clusteranalyse zum Einsatz. 10

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote  Nutzen der Ergebnisse Die Projektergebnisse sollen dazu beitragen, dass Unterstützungsange- bote noch stärker an die individuellen Bedürfnisse von pflegenden An- gehörigen angepasst werden können. Die Studie bildet eine Grundlage für zukünftige Entwicklung und Kommunikation zielgruppenspezifi- scher Angebote und damit auch für den rationalen Einsatz knapper öf- fentlicher Mittel zur Unterstützung dieser wichtigen Gruppe.  Übertragbarkeit und Wissenstransfer Durch die Identifizierung von (Risiko-) Zielgruppen pflegender Ange- höriger mit ihren jeweiligen Bedürfnissen und sozioökonomischen Merkmalen können Kreise und Kommunen, aber auch Kranken-, Pflege- und Unfallkassen, Projektergebnisse auf die Struktur ihrer Ein- wohner bzw. Versicherten übertragen. 11

für pflegende Angehörige 3. Wie Experten den Zugang zu Unterstützungsangeboten ein- schätzen Eine Delphi-Studie Ziel der Delphi-Studie war es zu ermitteln, wie Expert*innen aus der Beratungspraxis die bestehenden Unterstützungsleistungen für pfle- gende Angehörige sowie mögliche Barrieren der Inanspruchnahme ein- schätzen. In einem ersten Schritt wurden zunächst in einer systemati- schen, mehrstufigen Delphi-Befragung Interviews mit verschiedenen Expert*innen aus Kommunen, Kranken-, Pflege- und Unfallkassen so- wie der Selbsthilfe und Vereinen (privat organisiert) geführt. Im Rahmen der Delphi-Befragung wurden im Zeitraum November bis Dezember 2017 insgesamt leitfadengestützte Interviews mit zwölf Ex- pert*innen aus Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Die Dauer der Inter- views betrug durchschnittlich 63 Minuten (45 Minuten bis 80 Minuten). Anschließend erfolgte die Transkription und computergestützte inhalts- 12

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote analytische Auswertung der Interviews. Die Ergebnisse der Delphi-Un- tersuchung beziehen sich auf insgesamt fünf Teilaspekte: – Bedürfnisse pflegender Angehöriger Unterstützungsangebote – Fehlende oder nicht ausreichend vorhandene Unterstützungsange- bote Kommunikationskanäle – Barrieren der Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten Die zweite Delphi-Runde erfolgte schriftlich als Fragebogenerhebung. Mit dem Ziel der Validierung von Aussagen wurden die Expert*innen hier zunächst in offenen Fragen um ihre Einschätzung, Ergänzung und Priorisierung zu den zusammengeführten und verdichteten Ergebnissen der ersten Runde gebeten. Tatsächlich konnte zu vielen Kernaussagen eine hohe Übereinstimmung der Ansichten und Meinungen festgestellt werden. Die Expert*innen wurden darüber hinaus um die formale Bewertung von Thesen gebeten, die aus Erkenntnissen der ersten Delphi-Runde ab- geleitet und als Aussagen formuliert wurden. Expert*innen gaben auf einer Skala von 0 bis 10 (0 = stimmt nicht; 10 = stimmt völlig) bei ins- gesamt 23 Thesen ihren Zustimmungsgrad an. Die von den Befragten genannten Unterstützungsangebote lassen sich in fünf Arten unterteilen und stellen sich wie folgt dar:  Information und Beratung: Pflegeberatung (telefonisch, vor Ort oder in der häuslichen Umgebung), Wohnberatung, Beratung zu Hilfsmit- teln, Pflegehotline, Service-Mappe für Unternehmen zur Information über Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, Case Management  Schulung: Pflegekurse mit unterschiedlichen Schwerpunktthemen wie z. B. Demenz, Entspannung und Stressbewältigung, individuelle häus- liche Einzelschulungen  Entlastungsangebote: Kurzzeitpflege, Tagespflege, Nachtpflege, Ver- hinderungspflege, Leistungen der ambulanten Pflege (Pflegesachleis- tungen oder Kombinationsleistungen), niedrigschwellige, haushalts- nahe Entlastungs- und Betreuungsangebote, Urlaubsangebote für pflegende Angehörige, berufliche Freistellung über 10 Tage, ehrenamt- liche Besuchsdienste, Pflege- und Demenzbegleitung  Emotionale, soziale und psychologische Unterstützung: Selbsthilfe- gruppen, Gesprächskreise/Cafés, psychologische Beratung und 13

für pflegende Angehörige Coaching, u. a. auch kostenlose, bundesweite, psychologische Online- Beratung für pflegende Angehörige (über www.pflegen-und-leben.de – anonym und kostenfrei), Hilfsangebote über Nachbarschaftshilfe, Stadtteilangebote und/oder Kirchengemeinde  Rehabilitation und Prävention: Rehabilitation (Wiederherstellung der Gesundheit), Kur (ambulante oder stationäre Vorsorgeleistungen), Gesundheitskurse Nach Einschätzung der Expert*innen fehlen bestimmte Unterstüt- zungsangebote ganz, andere Leistungen würden in zu geringem Maße angeboten. Als fehlende Angebote wurden genannt: a) Entlastungsangebote in den Abendstunden und am Wochenende könnten pflegenden Angehörigen mehr Flexibilität in der Planung geben. b) Familienmoderation im Sinne einer neutralen Konfliktmoderation mit Familienmitgliedern im Rahmen von Pflegebedürftigkeit könnte, z. B. bei plötzlich auftretenden Akutsituationen, die Orga- nisation der Pflege in der Familie unterstützen. Weiterhin skizzierten die Expert*innen Angebote, die erweitert werden sollten, da keine ausreichende Angebotssituation vorliegt. Dies betrifft vor allem bestimmte Versorgungsformen zur Entlas- tung pflegender Angehöriger, aber auch bestimmte Beratungsan- gebote aufsuchender Art. a) mehr Entlastungsangebote wie Nachtpflegeplätze, Kurzzeit- pflege- und Tagespflegeplätze (zeitlich flexibel) b) mehr und bedarfsgerechtere Angebote zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf c) mehr hochwertiges Case Management d) mehr niedrigschwellige Angebote zur Unterstützung im Alltag wie Betreuungs- und Entlastungsleistungen, die flexibel und kurz- fristig zu jeder Zeit und auch am Wochenende und an Feiertagen abrufbar sind e) mehr flächendeckende Pflegestützpunkte/Pflegeberatungsstel- len f) mehr aufsuchende Pflege- und Wohnberatung 14

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote g) mehr Online-Angebote z. B. zur Information, zu Beratung und zum Austausch zwischen pflegenden Angehörigen h) mehr Urlaubsangebote mit/ohne den Pflegebedürftigen i) mehr Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige j) mehr Hin- und Rücktransporte z. B. zum Arzt, zu Pflegeein- richtungen k) mehr kurzfristige, niedrigschwellige Nachbarschaftshilfe l) mehr Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund z. B. Tagespflege (sinnvoll wäre die bestehende Angebote dem- entsprechend anzupassen) m) mehr generationenübergreifende Wohnformen mit Unterstüt- zungs- und Entlastungsangeboten n) mehr psychotherapeutische Betreuung für ältere Menschen ins- besondere bei beginnender Demenz Die Befragten priorisierten hauptsächlich drei fehlende und nicht ausreichend vorhandene Angebote, die am dringlichsten aufzu- bauen bzw. weiter auszubauen wären: – Entlastungsangebote in den Abendstunden, am Wochenende, an Feiertagen – Bedarfsgerechte Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege – Hochwertiges Case Management Ferner wurden als prioritär niedrigschwellige, haushaltsnahe Betreu- ungs- und Entlastungsleistungen genannt, sowie Online-Angebote zum Austausch und zur Vernetzung. Die These, dass Pflegeplätze, die flexibel auch in den Abendstunden, in der Nacht und am Wochenende genutzt werden können, am Pflege- markt gar nicht angeboten werden – trotz Bedarf bei pflegenden Ange- hörigen –, fand eine hohe Bestätigung aller Befragten. Ebenso sind sich die Expert*innen in hohem Maße einig, dass der Bedarf an Entlastungs- angeboten, insbesondere Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflegeplätzen, größer ist als das Angebot auf dem Pflegemarkt. 15

für pflegende Angehörige Barrieren der Inanspruchnahme von Unterstützungsan- geboten Auf dem Weg zur Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten sind pflegende Angehörige mit unterschiedlichen Hindernissen konfrontiert. Insgesamt konnten aus den Interviews drei Arten von Barrieren identi- fiziert werden, die angebotsinduziert sind: Informations- und Bera- tungsdefizite, organisatorische und finanzielle Hürden, mangelhafte und mangelnde Angebote. Darüber hinaus nannten Expert*innen spezifische Barrieren, die nicht im Zusammenhang mit Angeboten stehen, sondern in der Person des pflegenden Angehörigen oder des Pflegebedürftigen selbst liegen (int- rapersonelle Barrieren wie Einstellungen und Werte) oder in der Bezie- hung zu anderen Personen im Umfeld (interpersonelle Barrieren wie Bedürfnis- und Meinungs-Konflikte zu pflegebedürftigen Person und anderen). Nicht selten besteht beispielsweise eine Abneigung, fremde Personen in den Haushalt zu lassen. Auch Schamgefühle (zu offenba- ren, dass Hilfe benötigt wird) spielen dabei eine Rolle. Im Folgenden wird ausschließlich auf Barrieren eingegangen, die auf Seiten eines An- gebots liegen und mit der Ausführung von Angeboten und Leistungen im Zusammenhang stehen. Dazu gehört an erster Stelle die Information und Beratung über Angebote.  Informations- und Beratungsdefizite a) Informationsprobleme – Unwissenheit seitens der pflegenden Angehörigen über Leis- tungen und Angebote – Fehlender Zugang zu Informationen seitens des pflegenden Angehörigen (z. B. nicht zu wissen, wo Informationen zu fin- den sind, Sprachprobleme) b) komplexe Informationen zu Leistungsansprüchen, Anbietern und Angeboten – Verstehen von Strukturen, Gesetzen und Begrifflichkeiten wie speziellen Fachbegriffen und Terminologien – Unüberschaubarkeit einer Vielzahl von Angeboten und Leis- tungen (Pflegedschungel) – Komplexität führt zu Schwierigkeiten in der Pflegeberatung (ggf. Wissensdefizite) c) nicht immer korrekte, neutrale und umfassende Beratung zu Leistungen 16

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote – falsche Informationen zu Leistungen und Angeboten in der Be- ratung – vorenthaltende Informationen über Leistungen und Angebote in der Beratung (teilweise Information nur auf explizite Nach- frage) – weiterschicken oder abwimmeln – zu wenig Zeit für ausführliche Beratung und Evaluation (be- dingt durch Personalmangel und Arbeitsverdichtung) seitens der Pflegeberatung  Organisatorische und finanzielle Hürden zur Inanspruchnahme d) Information/Beratung nicht „aus einer Hand“, sondern meh- rere Anlaufstellen, Bedarf an engerer Verzahnung der Leistungs- erbringer und Kostenträger e) geringe Praktikabilität in der Umsetzung von Leistungen, we- nig Inanspruchnahme von Leistungen zur Vereinbarkeit von Be- ruf und Pflege wie Familienzeit, Pflegezeitgesetz, Freistellung von 10 Tagen f) zu viel Bürokratie bei der Inanspruchnahme von Leistungen g) Verzögerung oder Ablehnung von Leistungsbewilligungen, um Ausgaben zu verhindern h) hoher Einsatz seitens der pflegenden Angehörigen ist erforder- lich, um Leistungen der Pflegekasse zu erhalten, z. T. Wider- spruch nötig i) Angebot zu teuer – Bezuschussung durch Sozialhilfeträger reicht oft nicht aus, zusätzlichen Kosten stehen knappe finanzielle Mög- lichkeiten gegenüber (hilfreich wäre z. B. eine von den Pflegekas- sen bezahlte Nachbarschaftshilfe im Rahmen der niedrigschwelli- gen Leistungen) j) Zu wenig Akzeptanz der bezahlten Nachbarschaftshilfe  Mangelnde und mangelhafte Angebote k) fehlende Angebote, da Angebote nicht am Pflegemarkt vorhan- den sind l) Angebote nicht ausreichend verfügbar, Mangel an Pflegeplät- zen; es gibt Wartelisten m) keine flächendeckenden Angebote, Angebote nicht vor Ort bzw. in erreichbarer Nähe 17

für pflegende Angehörige n) Fachkräftemangel kann zur Kündigung des Versorgungsauf- tragsführen (z. B. bei ambulanten Pflegediensten) o) unklarer Nutzen von Angeboten für pflegende Angehörige Im Ergebnis scheint ein Großteil der Barrieren in Informations- und Be- ratungsdefiziten zu liegen. Expert*innen äußerten zudem, dass häufig Hilfe- und Unterstützungsmöglichkeiten erst sehr spät in Anspruch ge- nommen werden, wenn ein Problemfall schon eingetreten ist und Zeit- druck entsteht. Diese Situation hinge auch u.a. mit dem oben genannten Schamgefühl und anderen interpersonellen wie intrapersonellen Werteeinstellungen und Hindernissen zusammen. Es käme vor, dass Angehörige schon ei- nige Jahre pflegten, und obgleich sie sehr wohl einen Anspruch auf Leistungen z. B. der Pflegekasse hätten, beantragten sie keine Leistun- gen – bis die Pflege nicht mehr allein zu bewältigen sei und eine Kri- sensituation entstünde. Eine Auseinandersetzung mit der Problematik finde erst „unter Druck“ statt, da es sich um ein unangenehmes Thema handelt. Expert*innen sehen den Bedarf nach frühzeitiger Hilfe und Unterstützung, d. h. schon zu Beginn oder sogar präventiv vor Beginn einer Pflegetätigkeit. Ein Ansatz wäre es, wesentlich früher mit Infor- mation und Aufklärung zu beginnen. So wurde der Vorschlag geäußert, das Thema bereits in die Lehrpläne der Schulen aufzunehmen.  Mit welchen Barrieren sind pflegende Angehörige am häufigsten konfrontiert? Die größten Hindernisse sehen die Befragten in der Komplexität des Pflegesystems mit unterschiedlichen Leistungen, Angeboten, Begriff- lichkeiten und Gesetzen – was zu einer Überforderung der pflegenden Angehörigen führt. Hier bestand ein großer Konsens unter den Befrag- ten. Die Komplexität und Unüberschaubarkeit resultiere auch aus den bürokratischen Strukturen, die im Prozess der Leistungsbewilligung zum Tragen kämen und je nach Fall die Kontaktaufnahme zu unter- schiedlichen Leistungsträgern des Sozialgesetzbuchs nach sich ziehen können – Information und Beratung kommen nicht aus einer Hand, die Beantragung ist aufwändig, da sie unterschiedlichen Voraussetzungen zur Leistungsbewilligung unterliegt. Die Komplexität habe allerdings auch mit den Gesetzen zur Stärkung der Pflege eher zu- als abgenom- men, so die Einschätzung einiger Befragter. 18

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Ob die komplexen Sachverhalte auch Wissenslücken und Überforde- rung der Pflegeberaterinnen und -berater zur Folge haben, konnte nicht von allen Befragtengruppen voll und ganz bestätigt werden. Obwohl die Vertreter*innen aus dem Bereich Selbsthilfe/Verein diese Auffas- sung in hohem Maße vertreten, sind die Befragten der Kassen weniger dieser Meinung – ohne dies jedoch völlig auszuschließen. Befragte aus den Kommunen schätzen die Problematik von Wissenslücken und Überforderung als eher gering ein. Ferner werden fehlende und nicht ausreichende Angebote als eine we- sentliche Hürde angesehen, die zum Teil aus Fachkräftemangel resul- tiert. Weitere als prioritär angesehene Hindernisse in der Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten, liegen nach Ansicht der Expert*innen in den Kosten bestimmter Angebote (Teilleistungs-Prinzip der Pflegever- sicherung). Dies führe zu finanziellen Hürden, die aufgrund knapper Ressourcen teilweise nur schwer oder gar nicht zu überwinden seien. Das Einlegen von Widerspruch gegen nicht bewilligte Leistungsbe- scheide sei für viele pflegende Angehörige aus Zeit- und Kraftmangel nicht leistbar. An dieser Stelle spiele auch soziale Ungleichheit eine Rolle. So könnten Besserverdienende und sozial besser gestellte Perso- nenkreise Zusatzkosten oder Leistungen insgesamt aus eigenen Mitteln tragen, sie wären jedoch auch eher in der Lage, Widerspruch einzule- gen, als sozial und finanziell schwächer gestellte Personen und Fami- lien. Einer höheren Auslastung und Inanspruchnahme von Leistungen durch pflegende Angehörige stehen allerdings weitere Hindernisse im Wege. Der These, dass Leistungsanträge häufig abgelehnt werden, absichtlich und bewusst hinausgezögert oder auf andere Leistungsträger abgescho- ben werden, wurde teilweise zugestimmt. Die Expert*innen aus dem Bereich Selbsthilfe/Verein stimmten dieser Aussage in hohem Maße zu, während Vertreter*innen der Kassen und Kommunen zu uneinheit- lichen Einschätzungen kommen. Einige Befragte fordern in diesem Zu- sammenhang stärker rechtsverbindliche Leistungen für pflegende An- gehörige bzw. Pflegebedürftige. Hinsichtlich der These, dass empfohlene Angebote und Leistungen nicht immer unabhängig und umfassend seien, gibt es nur eine geringe 19

für pflegende Angehörige Einigkeit zwischen den Befragten. Während Vertreter*innen des Be- reichs Selbsthilfe/Verein dieser These sehr stark zustimmten, lehnten die der Kassen diese Aussage eher ab, eine noch stärkere Ablehnung kam durch die Befragten aus dem Bereich der Kommune. Auch die These, dass Personalmangel und Arbeitsverdichtung in der Pflegeberatung zu einem Zeitmangel in der Pflegeberatung führt, wurde nicht einheitlich beurteilt. Die Expert*innen aus dem Bereich Selbst- hilfe/Verein konnten damit übereinstimmen. Angemerkt wurde, dass Pflegeberatung Zeit und Raum bräuchte, die jedoch teilweise zu wenig vorhanden seien. Befragte aus dem Bereich der Kassen und Kommunen waren in ihrer Bewertung zurückhaltender. Immerhin scheint die Prob- lematik eines Zeitmangels in der Beratung nicht gänzlich abwegig. Bezüglich der Aussagen über die Ausführung der Pflegeberatung lässt sich zusammenfassend festhalten, dass es verschiedene Akteure und Träger in diesem Feld gibt. Diese würden die Anforderungen der Pfle- geberatung nach SGB XI 7a auf sehr unterschiedliche Weise umsetzen – hinsichtlich beispielsweise der Kenntnis von Angeboten, des Vernet- zungsgrads mit Anbietern und Angeboten, der Möglichkeit einer auch kurzfristigen Beratung und der Durchführung von Evaluationsmaßnah- men. Wie beschrieben, hängt zudem die Qualität einer Beratung auch in er- heblichen Maß von der Person selbst, welche die Beratung durchführt, ab. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass keine einheitliche Qualität der Beratung von pflegenden Angehörigen gewährleistet werden kann, son- dern dass Unterschiede je nach Pflegeberatungsstelle und ausführender Person, nach Qualifikation, Kompetenz und Motivation bestehen. Vor diesem Hintergrund könnten auch ggf. die eher gegensätzlichen Mei- nungen der Befragten zu einzelnen Aspekten der Pflegeberatung erklärt werden (unabhängige und umfassende Beratung, Empfehlungen aus dem eigenen Leistungsrepertoire des Anbieters / des Trägers, Empfeh- lungen zu überwiegend Print- oder Online-Medien, Wissenslücken auf Seiten der Pflegeberaterinnen und -berater, Zeitmangel durch Personal- mangel und Arbeitsverdichtung u.a.). Die Ergebnisse der Delphi-Studie geben einen vertieften Einblick in die Bedürfnisse und Bedarfe pflegender Angehöriger sowie zu bereits be- stehenden wie auch fehlenden oder knappen Unterstützungsangeboten. 20

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Darüber hinaus konnten kontextuelle und personelle Faktoren sichtbar gemacht werden, die aufzeigen, inwiefern Bedürfnisse und Bedarfe auf Seiten der pflegenden Angehörigen wie auch der Pflegebedürftigen selbst die Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten beeinflussen bzw. wo es Hindernisse zu überwinden gilt. Die Pflegeberatung konnte als zentrales Element der Versorgung iden- tifiziert werden. Sie stellt selbst ein Unterstützungsangebot dar, fungiert aber vor allem als Schnittstelle zwischen pflegenden Angehörigen und dem Pflegemarkt und steuert den Zugang zu Unterstützungsangeboten. Pflegeberatung beginnt mit der Ermittlung von Bedürfnissen und Be- darfen der Rat suchenden pflegenden Angehörigen, sie kann durch Empfehlungen zu bedarfsorientierten Angeboten lenken und – idealer- weise – auch die Wirkung der Beratung evaluieren, um eine Nachsteu- erung zu ermöglichen. In Deutschland existiert eine breite Pflegebera- tungslandschaft mit zahlreichen Konzepten, Akteuren und Trägern. Das Feld der Pflegeberatung ist auf der Anbieterseite durch Vielfältig- keit gekennzeichnet, unterliegt bei den Angeboten jedoch überwiegend den gesetzlichen Rahmenbedingungen nach SGB XI. Als eine Beson- derheit ist zu beachten, dass gesetzliche Bestimmungen der unter- schiedlichen Bundesländer, die auch bei der kommunalen Pflegebera- tung durch Pflegestützpunkte zu berücksichtigen sind, zu ungewünschten Doppelstrukturen führen können. Im Hinblick auf das angestrebte Projektziel, die Versorgung pflegender Angehöriger in NRW auch durch Handlungsempfehlungen und Kenn- zahlen für kommunale Unterstützungsleistungen zu fördern, konnte hier ein zentraler Einflussfaktor identifiziert und exploriert werden. 21

für pflegende Angehörige 4. Was pflegende Angehörige wirklich brauchen Ergebnisse einer Befragung  Ziel der Befragung Im Projekt wurden die unterschiedlichen Bedürfnisse und Belastungen pflegender Angehöriger im Rahmen einer Befragung ermittelt. Darüber hinaus erfassen die Umfragedaten, wie gut Angehörige die Informa- tions- und Beratungsangebote kennen und wie intensiv sie diese nutzen. Im Kern der Untersuchung steht die Identifizierung von (Risiko-) Kons- tellationen und von gruppenspezifischen Unterstützungsbedarfen pfle- gender Angehöriger. Dies stellt eine Grundlage für die zukünftige Ent- wicklung und Kommunikation zielgruppenspezifischer Angebote für pflegende Angehörige dar.  Befragungsmethode Insgesamt haben 1.429 Personen im Zeitraum von November 2018 bis März 2019 an der Befragung teilgenommen. Dabei handelte es sich um 22

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote volljährige Personen, die in den letzten zwölf Monaten mindestens ei- nen Familienangehören, Freund oder Nachbarn regelmäßig gepflegt o- der betreut haben – und zwar unabhängig davon, ob die pflegebedürf- tige Person einen Pflegegrad hat. Die Daten wurden anhand eines Online- und Papierfragebogens erfasst. Die Teilnahme an der Studie war freiwillig und anonym. Die Studie wurde durch die Ethikkommis- sion der Universität Witten/Herdecke zustimmend bewertet (Vorgangs- Nummer: 241/2017).  Fragebogen Der Fragebogen besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wurden Anga- ben zur Pflegesituation erfasst (z.B. Dauer und Umfang der Pflege). Im zweiten Teil wurden folgende vier Aspekte abgefragt: Belastungssitua- tion, Bedürfnisse, Kenntnis und Nutzung von Informations- und Bera- tungsangebote. Im dritten Teil wurden schließlich soziodemographi- sche Angaben erhoben (z.B. Alter und Geschlecht). Der Fragebogen beruht auf Messinstrumenten aus der Literatur zu pfle- genden Angehörigen, die durch das Projektteam entwickelt oder modi- fiziert wurden. Durch eine Experteneinschätzung aus dem Bereich der Beratung von pflegenden Angehörigen wurden die Messinstrumente auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Außerdem haben sieben Personen aus der Zielgruppe den Fragebogen im Rahmen eines Pretests auf Verständlichkeit geprüft.  Rekrutierung Den Fragebogen konnten die Teilnehmer im Netz ausfüllen. Für schwer erreichbare Personengruppen, wie ältere Personen oder Personen, die über keinen Internetanschluss verfügen, wurden Papierfragebögen zur Verfügung gestellt. Zur verstärkten Einbindung von Personen mit Mig- rationshintergrund wurden übersetzte Papierfragebögen angeboten. Der Fragebogen war in drei Sprachen verfügbar – Deutsch, Türkisch und Russisch. Zahlreiche Institutionen, Einrichtungen und Organisationen, die im Kontext pflegender Angehöriger tätig sind, unterstützten die Be- fragung durch Verbreitung von Informationen über Online-Newsletter, Email-Verteiler, etc. Darüber hinaus wurden die Informationsmateria- lien in den kooperierenden Einrichtungen und bei den Tagungen ver- teilt. Über einige Kooperationspartner konnten die Papier-Fragebögen an die Zielgruppe weitergeleitet werden. Pflegende Angehörige wurden über soziale Netzwerke rekrutiert, indem über spezifische Angehöri- 23

für pflegende Angehörige gengruppen z. B. auf Facebook und Xing der Aufruf zur Umfrage ver- breitet wurde. Ferner kamen bei der Rekrutierung auch klassische Me- dien zum Einsatz (z.B. WAZ).  Deskriptive Auswertung Zunächst wurden die ausgewählten Fragen deskriptiv ausgewertet und die Antworten grafisch veranschaulicht. Die Befragungsdaten wurden mit den Bevölkerungsdaten des sozioökonomischen Panels (SOEP) verglichen. Das SOEP ist eine repräsentative Befragung, die u. a. An- gaben zur informellen Betreuungsleistung beinhaltet. Diese für Deutschland repräsentativen Daten dienten als Referenz für die vorlie- genden Untersuchungsergebnisse.  Clusteranalyse Clusteranalyse ist ein statistisches Verfahren zur Ermittlung von Grup- pen, die im Hinblick auf die betrachteten Eigenschaften möglichst ho- mogen sind. Im Rahmen der durchgeführten Clusteranalyse im Projekt ZipA wurden Untergruppen pflegender Angehöriger mit ähnlichen per- sönlichen und situationsbezogenen Eigenschaften (z. B. Alter, Ge- schlecht, Umfang der geleisteten Unterstützung) identifiziert. Dies dient – unter Berücksichtigung aller Unterschiede der jeweiligen Pfle- gesituation und Präferenzen – der Entwicklung passgenauer Unterstüt- zungsangebote. Bedürfnisse und Belastungen pflegender Angehöriger – deskriptive Ergebnisse Von den befragten pflegenden Angehörigen sind 81 % Frauen. Das Durchschnittsalter der Stichprobe beträgt 54 Jahre. Etwa 57 % der Be- fragten sind in Teilzeit oder Vollzeit erwerbstätig, rund ein Fünftel hat Kinder im eigenen Haushalt. Die deutliche Mehrheit der Befragten (82 %) sind entweder Lebenspartner oder erwachsene Kinder, die ihre El- tern versorgen.  Intensivpflegende sind verstärkt erfasst Ein Vergleich der Daten der ZipA-Studie mit dem Referenzdatensatz des soziökonomischen Panels zeigt, dass vor allem komplexe Pflegesi- 24

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote tuationen mit hohem zeitlichen Aufwand durch die hier vorgelegte Be- fragung verstärkt erfasst wurden. Ein überwiegender Anteil der pfle- genden Angehörigen im SOEP wendet weniger als 10 Stunden wö- chentlich für die Betreuung und Versorgung auf. Nur etwa 9 % pflegt mit einem Aufwand von mehr als 40 Stunden pro Woche. Mit rund 29 % ist der Anteil dieser Personen in den ZipA-Daten deutlich höher. Diese Abweichung vom Durchschnitt der Bevölkerung ist ein Hinweis dafür, dass viele Angehörige mit eher geringerem Aufwand in der An- gehörigenpflege sich durch die Befragung weniger angesprochen fühl- ten. Ein erheblicher Anteil pflegender Angehöriger ist sich ihrer Rolle vermutlich nicht bewusst. Abbildung: Durchschnittlicher wöchentlicher Aufwand für die Pflege und Betreuung  Die Befragungsdaten weisen eine gute Altersstruktur auf Außerdem wurden die Altersverteilungen der beiden Stichproben ge- genübergestellt. Insgesamt zeigen die ZipA-Daten eine ausgewogene Altersstruktur. Die größten Abweichungen von den Anteilswerten der repräsentativen Referenzdaten sind bei den Altersgruppen von 50 bis 60-Jährigen festzustellen, die in der ZipA-Studie überrepräsentiert sind. Die Anteile von pflegenden Angehörigen ab 70 Jahren liegen unter den Werten der Referenzstatistik.  Angehörigenpflege geht mit verschiedenen Belastungen und Ein- schränkungen einher Die Angaben pflegender Angehöriger zu ihrer Gesamtbelastung liegen 25

für pflegende Angehörige überwiegend im oberen Bereich. Etwa 68% geben an, dass sie stark bis sehr stark belastet sind. Lediglich etwa 17% fanden ihre individuelle Pflegesituation wenig bis gar nicht belastend. Im Folgenden sollen die vielfältigen Belastungen und Problemfelder pflegender Angehöriger dargestellt werden. Dazu wurde die wahrgenommene Belastung durch die Angehörigenpflege erfasst. Viele der Befragten fühlen sich durch die Pflege stark belastet. Eine detaillierte Betrachtung der Belastungen und Problemfelder pflegender Angehöriger zeigt, dass emotionale Aspekte als besonders problema- tisch empfunden werden. Besonders hoch schätzen die Befragten die Einschränkung in der Freizeitgestaltung und in ihrem Sozialleben ein. Pflegende Angehörige erleben auch fast genauso stark eine Einschrän- kung ihrer Privatsphäre und geben an, emotional belastet zu sein. An nächster Stelle kommen die physischen Belastungen. Viele der Befrag- ten sind durch die Pflege körperlich überfordert und leiden gesundheit- lich. Aber auch finanzielle Aspekte und der Einfluss auf berufliche Ent- wicklungsmöglichkeiten sind ein wichtiges Thema. Abbildung: Belastungsbereiche pflegender Angehöriger 26

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote  Es besteht hoher Informations- und Beratungsbedarf Im Folgenden wird die empfundene Wichtigkeit von Informations- und Beratungsangeboten dargestellt. Hier wurden jeweils fünf Themenbe- reiche zur Bewältigung der Pflegesituation erfragt: – Körperpflege, Mobilität und Ernährung – Medizinisch/pflegerische Versorgung – Führung des Haushalts – Organisation, Koordination und Verwaltung von Hilfe und Pflege – Betreuung und Beschäftigung im Alltag für die pflegebedürftige Person innerhalb und außerhalb des Haushalts sowie fünf Bereiche zu den sog. eigenen Bedürfnissen pflegender An- gehöriger: – Erhalt der eigenen körperlichen und seelischen Gesundheit – Soziale Kontakte, Austausch und Wertschätzung – Möglichkeit, die Pflege mit einem bezahlten Arbeitsverhältnis zu vereinbaren – Finanzielle Unterstützung/Absicherung – Möglichkeit, eine Auszeit von der Betreuung nehmen zu können Die Anteile der Befragten, die den Bedarf an Informationen oder Bera- tung hoch einschätzen, liegen etwa zwischen 38 und 80%, insgesamt also hoch, und es gibt deutliche Unterschiede im Hinblick auf die abge- fragten Themenbereiche. 27

für pflegende Angehörige Abbildung: Informations- und Beratungsbedarf pflegender Angehöriger  Pflegende Angehörige brauchen mehr Unterstützung für sich selbst Bei der Bewältigung der Pflegesituation werden Themen wie Unterstüt- zung bei den organisatorischen Aufgaben sowie Betreuung und Be- schäftigung für die pflegebedürftige Person als besonders wichtig an- gesehen. Besonders hoch ist aber der Informationsbedarf zum Erhalt der eigenen Gesundheit und über die Möglichkeiten, eine Auszeit von der Betreuung zu nehmen. Ebenfalls wichtig sind Informationen zum Austausch und zum Knüpfen sozialer Kontakte sowie zur finanziellen Unterstützung. 28

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Abbildung: Eigene Bedürfnisse pflegender Angehöriger  Angebote dazu sind nur teilweise bekannt und werden auch wenig genutzt Pflegende Angehörige kennen bestehende Informations- und Bera- tungsangebote nur bedingt. Noch viel geringer ist die tatsächliche Inan- spruchnahme dieser Angebote. Wenige der Befragten wissen, wie sie sich zur eigenen finanziellen Absicherung sowie zu den Fragen der Ver- einbarkeit von Beruf und Pflege informieren können. Informations- und Unterstützungsangebote zum Erhalt der eigenen Gesundheit sowie zu Möglichkeiten einer Auszeit sind auch nur bedingt bekannt, obgleich hier ein besonders hoher Bedarf identifiziert wurde. Der Erhalt der eigenen Gesundheit, der eigenen finanziellen Absiche- rung, der eigenen sozialen Bindungen und emotionalen Bedürfnisse sind besonders wichtige Themen. Fehlendes Wissen zu vorhandenen Informations- und Beratungsangeboten könnten eine wichtige Barriere der Inanspruchnahme zu sein.  Akteure in der medizinisch-pflegerischen Versorgung können maßgeblich unterstützen, indem sie mehr Rücksicht auf die pfle- genden Angehörigen nehmen Im Mittelpunkt der medizinisch-pflegerischen Versorgung steht in der 29

für pflegende Angehörige Regel die pflegebedürftige Person. Wichtig ist, dass auch pflegende An- gehörige mit ihren Problemen und Sorgen nicht vernachlässigt werden. Pflegende Angehörige sind oft gesundheitlich und finanziell durch die Pflegesituation überfordert. Sie wünschen sich mehr Unterstützung für sich selbst, wissen aber oft nicht, wo sie sich dazu informieren können. Die Gesundheit pflegender Angehöriger ist eine wichtige Ressource zur Aufrechterhaltung der häuslichen Pflegesituation und dient nicht zu- letzt dem Schutz der pflegebedürftigen Person. Beruflich Pflegende, Hausärzte und sonstige Akteure in der medizinisch-pflegerischen Ver- sorgung könnten maßgeblich unterstützen, indem sie die Angehörigen über passende Unterstützungsmöglichkeiten rechtzeitig informieren und zur Inanspruchnahme dieser Leistungen motivieren. Zielgruppen pflegender Angehöriger – Persona Im Kern der quantitativen Studie steht die Identifikation von (Risiko-) Gruppen innerhalb der Gesamtgruppe pflegender Angehöriger und ihre Beschreibung. Pflegende Angehörige übernehmen unterschiedliche Rollen in der Pflege, gehören unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und sind mit unterschiedlichen Pflegesituationen konfrontiert. Eine un- spezifische Ansprache der Gesamtgruppe könnte wenig erfolgsverspre- chend sein. Aus diesem Grund werden im nächsten Analyseschritt die unterschied- lichen Gruppen (Segmente) pflegender Angehöriger durch Clusterana- lyse identifiziert und mit ihren jeweiligen Bedürfnissen beschrieben, um auf dieser Basis Ansatzpunkte für eine zielgruppenorientierte Un- terstützung entwickeln zu können. Die identifizierten Gruppen pflegen- der Angehöriger werden beispielhaft anhand von Persona veranschau- licht. Eine Persona stellt eine fiktive Person dar, die ihre Gruppe repräsentiert. Im Rahmen der durchgeführten Clusteranalyse konnten fünf Gruppen pflegender Angehöriger identifiziert werden, die sich in persönlichen und situationsbezogenen Eigenschaften signifikant unterscheiden: 30

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Cluster 1 – Hilfsbereite Kümmerer Hilfsbereite Kümmerer zeichnen sich durch die geringste Beteiligung an allen Unterstützungsbereichen aus. Sie tätigen Einkaufe, begleiten bei Behördengängen und leisten ihrer/m Angehörigen Gesellschaft. Die zu unterstützende Person ist in der Selbstständigkeit und Fähigkeit meistens nur gering beeinträchtigt. Größtenteils übernehmen erwach- sene (Schwieger-)Kinder und sonstige nahestehende Personen diese Rolle. Im Gegensatz zu allen anderen Gruppen sind hier viele Personen männlichen Geschlechts und im jungen Alter. Die Gruppe ist wenig be- lastet. Daniel, 23 Jahre alt hat Elektrotechnik studiert, in Vollzeit erwerbstätig, wohnt alleine Früher ist er zu seiner Oma gegangen und hat bei ihr die Hausaufgaben gemacht. Seit dem Tod seines Großvaters durch einen Herzinfarkt vor einem Jahr ist er der Mann im Haus. Er wechselt die Glühbirne, trägt die schwere Kiste mit Wasser hoch und übernimmt alle Kleinreparatu- ren in der Wohnung. Die Oma ist trotz ihres hohen Alters geistig topfit, allerdings nicht mehr so belastbar wie früher. Sie erledigt ihren Haus- halt selbst, aber die Treppen machen ihr Sorgen. Trotzdem will sie in ihrer alten Wohnung bleiben. Sie geht seltener raus und fühlt sich oft einsam. Daniel hat ein Seniorenhandy für sie eingerichtet, aber sie be- nutzt das Handy selten. Auch ihre Sehkraft hat nachgelassen. Am Wo- chenende geht Daniel mit ihr die Post durch und bereitet die Tabletten 31

für pflegende Angehörige für die kommende Woche vor. Merkmale – Mehr erwachsene (Schwieger-)Kinder und sonstige nahestehende Personen – Im jungen bis mittleren Alter, erwerbstätig – Geringste Beteiligung an allen Unterstützungsbereichen – Häufiger geringe Beeinträchtigung der unterstützten Person Handlungsempfehlungen  Online-Portale, Austauschplattformen und Online-Tools für Ange- hörige älterer Menschen schaffen sowie ihre Entwicklung unter- stützen Internet ist oft die erste und wichtigste Informationsquelle für Angehö- rige wie der „Hilfsbereite Kümmerer“. Wichtig ist, dass Angehörige über die hilfreichen Internetquellen ausreichend informiert werden. Die Entstehung weiterer Online-Angebote, wie z. B. ein Online-Medikati- onscheck, der sorgende und pflegende Angehörige über die Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten, freiverkäuflichen Präparaten und Nahrungsergänzungsmitteln informiert, könnte sich als äußerst hilfreich erweisen.  Aktivitäten und gesundheitsfördernde Maßnahmen für ältere Menschen in der Kommune unterstützen Diese Maßnahmen könnten die Angehörigen entlasten und sorgen gleichzeitig für die Minderung des zukünftigen Pflegebedarfs. Ehren- amtliche Tätigkeiten von und für Seniorinnen und Senioren sorgen für Aktivierung und Vernetzung im Alter. Durch eine aktuelle Initiative „Aktiv im Alter“ unterstützt das Land Nordrhein-Westfalen beispiels- weise bereits das Engagement älterer Menschen in Quartieren. 32

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Cluster 2 – Berufstätige Organisationstalente Berufstätige Organisationstalente übernehmen die Organisation und Koordination von Hilfe und Pflege (z. B. Leistungsanträge stellen, Pfle- gedienste koordinieren etc.). Das soziodemographische Profil der Gruppe zeichnet sich durch einen hohen Anteil von in Vollzeit berufs- tätigen (Schwieger-) Töchtern und (Schwieger-) Söhnen der zu betreu- enden Personen aus. Das Belastungsergebnis der Gruppe deutet auf stressbedingte Überforderungen durch die schwierige Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenunterstützung hin. Cäcilia, 53 Jahre alt Grundschullehrerin, in Vollzeit erwerbstätig, wohnt zusammen mit ih- rem Mann Cäcilias Schwiegereltern wohnen 30 km entfernt. Der Schwiegervater war früher leitender Angestellter und hat jetzt ein diabetisches Fuß-Syn- drom. Ihre Schwiegermutter war stets Hausfrau. Seitdem ihr Mann krank geworden ist, leidet die Schwiegermutter selbst unter einer chro- nischen Herzkrankheit. Der Pflegedienst kommt einmal am Tag, um den medizinischen Verband bei dem Schwiegervater zu wechseln. Täg- lich kommt auch eine Haushaltshilfe. Zweimal am Tag muss der Schwiegervater Insulin gespritzt bekommen. Das übernimmt die Schwiegermutter. Cäcilia kümmert sich um die Organisation der tägli- chen Pflege und Hilfe, telefoniert regelmäßig mit dem Pflegedienst und 33

für pflegende Angehörige bestellt die Wundmaterialien beim Arzt. Im Notfall wird sie bei der Ar- beit angerufen. Eine ständige Verfügbarkeit macht Cäcilia Stress. Sie steht oft unter Zeitdruck und ist emotional belastet. Vor den Klassen- fahrten versucht sie die Pflege ihrer Schwiegereltern bestmöglich zu or- ganisieren. Cäcilia kann sich nicht voll und ganz auf ihre Arbeit kon- zentrieren. Merkmale – Mehr erwachsene (Schwieger-)Kinder – Mittlerer Alter, erwerbstätig – Überwiegend Organisation und Koordination von Hilfe und Pflege (z. B. Leistungsanträge stellen, Pflegedienste koordinieren etc.) – Stressbedingte Überforderungen – Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenunterstützung Handlungsempfehlungen  Online-Kurse zur Entspannung und Stressbewältigung schaffen sowie ihre Entwicklung unterstützen Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf kann zu einer hohen zeitlichen Gesamtbelastung führen. Online-Angebote zur Entspannung und Stressbewältigung könnten insbesondere für Menschen wie die „Be- rufstätigen Organisationstalente“ gesundheitsfördernd wirken.  Die Zugänglichkeit zu den Informations- und Beratungsangeboten für berufstätige pflegende Angehörige verbessern Eine telefonische Beratung außerhalb der regulären Arbeitszeit oder die Einrichtung einer Notrufzentrale könnten für mehr Sicherheitsgefühl bei berufstätigen pflegenden Angehörigen sorgen. Informationen über die örtlichen Leistungsanbieter für Menschen mit Hilfsbedarf sollten zeit- und ortsunabhängig verfügbar sein. 34

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Cluster 3 – Alltäglich Grundpflegende Alltäglich Grundpflegende unterstützen intensiv bei der Körperpflege, Ernährung und Mobilität, übernehmen die Haushaltsführung und orga- nisatorische Aufgaben. Innerhalb dieses Clusters fanden sich besonders viele (Ehe)-Partner*innen im Rentenalter, die sich um relativ stark kör- perlich eingeschränkte Personen kümmern. Im Gegensatz zu den ersten beiden Gruppen ist der zeitliche Einsatz höher. Die Gruppe fühlt sich insbesondere physisch belastet. Klaus, 76 Jahre alt Rentner, gelernter Handwerker, verheiratet Früher hat Klaus seine kleine Werkstatt gemeinsam mit seinem Sohn geführt. Vor fünf Jahren im Hochsommer kam seine Frau mit den Ein- käufen nach Hause und stürzte direkt vor der Tür. Sie hatte einen Schlaganfall. Heute ist sie 78 Jahre alt und halbseitig gelähmt. Sie hat eine Sprachstörung, aber Klaus weiß, was sie braucht. Klaus hilft ihr täglich beim Duschen, beim Toilettengang und beim Essen. Er hat ko- chen und Wäsche waschen gelernt. Trotz Hilfsmittel im Haus muss Klaus seine Frau oft anheben und umsetzen, da sie durch die Lähmung in ihrer Mobilität eingeschränkt ist. Sein Rücken macht ihm Sorgen, aber er beschwert sich nicht und nimmt seine Lebenslage stoisch hin. Merkmale – Mehr (Ehe)-Partner im Rentenalter 35

für pflegende Angehörige – Intensive Unterstützung bei Körperpflege, Ernährung, Mobilität, Haushaltsführung und organisatorischen Aufgaben – Häufig starke körperliche Einschränkung der unterstützten Person – Emotionale, aber insbesondere auch körperliche Belastung Handlungsempfehlungen  Schulungsangebote für pflegende Angehörige mit dem Schwer- punkt „Erhalt eigener körperlichen Gesundheit“ Für den Erhalt körperlicher Gesundheit von Angehörigen, die im Ren- tenalter alltäglich Grundpflege leisten, ist eine rechtzeitige Vermittlung von Schulungsangeboten in den grundlegenden Techniken der Pflege besonders wichtig.  Gesprächskreise für pflegende Männer organisieren und unter- stützen Außerdem sollte der spezifische Informationsbedarf pflegender (Ehe-) Partner berücksichtigt werden, denn sie werden oft mit neuen alltägli- chen Aufgaben konfrontiert. Frauen haben konventionell mehr Erfah- rung mit der Führung eines Haushalts. Bei vielen Männern dagegen herrscht großer Aufholbedarf. Darüber hinaus pflegen Männer eine ei- gene Gesprächskultur. Die organisatorische Unterstützung von Ge- sprächsangeboten für pflegende Männer könnte sich als durchaus hilf- reiche kommunale Unterstützungsmaßnahme erweisen.  Wohnberatung und Beratung zu Hilfsmittellösungen im Rahmen des Case-Managements übernehmen Hier könnten bedarfsorientierte Einzelfalllösungen für ältere Paare mit hohem Pflegebedarf entwickelt und der (Um-)Bau zur Barrierefreiheit begleitet werden. Kommunen könnten pflegenden Angehörigen dieser Gruppe helfen, sich einen Überblick über die Produkte und Lösungen, gesetzliche Vorschriften sowie Finanzierungsmöglichkeiten zu ver- schaffen. 36

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Cluster 4 – Mitleidende Aufsichtspersonen Mitleidende Aufsichtspersonen übernehmen die Haushaltsführung, or- ganisieren professionelle Hilfe und leisten durchgehende Betreuung und Aufsicht. Es handelt sich häufig um nichterwerbstätige (Ehe-) Part- nerinnen und (Schwieger-) Töchter, die Angehörige mit kognitiven Einschränkungen betreuen. Die Gruppe fühlt sich sehr stark emotional belastet. Conny, 49 Jahre alt Erzieherin in der Kita, nicht erwerbstätig, wohnt zusammen mit ihrer Mutter Erst hat Conny ihre Stelle reduziert, um ihre Mutter mit Demenz zu betreuen. Nach dem Tod ihres Vaters vor einem Jahr ist ihre Mutter in ihrer Eigentumswohnung allein geblieben. Conny hat sich entschieden, zu ihrer Mutter umzuziehen und komplett aus dem Berufsleben auszu- steigen. Durch die Witwenrente, die eigene Rente der Mutter, das Pfle- gegeld und die Grundsicherung kommen die beiden Frauen finanziell zurecht. Conny hat einen erwachsenen Sohn, der weit entfernt studiert und nur gelegentlich zu Besuch kommt. Conny kümmert sich tagsüber und nachts um ihre Mutter und hat wenig Zeit für sich selbst. Sie kommt kaum raus und lebt inzwischen sehr isoliert. Einmal in der Woche nimmt sie eine ehrenamtliche Betreuung in Anspruch und kann andere Aufgaben erledigen. Jeden Monat nimmt sie an einem Gesprächskreis 37

für pflegende Angehörige teil. Während dieser wenigen Stunden wird ihre Mutter von ehrenamt- lichen Mitarbeitern betreut. Merkmale – Viele nicht-erwerbstätige (Ehe-)Partnerinnen und (Schwieger-) Töchter – Haushaltsführung, Organisation professioneller Hilfe und durch- gehende Betreuung und Aufsicht – Häufig starke kognitive Einschränkung der unterstützten Person – Sehr starke emotionale Belastung Handlungsempfehlungen  Besonderer Fokus auf Entlastungsmöglichkeiten und präventive Maßnahmen für pflegende Angehörige dieser Gruppe Ständige Verfügbarkeit, Isolation und herausforderndes Verhalten der unterstützten Person können sich negativ auf die psychische Gesundheit dieser Menschen auswirken.  Bedarfsorientierte Angebote für Menschen mit kognitiven Ein- schränkungen Es existiert eine Reihe spezieller Angebote für Menschen mit Demenz, die im Rahmen der kommunalen Pflegeberatung vermittelt und vernetzt werden könnten.  Anonyme psychologische Beratung am Telefon und im Netz ver- mitteln Oft haben Angehörige von Personen mit psychischen Erkrankungen In- formationsbedarf bezüglich der Symptome und Krankheitsverläufe ih- res/r Angehörige/n oder bezüglich ihrer eigenen emotionalen Gesund- heit. Gerontopsychiatrische Beratungsstellen, sozialpsychiatrische Dienste und psychologische Online-Beratung können den pflegenden Angehörigen dabei Auskunft geben. Bei der Vermittlung besteht für Kreise und Kommunen ein Unterstützungspotenzial.  Unterstützung ehrenamtlicher Tätigkeiten für Personen mit kogni- tiven Einschränkungen 38

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Besuchsdienste und Betreuungsgruppen der Nachbarschaftsvereine und Wohlfahrtsverbände bieten Entlastung für pflegende Angehörige. Kommunen könnten durch Kooperation mit ehrenamtlichen Verei- nen/Verbänden die Rekrutierung, Einarbeitung und Qualifizierung der ehrenamtlichen Beschäftigten übernehmen. Cluster 5 – Erschöpfte Langzeitpflegende Erschöpfte Langzeitpflegende übernehmen im hohen Maße alle Arten von Hilfs- und Pflegetätigkeiten. Zu dieser Gruppe gehören Angehö- rige, die sich um Personen mit sehr starken physischen und/oder psy- chischen Einschränkungen kümmern. Der Zeitaufwand ist in dieser Gruppe am höchsten und die Pflegesituation dauert häufig 10 Jahre und länger an. Hier findet am häufigsten die Pflege von Lebenspartnern und pflegebedürftigen Kindern statt. Im Vergleich zu den anderen Gruppen sind viele nicht erwerbstätig und berichten über eine sehr starke emoti- onale, finanzielle und körperliche Belastung. Maike, 62 Jahre alt Kaufmännische Ausbildung, nicht erwerbstätig, verheiratet, zwei Kin- der Maike hat früher im Supermarkt gearbeitet. Ihr Mann war ein Dachde- cker und hatte vor 10 Jahren einen Arbeitsunfall. Seitdem ist er bettlä- gerig, hat einen Dauerkatheter und eine Magensonde. Aufgrund seiner 39

für pflegende Angehörige Schädel-Hirnverletzung ist er kognitiv eingeschränkt. Äußerlich ähnelt sein Zustand einem Wachkomma. Maike musste ihren Job aufgeben und leistet eine rund um die Uhr Betreuung. Das Ehepaar ist auf die Leistungen der Rentenversicherung und der gesetzlichen Unfallversi- cherung, auf die Grundsicherung und die Hilfe zur Pflege angewiesen. Ihr eigenes Einfamilienhaus möchten die beiden gerne behalten. Den Umbau haben sie hinter sich. Durch die staatlichen Zuschüsse ist die Immobilie finanzierbar. Da viele verschiedene finanzielle Hilfen kom- biniert werden müssen, ist der bürokratische Aufwand sehr hoch. Ihre Kinder sind beide berufstätig und wohnen 25 und 150 Kilometer ent- fernt. Die meiste Zeit ist Maike auf sich alleine gestellt. Merkmale – Lebenspartner und Eltern pflegebedürftiger Kinder – Starke physischen und/oder psychischen Einschränkungen der un- terstützten Person – Übernahme aller Arten von Hilfe- und Pflegetätigkeiten – Rund um die Uhr Langzeitpflege – Sehr starke emotionale, finanzielle und körperliche Belastung Handlungsempfehlungen  Case-Management im Rahmen der Leistungsberatung anbieten Familien mit komplexen Pflegebedarf stehen vor der Herausforderung, sich über die verschiedenen Leistungen zu informieren und bürokrati- sche Hürden zu überwinden. Hier ist vor allem die Ermittlung und Er- schließung des Zugangs zu Leistungen, die dem Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen zustehen, wichtig.  Gesundheitsfördernde Maßnahmen für pflegende Angehörige als kommunale Leistung anbieten Es besteht die Notwendigkeit eines Programms zur Gesundheitsförde- rung dieser Risikogruppe, die durch die kommunalen Körperschaften gefördert werden könnte.  Neue Wohnstrukturen unterstützen 40

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Alternative Wohnformen für Menschen mit komplexen Hilfe- und Pfle- gebedarf und für ihre Angehörigen erlauben diesen Familien, möglichst eigenständig und solange wie möglich in häuslichen Umgebung zu le- ben. Organisatorische und finanzielle Unterstützung dieser Wohnstruk- turen könnte eine hilfreiche kommunale Maßnahme sein. 41

für pflegende Angehörige 5. Angebote der Kreise und Kom- munen Um herauszufinden, welche Angebote für pflegende Angehörige in NRW existieren, wurde eine Bestandsaufnahme zu Angeboten auf den Homepages von Kommunen vorgenommen. Diese Vollerhebung fand im Zeitraum von April bis Dezember 2018 statt und umfasst 31 Kreise mit 396 Städten und Gemeinden in NRW. Die Erhebung gliedert sich in verschiedene Angebotsformen zu den Themen: – Informationen (z. B. Beratung und Selbsthilfe) – Beratung (z. B. Pflegeberatung, Wohnberatung) – Schulungen (z. B. Pflegekurse) – Entlastung (z. B. Angebote zur Unterstützung bei Betreuung im Alltag) – Emotionale, soziale und psychische Unterstützung (z. B. psycho- soziale Beratung, Gesprächskreise) – Gesundheitsförderung und Prävention (z. B. Gesundheitskurse) – Sonstige Angebote (z. B. Netzwerkarbeit) 42

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Weitere wichtige Faktoren, die ebenfalls erhoben wurden, richten sich danach, ob pflegende Angehörige auf der Homepage benannt und direkt angesprochen werden und untersuchen den allgemeinen Eindruck der jeweiligen Homepage in Hinblick darauf, ob man sich schnell zurecht- findet.  Eindeutige Angebote für pflegende Angehörige zu sind kaum zu finden Insgesamt ist festzustellen, dass eindeutige Angebote für pflegende An- gehörige kaum zu finden sind. Vorhandene Angebote sind auf den Homepages meist in der Kategorie „Senior*innen“ untergeordnet. Auch wenn die Angebote nicht immer eindeutig benannt und zu finden sind: In der Mehrheit der Kreise (23 / 74 %) sowie in 131 Städten und Gemeinden (33 %) werden pflegende Angehörige auf der jeweiligen Homepage als Zielgruppe für Unterstützungsangebote benannt. Die di- rekte Ansprache von pflegenden Angehörigen erfolgt auf deutlich we- niger Homepages. In 10 Kreisen (32 %) sowie in 19 Städten und Ge- meinden (5 %) werden pflegende Angehörige direkt angesprochen. Werden pflegende Angehörige auf der Homepage benannt? Beispiele der Formulierungen auf den Homepages: Bad Salzuflen: „Entlastung für pflegende Angehörige“ Borgholzhausen: „Wer pflegt meine Angehörigen, wenn ich verhin- dert bin?“ Borken: „Wer bietet Kurse für pflegende Angehörige an?“ Geseke: „Welche Hilfen gibt es, wenn kein Pflegegrad erreicht wird, und wie kann die Pflege organisiert und finanziert werden, um pfle- gende Angehörige zu entlasten?“ Werden pflegende Angehörige auf der Homepage direkt angespro- chen? Beispiel einer Formulierung auf der Homepage des Kreises Minden- Lübbecke: „Sie spüren, dass Sie nicht mehr so können wie früher, wissen aber nicht, wie Sie Hilfe bekommen?“ „Sie brauchen Hilfe bei der Organisation der häuslichen Pflege?“ „Als pflegende Angehörige benötigen Sie Entlastung und wissen nicht woher?“ 43

für pflegende Angehörige „Sie möchten wissen, welche finanziellen Leistungen Sie bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit erhalten können?“  Pflegende Angehörige werden auf kommunalen Homepages oft be- nannt, jedoch selten direkt angesprochen In den Abbildungen 1a und 1b (folgende Seite) wird einerseits veran- schaulicht, welche Kreise und Gemeinden in NRW pflegende Angehö- rige auf Ihren Homepages benennen. Andererseits wird dargestellt, in welchen Kreisen und Gemeinden pflegende Angehörige direkt ange- sprochen werden. Nicht benannt und angesprochen eins von beidem beide Grenze NRW Abbildung 1a: Benennung und direkte Ansprache pflegender Angehöriger in den Kreisen im Bundesland NRW 44

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote Nicht benannt und angesprochen eins von beidem beide Grenze NRW Abbildung 1b: Benennung und direkte Ansprache pflegender Angehöriger in den Ge- meinden im Bundesland NRW Darstellung der Angebote auf den Homepages der Städte Wichtig ist auch die Art und Weise der Darstellung von existierenden Angeboten. Deshalb wurde untersucht, wie die Angebote für pflegende Angehörige in NRW auf den städtischen Homepages dargestellt wer- den.  Insgesamt ist die Darstellung der Angebote auf den städt. Home- pages gut Bei einem Großteil der Städte (283 / 71 %) ist eine zufriedenstellende Nutzerfreundlichkeit der Homepages festzustellen. Die Verwendung einer verständlichen Sprache ist bei fast allen Städten (373 / 94 %) ge- geben. Bei 70 % der Städte (276) findet man sich schnell zurecht – so 45

für pflegende Angehörige dass Verlinkungen oder Verweise zu bestimmten Themen im Register zu finden sind. Abbildung: Verweis auf Angebote andere Träger in Kommunen Verweise auf Angebote anderer Träger auf den Home- pages der Kommunen Es gibt Angebote für pflegende Angehörige anderer Träger, auf welche die Kommunen auf ihren Homepages verweisen. Im Folgenden werden diese verschiedenen Angebotsformen dargestellt und ausgewertet  Über Kurse und Schulungen wird selten informiert Sowohl in Kreisen als auch in Städten und Gemeinden sind Informati- onen zu Schulungen und Kurse für pflegende Angehörige sehr selten.  Haushaltsunterstützung für pflegende Angehörige wird selten bis gelegentlich vermittelt Technische Unterstützung wird in Kreisen in etwa einem Viertel der Fälle angeboten, in Städten und Gemeinden deutlich seltener. Hauswirt- schaftliche Dienste gibt es in knapp einem Drittel der Kreise, jedoch sehr selten in Städten und Gemeinden. 46

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote  Die Themen Gesundheitsförderung und Prävention für pflegende Angehörige sind kaum auf den Homepages präsent Explizite Angebote für pflegende Angehörige zur Prävention und Ge- sundheitsförderung in Form von Gesundheitskursen sind in vier Krei- sen (13 %) sowie in 11 Städten und Gemeinden (3 %) vorhanden.  Informationen zu den Beratungsangeboten anderer Träger sind wenig bis kaum vorhanden Psychosoziale Beratung anderer Träger ist sehr selten, es gibt diese in einem Kreis (3 %) sowie in 13 Städten und Gemeinden (3 %). Eine Wohnberatung ist ebenfalls sehr selten in Städten und Gemeinden (26 / 7 %), etwas öfter ist sie in Kreisen zu finden (8 / 26 %). Pflegeberatung fehlt meistens in den Städten und Gemeinden (64 / 16 %), diese wird jedoch in fast jedem zweiten Kreis (13 / 42 %) angeboten. Es gibt keine Beratungsangebote für pflegende Angehörige in anderen Sprachen in den Kreisen, in fünf Städten und Gemeinden (1 %) werden solche an- geboten.  Angebote zu Betreuung und Pflege sind meist nicht thematisiert In fast der Hälfte der Kreise (48 %) sowie in 78 % der Städte und Ge- meinden werden keine professionellen Pflegeangebote auf den Home- pages genannt. In einem Großteil der Kreise (74 %) sowie in fast allen Städten und Gemeinden (97 %) werden auch keine Betreuungsangebote erwähnt. Wie kann psychosoziale Unterstützung angeboten werden? Beispiel: Die Arnsberger Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthil- fegruppen (AKIS) im Hochsauerlandkreis (HSK) „Die AKIS im HSK pflegt eine zentrale Informationsdatenbank zur Selbsthilfe im HSK und hält Materialien der Selbsthilfeinitiativen bereit und ist damit die zentrale Anlaufstelle für alle Fragen und Informatio- nen zur Selbsthilfe und Selbstorganisation im HSK.“ Die AKIS im HSK unterstützt Selbsthilfegruppen, Betroffene, Angehö- rige und Fachleute.  Psychosoziale Unterstützung wird selten vermittelt Emotionale und soziale Unterstützung wird selten in Kreisen (7 / 23 %) 47

für pflegende Angehörige sowie kaum in Städten und Gemeinden (39 / 10 %) angeboten. Selbst- hilfeangebote sind in 7 Kreisen (23 %) sowie in 18 Städten und Ge- meinden (5 %) zu finden. Angebote zur Trauerarbeit sind in drei Krei- sen (10 %) sowie 11 Städten und Gemeinden (3 %) äußerst selten.  Zum Thema „Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“ sind kaum In- formationen zu finden Entlastungsangebote zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf werden in zwei Kreisen (6 %) sowie in acht Städten und Gemeinden (2 %) ange- boten. Angebote in Trägerschaft der Kommunen Viele Angebote für pflegende Angehörige werden durch die Kommu- nen als Träger bereitgestellt. Im Folgenden werden die verschiedenen Angebotsformen dargestellt und ausgewertet.  Allgemeine Entlastungsangebote sind selten Angebote zur Unterstützung bei Betreuung im Alltag sind in 8 Kreisen (26 %) sowie 36 Städten und Gemeinden (9 %) zu finden. Angebote für hauswirtschaftliche Dienste werden in 6 Kreisen (19 %) sowie in 50 Städten und Gemeinden (13 %) angeboten. Zur Freizeitgestaltung für Senior*innen gibt es in 4 Kreisen (13 %) sowie 54 Städten und Gemein- den (14 %) Angebote und sonstige Angebote sind in 34 Städten und Gemeinden (9 %) präsent. Wie können Entlastungsangebote geschaffen werden? Beispiele sind die Angebote für pflegende Angehörige in Kooperation mit dem Netzwerk Demenz in Bocholt und die Woche für pflegende An- gehörige in Bielefeld: „... dazu gehört es, Fachpersonal zu qualifizieren, Angehörige in der Pflege und Betreuung zu unterstützen, ehrenamtlich Engagierte zu ge- winnen und zu befähigen, soziale Netzwerke zu schaffen und die Ver- sorgungsangebote auszubauen, aber auch zu bündeln“ „Die Woche für pflegende Angehörige“ in Bielefeld, durch welche pflegende Angehörige durch Wertschätzung, Austausch sowie kultu- relle und soziale Angebote entlastet werden sollen. 48

Zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote  Spezifische Angebote für eigene Bedürfnisse pflegender Angehö- rige sind noch seltener Angebote zur psychosozialen Beratung sind nur in einem Kreis (3 %) vorhanden. Gesprächskreise und -cafés sowie Betreuungscafés werden bisher nicht angeboten. Treffpunkte für pflegende Angehörige sind in 8 Städten und Gemeinden (2 %) zu finden. Erzähl- und oder Tanzcafés sind bisher in 3 Städten (Düsseldorf, Erftstadt, Essen) und Gemeinden (1 %) etabliert. Spezifische Gottesdienste werden in 3 Städten (Arns- berg, Düsseldorf, Essen) und Gemeinden (1 %) ausgerichtet. Sonstige Angebote der emotionalen und psychosozialen Unterstützung sind in 4 Kreisen (13 %) und 21 Städte und Gemeinden (5 %) aufzufinden. Bei- spiele hierfür sind die Psychosoziale Begleitung in Niederkrüchten, Selbsthilfegruppen für Pflegebedürftige oder pflegende Angehörige in Neuss und Seniorentreffs in Wenden.  Bei vielen Angeboten sind die Inhalte oft unklar, die Formulierun- gen offen Bei vielen Angeboten fehlt es an konkreten Informationen. Inhalte sind undurchsichtig, die Zielgruppe wird nicht direkt angesprochen oder weitere Informationen zu Angeboten fehlen. Kreisangehörige Städte verweisen sehr oft auf die Kreise für Informationen über die Pflegebe- ratung. Es gibt viele Flyer, Broschüren sowie Zeitschriften – diese sind jedoch nicht selten veraltet.  Der Zugang zur Beratung ist häufig beschwerlich In rund 70 % der Fälle fehlen Informationen zu den Öffnungszeiten auf der Homepage. Städte und Gemeinden beraten eher zu üblichen Büro- zeiten um 8 / 10 – 17 Uhr (75 / 19 %). Kreise haben eher feste Sprech- zeiten (11 Kreise /24 %). Wenige davon bieten Termine außerhalb der regulären Sprechzeiten an (3 Kreise / 7 %). In vielen der Kommunen (164 / 41 %) fehlen genaue Kontaktdaten der Ansprechpersonen. Eine Hotline war in Kreisen (2 / 6 %) kaum und in Städten und Gemeinden (57 / 14 %) selten vorhanden.  Es gibt viele Beratungsangebote der Kommunen zur Pflege, diese sind jedoch oft unübersichtlich Insgesamt gesehen gibt ein dichtes Netz an Beratungsstellen zum Thema Pflege. Allerdings sind die Bezeichnungen als auch die jeweili- gen Verantwortlichkeiten unübersichtlich und unterschiedlich. Eine 49

für pflegende Angehörige Pflegeberatung wird in 27 Kreisen (87 %) und 193 Städten und Ge- meinden (49 %) angeboten. Pflegestützpunkte gibt es weniger, diese sind in 4 Kreisen (13 %) sowie 31 Städte und Gemeinden (8 %) zu fin- den. Pflege- und Seniorenberatung gibt es in 6 Kreisen (19 %) sowie 82 Städte und Gemeinden (21 %). Beratung, die durch einen Kreis oder eine kreisangehörige Stadt delegiert wird, ist in 2 Kreisen (6 %) sowie 61 Städte und Gemeinden (15 %) vertreten.  Beratung zu Wohnformen und Pflegeheimen ist nur teilweise gege- ben Eine Pflege- und Wohnberatung wird von 16 Kreisen (52 %) sowie von 114 der Städte und Gemeinden (29 %) durchgeführt. Die Beratung zu Pflegeheimen ist in 12 Kreisen (39 %) sowie 97 Städten und Gemein- den (24 %) vorhanden.  Seniorenberatung, Aufsuchende Beratung und Einzelfallhilfen sind selten Eine Seniorenberatung wird in 3 Kreisen (10 %) sowie 23 Städten und Gemeinden (23 %) angeboten. Unter der Überschrift „Seniorenbera- tung“ werden auch Pflegeangebote aufgelistet. Eine Beratung zur Ein- zelfallhilfe gibt es nur in 4 Kreisen (9 %) sowie 45 Städten und Ge- meinden. Aufsuchende Beratung ist in einem Kreis (2 %) und 43 Städten und Gemeinden (11 %).  Beratungsangebote für Menschen mit Migrationshintergrund sind ungenügend Es gibt kaum Beratungsangebote für Menschen mit Migrationshinter- grund: nur 2 Kreise (6 %) sowie fünf Städte und Gemeinden (1 %) bie- ten solche explizit an.  Beratung zu Beeinträchtigung und Behinderung ist nur teilweise zu finden Eine Beratung zu Hilfsmitteln bei Beeinträchtigung und Behinderung gibt es in 11 Kreisen (35 %) sowie 77 Städten und Kommunen (19 %).  Angebote zu gesetzlichen Leistungen und sozialrechtlichen Belan- gen sind oft vorhanden Eine Beratung zu Pflegegeld gibt es in über der Hälfte der Kreise (19 / 61 %) sowie in etwa einem Viertel der Städte und Gemeinden (97 / 50


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