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Ben Heart

Published by kl.klingler1989, 2017-03-15 04:11:30

Description: Leseprobe

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Peter Clark BEN HEARTund das Vermächtnis des Planeten Tiboo Roman

LESEPROBE Kapitel 1 Leben und TodMit verschränkten Armen lag John Eisner auf dem kalten Lederseiner Operationsliege im Flur des Public State Hospitals inManhattan. Seine Operation war nach vorne verlegt worden undder Nebel der Schlaftablette verzog sich nur langsam. Es dauerteeine Weile, bis John sich wieder erinnern konnte, wo er war. Inseinem Dämmerzustand fiel ihm ein, dass er seine Familie nichtüber den neuen Termin informiert hatte. Sie würden erst in zweiStunden im Krankenhaus eintreffen. Sein ursprünglicher Plan,ihnen ein Geheimnis anzuvertrauen und sich davon zu befreien,war damit über den Haufen geworfen worden.Er hatte ein Kind, von dem niemand etwas wusste. Kurz nach derGeburt des Jungen vor über sechzehn Jahren, hatte das Schicksal,oder besser gesagt, das Gericht sie voneinander getrennt. Zwarzahlte er die monatlichen Gebühren für eine Institution, in der derJunge untergebracht war, aber Kontakt gab es keinen. Er wusstenicht einmal, ob die Mutter noch lebte. Sie war bereits damals labilgewesen und hatte unter schweren Depressionen gelitten; trotzdemhatte man ihr das Sorgerecht zugesprochen. Wieso eigentlich?Vielleicht um ihr nicht den letzten Halt im Leben zu nehmen,vielleicht aber auch weil er alkoholisiert und unter dem Einflussvon Medikamenten zum Gerichtstermin erschienen war. 2

Vermutlich Letzteres. Sein größter Fehler in seinem Leben. JedesJahr nahm er sich aufs Neue vor, den Jungen, dessen Namen ernicht einmal kannte, zu besuchen, doch am Ende hatte ihm jedesMal der Mut gefehlt. Er fühlte sich elend, wenn er daran dachte,was für ein miserabler Vater er all die Jahre gewesen war. Tränensammelten sich in seinen Augen und sein Blick verschwamm. Erblinzelte mehrfach und füllte seine Lungen mit der kalten, vonDesinfektionsmitteln getränkten Krankenhausluft.Angestrengt versuchte er, die traurigen Gedanken aus seinem Kopfund das Adrenalin aus seinem Blut zu verdrängen, als er plötzlichjemanden auf sich zukommen hörte. Jetzt ist es soweit, dachte Johnund schlug die Augen auf. Direkt vor ihm stand eine Frau mitMundschutz und blickte von oben auf ihn herab. Erschrockenzuckte er unter seiner Stoffdecke zusammen.„Ganz ruhig Mr. Eisner. Alles wird gut. Versuchen Sie sich einwenig zu entspannen.“, sagte sie mit einem starken ausländischenAkzent. Bevor John wusste was er damit anfangen sollte, war siewieder fort.Plötzlich schämte er sich vor dieser fremden Frau wegen seinerAngst. Wer weiß, was diese Krankenschwester schon alles erlebthatte, dachte er. Wahrscheinlich flirteten die russischen Männernoch mit ihr, während sie ihnen in der sibirischen Eiswüste dasBein amputierte. Und er machte sich hier vor einer simplenRoutine-Operation ins Hemd. Doch je mehr er versuchte, nicht andie Operation zu denken, umso schwerer fiel es ihm. WieGewehrkugeln schossen ihm immer wieder die gleichen Gedankendurch den Kopf und die Angst vor dem Tod ließ ihm keine Ruhe.Was passiert mit mir, wenn ich sterbe?In Momenten wie diesen fragte er sich, ob es nicht vielleicht docheinen Gott gab. Sogleich bereute er den Gedanken, denn er konntedie Menschen nicht ausstehen, die immer dann anfingen zu beten,wenn es ihnen dreckig ging, sogenannte Gelegenheitsgläubige.Johns Meinung war es, dass man sich alles im Leben verdienenmusste. Dazu zählte auch göttlicher Beistand. Falls er dennexistierte. Er selbst glaubte nicht an eine höhere Macht. Warum?Aus dem einfachen Grund, dass in der menschlichen 3

Zeitgeschichte, jede Zivilisation ihre eigene Version von Gotterschaffen hatte. Von der Antike bis heute erfüllten Religionen undGottheiten eines der wichtigsten Grundbedürfnisse derMenschheit: sie von der Angst des Unwissenden zu befreien.Götter endstehen aus der Not des Menschen. John konnte dieseAngst sehr gut nachvollziehen, insbesondere in Momenten, indenen einem die Vergänglichkeit seiner eigenen Existenz wiederbewusst wurde. Trotzdem würde er niemanden mit einem starkenGlauben verachten oder eines Besseren belehren. Am ehestenbeneidete er sie dafür.John spürte wie sich sein Herzschlag langsam beruhigte. MehrereÄrzte und Krankenschwestern eilten jetzt durch den Flur und einkleines Mädchen wurde auf ihrem Krankenbett aus demOperationssaal geschoben. Ihre Augen waren geschlossen und einzerfranster Teddybär lag auf ihrer Brust. Die reinsteMassenabfertigung hier. dachte sich John und versuchte, sich vondem metallenen Klimpern, das aus einem der Zimmer vor ihmdrang, nicht beunruhigen zu lassen. Denk an einen anderen Ort.Er schloss die Augen. Erst war alles schwarz, dann reiste er anseinen Lieblingsort. Er sah sich gemütlich ausgestreckt auf einerHängematte liegen, die unter dem Schatten hoher Palmen gespanntwar. Der Wind streifte durch die langen Blätter der Baumkronenüber ihm und die Wellen schwappten in einem beruhigendenRhythmus ans Ufer. Der weiße Sandstrand um ihn herum warunberührt. Nur ein paar Sandläufer waren am nassen Ufer auf derJagd nach kleinen Krebsen. In einem ständigen Auf und Abflüchteten sie vor den brechenden Wellen. Tief und geräuschvollatmete John die kalte Luft ein und hatte dabei das Gefühl, nichtmehr Desinfektionsmittel zu riechen, sondern den salzigen Geruchdes Meeres. Eine angenehme Ruhe breitete sich in seinem Körperaus, bis sich plötzlich sein Bett bewegte und er eine tiefe Stimmesagen hörte: „So Mr. Eisner. Wir wären dann soweit. Bei Ihnenalles in Ordnung?“ Das Meer und der Strand waren verschwundenund John lag wieder auf seiner harten, ledernen Liege imKrankenhaus. Am Fuß des Bettes stand ein Arzt, der ihm unterseinem Mundschutz freundlich zulächelte. „Alles bestens“, 4

murmelte John und schloss wieder die Augen, um sie sofort wiederzu öffnen. Kein Sandstrand mehr. Nur noch ewige Dunkelheit.„Schön kühl hier unten, nicht wahr? Im Sommer der beste Job denman sich wünschen kann.“ sagte der Arzt munter, während er Johnin den Operationssaal schob. John lächelte schmal und fragte sich,wie oft der Arzt diesen Scherz wohl schon gemacht hatte.„So, das Team wäre dann soweit. Wir können loslegen.“ Johnhörte ihm gar nicht zu. Unruhig wandte er den Blick ab und schautehoch zur Decke. Plötzlich musste er daran denken, wie viele Zieleer nicht erreicht und wie viele Erfahrungen er noch nicht gemachthatte. Seine Löffel-Liste, also alle Dinge, die er machen wollte,bevor er den Löffel abgab, war noch voll: Fallschirmspringen,einen Airbus 380 im Flugsimulator steuern, mit einem Motorraddurch die Wüste rasen, Tiefseetauchen, ein Gewehr abfeuern oderdurch ein Hobby-Eberly Teleskop die Weiten des Weltallserforschen. Es gab so viele Abenteuer, auf die er sich noch nichtbegeben hatte. Immer war er nur dem Erfolg und dem Geldnachgejagt. Plötzlich dachte er wieder an seine erste Frau, bevorsie verrückt geworden war. Er sah sie jetzt ganz deutlich vor sich,wie sie ihn anlächelte und ihre hellbraunen Augen tief in die seinenblickten. Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr, woraufhin sielaut anfing zu lachen. Dabei warf sie ihren Kopf nach hinten, wiesie es immer getan hatte und entblößte ihren schmalen, weißenHals. Wie sehr hatte er ihr herzhaftes Lachen geliebt oder wenn siein Gedanken versunken mit ihren Haaren gespielt hatte. DieErinnerungen betäubten ihn und er hatte auf einmal das Gefühl,unheimlich schwer zu werden. Er erinnerte sich wieder an denkleinen Jungen, den er vor einer halben Ewigkeit verlassen hatteund er nahm sich vor, ihn nach dieser Operation zu besuchen. Erwollte ihm sagen, dass er ab jetzt ein Vater für ihn sein werde.John drehte den Kopf zum Chefarzt und blickte fest in seine Augen„Ich bin bereit. Es kann losgehen.“ Der Arzt nickte zufrieden, ließsich von seinem Assistenten eine Spritze geben und sagte „So, daswird jetzt ein klein wenig pieksen, Mr. Eisner. Wir sehen uns inein paar Stunden. Haben Sie sich schon einen schönen Traumausgedacht?“ John spürte einen leichten Stich in seinem linken 5

Handrücken und fühlte die kühle Flüssigkeit desBetäubungsmittels durch die Ader seines Arms fließen. Die Herz-Rhythmus-Maschine neben seinem Kopf piepste leise, während erdarauf wartete einzuschlafen. Das Meer blieb still. Er drehte seinenKopf nach links und blickte auf den Bildschirm mit demElektrodiagramm. Sein Puls war hoch. Über hundert Schläge proMinute und stieg kontinuierlich weiter an. 104, 108, 111. War dasnormal? Krampfhaft versuchte John sich zu beruhigen und nichtan das Piepsen zu denken. Es wird alles gut gehen, Ich werdewieder aufwachen. Die Karibik, denk an die Karibik! John spürte,wie sein Herz stark und heftig gegen seine Rippen schlug, als wollees aus seinem Brustkorb springen. 118, 122, 127. Die Abständezwischen den Zacken des Sinus-ähnlichen Graphen auf demElektrodiagramm reihten sich wie Zinnsoldaten immer engernebeneinander. Etwas stimmte nicht. Wieso schlafe ich nichtendlich ein? In seinem Augenwinkel sah John, wie der Chefarzt inder Ecke stand. Gedankenverloren stützte er sich auf einem Tischab und starrte auf den Boden, als ginge ihn das Ganze nichts an.An seinem Nacken erkannte John ein schwarzes Tattoo, das wieein kleines Segelschiff oder eine Waage aussah, darüber stand inkleinen Buchstaben HumanScale geschrieben. Was zur Hölle warhier los?Plötzlich hörte er nur noch das schnelle Piepen des EKGs, das lautin seinen Ohren dröhnte. Wie die Anfeuerungsrufe seinerBowling-Mannschaft hetzte es sein Herz auf eine immer höhereFrequenz. Die roten Zahlen flackerten vor seinen Augen. 134, 139,146. Im Hintergrund vernahm er nur noch dumpf denAnästhesisten, der hektische Befehle an seinen Assistenten gabund sich zwang, dabei souverän und ruhig zu klingen, was ihmnicht wirklich gelang. John war sich sicher, dass er einen Anflugvon Panik in der Stimme des Assistenzarztes gehört hatte. Leiderüberhörte John ebenfalls nicht den Hauch von Ratlosigkeit.Stattdessen beobachtete er, wie etwas in seinen linken Arm gejagtwurde. Er spürte, wie eine zweite Ladung der kaltenBetäubungsflüssigkeit durch seine Adern schoss. 150, 156, 162.Was spritzen die mir hier? Adrenalin? Johns Herz pochte nun so 6

schnell, dass er fürchtete, es könnte jeden Augenblick wie einLuftballon zerplatzen, was wohl eine ziemliche Sauerei verursachthätte, zumindest in seinem Körperinneren. Aus lauter Angstmerkte John, dass er aufgehört hatte zu atmen und seit bestimmtdreißig Sekunden die Luft anhielt. Druckvoll stieß John diekohlenstoffreiche Luft aus seinen Lungen, um Platz für frischenSauerstoff zu machen. Er hatte genug. Jetzt reicht’s. Ich muss hierweg. John versuchte, aufzustehen; doch kaum hatte er den Kopfleicht angehoben, verlor er das Bewusstsein. Das Letzte was Johnspürte, war ein stechender Schmerz im Zentrum seines Brustkorbs,der sich in seinem ganzen Körper ausbreitete und in seinen Kopfentlud. Dunkelheit umschloss ihn. Hatte das Betäubungsmittelendlich gewirkt oder war John in Ohnmacht gefallen? Sein Kopflag regungslos auf der Seite. Er atmete nicht mehr. Auch das EKGwar still geworden. Lediglich eine gerade Linie verlief auf demBildschirm. Johns Herz hatte aufgehört zu schlagen.„Herzkreislaufstillstand! Beginn mit Reanimation!“, rief derChefarzt, nachdem er vergeblich nach Johns Atem gelauscht hatte.Mit beiden Händen stützte er sich auf Johns Brustkorb, um mitgleichmässigen Kompressionen und zyklischen Atemspenden denHerzschlag zu reanimieren„Weiterhin keine Vitalzeichen beim Patienten.“ Eine Assistentinrollte die Wiederbelebungsmaschine in den Raum und dieelektrisch aufgeladenen Dioden wurden auf Johns Brustangebracht. „Ich lade. 200 Joule. Weg vom Patienten.“ Das Gerätsummte leise auf, bevor sich der Stromschlag in Johns Muskelnentlud und sein Körper dabei für den Bruchteil einer Sekundezusammenzucken ließ. „Ich übernehme.“ Sagte eine Assistentinund nahm die Herzdruckmassage auf. Hoffnungsvoll blickten dieÄrzte immer wieder auf das EKG, um ein Lebenszeichen zuerkennen, doch Johns Körper zeigte keine Reaktion. Das EKGblieb stumm. „Verabreiche 1 mg Adrenalin, 300 mg Amiodoran.Vorbereitung des Defibrillators. Erhöhung auf 350 Joule.“ Erneutsurrte das Wiederbelebungsgerät kurz auf. Johns Oberkörperzuckte diesmal noch heftiger zusammen und sprang dabei leichtvon der Operationsliege in die Luft, fiel jedoch wie beim ersten 7

Mal sofort wieder in sich zusammen. Kälte und Dunkelheitbreiteten sich in Johns schwindendem Bewusstsein aus. Sein Todstand kurz bevor. Ein grausamer Gedanke. Sein Körper war bereitsvöllig taub und seine Lippen färbten sich leicht bläulich, währendsich seine Körpertemperatur weiter senkte. Hoffnungslosigkeitund Trauer war in den Gesichtern der Ärzte zu erkennen, die auchnach einer halben Stunde der Reanimation nicht aufhören wollten,um Johns Leben zu kämpfen. Erschöpft wischte sich der Chefarztmit der Hand den Schweiß von der Stirn und schüttelte den Kopf.„Reanimation fehlgeschlagen. Todeszeitpunkt: 06:34 Uhr.“John wachte auf. Ein helles Licht durchflutete den Raum undblendete ihn. Er fühlte sich, als wären die grellen Lampen der OP-Beleuchtung direkt auf sein Gesicht gerichtet. „Wo bin ich?“ fragteJohn heiser. Im nächsten Moment fiel ihm auf, dass er keineSchmerzen mehr empfand und sich stattdessen frei und leichtfühlte, als hätte er das Gewicht seines Körpers abgeworfen undwäre schwerlos. Außerdem war die Kälte verschwunden.Stattdessen breitete sich eine wohlige Wärme in ihm aus unddurchtränkte ihn, wie ein warmes Glas Milch einen trockenenKeks. Es erfüllte ihn ein zu Lebzeiten nie da gewesenes Gefühl desGlücks und der Freude. Doch obwohl er sich sicher war, etwasVergleichbares noch nie erlebt oder gefühlt zu haben, konnte ernicht leugnen, sich an genau diesen Zustand zu erinnern. Als hätteer dieses Gefühl schon viele Male zuvor gehabt.Ihm war klar, dass er die Existenz als John Eisner hinter sichgelassen hatte. Er war weder tot noch lebendig. Zwar war er nichtim Paradies aufgewacht oder neugeboren worden, doch gestorbenwar er auch nicht. Er fragte sich, wo er sich befand und was mitihm geschehen war, doch diese Fragen, die ihn als Menschgrenzenlos überfordert hätten, beunruhigten ihn nicht. Zum erstenMal seit seiner Geburt als John Eisner, erinnerte er sich, wer erwirklich war. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit einervollkommenen Klarheit und Überlegenheit, wie er sie als Menschnie gehabt hatte. John begriff, dass er zu seiner ursprünglichenLebensform zurückgekehrt war, in eine Welt, die ihm als Menschverschlossen geblieben war: die Welt der Seelen. Neben den 8

Sternen bildeten sie die größte Dichte an Materie und Energie imUniversum und ohne sie wäre die Existenz einer höherenLebensform, wie die der Menschen, nicht möglich. Es waren dieSeelen, die den Menschen als nötige Quellen dienten, um in einemKörper aus Fleisch und Blut einen Verstand zu erzeugen.Das Menschenleben von John Eisner war jetzt nur noch ein Teilseiner Vergangenheit, einer von vielen Bausteinen in dem Lebeneiner Seele mit dem Namen Sinorbis. Endlos sprudelten dieErinnerungen in der Seele hoch, die bis an den Ursprung desUniversums zurückführten. Als John Eisner war es Sinorbisunmöglich gewesen, sich an seine früheren Lebenzurückzuerinnern, denn jede Seele musste sich mit denintellektuellen Grenzen der Menschen begnügen. Dies hatte zurFolge, dass eine aus dem menschlichen Körper scheidende Seeleeine gewisse Zeit benötigte, bis sie die Erinnerungen richtigzuordnen konnte. Dennoch war die frischeste Erinnerung an seineletzte Existenz als Mensch auf Erden nach wie vor präsent. JohnEisner war nicht nur ein Teil von ihm; Sinorbis war niemandanderes als John Eisner selbst, nur mit dem kleinen Unterschied,dass sich Sinorbis an seine früheren Leben erinnern konnte. Aberseine letzte Erinnerung waren die angstvollen Momente, die JohnEisner kurz zuvor erlebt hatte: das laute Piepen des EKGs, dasHerzrasen, die hektische und verzweifelte Stimme des Arztes unddieser stechende Schmerz in seiner Brust, der bis in seinen Kopfgeschossen war und sich dort Inferno-artig entladen hatte. Ebensobeängstigend war die plötzlich eintretende Kälte gewesen, die sichin seinem Inneren ausgebreitet hatte und Sinorbis jetzt erschauernwürde, wäre er in der Lage, menschliche Gefühlenachzuempfinden. Obwohl die Erinnerung an die pechschwarze,fast physisch wirkende Dunkelheit, die ihn kurz vor Johns Todaufzusaugen drohte, so präsent war, wie sie nur sein konnte, wardie Seele Sinorbis nicht in der Lage, wie ein Mensch zu fühlen.Als Seele konnte er Gefühle wie Liebe, Angst, Schmerz, Zorn,Trauer oder Frust nicht wahrnehmen, denn dies war allein denMenschen überlassen und gleichzeitig ihr höchstes Gut. 9

Sinorbis erblickte unter sich die sterblichen Überreste seiner selbst,die menschliche Hülle von John Eisner. In diesem Moment mussteSinorbis an seine Familie und Freunde denken, die, wie er sehr gutwusste, nun um ihn trauern würden, da er so unerwartet von ihnengegangen war. Außerdem dachte er an seinen ersten Sohn, der nunnie seinen Vater kennenlernen würde. Sinorbis wünschte sichsogleich, er könnte irgendeinen Weg finden, ihnen zu erklären,dass sie nicht um ihn trauern müssten, da er schließlich weiterexistierte. Sinorbis war nur vorübergehend in einer anderenDimension. Bald schon würde er in einem anderen Körperwiedergeboren werden und zu den Menschen zurückkehren. Alseiner der ihren war es ihm nicht möglich, sich an sein vorherigesLeben zu erinnern und an dasselbe anzuknüpfen, um zum Beispielseinen ersten Sohn aufzusuchen. Ein Teufelskreis, der die Urangstder Menschheit vor dem Tod am Leben hielt.Sinorbis blickte sich um. Er wusste, dass er sich noch imOperationssaal befand, auch wenn der Raum für ihn nicht inderselben Dimension existierte, wie noch vor wenigen Momentenfür John Eisner. Für Sinorbis gab es keine Operationsliege undkein EKG. Es gab nicht einmal einen Raum. Das Einzige wasSinorbis deutlich erkennen konnte, waren die Seelen der Ärzte undder Krankenschwestern, die als goldene Lichtkegel aus demZentrum der Körper strahlten und die Ärzte und Schwestern wieein schützender Kokon umwoben. Sie waren sich sehr ähnlich,aber gleichzeitig auch einzigartig. So wie jeder Mensch seineneigenen Fingerabdruck besaß, waren auch ihre Seelenunverwechselbar. Sinorbis beobachtete die anderen Seelengenauer. Sie wirkten betroffen von dem Unglück. Mancheschrumpften in sich hinein, andere schossen hoch bis zur Deckeoder wirbelten herum. Eine von ihnen sah aus wie eine hoheLichtsäule, die bis zur Decke des Raumes reichte, während eineweitere langen Lichtkreisen ähnelte, die sich wie ein elektrisch-geladener Hula-Hoop-Reifen kreisförmig um ihre menschlicheHülle drehte. Sie spiegelten die innere Gefühlslage ihrer Trägerwider. Die Seelen, die Johns Leiche umgaben, zeugten vonEnttäuschung und Trauer über den Tod des Patienten, für welchen 10

sie sich mitverantwortlich fühlten. Alle, bis auf einen. BeimAnblick der Seele des Chefarztes wäre Sinorbis wahrscheinlicherschrocken, hätte er, wie John Eisner erschrecken können. Sie warweitaus dunkler als die anderen Seelen. Es war eine von Eigensinnund Habgier getriebene Seele, wie Sinorbis sie schon frühergesehen hatte. Ein Schatten. Nahm man einer Seele all ihreglücklichen Erinnerungen, blieb nur ein Schatten ihrer selbstzurück. Im Gegensatz zu den anderen Seelen, schien sie nichtbetroffen, sondern ruhte zufrieden im dunklen Kern desChefarztes. Ob er wohl etwas mit dem Tod von John Eisner zu tungehabt hatte, fragte sich Sinorbis. Er hatte sich schon vor derOperation sehr eigenartig verhalten, wie er sich jetzt erinnerte.Sinorbis konnte es sich jedoch nicht erklären und beschloss, denGedanken fürs Erste ruhen zu lassen. Außerdem drängte es ihn,sich von diesem düsteren Schatten zu entfernen und RichtungHimmel zu entschweben, dorthin wo die anderen Seelen inendlosen Schleifen um die Erde kreisten. Alle hatten sie dasselbeZiel: sich mit einem Säugling zu verbinden und in einer Symbioseaus Fleisch und Geist ein neues Leben zu formen. Mit einemletzten Blick auf die menschliche Hülle unter ihm, in welcher erdie letzten Jahrzehnte verbracht hatte, entschwand Sinorbis inRichtung des Firmaments. 11

Kapitel 2 Das ESOC-GeheimlaborEine fremdartige Scheibe, nicht viel größer als der Schild einesFußsoldaten, schwebte schwerelos über dem frisch poliertenMarmorboden. Die Tiboo, eine außerirdische Spezies, hatten vordem Untergang ihres Planeten unzählige dieser Scheiben in alleRichtungen des Weltalls geschickt. Eine davon fand den Weg zurErde und landete auf dem australischen Kontinent. Nun kümmertesich die intellektuelle Elite des 21. Jahrhunderts um dieEntschlüsselung ihrer Geheimnisse. Die Engländer reagierten amschnellsten und dank der guten Beziehungen zu ihrer ehemaligenKolonie transportierten sie die Scheibe sofort nach Cambridge. DieAmerikaner und der Rest der Welt mussten sich hintanstellen undauf die Großzügigkeit der ehemaligen Weltmacht hoffen.Immerhin war ihnen deren größte Sorge, dass die Scheibe in dieHände von Terroristen fallen könnte, genommen worden.Wie die Miniaturfigur einer Satellitenschüssel drehte sich dieScheibe langsam um die eigene Achse, während aus ihrem Innereneine Art Plasma strömte. Die bläuliche Substanz erfüllte denganzen Saal, der über zehn Meter hoch und hundert Meter breitwar. In dieses Plasma projizierte die Scheibe in dünnenLichterketten das Wissen der Tiboo. An mehreren Stellen imRaum schwebten Hollogramme verschiedener Größe, um das sichdas Interesse der gesamten Menschheit drehte. Sie zeigtenverschiedene dreidimensionale Zeichnungen, mathematischeGleichungen, wissenschaftliche Schriften und sich bewegendeAnimationen von chemischen Elementen. Die Geheimnisse desUniversums waren plötzlich in greifbare Nähe gerückt. 12

Das Plasma selbst war eine völlig neuartige Konsistenz, der manbislang noch keinen Namen gegeben hatte. „An diese Materie,oder Plasma, wie es die meisten mittlerweile nennen, werde ichmich wohl nie gewöhnen können. Man kann es nicht greifen, aberdennoch spüre ich es überall auf meiner Haut.“ sagte Eva zu einemMann mit Hornbrille und weißem Arbeitskittel, „Selbst nachvielen Stunden ist es immer noch ein befremdliches Gefühl, sichdarin zu bewegen. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich würdesagen, es fühlt sich an wie... wie...“ doch Eva wollte keingeeigneter Vergleich einfallen.„So wie kalter Wasserdampf vielleicht?“ warf Robert ein.„Ja, Robert. Genau! Wie kalter Wasserdampf.“ wiederholte Evakopfnickend. „Nur dass es natürlich nicht feucht ist.“ dabei warfsie ihre Haare nach hinten und sah Robert mit ihren blauen Augenan, die in dem phosphoreszierenden Licht fremdartig leuchteten.„Mein Gott, Eva!“ spielte Robert den Erschrockenen. „In diesemLicht siehst du ja aus wie ein Alien!“Für einen Augenblick schauten sie sich regungslos an, dannverdrehte Eva ihre Augen, verzog ihre Mundwinkel und beganntieftönig zu grunzen. Wie zwei junge Teenager prusteten siegleichzeitig los. Als sie sich wieder beruhigt hatten, sagte Eva,während sie sich müde eine Träne aus dem Augenwinkel wischte:„Ach Robert, mit dir kann man nach 24 Stunden Arbeit nochherumalbern.“„Erst recht nach 24 Stunden! Aber mal ganz im Ernst, ich bin mitden Tiboo vollkommen derselben Meinung: Lachen ist derSauerstoff der Seele. Findest du nicht auch?“ Antwortete Robert,der seit Jahren Evas schwuler Assistent war und sich insbesonderemit der spirituellen Identität der Tiboo auseinandersetzte.Mit ihren Notizblöcken unterm Arm passierten Robert und Evamehrere Wissenschaftler, die Tag und Nacht an derEntschlüsselung arbeiteten. Jeder, dem sie begegneten, grüßte sierespektvoll. Nicht weil sie Eva oder Robert so gern mochten,sondern weil Eva ihr Boss war. Niemand wollte es sich mit ihrverscherzen. Ihre Autorität war beinahe spürbar, genau wie dasPlasma, das sie umgab. 13

Eva war eine große, dünne Frau mit stahlblauen Augen und langenblonden Haaren, die fast ihren ganzen Rücken bedeckten. Dasbläuliche Schimmern der Scheibe wurde von ihrer hellen Hautbesonders stark reflektiert und betonte ihre feingliedrige Gestalt.Sie trug eine grüne oder gelbe Bluse, (das konnte man wegen desblauen Lichts im Raum nicht genau erkennen) die ihre flache Brustbedeckte und fast bis zum Hals zugeknöpft war.Sie leitete die Forschungsarbeiten und hatte damit auch diePersonalverantwortung. Folglich hatte sie die Befugnis,Wissenschaftler, die keine Ergebnisse lieferten oder nicht schnellgenug arbeiteten, durch andere zu ersetzen. Die Liste anBewerbern war lang, denn jeder wollte an der Entschlüsselung desGrals der Weisheit, wie die Scheibe in den Medien genannt wurde,mitwirken. Die Tatsache, aus einem beinahe endlosen Pool anBewerbern schöpfen zu können, verlieh ihr eine Macht, die nurdurch ihre Intelligenz übertroffen wurde. Letztes Jahr war sie imAlter von gerade mal 36 Jahren für ihren zweiten Nobelpreisnominiert worden, was vor ihr erst einer Frau gelungen war,allerdings in deutlich höherem Alter. Von ihrer herrischen Artfühlten sich ihre männlichen Kollegen bestenfalls eingeschüchtert,meistens aber herausgefordert. Allgemein wurde sie als kalt undemotionslos beschrieben, was aber nicht stimmte. Von Roberthatte sie gehört, dass manche sie, hinter vorgehaltener Hand, dieEiskönigin nannten.„Guten Morgen, die Herren. Wie gehen die Untersuchungenvoran?“ fragte Eva freundlich, aber bestimmt eine der vielenForscher-Gruppen. Es dauerte nicht lange bis ein eifriger Professoraus Harvard das Wort ergriff. Voller Enthusiasmus erklärte er ihrseine Interpretation einer chemischen Formel, welche dieElemente Au für Gold und Arg für Silber enthielt. Seine Theoriewar, dass die Tiboo es geschafft hatten, aus Silber Gold zuproduzieren. Obwohl sie ihn nicht unterbrach und aufmerksamzuhörte, waren ihr schon einige Fehler in seinen Berechnungenaufgefallen. Eva blickte auf ihr Notizbuch, schüttelte beinaheunmerklich den Kopf und seufzte leise. Die erfahrenerenProfessoren um sie herum schauten sich vielsagend an, denn diese 14

Geste konnte nur eines bedeuten. Spätestens morgen früh würdeihr Kollege aus Harvard ein Kuvert bekommen, das einDankesschreiben für seine bisherigen Dienste sowie ein First ClassFlugticket zurück in die Vereinigten Staaten enthielt.Selbstverständlich fiel es Eva nicht leicht, einen Forscher, der soviel Herzblut in seine Arbeit gelegt hatte, nach Haus zu schicken,doch genau das war ihr Job. Es war ein absolutes Privileg, an derEntschlüsselung der Scheibe mitzuwirken und da es nur Platz fürdie fünfzig fähigsten Forscher der Welt gab, konnte sie auch nurdie absolut Besten behalten.Eva machte sich gerade eine Notiz, nickte dem Harvard Professorfreundlich zu und bedankte sich höflich für seine Ausführungen.Der arme Kerl lächelte und strahlte vor Glück. Er hatte keineAhnung, dass er schon in wenigen Stunden in einem Flugzeug überdem Atlantik sitzen würde.„Geben Sie nicht auf, meine Herren. Sie befinden sich an einemOrt, an dem jede Woche Geschichte geschrieben wird. Eines Tageswird auch Ihre harte Arbeit belohnt werden. Morgen komme ichwieder vorbei. Bleib du ruhig hier Robert.“ sagte Eva und ihrAssistent verstand sofort, dass er sich um die Kündigung desHarvard Professors kümmern sollte. Ohne ein weiteres Wortmachte sich Eva auf den Weg zur nächsten Gruppe. Sie schauteauf ihre Uhr. Seit 30 Stunden hatte sie nicht geschlafen und ihreletzte Mahlzeit lag auch schon viel zu lange zurück. Lange würdensich ihr Hunger und ihre Müdigkeit nicht mehr ignorieren lassen.Doch bevor sie sich ein wenig ausruhen und ein Frühstückbestellen konnte, wollte sie der Gruppe der Atomphysiker nocheinen Besuch abstatten. Sie holte tief Luft und durchsah ihreNotizen vom letzten Treffen. Danach drehte sie sich nach links undging zielstrebig auf eine Traube von Atomphysikern zu, die sichum den dreidimensionalen Bauplan einer komplexen Maschineversammelten. Es war eines der wichtigsten Projekte der gesamtenStation. Aufgeregt waren sie in eine Diskussion vertieft. Kaumhatten sie von Eva Notiz genommen, verstummten sie.„Guten Morgen meine Damen und Herren. Bitte lassen sie sichnicht stören. Ich möchte mir einen Überblick über die bisherigen 15

Fortschritte machen. Fahren Sie fort.“, sagte Eva mit einemfreundlichen Lächeln auf den Lippen und nickte dem jungen Mannaufmunternd zu, der zuvor aufgeregt und überschwänglichgesprochen hatte. Sofort setzte er da an, wo er bei Evas Anblickaufgehört hatte. Hin und wieder zeigte er auf die eine oder andereZahlenkombination im Hologramm, zwischen welchen er eineVerbindung vermutete. Bereits nach kurzer Zeit schweiften EvasGedanken ab und sie musterte die Projektion in der bläulichwabernden Masse vor sich. Wenn die Entschlüsselung endlichgelänge, stand vor ihnen die Lösung zur Energieknappheit undUmweltverschmutzung: ein Reaktor zur Kernfusion.* EinMenschheitstraum, an dessen Verwirklichung seit einemJahrhundert gearbeitet wurde. Man weiß, dass sie dieEnergiequelle aller Sterne ist, in dessen Kern der Druck großgenug ist, damit zwei, sich gegenseitig abstoßende Atomkerne,zusammenschmelzen. Dieser Druck ist auf Erden nichtnachahmbar. Die alternative Lösung: Hitze. Die Atomkernemüssen derart beschleunigt werden, dass sie aufeinanderprallenund fusionieren. Doch genau daran scheitert die Wissenschaft. Dieunvorstellbaren Temperaturen von über 100 Millionen Gradmüssen durch ein Hochspannungs-Magnetfeld isoliert und stabilgehalten werden. Bisher für die Menschheit ein unmöglichesUnterfangen. Die Tiboo hatten dieses Problem scheinbar gelöstund Eva hoffte, dass sie das Geheimnis bald lüften würden.Plötzlich bemerkte sie, dass die Forscher sie fragend anstarrten.Anscheinend hatte der junge Physiker ihr eine Frage gestellt, diesie nicht gehört hatte. Ärgerlich ob ihres unprofessionellenVerhaltens räusperte sie sich und rief: „Aber ja doch! Sie macheneindeutig Fortschritte. Machen Sie weiter.“ Sie nickte dem jungenMann zu und forderte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen auf,seine Erklärungen fortzusetzen. Ein wenig irritiert von dem* Eine chemische Reaktion, bei welcher zwei Wasserstoffatome unterEnergiefreisetzung zu Helium miteinander verschmelzen - das Gegenstück zurSpaltung der Atomkerne. Kontrollierte Kernfusion könnte eines Tages dieunbegrenzte Versorgung der gesamten Menschheit mit sauberer Energieermöglichen. 16

spontanen Lob oder der seltsamen Antwort, die so gar nichts mitder Frage zu tun gehabt hatte, wandte er sich erneut seinenKollegen zu.Eva fiel auf, dass seine Wangen leicht gerötet waren und seineintelligenten dunklen Augen vor Aufregung glänzten, während sievon einem Zuhörer zum nächsten sprangen. Er konnte nicht vielälter als Mitte dreißig sein und war somit zusammen mit Eva einerder Jüngeren im Raum. Seine lockigen Haare fielen ihm ständigins Gesicht und er musste sie immer wieder nach hinten streichen.Eva empfand ihn als vorbildlich im Vergleich zu manch älterenKollegen, die oft einen trägen Eindruck auf sie machten. Siekonnte ihm erneut nicht lange folgen, denn ein heftigerMagenkrampf ließ sie leise aufstöhnen. Sie kniff die Augenzusammen und versuchte sich zu entspannen. Endlich ließ derSchmerz nach. Genug für heute.Seit Woche wurden verschiedene Experten dieser bedeutsamenProjektion zugeteilt, doch niemandem war es bis jetzt gelungen,den Bauplan des Kernfusionsreaktor vollständig zu verstehen. Evawar skeptisch, dass heute ein anderer Tag sein würde und sie hatteRecht. Bei dem plötzlichen Einwand einer Kollegin, stutzte derjunge Professor, durchblickte hastig seine Notizen und schlug sichdann mit der flachen Hand vor die Stirn. „Verdammt noch mal!“,rief er laut, „Du hast Recht! Das innere Magnetfeld ist zu schwach,um die Ionen stabil zu halten und exotherme* Energie zuerzeugen.“ Enttäuscht warf er seine Notizen auf den Boden. „Wirhaben gar nichts! Der Reaktor schmilzt uns jedes Mal davon.Scheiß Atome, scheiß Physik, scheiß Tag! Ich hau mich jetzt aufsOhr.“ Damit verließ er mürrisch den Raum.Eigentlich konnte Eva derartige Gefühlsausbrüche den Forschernnicht durchgehen lassen, doch der junge Physiker war ihrsympathisch und seine Kompetenz stand außer Frage. Außerdemschien sich niemand über seine Kraftausdrücke aufzuregen.Achselzuckend nahmen die Atomphysiker ihre Aufgabe wieder* Eine chemische Reaktion bei der Energie, z.B. in Form von Wärme an dieUmgebung abgegeben. 17

auf und begannen damit, einen neuen Lösungsansatz zuentwickeln. Und damit war auch für Eva das Thema erledigt.Plötzlich flötete eine helle Frauenstimme durch den Saal:„Knusprige, leckere Bagles, frisch gepresster Orangensaft, Kaffeeund Tee!“ Bei diesen Worten meldete sich Evas Hunger zurückund sie lief auf die Frau zu, die einen kleinen Essenswagen vorsich herschob. Ursprünglich durften in diesem hochsensiblenArbeitsbereich keine Speisen oder Getränke konsumiert werden,aber schon nach drei Tagen war ein japanischer Historiker völligdehydriert zusammengebrochen. Seitdem wurden in regelmäßigenAbständen kleine Mahlzeiten und Getränke zur Verfügunggestellt.„Guten Morgen Mrs. Hutchinson.“, sagte Eva ein wenig außerAtem, da sie sich beeilt hatte, denn alle stürzten sich fürgewöhnlich wie die Geier auf die arme Verkäuferin.„Gut, dass Sie endlich da sind. Ich bekomme zwei BecherOrangensaft, dazu einen Bagle mit Frischkäse und TomatenMozzarella, sowie eine Tasse schwarzen Kaffee ohne Milch undmit einem Stück Zucker.“„Wie immer also.“ Sagte Frau Hutchinson lächelnd. Während dieVerkäuferin Evas Bestellung aufnahm, bildete sich eine langeSchlange, die ungeduldig nach vorne drängelte.„Nur mit der Ruhe. Ich habe genug für alle da.“ rief Mrs.Hutchinson.Kaum hatte sich Eva ihr Frühstück geschnappt, versteckte sievorsorglich den Bagle in ihrer Tasche als wäre ein Rudel vonHyänen hinter ihr her. Sie setzte sich etwas abseits an einen weißenTisch und begann gierig ihr Essen hinunterzuschlingen.Während sie den Rest ihres Kaffees austrank, bemerkte sie, wieihre Lebensgeister beinahe schlagartig zurückgekehrten. Trotzdembeschloss sie erst am nächsten Tag ihre Forschungsarbeitfortzusetzen. Nachdem sie den letzten Bissen ihres Baglesverdrückt hatte, stand sie auf, warf ihre Tasche mit dem Notizblockum die Schulter und marschierte Richtung Ausgang. Nachdem siealle Sicherheitsvorkehrungen durchgangen war und sichabgemeldet hatte, erreichte sie den Parkplatz und suchte in der 18

Morgensonne nach ihrem weißen Bentley. Sie war gerade dabei,die Kabel ihrer Kopfhörer zu entwirren, um sich das Best of Albumvon R. Kelly anzuhören, als sie jemand von hinten an die rechteSchulter tippte. „Entschuldigen Sie gnädige Frau.“ Überraschtdrehte sich Eva um. Gnädige Frau? Sie blickte in das Gesichteines Mannes etwa in ihrem Alter, der einen Stadtplan in der Handhielt. „Mein Name ist Ron Wall.“Der intensive Geruch seines Aftershaves schlug ihr ins Gesicht,wodurch ihr nicht auffiel, dass sein Atem leicht nach Whiskeyroch. Er schien ebenfalls die Nacht zum Tage gemacht zu haben,denn der dunkle Schatten eines 24-stündigen Bartwuchses wardeutlich zu erkennen.„Guten Tag, gnädiger Herr.“ antwortete Eva spöttelnd und schautefragend zu ihm auf, was selten vorkam, da sie selbst fast 1,80Meter groß war. Vielleicht blickte sie deshalb so aufmerksam inseine grauen Augen, die von einer großen, männlichen Nasegetrennt wurden und forschend in die ihren sahen. Sein markantes,unrasiertes Gesicht war nicht besonders schön, doch es weckte einungeahntes Interesse in ihr.Ron hatte belustigt das Mienenspiel und den Ausdruck in EvasAugen beobachtet. Eigentlich konnte Ron Stereotypen nichtausstehen, doch dummerweise hing sein Lebensunterhalt davonab. Es ist doch immer wieder das Gleiche. Dachte Ron, der soforterkannt hatte, dass Eva die Nacht durchgearbeitet hatte. Frauen,die ihren Job an oberste Stelle setzten, stießen Männer von sich,wie lästige Stechmücken. Innerlich dürsten sie jedoch nach Liebeund Zuneigung. Während er den Kopf leicht hin und her bewegte,fasste er den spontanen Entschluss, sich auf eine mühselige abermöglicherweise äußerst lohnenswerte Herausforderungeinzulassen und die fremde Frau auf ein Date einzuladen.Verlegen griff sich Ron an die Stirn. „Entschuldigen Sie, aber ichhabe jetzt ganz vergessen, was ich sagen wollte.“Eva wollte sich schon wegdrehen. „Zur U-Bahn geht es in dieRichtung.“„Warten Sie bitte. Einen Moment. Normalerweise mache ich soetwas eigentlich nicht,“ log Ron „Vielleicht habe ich zu wenig 19

geschlafen, aber ich spüre eine gewisse Spannung zwischen unsund ich würde sie gerne etwas näher kennenlernen. Ich essemorgen Abend im Pelikan und würde mich über Ihre reizendeBegleitung freuen.“ Das Pelikan war das nobelste und teuersteRestaurant weit und breit, dennoch war sich Ron sicher, dass sieversuchen würde, ihn abzuwimmeln und sich deshalb eine Lügefür ihn ausdachte.Eva war total überrumpelt von der Frage. Seit Monaten hatte sieniemand mehr ausgeführt. Obwohl ihr das Interesse des fremdenMannes mit den interessanten Augen schmeichelte, fühlte sie sichunbehaglich. Sie hatte keine Lust auf einen Flirt. Und was nochschlimmer war, sie fühlte sich in ihren geheimen Gedankenertappt, was sie schutzlos und nackt erscheinen ließ. Mach dichnicht lächerlich, Eva. Er kennt dich doch überhaupt nicht.„Wie war noch gleich Ihr Name? Mr. Wall? Richtig?“„Genau, aber sagen Sie einfach Ron zu mir.“„Mr. Wall.“, betonte Eva seinen Nachnamen scharf. „Sie sindbestimmt ein interessanter Mann und es hat Sie ohne Zweifel eineMenge Mut gekostet, mich hier Mitten auf einem Parkplatzanzusprechen und Sie können stolz auf sich sein, denn über zweiDrittel der Männer hätte sich das niemals getraut. Nehmen Sie esmir also nicht übel, wenn ich Ihnen jetzt Folgendes sage: Ich habeseit 30 Stunden kein Auge zugetan, bin hundemüde undkeineswegs in der Stimmung, mit einem unrasierten Kerl wieIhnen überhaupt auch nur ein Eis essen zu gehen. Erst recht nichtmit jemandem, den ich noch nie zuvor gesehen habe “ echauffiertesich Eva mehr als sie wollte. Man kannst du fies sein! Ihre Stimmewar laut geworden und ein vorbeigehender Wissenschaftler drehtesich verwundert zu ihnen um. Mach jetzt bloß keine Szene.ermahnte sich Eva. Verabschiede dich höflich und fahr nachHause, bevor du wirklich noch zur Eiskönigin wirst.Eva holte tief Luft. Für sie gab es nur eine Möglichkeit, diesen Kerlloszuwerden ohne seine Gefühle zu verletzen.„Nehmen Sie es nicht persönlich. Ich bin seit Jahren glücklichverheiratet und mein Ehemann wartet auf mich. Wenn sie michjetzt also bitte entschuldigen würden.“ Sagte Eva in einem leiseren 20

Ton, schwang ihre Tasche wieder um die Schultern und drehte sichum die eigene Achse. Da war sie endlich! Die erste Lüge! jauchzteRon innerlich und freute sich auf das, was als nächstes kommenwürde.Amüsiert applaudierte er Eva und sagte „EinwandfreieVorstellung. Vielleicht ein wenig zu bissig, aber trotzdem ganzoben in meinen persönlich Top Ten. Absolut glaubwürdig. MeinenRespekt. Damit hätten sie wahrscheinlich den charmantestenFrauenflüsterer aller Zeiten, James Bond und Casanovahöchstpersönlich, vergrault, aber ich bin leider nur ein einfacherSingle, genau wie Sie.“Eva hielt inne, drehte sich um und meinte entnervt „Wie bitte!? Ichbin glücklich verheiratet. Was erlauben Sie sich?“, doch innerlichdachte sie verzweifelt, Wer zum Teufel war dieser Kerl?„Sie sind nicht verheiratet. Außerdem weiß ich, dass siemindestens einmal die Woche Tennis spielen und zu meinemBedauern Vegetarierin sind. Dass Sie ein Workaholic sind, liegtauf der Hand.“Eva gab sich unbeeindruckt und streckte ihm zur Antwort nur ihrelinke Hand mit dem Ehering entgegen, als würde sie dieselbe Gestemit dem Mittelfinger machen. Inständig hoffte sie, dass dieserBluff sie endgültig aus der Affäre ziehen würde, doch Ron begannschon wieder zu grinsen.„Wie schon gesagt, Sie sind nicht verheiratet. Dieser„Ehering“ wird mich bestimmt nicht vom Gegenteil überzeugen.Den habe ich übrigens schon bemerkt, bevor ich sie begrüßt habe.“Sie standen sich jetzt wieder direkt gegenüber. „Wer zur Hölle sindSie überhaupt? Ein verdammter Stalker? Woher wissen Sie dennall diese Sachen über mich?“„Ah, jetzt stellen Sie die richtige Frage. Dass Sie Tennis spielen,konnte ich an der leicht verstärkten Muskulatur an Ihrem rechtenArm erkennen, wie sie nur für Tennisspieler üblich ist. Ihre reineHaut und dünnes Haar kennzeichnet Sie als einen langjährigenPflanzenfresser aus. Ein kleiner Proteinmangel, schätze ich.Vielleicht sollten Sie mehr Reis essen, oder sich mal ein schönesSteak gönnen.“ 21

Während Ron ihre weiteren Gewohnheiten offenbarte, die sonstniemand kannte, dämmerte ihr langsam, wen sie vor sich hatte.Ron war einer der Identitätsjäger, die die Persönlichkeit ihnenunbekannter Personen erraten konnten und von ihrer Firma für einebesondere Mission angeheuert wurde. Nachdem er fertig war,nickte sie anerkennend.„Nicht schlecht.“ Nun wollte sie aber wissen, wie gut er wirklichwar.„Aber woher wussten Sie, dass ich nicht verheiratet bin?“„Ich konnte es...“ Ron machte eine kurze Pause, als würde er nachden richtigen Worten suchen, bis er mit den Schultern zuckte undsagte, „Naja irgendwie konnte ich es fühlen.“„Sie konnten es fühlen?!“, wiederholte Eva, „Wie kann man soetwas denn bitte fühlen?!“ und zeichnete bei der Betonung auf dasWort „fühlen“, jeweils zwei Ausführungszeichen in die Luft.„Lassen Sie mich versuchen, es zu erklären. Oft sind esKleinigkeiten. Zum Beispiel fiel mir auf, dass sich ihre Pupillenbei meinem Anblick minimal vergrößerten. Außerdem konnte ichan ihrer Brust erkennen, dass sie schneller atmeten. Ihr Puls warleicht angestiegen, was mich auf einen Adrenalinausstoß schließenließ. Als nächstes sah ich mir Ihre Kleidung an. Mir fiel auf, dassSie mit Ihrer bis zum Hals zugeknöpften Bluse, ihrem langenschwarzen Rock und ihrem sehr dezent geschminkten Gesichtversuchen, möglichst unauffällig und passiv zu wirken.Möglicherweise um das Werben männlicher Kollegen bereits imKeim zu ersticken? Schließlich sind sie eine attraktive Frau.Natürlich ist mir dabei auch ihr Ehering aufgefallen, der mirallerdings in diesem Zusammenhang eher wie ein weitererSchutzschild vorkam. Als sie mich erblickten, streckten Sie IhrRückgrat durch, um sich nur einen Augenblick später mit derrechten Hand durchs Haar zu streichen. Unterbewusst wollten Sieauf mich einen positiven Eindruck machen. Allein die extremenGegensätze zwischen Ihrer Kleidung und Ihrer Körperspracheverrieten mir, dass sie mir und der Welt etwas vortäuschen undwahrscheinlich sich selbst auch.“ Ron wandte kurz den Blick abund betrachtete den Boden vor seinen Füßen, bevor er seine 22

Erklärungen fortsetzte: „Natürlich können ein erhöhter Puls undvergrößerte Pupillen Signale für alle möglichen emotionalenGefühlsausbrüche sein. Trotzdem kann man vomGesichtsausdruck einer Person lesen, wie er oder sie sich geradefühlt und mit ein bisschen Übung sogar sehen was sie denken,obwohl man die Person gerade zum ersten Mal getroffen hat.“ Evaschien nicht ganz überzeugt von Rons Erklärung zu sein underwiderte misstrauisch: „Sie können also sehen was ich denke? Siesind ein Gedankenleser!“, Eva lachte leicht gekünstelt undschüttelte dabei ungläubig den Kopf, doch Ron ließ sich davonnicht beeindrucken und fuhr fort: „Derjenige, der andere kennt, istweise, derjenige, der sich selbst kennt, ist erleuchtet. Wer anderebeherrscht, ist vielleicht mächtig…„Aber wer sich selbst beherrscht, ist noch vielmächtiger.“ Vollendete Eva Rons Zitat des chinesischenPhilosophen Dao. Beeindruckt von Evas Kenntnissen über diechinesische Literatur nickte Ron ihr nachdenklich zu, so als wäreer sich nun doch nicht mehr so sicher, ob er Eva tatsächlichdurchschaute. Sie war ihm nach wie vor ein Rätsel, was seinInteresse an ihr nur noch vergrößerte. Irgendetwas habe ichübersehen.„Sie wollen mir also erzählen, dass sie durch intensiveBeobachtungen der Gesichtszüge eines Menschen und derenReaktionen auf ihre provokativen Fragen wissen, was derjenigegerade denkt und vielleicht sogar plant oder zu verbergenversucht?“ fragte Eva in die entstandene Stille.Ron lächelte, nickte langsam und kratzte selbstzufrieden seinenBart. „Ohne arrogant klingen zu wollen, gehören dazu natürlichnoch andere Talente, wie eine ausgeprägte Menschenkenntnis, dieich mir über Jahre hinweg erst aneignen musste, sowie weitereanalytische und intellektuelle Fähigkeiten.“ trug Ron weiter dickauf „Oft ist es unheimlich schwer, die gewünschte Informationunbemerkt von der Zielperson herauszubekommen. Außerdemhandelt es sich oft um Geheimnisse, die die Person unter keinenUmständen preisgeben möchte.“ 23

„Hab ich’s mir doch gedacht!“ rief Eva und lachte laut, „Ich bineinem meiner eigenen Identitätsjäger auf den Leim gegangen.“„Identitätsjäger?“, fragte Ron verwirrt.„Sie sind doch zu einem Job-Interview hier, nicht wahr? BeiESOC-Laboratories, Extraterrestrial Spiritual Observation &Control Laboratories? “Als Ron verstand, wen er vor sich hatte, rutschte sein Herz ein dieHose. Das kann nicht wahr sein. Habe ich gerade meinenzukünftigen Boss angebaggert? Ihm wurde heiß und er zupfte sichunruhig am Kragen, als er fragte, „Sie sind nicht zufällig Prof. Dr.Spring?“„100 Punkte! Namen können Sie auch erraten? Sie haben heute jaeinen richtigen Lauf!“ sagte Eva und grinste breit. Sie hatte nunrichtig Spaß, Ron’s Überheblichkeit wie ein Kartenhaus einstürzenzu lassen. „Und weil Sie mir soeben eindrucksvoll bewiesenhaben, dass aus uns zwei nie ein Paar werden kann, haben sich ihreChancen auf den Job weiter verbessert. Jetzt muss ich aberwirklich los. Morgen um Punkt 11:00 auf dem Parkplatz? Ich freumich.“ worauf Ron nur verdattert nickte. Dann stieg Eva in ihrenweißen Bentley und ließ Ron sprachlos zurück. 24

Kapitel 3 Die FluchtDunkle Wolken hingen am Himmel und schienen die Welt untersich zu begraben. Mit tauben Schritten und keuchendem Atem bogBen in einen Waldweg ein. Seit Stunden hatte er sich keine Pausegegönnt, aus Angst man würde ihn finden und zurück in dieAnstalt stecken. Ein zweites Mal würde er die Qualen, die er dorterlebt hatte nicht ertragen. Also lief er immer weiter und jedes Mal,wenn er drohte, langsamer zu werden, rief er sich die Erlebnisseder letzten Wochen ins Gedächtnis zurück und erhielt dadurchneue Willenskraft, die seinen erschöpften Körper weiter trug.Wahrscheinlich hatte man seinen Ausbruch bereits bemerkt undwar ihm dicht auf den Fersen, nicht weil er eine hochansteckendeKrankheit hatte, sondern vielmehr, weil niemand wusste was erhatte. Die besten Psychologen der Welt hatten sich mit seinem Fallbefasst und keiner hatte je von etwas Vergleichbarem gehört odergelesen. Die Diagnosen reichten von psychosomatischer Störung,über chronische Depression bis hin zur Schizophrenie. GroßeÜbereinstimmung zwischen den Ärzten gab es nur darüber, dass erunter einer Wahrnehmungsstörung leiden musste und optischeHalluzinationen seine Sinne täuschten, denn er sah die Welt, wiesonst niemand vor ihm. Nach einiger Zeit ließ das medizinischeInteresse an seinem Fall nach und man entschied sich, ihn alsunheilbar einzustufen. Kurze Zeit später war er dann „zu seinereigenen Sicherheit“, wie man ihm erklärte, in eine Heil- undPflegeanstalt für schwerwiegende und unheilbare Fälleeingewiesen worden. Ein Martyrium begann. Die Wenigstenwissen über die Abläufe in einer solchen Institution Bescheid. DerAnstaltsleiter, Dr. Flinch, hatte ein persönliches Interesse daran 25

gehabt, Ben zu heilen oder vielmehr, durch Bens Heilung selbstberühmt zu werden. Dazu war ihm jedes Mittel recht gewesen.Man verabreichte Ben starke Medikamente, die an ihm getestetwurden und ihm beinahe den Verstand raubten. Das war natürlichillegal, doch Ben war wie ein Gefangener ohne Rechte. SeineBeschwerden brachten ihm nur noch größere Probleme ein, dennwer glaubte schon einem Verrückten? Zur Bestrafung wurde erhäufig einer Elektrokrampftherapie unterzogen, bei der manelektrische Dioden an seinen Schläfen anbrachte. Bei jedemStromschlag hatte Ben das Gefühl, dass sein Gehirn in siedendesÖl getaucht wurde.Von den unzähligen Medikamenten, die man ihn zwang,einzunehmen hatte er sich träge und lustlos gefühlt, hatteAlpträume bekommen und war in tiefe Depressionen gestürzt.Dann griffen die Ärzte zu noch drastischeren Maßnahmen. Dr.Flinchs persönliche Cocktailmischungen, die ihm gespritzt wurdenlösten weitere Phobien aus. Die Hypothese des Chefarztes war esgewesen, Ben tief in seine Fantasiewelt abtauchen zu lassen, umihn danach geheilt zurück in die Realität zu holen. Doch Benwusste bereits sehr bald, dass das nicht funktionieren konnte.Damals hatte er aufgehört zu essen, zu schlafen, zu lachen und zuweinen. Er wurde völlig apathisch. Der Tod seiner alkoholkrankenMutter nur wenige Monate zuvor, hatte ihm den letzten Haltgeraubt. Seinen Vater hatte er nie gekannt. Er verlor den Willen zuLeben. Doch als es schien, als gäbe es für Ben keinen anderenAusweg mehr als den Tod, gab das Universum ihm ein Zeichen.Nie würde er diesen Moment vergessen. Mit dem Strick um denHals stand er in seiner Kammer auf einem Stuhl - bereit zumAbsprung, als er durch das Fenster sah, wie sich plötzlich derHimmel ordnete. Es bildete sich eine goldene Kette aus demChaos und gab ihm eine Richtung vor. Erst dachte Ben, er hättenun völlig den Verstand verloren, doch irgendwie wusste er, dassdas, was er dort oben am Himmel sah, keine Sinnestäuschung,sondern real war. Mit frischem Lebensmut und der Hilfe seinesZimmernachbarn William, der sich während seines Aufenthalts zu 26

seinem engsten Vertrauten entwickelt hatte, gelang ihm schließlichwenige Tage darauf die ersehnte Flucht.Zusammen waren er und William bereits tief in den Waldgedrungen und der anfänglich noch breite Waldweg wurde immerschmaler, bis er völlig verschwand und Ben sich nur noch wie vonSinnen durchs Dickicht schlug. Spitze Äste peitschten ihm immerwieder ins Gesicht und stachelige Büsche kratzten ihm die Wadenblutig, doch Ben bemerkte nichts davon. Er stolperte weiter, wiebetäubt von den schrecklichen Erinnerungen der letzten Wochen.„Ben!“, keuchte plötzlich eine Stimme hinter ihm „Ben, bleib dochmal stehen!“ Es war William, der sich völlig entkräftet auf dentrockenen Waldboden geworfen hatte, doch Ben ging einfachweiter. Das sauerstoffarme Blut brannte wie Batteriesäure inseinen Muskeln und schien nicht nur seine Sinne zu betäuben,sondern auch sein Gehirn zu benebeln. William, der hilflos mitansah, wie sich Ben immer weiter von ihm entfernte, setzte seineletzte Kraft in einen kehligen Schrei und rief, „Beennn!!“Erstaunt und orientierungslos blickte Ben um sich, als wäre ergerade aus einem tiefen Traum erwacht und versuchte sich zuerinnern, wo er war. Erst nach einiger Zeit realisierte er, wasgeschehen war. Ihm war schwindelig und das Blut rauschte inseinen Ohren. Gierig atmete er die frische Waldluft ein. Als er sichumdrehte, sah er William, wie nur Ben seinen Freund sehen konnteund wie Ben auch jeden anderen Menschen sah. Sie waren seineLichtquellen in der Dunkelheit und seine Sonnen, die täglich nurfür ihn schienen. Jede Person war für ihn eine Leuchterscheinung,die seine finstere Welt in Licht tauchte. Ohne diese Quellenkonnte er nur undeutliche Schemen und verzerrte Umrissewahrnehmen. Er erkannte weder Gesichtszüge noch Gliedmaßen,aber er war nicht blind. So war er schon zur Welt gekommen. Erkannte es nicht anders. Für ihn gab es keine Farben, sondern nurhell oder dunkel. Für ihn leuchtete die Welt in Gold-, Silber- undBronzetönen. Neben den Menschen, die für ihn wie wandelndeIrrlichter aussahen, gab es noch eine weitere Lichtquelle. Wannimmer Ben zum Himmel sah, zogen sich Millionen von goldenenSternschnuppen über das Firmament, die viel heller leuchteten als 27

die Lichter auf der Erde. Für eine lange Zeit dachte Ben, somüssten Vögel aussehen. Und er wünschte sich nichts sehnlicher,als zu ihnen hinaufzusteigen, um sie aus der Nähe betrachten zukönnen. Bis heute wusste Ben nicht, was die goldenen Lichter amHimmel zu bedeuten hatten und er hatte aufgehört, sich darüberden Kopf zu zerbrechen, bis zu jenem Tag, als er sich das Lebennehmen wollte. Seitdem spannten sich die Lichter in einemgeordneten Bogen über den Himmel, als hätten sich all dieeinzelnen Rinnsale zu einem reißenden Flusszusammengeschlossen. Ben hatte beschlossen, dem Lauf desFlusses zu folgen, um an seine Quelle zu gelangen, wo er sichAntworten auf seine Fragen erhoffte.„Bist du noch da?“ rief William verzweifelt in die Dunkelheit,denn außer ein paar Tannenspitzen und der schmalen Sichel desMondes konnte er nichts erkennen.„Ja William. Bleib einfach dort liegen und ruh dich ein wenig aus.Ich komme zu dir!“ antwortete Ben, ebenfalls außer Atem. Erstützte die Arme in die Hüfte und verschnaufte. Dann ging er aufdas einzige Licht zu, das er sehen konnte. Als er bei Williamankam, lehnte dieser mit seinem Rücken und halb geschlossenenAugen an den mächtigen Baumstamm einer Kieferntanne undfragte mit einem leichten Zittern in der Stimme: „Glaubst du, wirhaben sie endlich abgehängt, Ben?“„Wahrscheinlich schon. Zumindest bis zum Morgen sollten wirhier sicher sein. Ich kann zumindest kein Licht außer deinem weitund breit erkennen.“ Antwortete Ben zuversichtlicher, als er sichfühlte.„Wie lange wollen wir uns denn verstecken?“„Gute Frage. Am besten, wir bleiben erst einmal ein paar Tage imWald. Hier kann uns nämlich niemand so leicht finden und ichsehe sofort, wenn jemand kommt. Danach müssen wir diesen Ortsoweit wie möglich hinter uns lassen. Zu Fuß sind wir viel zulangsam. Am besten wir trennen uns, wenn es soweit ist.“„Trennen?“, fragte William erschrocken, „Aber was soll ich dennalleine machen? Ich hab doch niemanden!“„Was ist denn mit deiner Mutter?“ 28

„Meiner Mutter?! Spinnst du? Die schickt mich doch sofort wiederin die Klinik. Ich fände es besser, wenn wir zusammen blieben!“„Was ist mit deiner Freundin, der... Wie hieß sie gleich noch mal?“„Jenny? Keine Ahnung. Hat mich seit meiner Ankunft vor 6Monaten nicht mehr besucht. Die Bitch hat wahrscheinlich nenAnderen.“„Ach Quatsch! Das glaube ich nicht. Hast du noch ihreHandynummer?“William nickte, was Ben allerdings nicht sehen konnte, also sagteWilliam schnell: „Ja, falls sie die nicht geändert hat. Tschuldigung,du siehst mich ja nicht, zumindest nicht so wie ich dich sehe. Wieauch immer. So richtig hab ich das ganze ja noch immer nichtverstanden. Wirklich anrufen will ich sie aber natürlich nicht,nachdem sie mich einfach im Stich gelassen hat.“ sagte Williammelancholisch und verstummte. Für eine Weile schwiegen beide,dann fragte William: „Haben wir noch was zu trinken?“Ben setzte seinen kleinen Rucksack ab, in dem er ein wenigProviant in Konserven, eine Flasche Wasser, eine Decke und einMesser versteckt hatte und ging in die Hocke. Er kramte dieWasserflasche heraus und reichte sie William, der sie sofort an denMund führte und hastig und in großen Schlucken zu trinkenbegann.„Sei nicht so gierig. Wer weiß, wann wir sie wieder auffüllenkönnen.“ warnte ihn Ben.„Tschuldigung. Bin völlig ausgetrocknet. Hier.“ William gab Bendie Flasche zurück, der sich nun ebenfalls ein paar Schluckegönnte.„Lass uns versuchen, ein wenig zu schlafen. Morgen müssen wirunbedingt weiter. Das wird anstrengend.“ Bei diesen Wortensuchte er eine einigermaßen ebene Stelle, breitete die Decke ausund beide legten sich auf dem Rücken nebeneinander.„Gott sei Dank, ist es Sommer. Trotzdem hoffe ich, dass wir nichtjede Nacht ohne Abendessen oder ein Dach über dem Kopfschlafen gehen müssen.“ murmelte William besorgt.„Lieber hungrig und frei, als satt und gefangen.“„Das stimmt auf jeden Fall.“ 29

„Uns wird schon was einfallen. Macht dir nicht so viele Gedanken.“ „Ja, ich werd’s versuchen. Gute Nacht, Titus*.“ sagte William gähnend und drehte sich auf die Seite. „Nacht, William.“ und leise zu sich selbst, dass William ihn nicht hören konnte: „Ich weiß ganz genau, wo ich hin will.“ Dabei blickte Ben in den Nachthimmel und verfolgte die tausend verschiedenen Lichterketten, die wie Sternschnuppen am Firmament vorbeistreiften und die dunkle Nacht für ihn wie helllichten Tag erschienen ließen. Da Ben keinen Sonnenauf- oder untergang kannte, gab es für ihn auch keinen Morgen, keinen Mittag und keinen Abend. Jeder Tag und jede Stunde waren gleich. Dennoch hatte sich etwas in der Regelmäßigkeit seiner Welt verändert. Die Sternschnuppen, die seit seiner Geburt vor 17 Jahren immer kreuz und quer über den Himmel geflogen waren, zeigten seit wenigen Tagen in eine bestimmte Richtung. Ben war entschlossen, diesem Strom zu folgen, denn er glaubte, dort wo er ihn hinführte, endlich Antworten zu bekommen, ja er hoffte, dort vielleicht geheilt zu werden. Müde und in froher Erwartung auf den nächsten Tag schloss Ben die Augen und schlief das erste Mal seit Ewigkeiten ohne Angst vor dem nächsten Tag ein.Wenn Sie wissen wollen wie es mit Ron und Eva weitergeht und wer derSeelenwanderer ist, dann besuchen Sie einfach unseren Web-Store. * Titus war Bens Spitzname, der sich auf Justitia berief, die griechische Gottheit, die durch ihre Blindheit vor dem Bürger Gerechtigkeit walten lässt. 30


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