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Der Seelenwanderer

Published by kl.klingler1989, 2017-03-03 06:04:23

Description: Leseprobe

Keywords: Science-Fiction,Fantasie,Roman

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Peter ClarkDER SEELENWANDERER und das Vermächtnis des Planeten Tiboo

LESEPROBE Das ESOC-GeheimlaborEine fremdartige Scheibe, nicht viel größer als ein griechischerDiskus, schwebte schwerelos über dem frisch poliertenMarmorboden in einem der berühmtesten Gebäude vonCambridge. Eine fremde Spezies, genannt die Tiboos, hatte vordem Untergang ihres Planeten unzählige dieser Scheiben in alleRichtungen des Weltalls geschickt. Doch nur eine hatte es bis zurErde geschafft. Sie war erst vor kurzem in Australien gelandet undnun kümmerte sich die intellektuelle Elite des 21. Jahrhunderts umdie Entschlüsselung ihrer Geheimnisse. Die Engländer hatten amschnellsten reagiert und dank der guten Beziehungen zu ihrerehemaligen Kolonie die Scheibe sofort nach Cambridge geholt.Die Amerikaner und die Deutschen mussten sich hintanstellen undauf die Großzügigkeit der ehemaligen Weltmacht hoffen.Immerhin war ihnen deren größte Sorge, dass die Scheibe in dieHände von Terroristen fallen könnte, genommen worden.Wie die Miniaturfigur einer Satellitenschüssel drehte sich dieScheibe der Tiboos langsam um die eigene Achse, während ausihrem Inneren eine Art bläuliches Plasma strömte, das den ganzenSaal erfüllte und bis in den letzten Winkel reichte. In dieses Plasmaprojizierte die Scheibe in dünnen Lichterketten das Wissen derTiboo, um was sich wiederum das Interesse der gesamtenMenschheit drehte.Es war eine für die Erde völlig neuartige Konsistenz, der manbislang noch keinen Namen gegeben hatte. „An diese Materie,oder Plasma, wie es die meisten mittlerweile nennen, werde ichmich wohl nie gewöhnen können. Man kann es nicht greifen, aberdennoch spüre ich es überall auf meiner Haut.“ sagte Eva zu einem 2

Mann mit Hornbrille und weißem Arbeitskittel, „Selbst nachvielen Stunden ist es immer noch ein befremdliches Gefühl, sichdarin zu bewegen. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich würdesagen, es fühlt sich an wie... wie...“ doch Eva wollte keingeeigneter Begriff für das bläuliche Plasma einfallen.„So wie kalter Wasserdampf vielleicht?“ warf Robert ein.„Ja, Robert. Genau! Wie kalter Wasserdampf.“ wiederholte Evakopfnickend. „Nur dass es natürlich nicht feucht ist.“ dabei warfsie ihre Haare nach hinten und sah Robert mit ihren blauen Augen,die in dem phosphoreszierenden Licht fremdartig leuchteten,direkt an. „Mein Gott, Eva!“ spielte Robert den Erschrockenen.„In diesem Licht siehst du ja aus wie ein Alien!“Für einen Augenblick schauten sie sich regungslos an, dannverdrehte Eva ihre Augen, verzog ihre Mundwinkel und beganntieftönig zu grunzen, was sich allerdings eher anhörte wie einZombie als ein Alien. Dann hielten sie es nicht mehr aus undprusteten gleichzeitig los, wie zwei junge Teenager. Als sie sichwieder beruhigt hatten, sagte Eva, während sie sich müde eineTräne aus dem Augenwinkel wischte: „Ach Robert, mit dir kannman nach 24 Stunden Arbeit noch herumalbern.“„Das stimmt. Ich bin mit den Tiboos vollkommen derselbenMeinung, Lachen ist überlebenswichtig.“ Antwortete Robert, derseit Jahren Evas schwuler Assistent war und zurzeit genauso weniginteressiert an einer Beziehung wie Eva selbst.Mit Notizblöcken unterm Arm machten sie sich auf den Weg zumnächsten Hologramm, die überall im Saal verteilt waren. DieScheibe projizierte sie, ähnlich wie ein Projektor, an mehrerenStellen in den Raum. Die Hologramme zeigten verschiedenedreidimensionale Zeichnungen, mathematische Gleichungen,wissenschaftliche Schriften und sich bewegende Animationen vonchemischen Elementen. Während Robert und Eva an denProjektionen vorbeigingen, kamen sie auch an mehrerenWissenschaftlern vorbei, die Tag und Nacht daran arbeiteten dieEntdeckungen einer fremden Spezies zu entschlüsseln. JederWissenschaftler, dem sie begegneten, grüßte sie herzlich. Nichtweil sie Eva oder Robert so gern mochten, sondern weil Eva ihr 3

Boss war und niemand wollte es sich mit ihr verscherzen. IhreAutorität war beinahe spürbar, genau wie das Plasma, das sieumgab.Eva war eine große, dünne Frau mit stahlblauen Augen und langenblonden Haaren, die fast ihren ganzen Rücken bedeckten. Dasbläuliche Schimmern der Scheibe wurde von ihrer hellen Hautbesonders stark reflektiert und betonte dadurch ihre feingliedrigeGestalt. Sie trug eine grüne oder gelbe Bluse, (das konnte manwegen des blauen Lichts im Raum nicht genau erkennen) die ihreflache Brust bedeckte und fast bis zum Hals zugeknöpft war.Sie leitete die Forschungsarbeiten und hatte damit auch diePersonalverantwortung. Folglich hatte sie die Befugnis,Wissenschaftler, die keine Ergebnisse lieferten oder nicht schnellgenug arbeiteten, durch andere zu ersetzen. Die Liste anBewerbern war lang, denn jeder wollte an der Entschlüsselung desGrals der Weisheit, wie die Scheibe in den Medien genannt wurde,mitwirken. Die Tatsache, aus einem beinahe unerschöpflichenPool an Bewerbern schöpfen zu können, verlieh ihr eine Macht,die nur durch ihre Intelligenz übertroffen wurde. Letztes Jahr warsie im Alter von gerade mal 38 Jahren für ihren zweiten Nobelpreisnominiert worden, was vor ihr nur drei Männern und einer Fraugelungen war, allerdings in deutlich höherem Alter. Von ihrerherrischen Art fühlten sich ihre männlichen Kollegen ofteingeschüchtert. Andere beschrieben sie als kalt und emotionslos.Von Robert hatte sie gehört, dass manche sie die Eisköniginnannten. Obwohl sie sehr attraktiv war, hatte es bisher nochniemand gewagt, sie auf ihr Privatleben anzusprechen, geschweigedenn sie auf einen Kaffee oder ein Abendessen einzuladen.„Guten Morgen, die Herren. Wie gehen die Untersuchungenvoran?“ fragte Eva freundlich, aber bestimmt in die Runde. Esdauerte nicht lange bis ein eifriger Professor aus Harvard das Wortergriff und versuchte, ihr seine Interpretation einer chemischenFormel zu erklären. Obwohl sie ihn nicht unterbrach undaufmerksam zuhörte,, waren ihr schon einige Fehler in seinenBerechnungen aufgefallen. Eva blickte auf ihr Notizbuch,schüttelte beinahe unmerklich den Kopf und seufzte leise. Die 4

anderen Professoren um sie herum schauten sich sorgenvoll an,denn jeder wusste, was diese Geste zu bedeuten hatte. Spätestensmorgen früh würde ihr Kollege aus Harvard ein Kuvert bekommenmit einem Dankesschreiben für seine bisherigen Dienste undeinem First Class Flugticket zurück in die Vereinigten Staaten. Esfiel Eva natürlich nicht leicht, einen Forscher, der so viel Herzblutin seine Arbeit gelegt hatte, nach Haus zu schicken, doch genaudas war ihr Job. Es war ein absolutes Privileg, an derEntschlüsselung der Scheibe mitzuwirken und da es nur Platz fürdie fünfzig fähigsten Forscher der Welt gab, konnte sie auch nurdie absolut Besten behalten.Eva machte sich gerade eine Notiz, nickte dem Harvard Professorfreundlich zu und bedankte sich höflich für seine Arbeit und seineAusführungen. Der arme Kerl lächelte und strahlte glücklich in dieRunde. Er hatte keine Ahnung, dass er schon in wenigen Stundenin einem Flugzeug über dem Atlantik sitzen würde.„Entschuldigen sie mich bitte, meine Herren. Bleib du ruhig hierRobert.“ sagte Eva und machte sich auf den Weg zur nächstenGruppe.Ihre hochhackigen Schuhe klackerten laut auf den steinernenFliesen. Sie schaute auf ihre Uhr. Seit 30 Stunden hatte sie nichtgeschlafen und ihre letzte Mahlzeit lag auch schon viel zu langezurück. Ihr Magen knurrte seit einer Weile und krampfte sich inimmer kürzer werdenden Abständen schmerzhaft zusammen.Lange würden sich ihr Hunger und ihre Müdigkeit nicht mehrignorieren lassen. Doch bevor sie sich ein wenig ausruhen und einFrühstück bestellen konnte, wollte sie der Gruppe derAtomphysiker noch einen Besuch abstatten. Sie holte tief Luft unddurchsah ihre Notizen vom letzten Treffen. Danach drehte sie sichnach links und ging zielstrebig auf eine Traube vonAtomphysikern zu, die sich um den Bauplan einer komplexenMaschine versammelten. Es war eines der wichtigsten Projekte dergesamten Station. Aufgeregt waren sie in eine Diskussion vertieft,wurden allerdings sofort leiser, als sie Eva wahrnahmen.„Guten Morgen meine Damen und Herren. Bitte lassen sie sichnicht stören. Fahren sie mit ihren Überlegungen fort. Ich möchte 5

mir einen Überblick über die bisherigen Fortschritte machen.“,sagte Eva mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen undnickte dem jungen Mann aufmunternd zu, der zuvor aufgeregt undüberschwänglich gesprochen hatte. Sofort setzte er da an, wo er beiEvas Anblick aufgehört hatte. Hin und wieder zeigte er auf die eineoder andere Zahlenkombination im Hologramm, zwischenwelchen er eine Verbindung vermutete. Eva fiel auf, dass seineWangen leicht gerötet waren und seine intelligenten dunklenAugen vor Aufregung glänzten, während sie von einem Zuhörerzum nächsten sprangen. Er konnte nicht viel älter als Mitte 30 seinund war somit zusammen mit Eva einer der Jüngeren im Raum.Seine lockigen Haare fielen ihm ständig ins Gesicht und er musstesie immer wieder nach hinten streichen. Er war überaus ehrgeizigund entschlossen. Eva empfand ihn als vorbildlich im Vergleich zumanch älteren Kollegen, die oft einen trägen Eindruck auf siemachten. Plötzlich kreuzten sich ihre Blicke und die Physikerstarrten sie fragend an. Verwundert stutzte Eva. Anscheinend hatteder junge Physiker ihr eine Frage gestellt, die sie nicht gehörthatte. Ärgerlich ob ihres unprofessionellen Verhaltens räuspertesich Eva und rief: „Aber ja doch! Sie machen eindeutigFortschritte. Fahren Sie fort.“ Sie nickte dem jungen Mann zu undforderte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen auf, seineErklärungen fortzusetzen. Ein wenig irritiert von dem spontanenLob oder der seltsamen Antwort, die so gar nichts mit der Frage zutun gehabt hatte, wandten sie sich erneut ihrem jungen Kollegenzu, der Eva selbstbewusst zuzwinkerte und mit einem kleinenLächeln auf den Lippen fortfuhr. Sie konnte ihm erneut nicht langefolgen, denn ein heftiger Magenkrampf ließ sie leise aufstöhnen.Sie kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu entspannen.Endlich ließ der Schmerz nach. Atomphysik war noch nie ihrliebstes Fachgebiet gewesen. Tief in Gedanken versunken, dasKlemmbrett locker unterm linken Arm und das Kinn leicht auf dierechte Faust gestützt, musterte sie die Projektion in der bläulichwabernden Masse vor sich. Wenn die Entschlüsselung endlichgelänge, stand vor ihr die Lösung der Energieknappheit und derUmweltverschmutzung: die Kernfusion, in welcher zwei 6

Wasserstoffatome unter Energiefreisetzung zu Heliummiteinander verschmelzen. Es wäre das Gegenstück zur Spaltungder Atomkerne von Elementen, wie Uran oder Plutonium,wodurch zwangsläufig radioaktiver Abfall entsteht. KontrollierteKernfusion bedeutet dagegen die unbegrenzte Versorgung dergesamten Menschheit mit sauberer Energie. EinMenschheitstraum, an dessen Verwirklichung seit einemJahrhundert gearbeitet wird. Man weiß, dass sie die Energiequellealler Sterne inklusive der Sonne ist, in dessen Kern der Druck großgenug ist, damit zwei positiv geladene und sich gegenseitigabstoßende Atomkerne zusammenschmelzen. Dieser Druck ist aufErden nicht nachahmbar. Die alternative Lösung wäre enormeHitze, welche die Atomkerne derart beschleunigt, dass sieaufeinanderprallen und fusionieren. Doch genau daran scheitertdie Wissenschaft. Die unvorstellbaren Temperaturen von über 100Millionen Grad müssen durch ein Hochspannungs-Magnetfeldisoliert und stabil gehalten werden, da bei einer Abkühlung dieKettenreaktion sofort unterbrochen wird.Die Tiboos hatten dieses Problem scheinbar gelöst und Eva hoffte,dass auch die Menschen bald saubere Energie benutzen konnten,statt ihre Umwelt bis in alle Ewigkeit mit nuklearen Abfällen zuverseuchen. Seit Woche wurden verschiedene Experten dieserbedeutsamen Projektion zugeteilt, um sie zu entschlüsseln, dochniemand hatte bisher endgültig verstanden, wie derKernfusionsreaktor nachzubauen war. Trotz des Enthusiasmus derAtomphysiker war Eva mehr als skeptisch, dass heute der Tag seinwürde, an dem dieses Geheimnis gelüftet werden würde. Und wie,um ihren Gedanken zu bestätigen, stutzte der junge Professor vorihren Augen bei dem plötzlichen Einwand einer Kollegin,durchblickte hastig seine Notizen, verharrte einen Augenblick undschlug sich dann mit der flachen Hand vor die Stirn, dass es nur soknallte. Erschrocken fuhr eine zierliche Assistentin zusammen, diein der Nähe ein Manuskript studiert hatte, und ließ dabei beinaheihre Kaffeetasse fallen. „Verdammt noch mal!“, rief er laut, „Duhast Recht! Das innere Magnetfeld ist zu schwach, um die Ionen 7

stabil zu halten und exotherme* Energie zu erzeugen.“ Enttäuscht und sauer schob er hinterher „Wir haben gar nichts! Der Reaktor schmilzt uns jedes Mal davon. Scheiß Atome, scheiß Physik, scheiß Tag! Ich hau mich jetzt aufs Ohr.“ damit wandte er sich zum Ausgang, zerknüllte seine Notizen, warf sie in eine Ecke und rief den anderen zu „Viel Glück und gebt nicht auf!“ Damit verließ er mürrisch den Raum. Eigentlich konnte Eva derartige Gefühlsausbrüche den Forschern nicht durchgehen lassen, doch der junge Physiker war ihr sympathisch. Außerdem schien sich niemand über seine Kraftausdrücke aufzuregen. Achselzuckend nahmen die Atomphysiker ihre Aufgabe wieder auf und begannen damit, einen neuen Lösungsansatz zu entwickeln. Und damit war auch für Eva das Thema erledigt. Leicht gelangweilt machte sie sich ein paar Notizen und starrte danach für eine Weile in die bläuliche Projektion, als könnte sie dadurch in Verbindung mit ihrem geistigen Besitzer treten. Normalerweise arbeitete sie wie besessen an der Decodierung und Entschlüsselung der Hologramme, doch der Hunger und der Schlafentzug verlangten langsam ihren Tribut. Plötzlich ertönte eine Frauenstimme:: „Knusprige, leckere Bagles, frisch gepresster Orangensaft, Kaffee und Tee!“ Bei diesen Worten meldete sich Evas Hunger zurück und befahl ihr, sofort dieser Stimme und dem herrlichen Duft zu folgen. Sie lief auf die Frau zu, die einen kleinen Wagen vor sich herschob und frische Mahlzeiten und kalte Getränke anbot. Ursprünglich durften in diesem hochsensiblen Arbeitsbereich keine Speisen oder Getränke konsumiert werden, aber schon nach drei Tagen war ein japanischer Historiker völlig dehydriert zusammengebrochen. Seitdem wurden in regelmäßigen Abständen kleine Mahlzeiten und Getränke zur Verfügung gestellt, da Viele sich völlig in ihrer Arbeit verloren. Dadurch wurden die Forscher erinnert, ihre Körper mit den nötigen Nährstoffen zu versorgen und der Geruch nach frischen* Chemische Reaktion bei der Energie, z.B. in Form von Wärme an die Umgebungabgegeben wird 8

Backwaren, Kaffee und Obst zwang selbst die Ehrgeizigsten unterihnen, ihre Nachforschungen für einen Augenblick zuunterbrechen. „Guten Morgen Mrs. Hutchinson.“, sagte Eva einwenig außer Atem, da sie sich beeilt hatte, den Essenswagen, alsErste zu erreichen, denn die Gelehrten stürzten sich für gewöhnlichwie die Geier auf die arme Mrs Hutchinson.„Gut, dass Sie endlich da sind. Ich bekomme zwei BecherOrangensaft, dazu einen Bagle mit Frischkäse und TomatenMozzarella, sowie eine Tasse schwarzen Kaffee ohne Milch undmit einem Stück Zucker.“„Wie immer also.“ Sagte Frau Hutchinson lächelnd. Während dieVerkäuferin Evas Bestellung aufnahm, bildete sich eine langeSchlange, die ungeduldig nach vorne drängelte.„Nur mit der Ruhe. Ich habe genug für alle da.“ rief Mrs.Hutchinson, die sich jeden Tag vorkam, wie eineEiswarenverkäuferin an einem heißen Sommertag vor einemKindergarten.Kaum hatte sich Eva ihr Frühstück geschnappt, versteckte sievorsorglich den Bagle in ihrer Tasche als wäre ein Rudel vonHyänen hinter ihr her. Sie setzte sich etwas abseits an einen weißenTisch und begann, ihr Essen hinunterzuschlingen.Während sie den Rest ihres Kaffees austrank, bemerkte sie, wieihre Lebensgeister beinahe schlagartig zurückgekehrten. Trotzdembeschloss sie erst am nächsten Tag ihre Forschungsarbeitfortzusetzen. Nachdem sie den letzten Bissen ihres Baglesheruntergeschlungen hatte, stand sie ruckartig auf, warf ihreTasche mit dem Notizblock um die Schulter und marschierteRichtung Ausgang. Nachdem sie alle Sicherheitsvorkehrungendurchgangen war und sich abgemeldet hatte, erreichte sie denParkplatz und suchte in der Morgensonne nach ihrem weißenBentley. Sie war gerade dabei, die Kabel ihrer Kopfhörer zuentwirren, um sich das Best of Album von R. Kelly anzuhören, alssie jemand von hinten an die rechte Schulter tippte. „EntschuldigenSie gnädige Frau.“ Überrascht drehte Eva sich um. Gnädige Frau?Sie blickte in das Gesicht eines Mannes etwa in ihrem Alter, dereinen Stadtplan in der Hand hielt. „Mein Name ist Ron Wall.“ 9

Der intensive Geruch seines Aftershaves schlug ihr ins Gesicht,wodurch ihr nicht auffiel, dass sein Atem leicht nach Whiskeyroch. Er schien ebenfalls die Nacht zum Tage gemacht zu haben,denn der dunkle Schatten eines 24-stündigen Bartwuchses wardeutlich zu erkennen.„Guten Tag, gnädiger Herr.“ antwortete Eva spöttelnd und schautefragend zu ihm auf, was selten vorkam, da sie selbst fast 1,80Meter groß war. Vielleicht blickte sie deshalb so aufmerksam inseine grauen Augen, die von einer großen, männlichen Nasegetrennt wurden und forschend in die ihren sahen. Sein markantes,unrasiertes Gesicht war nicht besonders schön, doch es weckte einungeahntes Interesse in ihr.Ron hatte belustigt das Mienenspiel und den Ausdruck in EvasAugen beobachtet. Eigentlich hasste Ron Stereotypen undKlischees, doch dummerweise hing sein Lebensunterhalt davonab. Es ist doch immer wieder das Gleiche. Dachte Ron, der soforterkannt hatte, dass Eva die Nacht durchgearbeitet hatte. Frauen,die ihren Job an oberste Stelle setzten, stießen Männer von sich,wie lästige Stechmücken. Innerlich dürsten sie jedoch nach Liebeund Zuneigung. Während er den Kopf leicht hin und her bewegte,fasste er den spontanen Entschluss, sich auf eine mühselige abermöglicherweise äußerst lohnenswerte Herausforderungeinzulassen und die fremde Frau auf ein Date einzuladen.Verlegen griff sich Ron an die Stirn. „Entschuldigen Sie, aber ichhabe jetzt ganz vergessen, was ich sagen wollte.“Eva wollte sich schon wegdrehen. „Zur U-Bahn geht es in dieRichtung.“„Warten Sie bitte. Einen Moment. Normalerweise mache ich soetwas eigentlich nicht,“ log Ron „Aber ich spüre eine gewisseSpannung zwischen uns und ich würde sie gerne etwas näherkennenlernen. Ich werde morgen im Pelikan zu Abend essen undwürde mich über Ihre reizende Begleitung sehr freuen.“ DasPelikan war das nobelste und teuerste Restaurant weit und breit,dennoch war sich Ron sicher, dass sie versuchen würde, ihnabzuwimmeln und sich deshalb eine Lüge für ihn ausdachte. 10

Eva war total überrumpelt von der Frage. Seit Monaten hatte sieniemand mehr ausgeführt. Obwohl ihr das Interesse des fremdenMannes mit dem durchdringenden Blick schmeichelte, fühlte siesich unbehaglich. Sie hatte keine Lust auf einen Flirt. Und wasnoch schlimmer war, sie fühlte sich in ihren geheimen Gedankenertappt, was sie schutzlos und nackt erscheinen ließ. Mach dichnicht lächerlich, Eva. Er kennt dich doch überhaupt nicht.„Wie war noch gleich Ihr Name? Mr. Wall? Richtig?“„Genau, aber sagen Sie einfach Ron zu mir.“Mr. Wall.“, betonte Eva seinen Nachnamen scharf. „Sie sindbestimmt ein interessanter Mann und es hat Sie ohne Zweifel eineMenge Mut gekostet, mich hier Mitten auf einem Parkplatzanzusprechen und Sie können stolz auf sich sein, denn über zweiDrittel der Männer hätte sich das niemals getraut. Nehmen Sie esmir also nicht übel, wenn ich Ihnen jetzt Folgendes sage: Ich habeseit 30 Stunden kein Auge zugetan, bin hundemüde undkeineswegs in der Stimmung, mit einem unrasierten Kerl wieIhnen überhaupt auch nur ein Eis essen zu gehen. Erst recht nichtmit jemandem, den ich noch nie zuvor gesehen habe “ echauffiertesich Eva mehr als sie wollte. Man kannst du fies sein! Ihre Stimmewar laut geworden und ein vorbeigehender Wissenschaftler drehtesich verwundert zu ihnen um. Mach jetzt bloß keine Szene.ermahnte sich Eva. Verabschiede dich höflich und fahr nachHause, bevor du wirklich noch zur Eiskönigin wirst.Eva holte tief Luft. Für sie gab es nur eine Möglichkeit, diesen Kerlloszuwerden ohne seine Gefühle zu verletzen.„Ich bin seit Jahren glücklich verheiratet und mein Ehemannwartet auf mich. Wenn sie mich jetzt also bitte entschuldigenwürden.“ Sagte Eva in einem leiseren Ton, schwang ihre Taschewieder um die Schultern und drehte sich um die eigene Achse. Dawar sie endlich! Die erste Lüge! jauchzte Ron innerlich und freutesich auf das, was als nächstes kommen würde.Amüsiert applaudierte er Eva und sagte „EinwandfreieVorstellung. Vielleicht ein wenig zu bissig, aber trotzdem ganzoben in meinen persönlich Top Ten. Absolut glaubwürdig. MeinenRespekt. Damit hätten sie wahrscheinlich den charmantesten 11

Frauenflüsterer aller Zeiten, James Bond und Casanovahöchstpersönlich, vergrault, aber ich bin leider nur ein einfacherSingle, genau wie Sie.“Eva hielt inne, drehte sich um und meinte entnervt „Wie bitte!? Ichbin glücklich verheiratet. Was erlauben Sie sich?“, doch innerlichdachte sie verzweifelt, Wer zum Teufel war dieser Kerl?„Sie sind nicht verheiratet. Sie spielen einmal die Woche Tennisund sind zu meinem Bedauern Vegetarierin. Dass Sie einWorkaholic sind, liegt auf der Hand.“Eva gab sich unbeeindruckt und streckte ihm zur Antwort nur ihrelinke Hand mit dem Ehering entgegen, als würde sie dieselbe Gestemit dem Mittelfinger machen. Inständig hoffte sie, dass dieserBluff sie endgültig aus der Affäre ziehen würde, doch Ron begannschon wieder zu grinsen.„Wie schon gesagt, Sie sind nicht verheiratet. Dieser„Ehering“ wird mich bestimmt nicht vom Gegenteil überzeugen.Den habe ich übrigens schon bemerkt, bevor ich sie begrüßt habe.“Sie standen sich jetzt wieder direkt gegenüber, als Eva aufbrauste,„Wer zur Hölle sind Sie überhaupt? Ein verdammter Stalker?Woher wissen Sie denn all diese Sachen über mich?“„Ah, jetzt stellen Sie die richtige Frage. Dass Sie Tennis spielen,konnte ich an der leicht verstärkten Muskulatur an Ihrem rechtenArm erkennen, wie sie nur für Tennisspieler üblich ist. Ihre reineHaut und dünnes Haar kennzeichnet Sie als einen langjährigenPflanzenfresser aus. Ein kleiner Proteinmangel, schätze ich.Vielleicht sollten Sie mehr Reis essen, oder sich gleich mal einschönes Steak gönnen.“„Nicht schlecht.“ Gab Eva anerkennend zu und wusste jetzt selbst,wen sie vor sich hatte. Ron war einer der Identitätsjäger, die diePersönlichkeit ihnen unbekannter Personen erraten konnten undvon ihrer Firma für eine besondere Mission angeheuert wurde.Nun wollte sie wissen, wie gut er wirklich war.„Aber woher wussten Sie, dass ich nicht verheiratet bin?“„Ich konnte es...“ Ron machte eine kurze Pause, als würde er nachden richtigen Worten suchen, bis er mit den Schultern zuckte undsagte, „Naja irgendwie konnte ich es fühlen.“ 12

„Sie konnten es fühlen?!“, wiederholte Eva, „Wie kann man soetwas denn bitte fühlen?!“ und zeichnete bei der Betonung auf dasWort „fühlen“, jeweils zwei Ausführungszeichen in die Luft.„Lassen Sie mich versuchen, es zu erklären. Oft sind esKleinigkeiten. Zum Beispiel fiel mir auf, dass sich ihre Pupillenbei meinem Anblick minimal vergrößerten. Außerdem konnte ichan ihrer Brust erkennen, dass sie schneller atmeten. Ihr Puls warleicht angestiegen, was mich auf einen Adrenalinausstoß schließenließ. Als nächstes sah ich mir Ihre Kleidung an. Mir fiel auf, dassSie mit Ihrer bis zum Hals zugeknöpften Bluse, ihrem langenschwarzen Rock und ihrem sehr dezent geschminkten Gesichtversuchen, möglichst unauffällig und passiv zu wirken.Möglicherweise um das Werben männlicher Kollegen bereits imKeim zu ersticken? Schließlich sind sie eine attraktive Frau.Natürlich ist mir dabei auch ihr Ehering aufgefallen, der mirallerdings in diesem Zusammenhang eher wie ein weitererSchutzschild gegen männliche Flirt-Attacken vorkam. Als siemich erblickten, streckten Sie Ihr Rückgrat durch, um sich nureinen Augenblick später mit der rechten Hand durchs Haar zustreichen. Unterbewusst wollten Sie auf mich einen positivenEindruck machen. Allein die extremen Gegensätze zwischen IhrerKleidung und Ihrer Körpersprache verrieten mir, dass sie mir undder Welt etwas vortäuschen und wahrscheinlich sich selbstauch.“ Ron wandte kurz den Blick ab und betrachtete den Bodenvor seinen Füßen, bevor er seine Erklärungen fortsetzte: „Natürlichkönnen ein erhöhter Puls und vergrößerte Pupillen Signale für allemöglichen emotionalen Gefühlsausbrüche sein. Trotzdem kannman vom Gesichtsausdruck einer Person lesen, wie er oder sie sichgerade fühlt und mit ein bisschen Übung sogar sehen was siedenken, obwohl man die Person gerade zum ersten Mal getroffenhat.“ Eva schien nicht ganz überzeugt von Rons Erklärung zu seinund erwiderte misstrauisch: „Sie können also sehen was ich denke?Sie sind ein Gedankenleser!“, Eva lachte leicht gekünstelt undschüttelte dabei ungläubig den Kopf, doch Ron ließ sich davonnicht beeindrucken und fuhr fort: „Derjenige, der andere kennt, ist 13

weise, derjenige, der sich selbst kennt, ist erleuchtet. Wer anderebeherrscht, ist vielleicht mächtig…„Aber wer sich selbst beherrscht, ist noch vielmächtiger.“ Vollendete Eva Rons Zitat des chinesischenPhilosophen Dao. Beeindruckt von Evas Kenntnissen derchinesischen Literatur nickte Ron ihr nachdenklich zu, so als wäreer sich nun doch nicht mehr so sicher, ob er Eva tatsächlichdurchschaute. Sie war ihm nach wie vor ein Rätsel, was seinInteresse an ihr nur noch vergrößerte. Irgendetwas habe ichübersehen.„Sie wollen mir also erzählen, dass sie durch intensiveBeobachtungen der Gesichtszüge eines Menschen und derenReaktionen auf ihre provokativen Fragen wissen, was derjenigegerade denkt und vielleicht sogar plant oder zu verbergenversucht?“ fragte Eva in die entstandene Stille.Ron lächelte, nickte langsam und kratzte selbstzufrieden seinenBart. „Ohne arrogant klingen zu wollen, gehören dazu natürlichnoch andere Talente, wie eine ausgeprägte Menschenkenntnis, dieich mir über Jahre hinweg erst aneignen musste, sowie weitereanalytische und intellektuelle Fähigkeiten.“ trug Ron weiter dickauf „Oft ist es unheimlich schwer, die gewünschten Informationenunbemerkt von der Zielperson herauszubekommen. Außerdemhandelt es sich oft um Geheimnisse, die die Person unter keinenUmständen preisgeben möchte.“„Hab ich’s mir doch gedacht!“ rief Eva und lachte laut, „Ich bineinem meiner eigenen Identitätsjäger auf den Leim gegangen.“„Identitätsjäger?“, fragte Ron verwirrt.„Sie sind doch zu einem Job-Interview hier, nicht wahr? BeiESOC-Laboratories, Extraterrestrial Spiritual Observation &Control Laboratories? “Als Ron verstand, wen er vor sich hatte, rutschte sein Herz einwenig in die Hose. Nein, das kann nicht wahr sein... Hatte ergerade seinen zukünftigen Boss angebaggert? schoss es ihm sofortdurch den Kopf. Ihm wurde heiß und er zupfte sich unruhig amKragen, als er fragte, „Sie sind nicht zufällig Prof. Dr. Spring?“ 14

„100 Punkte! Sie haben heute ja einen richtigen Lauf!“ sagte Evaund grinste breit. Sie hatte nun richtig Spaß, Rons Überheblichkeitwie ein Kartenhaus einstürzen zu lassen. „Und weil Sie mir soebeneindrucksvoll bewiesen haben, dass aus uns zwei nie ein Paarwerden kann, haben sich ihre Chancen auf den Job weiterverbessert. Jetzt muss ich aber wirklich los. Morgen um Punkt11:00 auf dem Parkplatz? Ich freu mich.“ worauf Ron nurverdattert nickte. Dann stieg Eva in ihren weißen Bentley und ließRon sprachlos zurück.Wenn Sie wissen wollen wie es mit Ron und Eva weitergehtund wer der Seelenwanderer ist, dann besuchen Sie einfachunseren Web-Store. 15


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