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PsychologieHeuteJanuar2016

Published by ambervend, 2015-12-02 07:12:53

Description: PsychologieHeuteJanuar2016

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JANUAR 201643. JAHRGANG HEFT 1 € 6,90 SFR 10,90 D6940E AUSGEBRANNT Warum es kein Versagen ist, wenn Sie an Ihre Grenzen stoßen GUTE VORSÄTZE ACHTSAMKEIT COMPUTER Selbstveränderung Der Boom verfälscht Sind sie bald klüger ist doch möglich das Konzept als der Mensch?

Auch als Auch als Auch alsE-Book E-Book E-Book96 S., kart. • € (D) 17,90 • ISBN 978-3-95571-053-8 240 S., kart. • € (D) 22,90 • ISBN 978-3-95571-416-1 160 S., kart. • € (D) 17,90 • ISBN 978-3-95571-329-4Der geborgene Ort Hochsensible Menschen Befreiung vom VerlagSicherheit und Beruhigung bei im Coaching Inneren Kritikerchronischem Stress. Was sie ausmacht, was sie Konstruktive innere DialogeEin Übungsbuch mit CD brauchen und was sie bewegt führen. Systemische Therapie mit der Inneren FamilieWer gestresst ist neigt dazu, äußere Circa 20 Prozent der MenschenMittel einzusetzen, um sich so gehören zu den hochsensiblen Der Innere Kritiker ist der Teillange zu manipulieren, bis Körper Personen (HSP), die ausge- von uns, der uns verurteilt,und Geist im gewünschten sprochen fein wahrnehmen, beschämt und dafür sorgt, dassModus sind. Oft hat man dabei gründlich nachdenken und wir uns unzulänglich fühlen. Statteine große Sehnsucht, einerseits intensiv fühlen. Jeder Coach hat ihn zum Schweigen zu bringen,nach Geborgenheit, andererseits es somit in seiner Praxis – je nach zu bekämpfen oder seinen Forde-danach, endlich mehr innere Ausrichtung mehr oder weniger rungen nachzugeben, könntenRuhe zu finden. Um Menschen häufig – mit HSP zu tun. Auf- wir versuchen, unseren Innerenmit chronischem Stress eine Idee grund ihrer Wesensart stehen Kritiker als Verbündeten zuvon Schutz und Geborgenheit HSP vor einer Vielzahl von gewinnen. Mithilfe des methodi-innerlich vermitteln zu können, Herausforderungen und suchen schen Ansatzes der Systemischenhat die Autorin eigene Übungen daher oft Unterstützung und Therapie mit der Inneren Familieentwickelt bzw. bestehende Orientierung in einem Coaching. (IFS) nach Richard SchwartzÜbungen verändert. Dabei geht Neben dem facettenreichen lernen Sie, wie Sie die Ursachenes ihr insbesondere um diejenigen, Phänomen Hochsensibilität selbst von selbstsabotierendemdie als Kinder diese Geborgenheit erklärt dieses Buch, wie Coaches Verhalten entdecken und einnicht erlebt haben, aber eine HSP erkennen, wie sie sich verbessertes Selbstwertgefühlgroße Sehnsucht danach bestmöglich auf sie einstellen und aufbauen können.verspüren. sie effektiv unterstützen können. Dr. Jay Earley Michaela Huber Ulrike Hensel ist Psychologe, Psycho- ist psychologische studierte Angewandte therapeut und Lehrer. Psychotherapeutin, Sprachwissenschaft, Der Spezialist für Supervisorin und arbeitet selbstständig IFS-Therapie ist Autor Ausbilderin in Trauma- als Textcoach u. Coach zahlreicher Bücher. behandlung. Sie ist für Hochsensible. Selbst seit deren Gründung hochsensibel, ist es ihr Bonnie Weiss ist Psychotherapeutin1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft ein tiefes Anliegen, Hochsensible in ihrem und gibt IFS-Workshops und Seminarefür Trauma und Dissoziation (DGTD). Selbstwertgefühl zu stärken. zum Thema Selbstwert. Junfermann

Liebe Leserin, lieber LeserW ir sind die Ausgebrannten. Unser Selbst wehrt sich der Organismus gegen Überreglementie- ist erschöpft. Längst haben wir das rung, Ausbeutung und Allverfügbarkeit. Der Psy- Nicht-mehr-Können als scheinbar un- chotherapeut Gunther Schmidt sieht im Burnoutausweichliche Folge unserer Leistungsgesellschaft daher eine Kompetenz (Seite 22). Wer ausbrennt,akzeptiert. So wundert es niemanden, dass seelische sollte sich das nicht als Schwäche oder Versagen aus-Erkrankungen wie Depressionen und Burnout in- legen, sollte nicht schamvoll den Kopf senken undzwischen den zweiten Platz (nach Muskel-Skelett- schuldbewusst daran arbeiten, seine Akkus wiederErkrankungen) der Krankschreibungen erobert ha- aufzuladen. Schließlich kann er stolz sein auf seinben. Das vermeldete der aktuelle Gesundheitsatlas Engagement – müdstolz, wie es Peter Handke in sei-der Betriebskrankenkassen (BKK) vor wenigen Mo- nem Versuch über die Müdigkeit nennt. Ein „Müd-naten. Von einer Zunahme dieser Erkrankungen stolzer“ weiß um seine Leistung und hat daher keinwollen die Autoren der Studie allerdings nicht reden. Problem damit, sich und anderen einzugestehen:Seelische Erkrankungen seien heute kein Tabuthema „Ich kann unmöglich allem gerecht werden.“mehr, die Betroffenen suchten selbstverständlicherund schneller Hilfe. [email protected] Das ist gut. Doch was passiert mit den Müden, Vielleicht wird Burnout irgendwann auch von Vorgesetz-Erschöpften, Ausgebrannten, die laut BKK im Durch- ten als Kompetenz akzeptiert? Die Cartoonisten Michaelschnitt 39 Tage aus ihrem Alltag herausfallen? Eine Schilling und Jan Blum spielen diesenriesige Burnoutindustrie steht mit Büchern, Selbst- Gedanken auf Seite 57 schon mal durch.hilfeprogrammen und Therapien bereit, doch so viel- Unter dem Motto „Irgendwas mitfältig die Hilfsangebote auf den ersten Blick scheinen, Menschen“ sind die beiden nun insie sind überraschend ähnlich. Im Grunde lassen sie jeder Ausgabe von Psychologiesich in zwei Kategorien einteilen: „Tun Sie mehr von Heute vertreten. Wir freuendiesem“ und „Tun Sie weniger von jenem“. In die uns über diesen Neuzugang.erste Kategorie fallen Empfehlungen wie Achtsamkeitüben, meditieren, regelmäßige Bewegung, Neinsagen,Pausen, Nichtstun. In der zweiten Kategorie findensich Unterlassungsgebote wie: keine Arbeit mit nachHause nehmen, auf Kaffee und Alkohol verzichten,sich nicht zum Sklaven digitaler Medien machen,stressige Situationen und Menschen meiden. Helfen diese Strategien nachhaltig? Zielen sie aufden Kern des Problems? Erschöpfung, so meinteFriedrich Nietzsche einmal, ist „dort am größten …,wo am unsinnigsten gearbeitet wird“. In der Tat zei-gen alle relevanten Studien: Menschen brennen nichtaus, weil eine Tätigkeit zu anstrengend oder eineVerantwortung zu groß ist. Sie brennen aus, wennsie keinen persönlichen Einfluss auf ihr Tun nehmenkönnen. Je weniger Kontrolle jemand über seine Ar-beit hat, desto mehr Stress erlebt er, desto höher istsein Burnoutrisiko. Mit Achtsamkeitsübungen undEntspannungsstrategien ist da oft nicht geholfen. Statt die eigene Erschöpfung zu individualisieren,ist es für die Betroffenen hilfreicher, das Empörungs-potenzial ihres Burnouts zu erkennen. SchließlichPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 3

IN DIESEM HEFT TITEL T I T E LT H E M A18 Ausgebrannt 18 Burnout! Diese Diagnose werten Betroffene als Burnout ist kein individuelles Versagen. Schwäche und Versagen. Doch wer Vielmehr sehen Psychotherapeuten darin ausgebrannt ist, hat sich vorher für ein Zeichen von Kompetenz eine Sache von Herzen engagiert, hat loyal und solidarisch gehandelt. Von Birgit Schönberger Psychotherapeuten sehen daher in einem Burnout zunehmend ein22 „Ich kann unmöglich Zeichen von Kompetenz allem gerecht werden“ PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 Wer ausgebrannt ist, hat sich vorher enga- giert. Das sollte gewürdigt werden, meint der Psychotherapeut Gunther Schmidt12 Im Fokus: „Ist das Altruismus? Da bin ich nicht so sicher“ Der Sozialpsychologe Oliver Decker hat untersucht, warum die Flüchtlingswelle nur manche Menschen zu Helfern macht26 Der achtlose Umgang mit der Achtsamkeit Vieles, was unter „Achtsamkeit“ vermarktet wird, hat mit der Grundidee nur wenig zu tun Von Andreas Knuf30 „Der Boom wird immer wilder“ Der Psychologe Paul Grossman fürchtet eine Verfälschung des Konzepts Achtsamkeit34 Das schaffen Sie! Selbstveränderung ist doch möglich Von Jochen Metzger39 Überprüfen Sie Ihre guten Vorsätze Wie realistisch sind Ihre Pläne fürs neue Jahr? Von Marloes Zevenhuizen40 „Wir würden es ohne Unruhe gar nicht aushalten“ Warum ist die Ruhe aus dem Leben verschwunden? Ein Gespräch mit Ralf Konersmann44 Die Kinder des Feindes 400 000 Kinder von Besatzungssoldaten wuchsen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland auf. Was ist aus ihnen geworden? Von Ebba Drolshagen4

26 Vor 2600 Jahren von Buddha 58 Computer, klüger als gelehrt, galt Achtsamkeit der Mensch? bis vor wenigen Jahren als esoterisch- anrüchig. Heute boomt das Thema. Schon heute steuern Computerprogramme Experten fürchten inzwischen, dass das unsere Autos und sprechen mit uns. Werden Konzept Achtsamkeit durch die vielen sie uns eines Tages überlegen sein? populären Versionen verwässert und verfälscht werden könnte Von Manuela Lenzen 34 Ein neues Jahr liegt vor 64 Wozu das Ganze? uns. Zeit für gute Vorsätze. Wer jetzt abwinkt, weil er zu wissen Auf die Frage nach dem Sinn werden wir nie glaubt: „Es funktioniert doch alles eine abschließende Antwort finden, meint nicht“, irrt. Die Psychologie kennt der Psychotherapeut Alfried Längle die Mechanismen der Selbstverände- rungen und weiß, wie Wunschziele 70 Sie haben einen guten Rat? realisiert werden können Behalten Sie ihn für sich!PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 Man sollte die Stolpersteine kennen, ehe man anderen „kluge“ Vorschläge macht Von Yvonne Vávra RUBRIKEN 16 Therapiestunde Komm her, geh weg Von Wolfgang Schmidbauer 32 Psychologie nach Zahlen Schlafgespinste Von Thomas Saum-Aldehoff 76 Der Psychotest Wie gut ist mein Gedächtnis? Von Jochen Metzger 78 Pehnts Alltag Ich weiß nicht, ob Helfen überhaupt noch hilft Von Annette Pehnt 3 Editorial 6 Themen & Trends 52 Körper & Seele 57 Schilling & Blum: Irgendwas mit Menschen 80 Buch & Kritik 91 Medien 92 Leserbriefe 93 Impressum 94 Im nächsten Heft 95 Markt 106 Noch mehr Psychologie Heute 5

THEMEN&TRENDS REDAKTION: JOHANNES KÜNZELZeig deine Gefühle! Wer seine Emotionen hinterManchmal wollen wir nicht, dass andere sehen, wie sterben. Diese Szene entnahmen die Psychologen dem einer Masketraurig wir sind. Manchmal erscheint uns ein Lachen verbirgt, mussunangebracht. Dann setzen wir ein Pokerface auf. Film Der Champ, nach Ansicht von Kritikern einer mit Nebenwir-Die Emotionen sind dann zwar noch da, aber für kungen rechnenandere nicht mehr so gut sichtbar. der traurigsten Filme aller Zeiten. Doch das Leben ist kein Kartenspiel. Wer seine Die Studenten begutachteten jeweils zwei Perso-Emotionen für sich behält, muss mit Nebenwirkun-gen rechnen. Menschen, die zu diesem Verhalten nei- nen, die ihren Emotionen freien Lauf ließen, undgen, sind häufiger einsam als andere. Das haben For-scher bereits mit früheren Arbeiten belegt. zwei Personen, die keine Regung zeigten. Im An- Was sind die Ursachen? Die Psychologen Allison schluss beantworteten die Probanden eine Reihe vonTackman und Sanjay Srivastava hatten eine Vermu-tung. Wer sich nicht in seine seelischen Karten schau- Fragen zu jedem der vier Gezeigten: Würde ich miten lässt, sendet damit Signale an seine Umwelt aus,etwa: Ich bin nicht sehr umgänglich und bleibe lieber ihm gerne Zeit verbringen? Ist er umgänglich, gehtfür mich. er aus sich heraus? Die Ergebnisse waren eindeutig. Tackman und Srivastava bestätigten ihre Hypo-these mit zwei Experimenten. Bei der ersten Unter- Pokerfaceträger erschienen den Studenten tenden-suchung zeigten sie 149 Studenten jeweils vier kurzeVideoclips. Zu sehen waren Menschen, die dabei ge- ziell als Eigenbrötler, mit denen sie ungerne etwasfilmt worden waren, wie sie eine Filmszene betrach-teten. In der lustigen Bedingung war dies die welt- unternehmen wollten. Einen besonders seltsamenberühmte Orgasmusszene aus Harry und Sally. Inder traurigen Variante sah ein Junge seinen Vater Eindruck machten Leute, die sich bei einem lustigen Film das Lachen verkniffen. Beim Aufbau einer Freundschaft investieren wir Zeit und machen uns emotional verletzlich, gerade weil wir uns für den anderen öffnen. Verbirgt dieser Mensch seine Emotionen vor uns, könnten wir das so verstehen, dass sich diese Investitionen nicht loh- nen, spekulieren Tackman und Srivastava. JK Allison M. Tackman, Sanjay Srivastava: Social responses to expressive sup- pression: The role of personality judgments. Journal of Personality and Social Psychology, 2015, online vor Print. DOI: 10.1037/pspp00000536 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Ein Angestellter surft stundenlang privat im Netz, 1,5der Chef bemerkt es. Es könnte sich für den Cheflohnen, die Situation mit Humor zu nehmen und zu Sekundensagen: Überarbeite dich nicht. Denn Ironie amArbeitsplatz scheint die Kreativität zu befördern. länger als weiße US-BürgerWer etwas sagt (überarbeite dich nicht), aber warten Afroamerikaner ameigentlich das Gegenteil meint (du Faulpelz!), nutzt Zebrastreifen. Das zumindestdabei abstrakte Gedankengänge und bringt sich so hat ein Feldexperiment in Port-selbst mental auf Touren – und sein Gegenüber land gezeigt. Während Weißegleich mit. im Durchschnitt nur ein Fahr- zeug passieren ließen, bevorDOI: 10.1016/j.obhdp.2015.07.001 sie gefahrlos die Straße über- querten, mussten Schwarze ein weiteres Auto abwarten. DOI: 10.1016/j.trf.2015.06.002Mächtig abstraktPolitiker drücken sich gerne kompliziert aus. Ein Bei- Abstrakt undspiel gefällig? „Es müssen große Investitionsanstren- unverbindlich:gungen mit einem klaren Auftrag zur Modernisie- „Was interessierenrung und Digitalisierung gemacht werden, wenn wir mich die Details …“weiterhin Innovationsland bleiben wollen“, sagteAlexander Dobrindt, Minister für Verkehr und di- andere mehr an der Problemlösung interessiert. Ins-gitale Infrastruktur, im Herbst. Wie genau Deutsch- gesamt zeigten sich die Versuchspersonen differen-land moderner und digitaler werden soll, verschwieg ziert in ihrem Urteil: Von einer Führungspersön-der CSU-Mann vor dem Bundestag jedoch. lichkeit wünschten sie sich beides – den Blick fürs große Ganze und den für die Umsetzung. Einerseits verhielt Dobrindt sich so, wie man esvon einer Führungskraft erwartet. Er widmete sich Mauricio Palmeira: Abstract language signals power, but also lack of actiondem großen Ganzen und verwendete eine entspre- orientation. Journal of Experimental Social Psychology, 61, 2015, 59–63.chend abstrakte Sprache. Damit führte er vor: Seht DOI: 10.1016/j.jesp.2015.07.003her, ich bin mächtig und halte mich nicht mit demalltäglichen Klein-Klein auf. Andererseits haben klare Worte eben auch ihrenWert. Das hat der Marketingexperte Mauricio Pal-meira gezeigt. In einem Experiment legte der Wis-senschaftler von der Monash University in Melbourne79 Probanden Zitate von Politikern vor. Ein Volks-vertreter äußerte sich allgemein zu wirtschaftlichenSchwierigkeiten, ein anderer widmete sich einemkonkreten Arbeitslosen namens Joe Smith. Währendder abstrakte Redner mächtiger erschien, wirkte derPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 7

In der Fremde vermitteln Erinnerungen an Spätestens als Bettina Wulff als erstedie Heimat Geborgenheit. Amerikanische tätowierte First Lady ins SchlossStudenten in Hongkong jedenfalls tankten Bellevue einzog, waren Tattoos in dereiniges an Sicherheit, wenn sie sich in einem Mitte der deutschen Gesellschaft an-Experiment gedanklich mit der uramerika- gekommen. Gerade weil dieser Kör-nischen Sportart Baseball beschäftigten – perschmuck heute so weit verbreitetverglichen mit der fernöstlichen Kampfkunst ist, lässt er kaum noch RückschlüsseTai-Chi. Mehr noch: Die Studenten fühlten auf die Persönlichkeit seiner Trägersich anschließend auch offener, ihr Gastge- zu. Das zeigten Psychologen nun amberland zu erkunden. Beispiel der Impulsivität: Menschen mit Tinte unter der Haut neigen imDOI: 10.1016/j.jesp.2015.02.004 Durchschnitt kaum stärker als andere zu Kurzschlussreaktionen. Die Ver- mutung, dass Tattooträger auch sonst einen Hang zu risikoreichem Verhalten haben, bestätigte sich nicht. DOI: 10.1016/j.paid.2015.08.054Die Kita verdirbt auchdie Jüngsten nichtKinder werden kaum aggressiver, wenn sie mit etwa betreut werden, als nur minimal aggressiver als an- Kitakinder:einem Jahr in eine Kita kommen. Und selbst dieser gut gelauntEffekt verschwindet nach relativ kurzer Zeit. Das ist dere, die erst kurze Zeit in der Kita herumtollen. Das statt aggressivdas Ergebnis einer neuen norwegischen Untersu-chung mit 939 Kindern. Dagegen waren vor allem zeigte sich, als das Kitapersonal in Fragebögen angab,amerikanische Studien in der Vergangenheit zu be-denklicheren Ergebnissen gekommen. Allerdings war wie oft ihre Zöglinge andere Kinder schlagen, zwi-bei diesen Arbeiten unklar, was Ursache und wasWirkung ist: Möglicherweise kommen in den USA cken oder an den Haaren ziehen. Am dritten Ge-Kinder aus vorbelasteten Familien früher in die Ki-ta. Treten dann Probleme auf, muss dies nicht an der burtstag waren weniger Unterschiede zu sehen, amBetreuung liegen. vierten gar keine mehr. JOCHEN PAULUS Die neue Studie des Psychologen Eric Dearingmacht sich dagegen zunutze, dass in Norwegen die Eric Dearing u. a.: Age of entry into early childhood education and care asMehrheit der Ein- bis Zweijährigen in die Kita geht. a predictor of aggression: Faint and fading associations for young Norwe-Zudem bestimmt dort der Zufall, in welchem Alter gian children. Psychological Science, 2015, online vor Print. DOI:ein Kind in die Kita kommt. Es muss beim Aufnah- 10.1177/0956797615595011metag im August mindestens ein Jahr alt sein. Vielesind also schon einige Monate oder fast ein ganzesJahr älter, wenn die Erzieherinnen und Erzieher siein Empfang nehmen. Doch an ihrem zweiten Geburtstag erweisen sichdie Jungen und Mädchen, die schon beinahe ein Jahr8 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Wer Filz undBestechung gutheißtDeutschland schneidet bei internationalen Korrup- auf Regeln. Wenn es ihren Interessen dient, greifen Geld gegentionsvergleichen regelmäßig nicht mit Bestnoten ab. Gefälligkeit – fürAktuelle Zahlen liegen für das Jahr 2014 vor. Da be- sie eher als andere zu korrupten Praktiken“, sagt Litz- manche Menschenfragte die Organisation Transparency International kein ProblemMenschen aus 175 Staaten nach der Situation in ih- cke. Je gewissenhafter dagegen und je verträglicherrem Land. Deutschland landete dabei nur auf Platz12, Dänemark auf Platz 1; Schlusslichter waren Nord- und je weniger offen Menschen sind, umso negativerkorea und Somalia. bewerten sie entsprechendes Verhalten. „Gewissen- Wie aber stehen die Deutschen eigentlich zu Be-stechung und Bestechlichkeit, zu Käuflichkeit und hafte arbeiten nicht nur genau und zuverlässig, son-Schmiergeldzahlungen? Und beeinflussen bestimm-te Persönlichkeitsmerkmale diese Einstellungen? Das dern sind auch weniger anfällig für Korruption“, sofragte sich jetzt ein Forscherteam um Sven Litzcke,Psychologe an der Hochschule Hannover, und Ruth Litzcke. EVA TENZERLinssen, Soziologin an der Fachhochschule Münster.In drei Studien wurden Daten von insgesamt knapp Sven Litzcke u. a.: Korruptionsbewertung. Psychopathie, Intelligenz und700 Studenten und Berufsschülern erfasst. Die Wis- das Fünf-Faktoren-Modell, Polizei & Wissenschaft, 2/2015, 2–23senschaftler interessierte einerseits, ob Merkmale wieIntelligenz und Psychopathie – also Empathiemangel,Rücksichtslosigkeit und Manipulationsfähigkeit – dieHaltung zu Korruption beeinflussen. Zudem wurdendie sogenannten Big Five der Persönlichkeit erfasst(emotionale Stabilität, Extraversion, Gewissenhaf-tigkeit, Verträglichkeit, Offenheit). Die Wirkung die-ser Faktoren auf Korruption sei bislang nur unzu-reichend untersucht, sagt Litzcke. Das Ergebnis: Intelligenz spielt bei der Bewertungvon Machtmissbrauch keine Rolle. Dagegen findenMenschen mit höheren Psychopathiewerten Korrup-tion eher in Ordnung. „Sie verfolgen ihre Ziele häu-fig ohne Rücksicht auf andere und ohne RücksichtPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 9

Ist diese Frau wütend? Zufriedene SinglesWir verstehen uns recht gut darauf, die Emotionen unserer Mit- Ist ein Leben in Zweisamkeit immer ein glückliche-menschen zu lesen. Immerhin ist es oft ziemlich wichtig zu res? Frühere Befunde hatten in diese Richtung ge-wissen, was der andere gerade fühlt: Der Mann dort mit dem deutet. Doch ganz so einfach ist es wohl nicht, sagenschwarz-gelben Schal hebt die Faust, nur weil ich eben den BVB nun neuseeländische Psychologen um Yuthika Gir-beleidigt habe. me von der Universität von Auckland. Denn eine Partnerschaft ist eben nicht immer nur schön, Part- Nun ist die Körpersprache aggressiver männlicher Fußball- ner streiten und verletzen sich auch. Zudem habenfans vergleichsweise leicht zu interpretieren. Wenn Frauen sich Singles mehr Zeit zur Verfügung, können zum Bei-ärgern, zeigen sie das hingegen nicht unbedingt offen, sondern spiel besser Freundschaften pflegen.machen gute Miene zu bösem Spiel. Girme geht davon aus, dass für manche Menschen Einem aggressiven Fußballfan kann man aus dem Weg ge- eine Beziehung keinen Glücksmehrwert hat – wäh-hen. Auf versteckte Aggression zu reagieren, ist dagegen schwie- rend andere tatsächlich erst aufblühen, wenn sie ihrrig. Frauen sind besonders oft Opfer derartiger Attacken. Ver- persönliches Herzblatt gefunden haben. Den Unter-mutlich ist das der Grund, warum sie dem neutralen Gesicht schied machen die Ziele, die jemand verfolgt. Aufeiner Geschlechtsgenossin häufig misstrauen. Das zeigt zumin- der einen Seite sind da die Vermeider, die Konfliktendest eine aktuelle Studie von Psychologen der Arizona State Uni- möglichst aus dem Weg gehen. Wie Girme nach derversity. Auswertung von 4200 Datensätzen zeigte, waren sie allein ebenso glücklich wie in einer festen Bindung. Sie konfrontierten Probandinnen mit Fotos neutral blicken- Für die anderen galt dagegen, dass sie in einer Bezie-der Männer und Frauen. Die Teilnehmerinnen vermuteten in hung zufriedener durchs Leben gingen. Diese Men-den Frauenfotos deutlich häufiger versteckte Anzeichen für Är- schen werden stärker von positiven Anreizen ange-ger als in den Männerfotos. Das (in diesem Fall unbegründete) zogen. Sie legen den Fokus mehr auf die Belohnungen,Misstrauen könne Frauen vor versteckter Aggression durch Ge- die eine Partnerschaft bietet – Nähe und gemeinsa-schlechtsgenossinnen schützen, spekulieren die Forscher. mes Wachstum. Im Gegenzug leiden sie mehr dar- unter, wenn ihnen der Gegenpart fehlt. Je begehrenswerter sich die befragten Teilnehmerinnen fan-den, desto öfter hielten sie die neutralen Frauengesichter für Yuthika U. Girme u. a.: Happily single: The link between relationship statusbloße Fassade. Vermutlicher Grund: Gerade attraktive Frauen and well-being depends on avoidance and approach social goals. Socialwerden häufig Opfer von Neid und Missgunst. „Sie tragen da- Psychological and Personality Science, 2015, online vor Print. DOI:her ein besonders hohes Risiko, zur Zielscheibe weiblicher Ag- 10.1177/1948550615599828gression zu werden“, schreiben die Autoren. FRANK LUERWEG PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016Jamie Arona Krems u. a.: Is she angry? (Sexually desirable) women “see” anger on femalefaces. Psychological Science, 2015, online vor Print. DOI: 10.1177/095679761560370510

Noch ein Schlückchen? Ein volles Glas entspricht 200ml Allmählich dürfte sich herumgesprochen haben: Zu viel Alkohol ist nicht gesund. Doch wie viel ist zu viel? Die FINNLAND Gesundheitsbehörden geben dazu Empfehlungen heraus, M: 268 ml die wir in unserer Grafik in Weinmengen dargestellt haben. F: 179 ml Man sieht: Welches Maß an Suff pro Tag als gerade noch tolerabel gilt, unterscheidet sich deutlich von Land zu Land, selbst innerhalb Europas. Die Deutschen, typisch, sind besonders streng, die Katalanen umso laxer – und nutzen den Anlass, sich mal wieder vom Rest Spaniens abzugrenzen.Quelle: Alkoholspiegel. Hintergrundinformationen zur Alkoholprävention der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Juni 2015, www.bzga.de SPANIEN DEUTSCHLAND Grafik Gödecke Illustration & Infografik M: 341ml M: 250 ml F: 341 ml F: 125 ml ITALIEN SCHWEDEN M: 341ml M: 227 ml F: 205 ml F: 227 ml FRANKREICH SPANIEN M: 341 ml KATALANIEN F: 341 ml M: 795 ml PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 F: 795 ml 11

IM FOKUS „Ist das Altruismus? Da bin ich nicht so sicher“ Deutschland ist gespalten: Ein Teil der Bevölkerung zeigt eine ungeahnte Hilfsbereitschaft Flüchtlingen und Asylbewerbern gegenüber. Ein anderer ist voller Aggression. Wovon es abhängt, zu welcher Gruppe man gehört, erklärt der Sozialpsychologe Oliver Decker12 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Herr Decker, vor wenigen Monaten gab es eine Dr. Oliver Decker Eine aktuelle Studie über Ehrenamtliche in der studierte Psycholo-Welle der Hilfsbereitschaft in Deutschland. Un- gie, Soziologie und Flüchtlingsarbeit kam zum Ergebnis: Die Zahl der Philosophie an derzählige Menschen kümmerten sich an Bahnhöfen Freien Universität ehrenamtlichen Helfer in der Flüchtlingsarbeit Berlin. Seit 2002 lei-um Flüchtlinge oder arbeiteten ehrenamtlich in tet er zusammen mit ist den letzten drei Jahren um 70 Prozent ge-Kleiderkammern. Waren Sie davon überrascht? Elmar Brähler die wachsen. Vor allem Frauen engagieren sich. Ha- „Mitte“-Studien derIch war nicht völlig überrascht. In den letzten zwan- Universität Leipzig ben Sie eine Erklärung für diesen neuen Altruis-zig Jahren hat sich die Wahrnehmung von Migran- zum Rechtsextremis-ten in der Bundesrepublik ja ziemlich verändert: mus in Deutschland. mus?Während Helmut Kohl 1990 in einer Regierungser-klärung noch ausdrücklich betonte, dass Deutsch- Ist das Altruismus? Da bin ich mir gar nicht so sicher.land kein Einwanderungsland sei, sagte Angela Mer- Ich finde, man sollte den Blick nicht zu stark aufkel jüngst auf dem Integrationsgipfel, dass Deutsch- das Individuum richten, sonst teilt man unsere Ge-land ein Einwanderungsland sein wolle. Die sozialen sellschaft zu sehr in Gerettete oder Verdammte.Normen haben sich also verschoben, Migranten wer- Aus der Psychologie wissen wir ja, dass Altruismusden mittlerweile wahrgenommen als Gruppe, die stark situationsabhängig ist: Nur wer überhaupt ge-auch etwas zu diesem Land beitragen kann. Dahin- nug Zeit hat, kann anderen Menschen helfen. Mirter stecken Nützlichkeitserwägungen; Gründe wie ist es viel wichtiger zu schauen, warum eine Gesell-der Facharbeitermangel und demografischer Wandel schaft eine bestimmte Form von Persönlichkeits-rechtfertigen die Anwesenheit von Migrantinnen und struktur hervorbringt, sei es die autoritäre Persön-Migranten. lichkeitsstruktur oder die altruistische Persönlich- keitsstruktur. Aber wir wissen generell aus der For- Es lassen sich außerdem Anzeichen finden, dass schung, dass prosoziales Verhalten eher weiblich ist:sich die kulturelle Identität verändert hat: Während Männer neigen zu kurzfristigen Handlungen wiefrüher noch als Deutscher galt, wer deutsche Vor- Lebensrettung, Frauen eher zu beziehungsorientier-fahren hatte, kann man jetzt auch Deutscher werden. tem Handeln.Das „Blutrecht“ im Staatsbürgerrecht wurde abge-schafft, es wurde liberalisiert. Und wir haben in den Interessant ist, dass die Untersuchung des Berli-letzten Jahren große Veränderungen durch die Un-terstützung des zivilgesellschaftlichen Engagements ner Instituts für empirische Integrations- und Mi-erlebt, viele Bürger sind mittlerweile für die Demo-kratie und Migrantinnen und Migranten aktiv. grationsforschung zeigt, dass viele der engagier-Was bringt so viele Deutsche dazu, sich für ten Flüchtlingshelfer schon vorher in persönli-Flüchtlinge zu engagieren? chem Kontakt zu Flüchtlingen standen. Viele ha-Das dürften ganze Motivationsbündel sein, die sich ben im Familienkreis Menschen mit Migrationsge-individuell stark unterscheiden. Empathie und Iden-tifikation mit den Flüchtlingen spielen natürlich ei- schichte oder sind mit Flüchtlingen befreundet.ne Rolle. Aber mir fällt auch auf, dass viele Menschensehr symbolisch und öffentlich reagieren. Sie begrü- In der Psychologie gibt es zur Erklärung dieses Phä-ßen die Flüchtlinge an Bahnhöfen und gehen an die nomens die Kontakthypothese: Persönliche Kontak-Öffentlichkeit mit ihren Vorstellungen, wie unsere te bauen Vorurteile ab. Es ist wesentlich schwerer,Gesellschaft aussehen sollte. Anders gesagt: Sie ver- einem Menschen gegenüber Vorurteile aufrechtzu-suchen, Einfluss zu nehmen auf eine gesellschaftliche erhalten, wenn man ihn kennt und wertschätzt. DasSituation, die sie als bedrohlich erleben. Das kennen erklärt auch, warum in Ostdeutschland, wo der An-wir aus der Psychologie: Forschungen zeigen, dass teil an Migranten gering ist, die Vorurteile so großerlebter Kontrollverlust zwar einerseits Ressenti- sind: Es gibt einfach zu wenige Gelegenheiten, Flücht-ments erhöhen kann, bei bestimmten Gruppen von linge kennenzulernen. Ein anderer Punkt: Wir wis-Menschen aber zu kollektivem Handeln führt. Denn sen, dass jüngere Menschen und Menschen mit einemgemeinsames Handeln kann sinnvoll und erfolgreich höheren Bildungsgrad weniger Vorurteile haben ge-sein, diese Erfahrung haben viele Menschen durch gen Migranten.die zivilgesellschaftlichen Projekte in den letztenJahren gemacht. Die Herausforderung in den nächs- Wie interpretieren Sie das? Mehr Wissen führt zuten Jahren wird sein, dieses solidarische Handelnund Engagement auch auf Dauer zu zeigen. einer höheren Reflexionsfähigkeit? Nicht nur das. Wer ein höheres Bildungsniveau hat, hat als Kind wahrscheinlich auch eine förderlichere Erziehung genossen und günstige Bedingungen für die eigene Entwicklung und damit auch für die Aus- bildung eines demokratischen Verständnisses vor- finden können. Anerkennung des anderen setzt näm- lich voraus, dass ich selbst auch diese Erfahrung ge- macht habe.PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 13

IM FOKUSUnter den vielen Flüchtlingshelfern sind auffal- Um Empathie für Menschen, die einem selbst geholfen haben, an de- andere empfin- nen man sich orientieren kann. Oder dass man alslend viele Menschen jüngeren Alters. den zu können, Kind in einer fremden Umgebung die Erfahrung machte, dass man aufgefangen wurde. Diese Bedin-Bei den älteren Geburtsjahrgängen vor 1970 und noch muss man als gungen führen dann eher dazu, dass Betroffene imviel stärker vor 1940 spielte Gewalt in der Kindheit Kind in seinen Erwachsenenalter Menschen mit ähnlichen Erfah-eine wesentlich größere Rolle, das haben wir in un- Bedürfnissen rungen unterstützen.seren„Mitte“-Studienbeobachten können.Vielewur- anerkannt wor-den sehr autoritär erzogen und konnten gar nicht die Der Zusammenhang zwischen der deutschen Ge-psychischen Strukturen ausbilden, um Empathie und den seinAnteilnahme empfinden zu können. Die jüngeren schichte und der aktuellen Flüchtlingskrise wirdGesprächspartner allerdings berichteten in unserenStudien über mehr Nähe und weniger körperliche aber selbst von der Politik immer wieder be-Züchtigung in ihren Familien. Die Gründe dafür,Empathie für andere empfinden zu können, sind zwar schworen: Bundespräsident Gauck sagte jüngst,vielschichtig, aber wir wissen doch, dass die eigeneSozialisation ausschlaggebend ist: Wer als Kind die „die Schicksale von damals und die SchicksaleErfahrung gemacht hat, dass man Freiräume hatteund in seinen Bedürfnissen und Wünschen anerkannt von heute“ gehörten „auf eine ganz existenziel-wurde, kann später auch andere Menschen in ihrenberechtigten Interessen gut wahrnehmen. Ist das nicht le Weise“ zusammen.so, werden Fremde schnell zur Projektionsfläche fürdas eigene Verdrängte und die eigenen Ängste. Gauck versucht, die Schicksale von damals und heu- te parallel zu setzen, um ein Angebot zur Identifi-Eigentlich würde man ja denken, dass gerade wir kation zu machen: die Differenz zwischen Deutschen und den Flüchtlingen zu reduzieren. Man weiß jaDeutsche – ein kriegstraumatisiertes Volk mit aus der Psychologie: Die Akzeptanz von anderen ist höher, wenn sie als Angehörige der eigenen Gruppevielen eigenen Flucht- und Vertreibungserfah- wahrgenommen werden.rungen – eine innere Verbindung zu Kriegsflücht- Sie forschen seit bald fünfzehn Jahren über dielingen verspüren würden. Aber die ältere Gene- psychologischen Hintergründe von rechtsextre-ration tut sich damit schwer. Viele ehemalige Ver- men Einstellungen. Wovor genau haben die Leu-triebene fühlen sich geradezu bedroht von den te denn Angst, wenn um die Ecke ein Flüchtlings-Flüchtlingen. heim gebaut wird?Nach unseren Erhebungen ist der Einfluss eigener Das sichtbarste Phänomen ist nicht die Angst, son-Flucht- und Vertreibungserfahrungen beim Enga- dern die Aggression. Dass Menschen sich fragen, wiegement für Flüchtlinge nicht allzu groß. Wir finden das Zusammenleben gelingen kann und vielleichtzwar immer wieder Menschen, die ihr Handeln da- Angst haben, ist vollkommen nachvollziehbar undmit begründen, dass sie selbst als Kinder die Erfah- überhaupt nicht irrational.rung von Flucht, Stigmatisierung oder Ausgrenzunggemacht haben. Aber das ist nur ein relativ kleiner Sehr viel bedeutsamer ist das hohe Maß an Ag-Teil. Und meist spielen da noch ganz andere Fakto- gression, das wir seit fast einem Jahr nicht nur inren mit hinein, die Flucht allein ist nicht der aus- den Einstellungen finden, sondern auch in den Ma-schlaggebende Faktor, die kann nämlich genauso gut nifestationen. Wir wissen seit unseren Erhebungenstarke Ressentiments zur Folge haben. In dem Zu- in 2002, dass in Ostdeutschland in manchen Jahrensammenhang ist übrigens geradezu auffällig, dass bis zu fünfzig Prozent aller Befragten ausländerfeind-die Bundesländer, die nach dem Krieg einen sehr lichen Positionen zustimmen. In der Regel sind die-starken Anteil an Wanderungsbewegungen aufwie- se Ressentiments Selbstauskünfte, die weniger mitsen – vor allem Mecklenburg-Vorpommern und Bay- Angst zu tun haben als mit eigenen Enttäuschungenern – bis heute hohe Anteile an von Vorurteilen be- und eigenem Verzicht – und natürlich einer projek-lasteten Menschen haben. tiven Aufladung des anderen.Aus etwas Schlechtem erwächst also nicht unbe- Worüber geben die Ressentiments Auskunft?dingt etwas Gutes. Wir hören wirklich abstruse Vorwürfe, etwa dass Flüchtlinge in Hotels mit Wellnessbereichen wohnen,Das ist auch ganz logisch: Flucht und Vertreibung Häuser und Autos vom Staat gestellt bekommen undsind per se schlimme Erlebnisse. Um daraus etwas sogar Viagra von der Krankenkasse. Die FlüchtlingeGutes im Menschen hervorzubringen, braucht es oft haben also ein schönes arbeitsfreies Leben mit einernoch andere Erfahrungen: Identifikation mit guten erfüllten Sexualität und müssen sich nicht unter- werfen unter Regeln, die sie nicht selbst gemacht ha- ben. Mit Sorgen oder Ängsten hat das nicht viel zu tun.14 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Sondern? Die Ressenti- Wenn der Flüchtlingsstrom anhält, wird Deutsch- ments habenMit autoritären Aggressionen. Menschen, die sich wenig mit Angst land auch in den nächsten Monaten Hunderttau-als Kinder gegenüber der elterlichen Autorität nichtdurchsetzen durften, identifizieren sich notgedrun- zu tun. Sie sende Menschen aufnehmen müssen. Wird diesegen mit dem elterlichen Aggressor. Auch als Erwach- resultieren aussene neigen sie dazu, sich machtvollen Interessen zu Enttäuschungen Integration gelingen?unterwerfen. In unserer Gesellschaft übt ja nun aber und der Wut,kein Einzelner mehr Macht aus, die Macht geht in- Es bleibt ja noch abzuwarten, wie sich die Situationzwischen vom Markt aus. Unsere Ergebnisse bestä- nicht amtigen, dass die starke Ökonomie im Großen und Wohlstand entwickelt. Wenn entschieden wird, dass man an derGanzen eine integrierende Funktion hat – aber den- teilhaben zunoch immer mehr Deutsche auf eigene Wünsche Dublin-Regelung festhält, dass also diejenigenverzichten müssen: Durch die Arbeitsmarktreform, könnendie hohe Arbeitsverdichtung und das Schwinden des Flüchtlinge, die über Ungarn oder Kroatien nachEinkommens der Mittelschicht fühlen sich immermehr Menschen abgehängt. Irgendwo muss die Ent- Deutschland eingereist sind, auch dorthin wiedertäuschung und auch die Wut hin, dass man im Wohl-stand lebt, ohne den entsprechenden Anteil zu be- zurückmüssen, schafft man eine Situation, die wahr-kommen. Gegen eine Autorität kann sich die Ag-gression aber nicht richten, stattdessen richtet sie scheinlich eher zur Eskalation führt. Weil die Flücht-sich gegen „andere“ und wird projektiv aufgeladen. linge natürlich nicht zurückwollen und die LänderWie erklären Sie sich, dass gerade in Ostdeutsch- sie ja auch nicht haben wollen. Die Gefahr bestehtland diese Dynamik besonders lebendig ist? dann, dass sie illegal hierbleiben und notgedrungenIch denke, dass gerade in der DDR mehr Menschendie Erfahrung gemacht haben, dass sie für den Ver- kriminell werden, um überleben zu können. Fürzicht auf eigene Wünsche nicht ausreichend entschä-digt wurden. Die Wut auf die politische Autorität Menschen mit Vorurteilen wäre das die Bestätigungwird dann auf Schwächere umgelenkt. Das erklärtunter Umständen, warum sich im Osten vor bren- ihres Ressentiments. Das wäre eine hochkritischenenden Flüchtlingsheimen auch noch eine Mengeversammelt und jubelt, das passiert im Westen nicht. Situation. Wir müssen also die Flüchtlinge, die kom- men, aktiv integrieren. Alles andere ist realitätsun- tauglich: Weder kann man einen Bypass um Europa legen, noch ist Integration eine Aufgabe allein der Ankommenden. Das heißt: Wir müssen gerade die- jenigen Bürger in unserer polarisierten Gesellschaft stärken, die engagiert sind. Sodass wir hier eine ech- te Willkommenskultur schaffen können. Denn die Flüchtlinge werden so schnell nicht wieder gehen, sie sind aus existenziellen Gründen und um einen sehr hohen Preis hierhergekommen. PH INTERVIEW: ANNE-EV USTORF MACHT UNS 336 Seiten | € [D] 19,99KONSUM GLÜCKLICH?Der Sozialpsychologe Jens Förster zeigt, welchen Einflüssenunsere Bedürfnisse unterliegen und ob unsere Lebenszieletatsächlich geeignet sind, uns glücklich zu machen.»Jens Förster ist heute einer der international einflussreichsten Psychologen seiner Generation.« Deutsche Gesellschaft für Psychologie

THERAPIESTUNDE KOMM HER, GEH WEGDie Paaranalyse von Marion und Sie hat Verlustängste zu seinen Prüfungen begleitet und dafür Bernd wurde durch Marions und klammert sich gesorgt, dass er sich trotz seiner Ängste Therapeutin vermittelt. Sie hatte zum Examen anmeldete. Jetzt hat er eine mich auf die beiden vorbereitet. Da gebe an den Partner. Der ver- gute Stelle, ist aber viel unterwegs. Wir es eine heftige Krise, Bernd sei auch schon schließt sich, was sie nur können uns eine schöne Wohnung leisten. tätlich geworden und manchmal völlig noch verzweifelter macht. Es könnte uns gutgehen, doch jetzt strei- unansprechbar, was Marion zur Verzweif- ten wir uns ständig.“ Marion macht seit lung bringe. Gibt es einen Ausweg Jahren Therapie und meint: „Bernd müss- aus diesem Teufelskreis? te endlich auch etwas tun.“ Die beiden kommen pünktlich. Sie sind mit dem Rad unterwegs, zwei sportlich ge- Ein Fall aus der Praxis Bernd sitzt still da, er stimmt nicht zu kleidete, ernsthafte Dreißigjährige. Bernd des Psychoanalytikers und widerspricht auch nicht. Marion er- mustert mich skeptisch, Marion lächelt Wolfgang Schmidbauer zählt weiter. Sie hat die Therapie begon- mich an. In dem Behandlungszimmer steht nen, nachdem ein langjähriger Freund sie vor der Couch ein kleiner runder Tisch, Wolfgang Schmidbauer von einem Tag auf den anderen verließ daran, einander gegenüber, zwei gleiche arbeitet als Psychoanalytiker, und sie entdecken musste, dass er bereits Sessel und etwas im Hintergrund, gegen- Familientherapeut und Autor seit einem Jahr eine heimliche Liebschaft über der Couch, ein bequemer Stuhl aus hatte. Sie ist sich zwar sicher, dass Bernd gedrechseltem Holz. Ich bitte das Paar, die in München. Sein aktuelles sie nicht betrügt, aber Bernd müsste doch Sessel zu nehmen, schalte das Telefon aus Buch Unbewusste Rituale in verstehen, dass sie misstrauisch ist und und setze mich zu ihnen. Sie haben einan- der Liebe. Einführung in die möglichst viel über ihn wissen will – und der als Gegenüber, ich die leere Couch. Paaranalyse ist im Klett-Verlag, gerade dann verschließt er sich und lässt erschienen (Stuttgart 2014). sie verhungern! „Wir stehen kurz vor der Trennung und könnten es doch eigentlich endlich schön Bernd hat ein Hobby, das ihm sehr haben, wir haben schon viel schwierigere wichtig ist. Er gehört zu einer Gruppe von Zeiten gemeinsam durchgestanden“, be- Laienschauspielern und führt mit diesen ginnt Marion. „Bernd hatte große Prob- jedes Jahr in einem Freilichttheater ein leme im Studium und in seinem ersten Stück auf. Marion ist eifersüchtig. Sie wür- Job. Ich habe mich um ihn gekümmert, de ihm am liebsten verbieten, mitzuspie- wenn er Magenschmerzen hatte und nicht len. Aber er müsse das freiwillig tun, er in die Arbeit gehen wollte, ich habe ihn müsse doch sehen, wie sie leide! Jeder wis-16 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

se doch, wie locker die Sitten in solchen radox es klingt, eine heftige Sehnsucht NEUGruppen seien! Jetzt widerspricht Bernd. nach Ruhe, Friede und Geborgenheit.Solche Klischees könne er nicht leiden. Hofmann, Heise (Hrsg.) Nicht ganz untypisch, konnten die Ein- Marion vertritt den Standpunkt: „Ich sichten aus den Einzelgesprächen in den Spiritualitäthabe mich so um dich gekümmert, und ersten Paarsitzungen nicht bewahrt wer- und spirituelle Krisendu willst gar nichts für unsere Beziehung den. Es hatte wieder einen heftigen Streittun!“ Er: „Ich lasse mich nicht erpressen.“ gegeben. Marions Vorsatz, Bernd nicht Handbuch zu Theorie, ForschungIch verstehe, warum Bernd sich von Ma- mehr zu kontrollieren, war unter dem und Praxisrion nicht in eine Therapie zwingen lassen Druck ihrer Ängste ebenso zusammen- ‡8SWRGDWHdurch gezieltes Nachschla-will. Er würde sich unterwerfen. gebrochen wie Bernds Einsicht, dass Ma- rion zwar kein Recht auf totale Kontrolle gen aktueller Erkenntnisse aus Theorie, „Paare finden sich, weil jeder Teil hofft, habe, aber doch liebevolle Zuwendung Forschung und Praxisdass das Leben zu zweit schöner ist und und Trost in ihrer Verlustangst verdiene, ‡*HEQGHOWHZLVVHQVFKDIWOLFKHpsycho-es jemanden gibt, der einen unterstützt nicht Entwertung und kühle Abwehr. therapeutische und erfahrungsbasierteund hilft, Kränkungen zu verarbeiten“, Expertise durch Beteiligung namhaftererkläre ich. „Aber wenn Paare zu mir kom- Ich erinnerte beide an die Sicht auf den Fachvertreter, Repräsentanten einesmen, ist es meist so, dass die Partner selbst Konflikt, die im Gespräch mit jedem Ein- renommierten spirituellen Zentrums undfüreinander zur Kränkungsquelle gewor- zelnen von ihnen erarbeitet worden sei, semi-professioneller unterstützenderden sind. Wenn wir herausfinden, warum und erklärte, dass ich eine Wurzel des Netzwerkedas geschehen ist, gibt es auch eine Chan- Konflikts in einem bei ihnen beiden sehrce, das zu verändern.“ unterschiedlichen Tempo der Reaktion Spiritualität als Suche nach Sinn und auf Kränkungen sähe. Marion reagiere Bedeutung des eigenen Seins ist ein In dem Bericht über die jüngste Aus- schnell und sei auch schnell wieder ent- menschliches Grundbedürfnis. Persönlicheeinandersetzung lässt sich ein Regelkreis spannt; er reagiere langsam und brauche Schicksalsschläge oder existenzielle Fra-erkennen: Bernd wird im Streit immer lange Zeit, um sich zu erholen und sein gen, die sich innerhalb eines materialis-kühler, Marion immer hitziger. Bernd will Selbstgefühl wiederzufinden. Daher sei es tischen Weltbilds nur unzureichend beant-sich zurückziehen, sie lässt ihn nicht ge- vielleicht auch hilfreich, zu erproben, ob worten lassen, können dieses Bedürfnishen. Sie hält ihn fest, er reißt sich los und getrennte Wohnungen eine Lösung sein verstärken und den Wunsch nach einerschubst sie weg. Je mehr er sich verschließt, könnten: Vielleicht seien sie zusammen- Neuorientierung wachrufen. Verbindetdesto heftiger kämpft Marion um seine gezogen, ohne die Folgen zu bedenken? sich dies mit einer unkritischen Anwen-Aufmerksamkeit. dung von spirituell-meditativen Techniken, In den nächsten Sitzungen entspannte können sich krisenhafte Zuspitzungen Nach dem ersten Gespräch zu dritt fol- sich die Situation. Marion hatte tatsäch- ergeben, in denen Sie als Wegbegleitergen Einzelgespräche mit jedem Partner lich eine eigene Wohnung bezogen. Sie oder Therapeut gefordert sind.und dann mehrere Sitzungen zu dritt. richtete sich ein, Bernd half ihr, Marion war stolz auf die eigenen vier Wände. Sie 2016. Ca. 480 Seiten, 32 Abb., 40 Tab., geb.Sind sie zusammengezogen, ohne lebte dennoch die meiste Zeit in Bernds Ca. € 59,99 (D) / € 61,70 (A) Wohnung. Die Möglichkeit, sich zurück- ISBN 978-3-7945-3057-1die Folgen zu bedenken? zuziehen, wenn die Beziehung nicht har- monisch war, hatte beide beruhigt. Sie www.schattauer.deMarion gab mir recht, als ich in unserem hatten sich den äußeren und damit inne-Einzelgespräch erklärte, dass Bernd sie ren Abstand geschaffen, die Unterschied-nicht aus der ihm unterstellten Haltung lichkeit ihrer Wünsche zu erkennen undeiner kalten Macht abtropfen ließ, sondern sie nicht als tödliche Gefahr für die Be-sich vor ihr zurückzog, weil er Angst vor ziehung zu bekämpfen.ihr hatte und mit ihren Vorwürfen nichtzurechtkam, er sei ein miserabler, lieblo- Ich diente als Übergangsobjekt, als Ga-ser Partner. Bernd umgekehrt konnte sich rant dafür, dass Verlustangst eher durchder Einsicht nähern, dass Marion keine liebevolle Trennung als durch Anklam-mächtige Hexe war, die ihm sein Selbst- mern überwunden werden kann. So konn-bewusstsein rauben wollte, sondern sich te der Teufelskreis aufhören, dass Verlas-in ihrem Anklammern fühlte wie ein ver- senheitsangst Kontrollbedürfnisse weckt,ängstigtes Kind. Insgesamt hatte ich wäh- die wiederum Rückzugswünsche auslösenrend der Einzelgespräche den Eindruck, und dadurch die Angst verstärken.dass beide Partner beisammenbleibenwollten. Keiner dachte an eine andere Lie-be, der Grund für den Streit war, so pa-ILLUSTR ATION: MICHEL STREICH Irrtum und Preisänderungen vorbehalten. Abb.: M.-L. BodirskyPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

TITEL Ausgebrannt Wenn Körper und Seele signalisieren „So geht es nicht mehr weiter“, werten viele Betroffene das als individuelles Versagen. Experten sehen das anders: Burnoutsymptome sind für sie ein Zeichen von Kompetenz. Dieser Perspektivenwechsel hat spannende Auswirkungen VON BIRGIT SCHÖNBERGER18

ILLUSTR ATIONEN. GUILIO CASTAGNARO A n manchen Tagen konnte die Pfle- erzwungene Pause eine angemessene Antwort des gedienstleiterin eines großen Kran- biologischen und emotionalen Systems auf die dau- kenhauses nur noch Halbsätze her- erhafte Überlastung, erklärt Schmidt und spricht von ausbringen. Auf unerklärliche Wei- verletzten „Vertragsbedingungen des Organismus“. se war ihr Wortschatz drastisch zu- Dieser teile durch Kopfschmerzen, Schlafstörungen, sammengeschrumpft. Obwohl sie sich schon morgens Müdigkeit, Gereiztheit mit, dass er etwas anderes beim Aufwachen vollkommen zerschlagen fühlte und braucht. ihre Beine sich kaum noch bewegen wollten, arbei- tete sie weiter, telefonierte, diktierte, rechnete, schrieb Gerade weil die Betroffenen sich als Versager auf Berichte, rannte im Stechschritt von Station zu Sta- der ganzen Linie fühlen und oft von Vorgesetzten tion. Je schwächer sie sich fühlte, desto unerbittlicher und Kollegen als nicht belastbar abgestempelt wer- schwang sie die innere Peitsche: „Stell dich nicht so den, sei es wichtig, ihnen eine andere Interpretation an. Reiß dich verdammt nochmal zusammen!“ Doch für ihre Symptome anzubieten und diese als „Leib- dann brach sie mitten in einem Gespräch mit ihren wächter“ und „Sinn-Wecker“ zu verstehen. „Wer Er- Mitarbeitern in Tränen aus und konnte nicht mehr schöpfungssymptome nur als Schwäche und Inkom- aufhören zu weinen. Die Hausärztin diagnostizierte petenz erlebt, will sie so schnell wie möglich wegha- ein Burnoutsyndrom, schrieb sie krank und schick- ben. So bleibt das problemverursachende Muster te sie in psychotherapeutische Behandlung. Erst im jedoch bestehen.“ Hilfreicher und langfristig heilsa- Verlauf der Therapie wurde Bianca Rösler klar, dass mer sei es, die Symptome zu übersetzen in Botschaf- die Erschöpfung sich schon über Jahre aufgebaut und ten über wichtige Bedürfnisse, die lange missachtet sie alle Warnsignale ignoriert hatte. oder nicht erfüllt wurden. Burnout, das klingt nach Schwäche, Versagen, Gunther Schmidt plädiert dafür, die mittlerweile Energiemangel, Kontrollverlust und Kapitulation. kontrovers diskutierte Abgrenzung zwischen Burn- Deshalb blickt Gunther Schmidt oft in verwunderte out und Depression beizubehalten und beide Diag- Gesichter, wenn er seine Vorträge mit dem Satz be- nosen nicht in einen Topf zu werfen. Ein Teil der ginnt: „Burnout ist eine Kompetenz.“ Der ärztliche Burnoutpatienten zeige auch Symptome, die übli- Leiter der privaten sysTelios-Klinik in Siedelsbrunn cherweise mit einer schweren Depression verbunden bei Heidelberg und Begründer des hypnosystemi- sind, die Dynamik der Erkrankung sei jedoch deut- schen Ansatzes wirbt dafür, Burnout nicht nur durch lich anders. „Viele, die an Burnout erkrankt sind, die Mangelbrille zu betrachten, sondern auch die empfinden es als vernichtend und abwertend, wenn Kompetenz zu würdigen, die in der Erschöpfung und sie eine psychiatrische Diagnose bekommen und als im Zusammenbruch zum Ausdruck kommt (siehe depressiv bezeichnet werden. Sie sehen sich dann Interview Seite 22). Wenn der Organismus signali- überhaupt nicht gewürdigt in ihrer Kompetenz und siere „Halt! Stopp! So geht es nicht weiter“, sei die ihrem überdurchschnittlichen Einsatz, den sie vor dem Zusammenbruch gezeigt haben, und halten sich PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 19

TITELDas beste Burnout- ben, wenn er zu achtzig Prozent gut ist, und auf die letzten zwanzig Prozent, die unverhältnismäßig vielVerhütungsmittel: Nein Kraft und Zeit kosten, verzichten. Den Schreibtisch verlassen, obwohl nicht alles erledigt ist. Abends kei-sagen zu überhöhten ne Mails mehr checken. Im Urlaub nicht in der Fir- ma anrufen, um zu hören, wie es so läuft. In Rollen-inneren Ansprüchen spielen üben Patienten, sich Kollegen und Vor- gesetzten gegenüber auf angemessene Wei- für verkorkst und krank, was den Heilungsprozess se abzugrenzen. „Ich erledige das gerne nicht gerade befördert.“ Aus Loyalität mit seinen Kli- morgen für dich, jetzt habe ich Feier- enten wehre er sich gegen den individualisierenden abend.“ „Wenn ich das neue Projekt über- und pathologisierenden Blick auf Erschöpfung, so nehmen soll, möchte ich dafür eine an- Gunther Schmidt. dere Aufgabe abgeben.“ Auch Christoph Middendorf, Facharzt für psy- Meditation wird häufig als chotherapeutische Medizin und ärztlicher Geschäfts- führer der Oberbergkliniken, die unter anderem auf Kuschelecke missbraucht die Behandlung von Burnout spezialisiert sind, sieht im natürlichen Rückkoppelungsmechanismus des Auch wenn die Oberbergkliniken Achtsam- Gehirns, das auf chronische Überlastung mit Stopp- keit in ihr Therapiekonzept integriert haben signalen reagiert, eine wichtige Ressource. Allerdings und damit werben, sieht Christoph Midden- sei es manchmal in der Therapie ein längerer Prozess, dorf den gegenwärtigen Hype um Achtsamkeit Patienten mit der Idee vertraut zu machen, dass sie als Allheilmittel im Umgang mit Stress und ihren Körper nicht einfach beherrschen und zu Burnout auch kritisch. Meditation sei ohne Fra- Höchstleistungen zwingen können wie eine Maschi- ge ein empfehlenswerter Weg, zur Ruhe zu kom- ne. „Wir leben in dem Irrglauben, wir könnten die men, den Körper zu spüren, Warnsignale recht- Natur vollkommen nach unseren Wünschen formen. zeitig wahrzunehmen und die eigenen Muster zu Dieses mechanistische Verständnis haben wir auch erkennen. „Manchmal lernen Menschen jedoch auch, auf uns selbst und unseren Körper übertragen und mithilfe von Achtsamkeit Dinge zu akzeptieren, die denken, wir könnten alles erreichen. Ein Burnout ihnen schaden. Unter dem Motto, ganz wertfrei und konfrontiert uns jedoch damit, dass unsere Natur entspannt das Problem gar nicht an sich heranzu- das nicht mitmacht und sich wehrt.“ Viele sehen die lassen, wird wunderbar meditiert, aber nichts ver- Klinik als Reparaturwerkstatt und hoffen, schnell ändert.“ Meditation werde dann als Kuschelecke wieder fit zu werden, um weitermachen zu können. missbraucht, in der man sich regeneriert, ohne an- Sich einzugestehen, dass Burnout kein kleiner Schwä- stehende Veränderungen anzupacken. Um nicht cheanfall ist, sondern möglicherweise ein ganzes Le- gleich im nächsten Burnout zu landen, könne es wich- benskonzept infrage stellt, sei ein schmerzhafter tig sein, den eigenen Gestaltungsspielraum zu nutzen Lernprozess. und mit dem Vorgesetzten über eine neue Aufgaben- verteilung und andere Arbeitszeiten zu verhandeln. Gunther Schmidt geht es in der therapeutischen „Achtsamkeit sollte nicht zum Fluchtweg werden. Arbeit darum, die inneren Antreiber zu erkennen, Dann kann sie sogar kontraproduktiv werden“, sagt die Menschen dazu bringen, über ihre Grenzen zu Middendorf. gehen und sämtliche Stoppsignale zu ignorieren. Das sieht auch Middendorf so. Er hält die Fähigkeit, nein Ob mithilfe von Achtsamkeit, hypnosystemischer sagen zu können, für einen goldenen Schlüssel in der Balance oder Verhaltenstherapie, letztlich geht es bei Burnoutbehandlung. Der Mediziner zitiert gerne den allen therapeutischen Ansätzen darum, verschütte- Satz: „Nein ist das beste orale Burnoutverhütungs- te Stärken wieder zu entdecken, Kraftquellen zu ak- mittel.“ In der Therapie lernen seine Patienten, zu tivieren, einen gesünderen Umgang mit Belastungen überhöhten inneren Ansprüchen nein zu sagen. In zu finden und wieder in Balance zu kommen. Gun- der Praxis heißt das zum Beispiel: den Bericht abge- ther Schmidt unterstützt seine Klienten, aus der ne- gativen Selbstsuggestion, die ihnen ständig vorgau- kelt, nicht gut genug zu sein, auszusteigen und eine neue Sensibilität für die wertvollen Signale des Kör- pers zu entwickeln. „Wenn ich auf meine Körperre- aktionen achte und spüre, wie weit ich gehen kann20 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Burnoutkompe- und wann ich mich übernehme, ist das eine Stärke tenz: Anerkennen, und keine Schwäche. Dann bin ich relativ gut vor dass man nicht Burnout geschützt.“ Gunther Schmidt nennt das „die alles schaffen kann, eigene Endlichkeit anerkennen“. Ich erkenne an, dass und auf die wert- ich nicht alles schaffen kann, und akzeptiere meine vollen Signale des Begrenztheit mit Würde und Stolz. „In unserer ge- Körpers achten sellschaftlichen Ideologie wird Endlichkeit tabui- siert. Wir tun so, als gäbe es keine Grenzen. Doch das stimmt nicht. Burnout spiegelt auf der individuellen Ebene unser kultu- relles Muster, das Begrenzungen leugnet. Insofern ist Burnout auch eine Chance für Kulturveränderungsprozesse.“ Zu seinem Engagement für Burnout- erkrankte gehört für Gunther Schmidt auch, die Strukturen zu sehen, die Burnout begünstigen. „Unternehmen müssen lernen, Mitarbeiter, die mit Erschöpfung reagieren, nicht als schwach, faul oder unmotiviert ab- zustempeln. Burnoutsignale sind wichtige Informationen für eine Orga- nisation, die signalisieren, was man an der Ar- beitsverteilung, der Kommunikation und am Kli- ma verbessern kann“, sagt Schmidt. Mangelnde Transparenz, Entscheidungen, die als unfair emp- funden werden, unklare Arbeitsaufträge, fehlende Anerkennung, kaum Gestaltungsspielraum, zu we- nig Ressourcen, um den Anforderungen gerecht zu werden, ständige Umstrukturierungen, Personalab- bau. All das sind Risikofaktoren für Burnout in Un- ternehmen und Organisationen. Obwohl in einigen Führungsetagen die Erkennt- nis angekommen ist, dass Stressbewältigungskurse allein nicht ausreichen und sich auch an Arbeitszei- ten und Arbeitsstrukturen etwas ändern muss, lan- den die meisten Unternehmen in der Individualisie- rungsfalle und erwarten von ihren Mitarbeitern ein- seitig ein besseres Stressmanagement. „So wie Pati- enten sich nicht gerne infrage stellen, ist die Frage, wie sich die Mitarbeiter fühlen und ob sie genügend Gestaltungsspielraum, Fairness, Transparenz und Anerkennung bekommen, in Unternehmen auch nicht sehr beliebt“, sagt Christoph Middendorf. „Die Mitarbeiter sollen funktionieren und schnell und effizient die Ziele erreichen.“ Burnout sei aber immer ein Zusammenspiel von äußeren und inneren Fak- toren. Auch resiliente, also belastbare Menschen mit einer robusten Grundausstattung und einem stabi- len sozialen Umfeld können in schwierigen Organi- sationsstrukturen an Burnout erkranken.PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 21

TITEL „Ich kann unmöglich allem gerecht werden“ Wer ausgebrannt ist, hat sich vorher für eine Sache von Herzen engagiert, hat loyal und solidarisch gehandelt. Der Arzt und Psychotherapeut Gunther Schmidt kann darin kein Versagen sehenHerr Schmidt, Sie überraschen in Ihren Vorträgen Gunther Schmidt, das ähnlich wie eine Warnblinkanlage auf eine Ge- Facharzt für psycho- fahr hinweist und signalisiert: „So kannst du nichtdamit, dass Sie Burnout als Kompetenz bezeich- somatische Medizin weitermachen.“ Burnout wäre demnach ein Ver- und Psychotherapie,nen. Das klingt provokativ. Denn die Betroffenen such unseres Systems, wieder ins Gleichgewicht leitet das Milton-erleben sich als kraftlos, schwach und unfähig. Erickson-Institut Hei- zu kommen? delberg und ist ärzt-Warum sprechen Sie dennoch von Kompetenz? Wenn Klienten mir erzählen, dass sie versagt haben, licher Direktor der sage ich: „Nicht Sie haben versagt, etwas in IhnenMir ist bewusst, dass diese Formulierung zu Miss- sysTeliosKlinik für hat sich versagt, aus sehr guten Gründen, um Ihreverständnissen einlädt. Man könnte auf die Idee psychosomatische Gesundheit zu erhalten. Sie haben nur die wertvollenkommen, dass ich das Leiden, die Erschöpfung, die Gesundheitsentwick- Informationen, die Ihr Körper Ihnen sendet, nochSinnlosigkeitsgefühle und die Selbstzweifel der Be- lung und Kompetenz- nicht beachtet, aber wenn Sie das jetzt tun, kann ei-troffenen nicht ernst nehme. Tatsächlich spreche ich ne neue Balance entstehen.“ Eine starke Identifika-bewusst von Kompetenz, um die Menschen, die entfaltung. tion mit Leistung, perfektionistische Ansprüche, ho-Burnoutsymptome entwickelt haben, zu würdigen. he Einsatzbereitschaft, ein ausgeprägtes Verantwor-Diese Patienten werten sich selbst massiv ab, fühlen tungsgefühl, das alles kann Burnout begünstigen.sich als Versager und sind mit kränkenden Kom- Auch diese Aspekte sollten als wertvolle Kompeten-mentaren wie „Der ist nicht mehr belastbar. Der zen gewürdigt werden, die das hohe Engagement derkriegt seine Arbeit nicht mehr auf die Reihe“ kon- Betroffenen widerspiegeln. Mir ist jedoch wichtig,frontiert. Mir liegt sehr viel daran, diesen Selbst- und nicht nur die individuelle, intrapsychische DynamikFremdabwertungen mit einem ressourcenorientier- im Blick zu haben, sondern auch die Organisations-ten Verständnis entgegenzuwirken. Wer einen Burn- dynamik am Arbeitsplatz. Man entwickelt nicht ein-out entwickelt, fühlt sich vollkommen erschöpft, fach losgelöst als Individuum einen Burnout. Dazuerlebt alle Anforderungen als Qual, zieht sich zurück, gehören auch entsprechende Situationsbedingungen.sieht keinen Sinn mehr, wird vielleicht zynisch und Eine hohe Arbeitsbelastung ist nicht per se ein Pro-erlebt gleichzeitig einen enormen inneren Druck, blem. Gefährlich wird es, wenn die eigenen Gestal-etwas ändern zu müssen. Dass jemand in dieser Spi- tungs- und Einflussmöglichkeiten kleiner werdenrale landet, ist jedoch auch ein Ausdruck von Kom- und die verfügbaren Ressourcen nicht ausreichen,petenz. Der Organismus reagiert auf eine als uner- die Arbeit zu bewältigen. Wenn jemand in einemträglich empfundene Situation mit Erschöpfung, Burnout landet, ist das nicht nur ein individuellesSchwäche und Antriebslosigkeit. Diese Symptomegehören zu einem kompetenten Rückmeldesystem,22 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Problem. Die Erkrankung weist auch auf notwendi- Ich prakti- che ich von Burnout als Kompetenz. Es ist doch etwasge Veränderungen in der Organisation hin. ziere Metazu- Positives, wenn Menschen nicht nur an ihren eigenen friedenheit: Vorteil denken, sondern auch Verantwortung für an-Das wird aber in vielen Unternehmen nicht so ge- Ich bin ganz dere und für höhere Ziele übernehmen. Gebende Be- ziehungen sind extrem wichtig für eine funktionie-sehen. Burnout wird immer noch als individuelle zufrieden rende Gesellschaft und das persönliche Wohlergehen. damit, dass Entscheidend ist, wieder in Balance zu kommen.Schwäche abgetan, den Betroffenen wird gera- ich nicht ganz zufrieden bin Sie sprechen von einem zermürbenden innerenten, ihr Stress- und Zeitmanagement zu verbes- Krieg, der alle Kräfte bindet. Wer kämpft gegensern und sich besser zu erholen. wen?Es gibt immer eine Wechselwirkung zwischender inneren und der äußeren Dynamik. Die Be- Typischerweise gibt es mindestens zwei innere Frak-troffenen haben den Eindruck, dass die Situa- tionen, die sich bekämpfen. Eine Seite sagt, eigentlichtion am Arbeitsplatz sie fertigmacht. Tatsäch- macht das alles so schon lange keinen Sinn mehr, ichlich gibt es Arbeitsbedingungen, die Men- bin müde und kraftlos, ich schleppe mich nur nochschen in massive Zwickmühlen bringen. Die zur Arbeit, ich habe gar keine Freizeit mehr, ich müss-Anforderungen sind oft schlicht nicht zu te dringend etwas ändern. Doch eine andere, pflicht-erfüllen oder in sich vollkommen wider- bewusste, loyale Seite protestiert und fordert gna-sprüchlich. Ein schlechtes Arbeitsklima, denlos: Das geht nicht, du musst weitermachen. Somangelnde Fairness, fehlende Anerkennung beginnt ein zermürbender innerer Ambivalenzkrieg,und Transparenz können sehr belasten. Was der auf Dauer erschöpft. Dieser Kampf ist oft einaber letztlich zur Erschöpfung beiträgt, ist ein innerer Ausdruck äußerer Zwickmühlen, die in deraufreibender, scheinbar niemals endender inne- Organisationsstruktur liegen. Lehrer beispielsweiserer Kampf. Es sind typischerweise vor allem sehr werden von Schülern, Eltern, Kollegen und der Schul-engagierte, leistungsbereite und solidarische Men- leitung mit vollkommen widersprüchlichen Erwar-schen, die in einem Burnout landen. Wer mit der tungen konfrontiert. Sie können es nie allen rechtArbeitseinstellung rangeht, ich tue, was ich kann, machen. Ebenso Führungskräfte im mittleren Ma-und was ich heute nicht schaffe, erledige ich morgenoder übermorgen, ist gut geschützt.Es sind also eher die Perfektionisten und Idealis-ten, die gefährdet sind?In der Klinik begegne ich vor allem Menschen, diesich für ein höheres Ziel engagiert und für etwas ge-glüht haben. Sie wollten etwas bewegen, das weit übersie und ihr persönliches Interesse hinausgeht. Unddann machen sie häufig enttäuschende Erfahrungen.Die Kollegen kommentieren ihr ausgeprägtes Enga-gement eher negativ. Und sie erzielen wegen der Wi-dersprüche in der Organisation nicht die Ergebnisse,die sie sich erhoffen. Wenn sie merken, dass sie nichtso viel bewegen können wie erhofft, ziehen sie darausdie Schlussfolgerung, dass sie noch nicht genug getanhaben. Sie puschen sich, verdoppeln ihre Anstren-gung, ihr perfektionistischer Antreiber, der sich fürsehr gute Ergebnisse einsetzt, wird durch die Ent-täuschung angestachelt. Sie steigern ihren Arbeits-einsatz, vergessen Pausen, machen Überstunden,überhören die Signale ihres Körpers, vernachlässigenFamilie und Freunde und beuten sich gewissermaßenselbst aus. In unserer Gesellschaft gibt es viele, die sagen,schön blöd, wenn sich jemand so verausgabt und zuwenig an sich denkt. Ich finde jedoch, dass diesesEngagement, das aus Loyalität und Solidarität herausentsteht, gewürdigt werden sollte. Auch deshalb spre-PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 23

TITELnagement, die ihren Mitarbeitern Entscheidungen Mein produziert zusätzlichen Druck, weil Entspannung invon oben verkaufen sollen, die ihnen völlig gegen den Kriterium fürStrich gehen. Wer besonders engagiert und loyal ist, dieser Situation gar nicht möglich ist. Die Menschen,nimmt diese Zwickmühlen, bildlich gesprochen, relativemental in sich hinein und versucht sie mit erhöhtem Zufriedenheit mit denen ich zu tun habe, haben alles über Stress-Engagement zu lösen. Aber auf dieser Ebene ist derKonflikt gar nicht lösbar. Bei Burnoutentwicklungen ist nicht und Zeitmanagement gelesen, sie scheitern jedochgeht es nach meinen Erfahrungen so gut wie immer Erfolg,um Sinnkrisen. sondern die an der Umsetzung, weil die unwillkürlichen Bedürf- Frage, obDie Lösung wäre vermutlich Abgrenzung. Aber das, was nisse dadurch nicht beruhigt werden. Erst wenn die ich tue,genau daran scheitern viele. sinnvoll ist grundsätzlichen Zwickmühlen aufgelöst sind, wennEs ist auch nicht leicht, weil gerade die erhöhte Be- in den schon angesprochenen Sinnkrisen ein neuer,reitschaft, Verantwortung zu übernehmen, dazuführt, dass Menschen widersprüchliche Erwartungen stimmiger Sinn entwickelt werden kann, hat diesals unauflösbare Zwickmühle erleben. Eine Füh-rungskraft im mittleren Management müsste sich entscheidende innere Befriedung und Erleichterungsagen, ich mache meinen Job, ich gebe weiter, wasoben entschieden wurde, aber ich ziehe mir den Schuh zur Folge. Sofort entsteht ein Gefühl von Würde, undnicht an, denn ich habe diese Entscheidung nicht ge-troffen. Die Führungskräfte, die in einem Burnout aus diesem Erleben von Würde entwickelt sichlanden, fühlen sich jedoch sehr empathisch mit ihrenMitarbeitern verbunden und wollen gleichzeitig die interessanterweise erst die Kraft, die man für denErwartungen der Leitung erfüllen. Diese Interessen-konf likte mahlen wie zwei Mühlsteine gegeneinander. Umgang mit den Herausforderungen und für denDie Betroffenen versuchen, den Konflikt selbst zulösen. Wenn das nicht funktioniert – und es kann optimalen Umgang mit den Zwickmühlen in dernicht funktionieren –, beginnt die Selbstabwertung.Die Klienten erzählen mir dann, dass sie schon mor- Organisation braucht.gens beim Aufstehen fix und fertig sind und keineEnergie für gar nichts haben. Wenn ich sie dann fra- Sie leiten eine Klinik und das Milton-Erickson-In-ge, wie sie das finden und was sie über sich selbstdenken, antworten mir die meisten, dass sie sich Vor- stitut, Sie sind ein gefragter Vortragsredner, vielwürfe machen und es schrecklich finden, dass sie soschwach sind. Sie haben das nagende Gefühl, das unterwegs und haben sicher keinen Achtstunden-Falsche zu tun und entweder am Arbeitsplatz oderin der Familie nicht zu genügen. Wichtig ist, diese tag. Wie sieht Ihre persönliche Burnoutprophy-Zerrissenheit und die daraus resultierende Erschöp-fung nicht als Schwäche abzutun, sondern sie zu über- laxe aus?setzen als wertvolle Kompetenz. Ich sage den Men-schen dann: „Ihr kluger Organismus schickt kom- Ich habe oft Dreizehnstundentage und nicht immerpetente Rückmeldungen und sagt Ihnen, dass er imUmgang mit dieser Zwickmühle von Ihnen etwas eine Fünftagewoche. Aber es kommt nicht auf dieanderes braucht und dass es intuitiv keinen Sinn mehrmacht, Ihre Situation auf diese Weise anzugehen.“ Quantität an. Für mich ist entscheidend, dass ichSagt der Organismus: Ich brauche inneren Ab- meine Arbeit als sinnvoll erlebe. Ich bin als Selbstän-stand und Entspannung? diger in der privilegierten Situation, nur das zu ma-Oft wird den Leuten geraten, sie sollen sich entspan- chen, wofür ich mich autonom entschieden habe. Ichnen. Aber das ist kontraproduktiv, denn sie wollenihre Zwickmühle lösen, vorher können sie sich nicht kann unmöglich allen und allem gerecht werden.entspannen. Wie soll jemand, der einen massiven in-neren Konflikt hat, sich entspannen? Der vielleicht Deshalb führe ich innere Dialoge mit mir und wen-gut gemeinte Rat „Jetzt entspann dich doch mal“ de dabei natürlich meine eigenen Konzepte an. Eins nenne ich Metabalance. Das heißt, ich bin in Balan- ce, akzeptiere mich aber auch, wenn ich mal wieder ins Schleudern komme. Und ich praktiziere Meta- zufriedenheit, das heißt, ich bin ganz zufrieden da- mit, dass ich nicht ganz zufrieden bin, denn ich kann machen, was ich will, irgendwem werde ich immer nicht gerecht, selbst wenn mein Tag 70 Stunden hät- te. Ich tue nach bestem Wissen und Gewissen, was mir möglich ist, erkenne meine Endlichkeit an und sage, mehr geht jetzt nicht. Wenn mein Organismus sagt, jetzt reicht es, sonst kriegst du die Konventio- nalstrafe, zum Beispiel Kopfschmerz, dann sage ich: Danke lieber Organismus, und dann muss ich damit leben, dass ich etwas nicht schaffe, was es wert gewe- sen wäre. Mein Kriterium für relative Zufriedenheit ist nicht Erfolg, sondern die Frage, ob das, was ich tue, sinnvoll ist. Selbst wenn etwas nicht klappt, wür- dige ich mich dafür, dass ich es überhaupt versucht habe, und tröste mich. Meistens gelingt mir das, manchmal drehe ich auch eine Ehrenrunde im Ha- dern. INTERVIEW: BIRGIT SCHÖNBERGER24 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

SIND SIE BURNOUT-GEFÄHRDET?Bitte beantworten Sie alle Fragen, und kreuzen Sie spontan ohne langes Überlegen an:1. Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen alles zu viel wird? nein eher eher ja nein ja2. Sind Sie gereizter als früher? 0 4 63. Haben Sie Freude an Ihrer Arbeit? 0 2 34. Sind Sie ständig niedergeschlagen? 3 2 05. Fühlen Sie sich zu erschöpft für Freizeitaktivitäten? 0 1 1 36. Häufen sich in den letzten Monaten körperliche Symptome? 0 2 2 37. Ziehen Sie sich zunehmend von Ihrem Freundeskreis 0 1 2 6 0 1 4 3 zurück? 2 28. Greifen Sie häufiger als früher zu Alkohol? 0 1 69. Haben Sie Hoffnung, dass Sie etwas ändern können? 3 010. Haben Sie neue Pläne? 3 24 011. Schlafen Sie gut? 6 21 012. Haben Sie Zeit für den Partner? 3 21 013. Stellen Sie dafür oder zu anderen wichtigen 6 42 0 21 Gelegenheiten das Handy aus? 0 42 314. Fühlen Sie sich innerlich leer? 0 315. Treten Ängste auf, die Sie früher nicht kannten? 0 12 316. Kommt Ihnen alles sinnlos vor? 0 12 317. Fühlen Sie sich ständig unter Spannung? 6 12 018. Spüren Sie Rückhalt beim Partner 12 0 42 3 beziehungsweise bei Freunden? 0 12 319. Haben Sie das Gefühl, Pausen sind für Sie 12 verschwendete Zeit?20. Nehmen Sie Schlaf- oder Beruhigungsmittel?Auswertung: 35–49 Punkte: Sie sind burnoutgefährdet.Zählen Sie bitte die einzelnen Zahlen der von Beachten Sie, dass Burnout eine schleichendeIhnen angekreuzten Felder zusammen, und Symptomatik hat und Sie jetzt noch gut rea-schauen Sie nach, in welchen Bereich Ihre gieren können.Additionssumme fällt. Lesen Sie dort nach.Das Ergebnis sollten Sie dann gegebenenfalls 50–78 Punkte: Sie sind stark burnoutgefährdetmit einer kompetenten Person, zum BeispielIhrem Hausarzt besprechen. und schon im Begriff „auszubrennen“; je früher0–15 Punkte: Sie meistern Ihre Herausforderun- und mutiger Sie sich das eingestehen, umsogen mit wirksamen Strategien und pflegen IhrLeben und Ihr Umfeld. Gratulation! rascher erhalten Sie wirkungsvolle Hilfe und die notwendige Behandlung. PH MANFRED NELTING16–34 Punkte: Sie sollten auf sich achten, um Quelle: Manfred Nelting: Burn-out. Wenn dieeinem Burnout vorzubeugen; Sie haben hierfür Maske zerbricht. Wie man Überbelastung erkenntgute Möglichkeiten, nutzen Sie sie! und neue Wege geht. Goldman, München 2014PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 25

Der achtlose Umgang mit derAchtsamkeit Achtsamkeit ist angesagt.Kaum ein Ratgeber kommt ohneVerweis darauf aus, immer neue Trainingsmethoden entstehen, und selbst aus der Psychologie ist das Thema nicht mehr wegzudenken. Aber: Hat das alles noch einen Bezug zur Grundidee des Konzeptes? VON ANDREAS KNUFE igentlichbeganndieKarrierederAcht- Bewusstheitsübungen bestand. Mit den Teilnehmen- samkeit recht unspektakulär irgend- den vereinbarte er ein wöchentliches Treffen und wann in den 1970er Jahren. Ein ame- ermunterte sie, zwischen den Terminen täglich so- rikanischer Molekularbiologe kehrte genannte Achtsamkeitsübungen zu praktizieren. Sei- damals nach längeren Meditationsse- ne Methode nannte er akademisch-trocken MBSRminaren in Asien in seine Klinik zurück und über- – mindfulness-based stress reduction, zu Deutsch: acht-legte, wie er auch seine Patienten an die gelernten samkeitsbasierte Stressreduktion.Methoden heranführen könnte. Was er als hilfreicherlebt hatte, würde möglicherweise auch ihnen hel- Lange Zeit, so erzählt Jon Kabat-Zinn, von demfen, mit Stress und psychosomatischen Erkrankun- hier die Rede ist, habe diese, seine erste Gruppe etwagen besser zurechtzukommen, so sein Gedanke. in dem Rhythmus Nachwuchs bekommen, wie er bei Elefanten üblich ist: Alle paar Jahre wurde ir- Da er der Meinung war, dass sich seine Patienten gendwo ein weiteres MBSR-Training angeboten.wohl eher nicht tagelang auf Meditationskissen set- Doch dann geschah das Unerwartete: Eines Tageszen würden, entwickelte er ein recht überschaubares vermehrten sich die Elefanten plötzlich wie die Ka-Programm über acht Wochen, das vor allem aus Ele- ninchen. Von überall auf der Welt erhielt Kabat-Zinnmenten der Vipassana-Meditation, Hatha-Yoga und Anfragen, er wurde zu einem der weltweit gefragtes-26 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

ILLUSTR ATIONEN: JAN RIECKHOFF Dass Achtsam- dazu unter anderem Dax-Konzerne wie Siemens oder keit sich als RWE. Mainstreambe- wegung eignet, Auch aus der modernen Psychotherapie und der war lange Zeit Arbeit in psychosomatischen Kliniken ist das Kon- unvorstellbar. zept nicht mehr wegzudenken. Inzwischen sind Be- Noch vor weni- handlungsansätze für fast alle Krankheitsbilder ent- gen Jahren galt wickelt worden, darunter Depressionen, Suchter- das Konzept krankungen und Angststörungen. War Achtsamkeit als esoterisch- früher eine fast schon belächelte Randerscheinung anrüchig eher unbekannter Therapiemethoden wie Hakomi oder Focusing, ist sie heute Bestandteil der moder- ten Referenten. Heute ist Achtsamkeit längst zu ei- nen Verhaltenstherapie, dem Inbegriff wissenschaft- nem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden. lich anerkannter Psychotherapie. Nicht nur MBSR-Gruppen entstanden in den ver- Dass Achtsamkeit sich als Mainstreambewegung gangenen Jahren zu Tausenden überall auf der Welt, eignet, war lange unvorstellbar. Vor 2600 Jahren von es wurden auch Dutzende von Achtsamkeitsschu- Buddha gelehrt, um eine grundlegende spirituelle lungen für verschiedenste Zielgruppen entwickelt Vertiefung zu erfahren, galt Achtsamkeit bis vor we- – von Eltern über Kinder zu Kindergärtnerinnen, nigen Jahren noch als esoterisch-anrüchig. Thera- Polizisten und so weiter. Vor allem an Schulen und peuten, die sich mit buddhistischer Psychologie und im Managementbereich liegt Achtsamkeit im Trend. Meditation befassten, sprachen nur hinter vorge- Das amerikanische Programm MindUP hat entspre- haltener Hand über solche Ansätze, zu groß war die chende Kurse bereits an mehr als 1000 Schulen durch- Gefahr, als unwissenschaftlich disqualifiziert zu geführt. Besonders bekannt wurde das Google-Pro- werden. Zudem ist Achtsamkeit, wenn sie richtig jekt Search inside yourself, ein Acht-Wochen-Training praktiziert wird, eine anspruchsvolle Angelegenheit, für Mitarbeitende des Internetriesen. Hunderte von geht es doch um eine nicht bewertende Präsenz im Unternehmen haben Achtsamkeit als Ressource für gegenwärtigen Moment. Was zunächst fast banal ihre Mitarbeiter entdeckt; in Deutschland zählen klingen mag, ist bei genauerer Betrachtung ausge- sprochen schwierig: Kaum jemand ist ohne Training in der Lage, längere Zeit im Augenblick zu verweilen und sich allen aufkommenden Empfindungen an- nehmend zu öffnen. Die Gründe für den Achtsamkeitsboom vor allem in den westlichen säkularisierten Industrienationen sind vielfältig. Einer ist sicher die zunehmende Acht- losigkeit in unserer Kultur. Wer im Multitasking- Modus gar nicht mehr mitbekommt, wie das teure Sushi eigentlich schmeckt, der mag sich nach der Einfachheit der reinen Wahrnehmung sehnen. Dau- eraktivität führt zwangsläufig irgendwann zur Er- schöpfung. Der Achtsamkeitsansatz ist die Gegen- bewegung. Ihm zu folgen kann helfen, sich nicht länger von To-do-Listen durchs Leben jagen zu las- sen, sondern wieder Zugang zur eigenen inneren Welt zu erhalten und sich vor Reizüberflutung und Be- schleunigung zu schützen – eine Form der Selbstre- gulation in einer vom Stress übersteuerten Gesell- schaft. Vielerorts ist die Buddhafigur zum Inbegriff der Sehnsucht nach mehr Gelassenheit und Bewusstheit geworden. Aber auch spirituelle Bedürfnisse erfüllt das Achtsamkeitskonzept – und zwar ohne einen religiösen Überbau, dem viele Menschen heute kei- PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 27

Gegenbewegung zurAlltagshektik:Achtsamkeit soll ineiner reizüberflutetenWelt einen Zugangzur eigenen innerenWelt schaffennen Glauben mehr schenken können. Meditation istein Ersatz für klassische christliche Rituale, zu denensie keinen Bezug mehr haben. Während in den USA und England bereits seitlängerem kritische Stimmen zu diesem Hype um dieAchtsamkeit zu hören sind, sind sie im deutschspra-chigen Raum noch verhalten – doch es gibt sie. Vonbuddhistischer Seite wird vor allem angemerkt, dasses sich dabei auch um ein ethisches Konzept hande-le, das eine von Mitgefühl und Toleranz geprägteHaltung umfasst. Im Westen werde Achtsamkeit aberin erster Linie auf Entspannung und Konzentrationreduziert.Kritik kommt auch aus der WissenschaftErfahrene Meditationslehrer machen darauf auf- Selbstoptimierungskultur geworden, zu der sie ur-merksam, dass es sich bei Meditation um einen sehr sprünglich einen Gegenpol bildete.langwierigen und intensiven Prozess handelt. So be-schreibt Andreas Remmel, der eine psychosomatische Achtsamkeitstrainings werden von ArbeitgebernKlinik in Österreich leitet, Achtsamkeit als einen finanziert, um die Leistungsfähigkeit ihrer Angestell-längerfristigen und anstrengenden Weg, der in der ten zu steigern. Achtsamkeit ist zu einem Produkt,Regel mit langjähriger Praxis verbunden sei. Nicht wie jedes andere auch geworden, das konsumiert wer-zuletzt kommen kritische Anmerkungen von wis- den kann, um noch besser zu funktionieren. Die Ver-senschaftlicher Seite, denn die Studienlage ist alles sprechen, die sich in Seminarprospekten und aufandere als eindeutig. Zwar werden Effekte nachge- Internetseiten finden, haben mit Achtsamkeit häufigwiesen, doch diese sind längst nicht so umfassend, nichts mehr zu tun.wie teilweise suggeriert wird (siehe Interview, S. 30).Viele hatten die Hoffnung, dass Achtsamkeit in der Statt zu lernen, sich allen Empfindungen offenLage ist, wieder die richtige Balance von Anspannung zuzuwenden, wird mit einem Mehr an positiven Ge-und Entspannung, Stress und Erholung, gedankli- fühlen gelockt. Statt den eigenen Geist besser beob-cher Aktivität und innerer Ruhe herzustellen. Doch achten und sich so von seinen Inhalten distanzierenseitdem sie nicht nur spirituelle Sucher, sondern zu- zu können, soll die Konzentrationsfähigkeit gefördertnehmend die Masse anspricht, ist auch ein Phänomen werden. Und das Ganze auf die Schnelle. Selbst einmit dem Spottnamen McMindfulness entstanden: Acht-Wochen-Kurs scheint mancherorts viel zu langAchtsamkeit ist selbst Teil der Beschleunigungs- und zu sein; stattdessen ist teilweise von Drei-Minuten- Achtsamkeit die Rede.28 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Der Achtsamkeitsforscher Stefan Schmidt vom WAS BEZEICHNETUniversitätsklinikum Freiburg klagt, dass Meditati- ACHTSAMKEIT GENAU?on für die Systemerhaltung instrumentalisiert werdeund wir quasi gezwungen würden zu meditieren, um Der Begriff Achtsamkeit ist die Übersetzung des„wieder fit zu werden und den nicht menschenge- englischen Wortes mindfulness und darf nicht mitmäßenTakt halten zu können“. McMindfulness nutzt unserem umgangssprachlichen Verständnis vonAchtsamkeit für die Belange der modernen Leistungs- Achtsamkeit im Sinne von „vorsichtig“, „konzent-gesellschaft. Jede ethische Reflektion, jedes spiritu- riert“ oder auch „respektvoll“ verwechselt werden.elle Anliegen verschwindet dabei. In Achtsamkeitstrainings lernen die Teilnehmen- Vor einigen Jahren stellte das amerikanische Mi- den, bei dem zu verweilen, was sie in dem Moment,litär mehrere Millionen Dollar zur Verfügung, um jetzt gerade wahrnehmen, auch wenn es ein unan-ein Acht-Wochen-Programm für Soldaten zu entwi- genehmes Gefühl oder Langeweile sein mag. Sieckeln. Das sogenannte Mindfulness-based Mind Fit- wenden sich also genau dem zu, was in einer be-ness Training (MMFT) hat nicht nur das Ziel, die schleunigten und reizüberfluteten Gesellschaftpsychische Widerstandskraft von Soldaten zu fördern meist vermieden wird: dem Jetzt.und posttraumatischen Belastungsstörungen vorzu-beugen; auch die Leistungsfähigkeit im Kampfeinsatz Sie lernen, Tätigkeiten wie Treppensteigen oder Es-soll so verbessert werden. Spätestens bei diesem An- sen achtsam, also bewusst auszuführen, ohne dabeisatz dürfte manchem Achtsamkeitslehrer mulmig zu telefonieren oder den morgigen Tag zu planen.zumute werden. Aber auch Gedanken oder Gefühle sollen sie wahr- nehmen, ohne sie sofort mit Fernsehkonsum oderAndreas Knuf ist als Psychologischer Psychotherapeut in eige- Internetshopping zu unterdrücken.ner Praxis in Konstanz tätig. Daneben bildet er Mitarbeitendepsychiatrischer Einrichtungen unter anderem in Achtsamkeits- Das Ziel der Übungen ist, sich den eigenen Empfin-konzepten aus. Er ist Autor des Buches Ruhe da oben! Der Weg dungen annehmend und offen zuzuwenden, ohnezu einem gelassenen Geist (Arbor 2010). sie zu bewerten oder sofort verändern zu müssen. Achtsamkeit soll unter anderem zu mehr innererLITERATUR Gelassenheit und Gleichmut führen. Die Identifika- tion mit Gedanken nimmt im Idealfall ab, unange-Chade-Meng Tan: Search Inside Yourself: Optimiere dein Leben nehme Gefühle lassen sich leichter ertragen, unddurch Achtsamkeit. Goldmann 2015 die Körperwahrnehmung verbessert sich.Stefan Schmidt: Vom Meditieren in der beschleunigten Leis- ANDREAS KNUFtungsgesellschaft. Kulturveränderung oder Konsumprodukt?Buddhismus aktuell, 2, 2015, 22–25Resilienz leicht 48 Seiten | € 9,99 [D] | ISBN 978-3-466-34614-1gemacht Auch als E-Book erhältlich Wie können wir mit Veränderungen umgehen und Krisen unbeschadet überstehen? Jutta Heller erklärt spielerisch leicht, wie Sie Ihre Widerstandskraft stärken und Resilienz auf- bauen: Mit dem Känguru als Vorbild kann jeder seine »Stehaufkompetenz« trainieren. www.koesel.de

H err Grossman, freut Sie der „Der Boom wird Achtsamkeitsboom noch, oder immer wilder“ macht er Ihnen eher Kummer? Der Forscher Paul Grossman wundert sich über die große Beliebtheit des Themas, Seit seinem Beginn mache ich mir Sorgen hinsichtlich einer Verwässerung und Ver- schließlich ist Achtsamkeit kein Wundermittel fälschung des Verständnisses. Aber wenn ich überlege, ob es besser wäre, wenn es ern nur acht Wochen. Was macht das sie nicht zu vermeiden. In einem Acht- diese Bewegung gar nicht gäbe, würde ich Wochen-Kurs kann sich natürlich kein so das wohl verneinen. Achtsamkeit eröffnet für einen Unterschied? intensiver Prozess entfalten wie bei lang- die Möglichkeit, wieder Zugang zu einer jähriger Meditation. So ein Programm anderen Welt als der Materiellen zu ge- Ich glaube, wenn man 30 Jahre meditiert, verändert das Leben nicht grundsätzlich. winnen, nämlich der unserer eigenen, in- wird man einigermaßen bescheiden, was Trotzdem kann es sehr bedeutsam sein. dividuellen inneren Erfahrung – ein von den Erfolg dieses Prozesses im Alltag an- Ich glaube, es geht darum, eine achtsame den Wissenschaften und der Gesellschaft geht. So ist es zumindest mir ergangen. Haltung zu kultivieren, und ein solcher allzu oft vernachlässigter Bereich. Ein we- Aber ich denke auch, dass Meditation Kurs ist ein Anfang, eine Einladung wei- sentlicher Aspekt ist die Erkundung des- Auswirkungen auf mein Leben hat. Als terzumachen. Die Praktiken und die Hal- sen, was wir wahrnehmen, fühlen, denken zum Beispiel meine Frau vor dreieinhalb tung können sich dann über die Jahre im- und glauben. Alle populären Versionen Jahren gestorben ist, hat mir die Medita- mer weiter vertiefen. des Konzeptes enthalten diesen Baustein tionspraxis sehr geholfen, meine Trauer des Sich-nach-innen-Wendens. In dieser tief und bedeutungsvoll zu erfahren und Hinsicht istdassicher einFortschritt. Aber ich habe immer noch die Befürchtung, dass der Kern der Achtsamkeit verloren- geht. Der Boom wird immer wilder. Vielleicht weil so viele sich gestresst fühlen und sich dringend mehr Ent- spannung wünschen? In vieler Hinsicht wird Achtsamkeit heu- te so verstanden und verkauft: Als eine Strategie, um schnell herunterzukommen. Von MBSR-Lehrern habe ich gehört, dass immer mehr Teilnehmer sagen, sie wollten sich vor allem entspannen. Sie suchen ei- ne schnelle und wirkungsvolle Methode, um danach mit ihrem hektischen Leben weitermachen zu können. Das hat mit Achtsamkeit wenig zu tun. Achtsamkeit, so wie ich sie auf der Grundlage der bud- dhistischen Psychologie und meiner per- sönlichen Erfahrungen verstehe, ist die Praxis, sich allen Erfahrungen in wohl- wollender Offenheit zuzuwenden und sie zu erkunden. Dabei ist unwichtig, ob es sich um angenehme, unangenehme oder neutrale Erlebnisse handelt. Manchmal mag diese Praxis zu Entspannung führen, sie führt aber vor allem dazu, toleranter mit den unvermeidbaren und nicht kon- trollierbaren Ereignissen umzugehen, die unser Leben so oft bestimmen. Sie meditieren seit mehr als 30 Jahren. Die meisten Achtsamkeitskurse dau-30 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Sie sind international einer der nam- on für psychische Erkrankungen kein des Themas. Heute geht es in Wissenschaft Wundermittel, aber es gibt in manchen und Forschung um viel Geld, und für Acht-haftesten Forscher zur Achtsamkeit. Studien gute Ergebnisse, die weitere For- samkeit gelingt es derzeit recht gut, Gelder schung sinnvoll machen. einzuwerben. Aufgrund des Booms möch-Wie wirkungsvoll sind denn die kurzen ten sich sehr viele Forscher mit dem The- Das hört sich an, als ließe sich auch mit ma beschäftigen, auch solche, die sich mitAchtsamkeitsprogramme bei der Be- dem Achtsamkeitskonzept gar nicht wirk- einem Kurzprogramm viel erreichen. lich auskennen. Ich möchte nicht sagen,handlung von psychischen Schwierig- dass Studien manipuliert werden, aber es Überhaupt klingt es heute häufig so, werden sicher positive Ergebnisse betont.keiten? Manchmal wird der Eindruck erweckt, als als wäre Achtsamkeit sogar wirkungs- würden günstige Veränderungen bei ei-Im Allgemeinen kann man sagen, dass nigen Patienten beweisen, dass die Me-solche Interventionen wirkungsvoller sind voller als andere Methoden. thode in allen Fällen wirksam ist. Diesesals keine oder placeboähnliche Behand- Problem findet man heute allerdings inlungen, wenn es um psychische Probleme Das ist sicher nicht so. Ich bin den Acht- allen wissenschaftlichen Bereichen.wie Depressionen oder Angst geht oder samkeitsinterventionen zugewandt, aberdarum, ein grundsätzlich beeinträchtigtes ich bin auch Wissenschaftler. Wenn man Sie beklagen, dass der ethische AspektLeben zu verbessern. Wenn man sie mit die Literatur anschaut und die großen Me-anderen, eher unterstützenden Methoden taanalysen betrachtet, zeigt sich eine eher des ursprünglichen Achtsamkeitsan-vergleicht, die keine spezifischen Acht- durchschnittliche Wirksamkeit. Der Wertsamkeitselemente enthalten, psychoedu- der Achtsamkeitsansätze liegt auch darin, satzes im Westen oft verlorengeht.kativen Gruppen mit sozialer Unterstüt- dass sie eine Alternative zu klassischenzung etwa, schneiden sie etwas besser ab. Ansätzen wie Psychotherapie oder Medi- Was fehlt Ihnen genau?Wenn man sie aber mit anderen bewähr- kamenten bieten. In einem Bereich habenten Behandlungen vergleicht, mit kogni- sie sich besonders bewährt. Und zwar hel- In vielen Adaptionen wird Achtsamkeittiver Verhaltenstherapie oder psychody- fen sie Menschen mit schweren Krank- vor allem als Aufmerksamkeitsübung in-namischen Interventionen beispielsweise, heiten wie multipler Sklerose oder Krebs, strumentalisiert. Es gibt aber wesentlichegibt es zumindest über ähnliche Messzeit- besser mit den existenziellen Herausfor- Qualitäten des Phänomens, die weit überräume keinen wirklichen Unterschied, derungen umzugehen, die mit den kör- Entspannung und Konzentration hinaus-was die Verbesserung der psychischen Si- perlichen Beeinträchtigungen verbunden gehen. Es geht um eine relativ unvorein-tuation angeht. Nach allem, was wir heu- sind. MBSR etwa ist das einzige fest eta- genommene Wahrnehmung, die Freund-te wissen, ist Achtsamkeit als Interventi- blierte und evidenzbasierte Programm, lichkeit, Großzügigkeit, Mitgefühl, Tole- das sich mit diesen Problemen auseinan- ranz, Offenheit und Mut einschließt. Die- dersetzt und sich in vielen Studien als hilf- se Qualitäten zusammen ergeben eine reich erwiesen hat. Trotzdem verstehe ich ethische Haltung, und damit meine ich nicht, wie der wahnsinnige Boom in der absolut nichts Religiöses. Diese Haltung Wissenschaft zustande kommt. Die Ef- zu kultivieren ist weit anspruchsvoller, als fektivität von Achtsamkeitsmethoden bei einfach nur aufmerksam zu sein. Die Auf- der Behandlung von rein psychischen Pro- merksamkeit, von der im Achtsamkeits- blemen oder auch als Intervention in der ansatz die Rede ist, ist eine sehr spezifi- Schule ist nicht groß, sondern mittelmä- sche, die von den genannten Herzensqua- ßig, sogar bescheiden. Den Nutzen über- litäten durchdrungen ist. Das ist die ei- trieben darzustellen dient weder den Pa- gentliche Herausforderung von Achtsam- tienten noch den anderen Zielgruppen. keit. PH Und es dient nicht der zukünftigen Ent- wicklung solcher Interventionen, die eine INTERVIEW: ANDREAS KNUF kritische Evaluation benötigen, um ver- bessert werden zu können. Paul Grossman ist Direktor des Europäischen Wenn die Effekte „nur“ durchschnitt- Zentrums für Achtsamkeit in Freiburg und Forschungsleiter lich sind, woher kommt dann der Hype, der Abteilung für Psychoso- matik und innere Medizin am was meinen Sie? Universitätshospital Basel. Als Projektleiter hat er verschiedene wissenschaft- Ich glaube, das hängt mit vielen Faktoren liche Studien zur Wirksamkeit von Achtsamkeit zusammen, unter anderem mit dem bei Fibromyalgie, multipler Sklerose und Krebs Wunsch nach frischen Paradigmen in der begleitet. Der Psychologe ist im Vorstand des Psychologie, interessanter neurowissen- Instituts Mind and Life in Europa. schaftlicher Forschung zur Achtsamkeit, aber auch mit einer guten VermarktungPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 31

PSYCHOLOGIE NACH ZAHLEN SCHLAFGESPINSTE6 MYTHEN RUND UM UNSERE NACHTRUHES chon immer haben Menschen ge- schen, die weniger als sieben, und andere, ten. Doch es gibt ein Zeitfenster für den ILLUSTR ATION: STEFAN BACHMANN rätselt, warum sie schlafen müs- die mehr als acht Stunden Schlaf brau- Tiefschlaf: die Zeit, in der die Körpertem- sen. Heute befasst sich die Wis- chen. Normal und damit gesund kann peratur fällt. Dies geschieht bis nachtssenschaft mit dem Schlaf, und inzwischen alles zwischen fünf und zehn sein. Das zwischen 2 und 4 Uhr. Ab da beginnt siekann sie gut beschreiben, was dabei in glasklare Kriterium für ausreichenden wieder zu steigen, bei Morgentypen frü-Körper und Psyche passiert. Im Schlafla- Schlaf: Die Betroffenen sind tagsüber her, bei Abendtypen später. Der Tempe-bor messen Forscher mittels Elektroen- wach und leistungsfähig, mit Ausnahme raturverlauf bei einem Menschen ist Tagzephalografie (EEG)die elektrischen Ak- des Mittagstiefs. Wer dagegen tagsüber für Tag ziemlich gleich. Das individuelletivitäten des Gehirns, außerdem Augen- regelmäßig müde ist, schläft schlicht zu Minimum verschiebt sich nicht sehr leicht,bewegungen und Muskelspannung, und wenig; dazu gehören viele der Fünf-bis- man nennt es auch „biologische Mitter-vergleichen das mit dem, was die Proban- sechs-Stunden-Schläfer. Sie leben riskant. nacht“. Nach dem Minimum haben Er-den selbst sagen. Einige der alten Ideen Sie erkranken häufiger an Bluthochdruck, wachsene praktisch keinen Tiefschlafhat die Schlafforschung bestätigt, andere Schlaganfällen, Herzinfarkten, sogar mehr, der erholsamste Schlaf findet vor-widerlegt. Dennoch halten sich manche Krebs. Im Mittel sterben sie auch früher. her statt. Insofern stimmt der Großeltern-Mythen über den Schlaf hartnäckig. Eine satz nicht für 24 Uhr, schon gar nicht inAuswahl. 2 DER SCHLAF der Sommerzeit. Für die biologische Mit- VOR MITTERNACHT ternacht gilt er aber.1 ACHT STUNDEN Besorgte Großelternpredigenger- SCHLAF ne, der Schlaf vor Mitternacht sei der bes- 3 ALKOHOL UND Acht Stunden Schlaf seien normal, te. Richtig ist das nicht, glücklicherweise. SCHLAFsagen die Leute – und bewundern alle, Ein Körnchen Wahrheit steckt trotzdem Nein, als Schlafmittel eignet sichdie kürzer schlafen. Doch ganz so klar ist drin, und das liegt am Tiefschlaf. Im Tief- Alkohol nicht. Zwar entspannt Alkoho-die Sache nicht. Statistisch schlafen die schlaf sind die Wellen im EEG besonders lisches körperlich wie seelisch, solange esmeisten Erwachsenen zwischen sieben langsam, das Gehirn beschäftigt sich mit nicht zu viel ist. Und einschlafen könnenund acht Stunden, und das ist tatsächlich sich selbst. Deshalb überhört es dann Ge- wir nur entspannt – sobald wir uns an-auch die Schlafdauer, die die Mehrzahl räusche leichter als im Rest der Nacht. Die spannen oder verspannen, bleiben wirbiologisch benötigt. Es gibt aber Men- Schlafqualität ist in diesen Phasen am bes- ziemlich sicher wach. Insofern kann Al-32 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

kohol das Einschlafen erleichtern, in stra- der Nacht. Während sie schlafwandeln, Dipl.-Soziologin Nadine Labanßenverkehrstauglicher Dosis. Steigt die sind die Betroffenen nur teilweise wach, Heilpraktikerin für PsychotherapieDosis, schwindet der Nutzen für das Ein- ihr Großhirn schläft an einigen Stellen Privatpraxisschlafen. Durchschlafen dagegen wird tief, an anderen aber nicht. Sie bewegen für heilkundliche Psychotherapievom Alkohol meistens gestört – je mehr sich nicht gezielt, sondern automatenhaft. Geschwister-Scholl-Str. 83, PotsdamStoff, umso stärker. Zum einen wacht man Normalerweise finden sie trotzdem gut www.praxis-laban.deauf, sobald die Alkoholwirkung nachlässt, zurück ins Bett. Da ihr Gehirn aber teil-und kann schlecht wieder einschlafen. weise schläft, können sie Gefahren nicht Ich binZum anderen schläft man mit Alkohol erkennen und folgerichtig nicht richtig Mitgliedflacher und erholt sich schlechter. Er be- darauf reagieren. Da werden Treppen, im VFPweilhindert nämlich den Tiefschlaf und pro- Fenster oder Straße schnell zur Falle. Des-duziert immer wieder längere Wachepi- halb muss man Schlafwandler vor Unfäl- ... er meine Interessen souverän vertrittsoden. Je mehr Alkohol, umso intensiver len schützen, vor allem Kinder. Das Wich- ... ich die professionelle Zusammenarbeitstört er den Schlaf, von Rausch und Kater tigste: Türen absperren. Die „schlafwand-ganz zu schweigen. lerische Sicherheit“ ist jedenfalls eindeu- und Unterstützung sehr schätze tig ein Märchen.4 SCHLAFEN ... regelmäßig Symposien stattfinden UND GEWICHT 6 AUFWACHEN UND ... der VFP mit ca. 9.500 Mitgliedern „Vielschläfer sind faul, und auf WEITERSCHLAFENdie Dauer macht viel schlafen auch noch Nachts aufwachen ist noch kein der größte berufsständische Verbanddick.“ Für Schlafverächter ist das Tatsache, Anzeichen für eine Schlafstörung. Nach der Freien Psychotherapie isttatsächlich ist es frei erfunden, und dasauch noch schlecht. Trotzdem haben EEG-Kriterien wachen alle Menschen auf, ... sich immer wieder neue MöglichkeitenSchlaf und Gewicht etwas miteinander zutun. Allerdings ist es genau umgekehrt. bis zu dreißigmal, und das jede Nacht. Das zu Netzwerken ergebenGuter, ausreichender Schlaf macht nicht Informationen über den VFP erhalten Sie hier:nur schlau, aktiv und leistungsfähig. Er Wachsein dauert jedoch nur Sekunden, Verband Freier Psychotherapeuten,hilft auch dem Stoffwechsel und hält die Heilpraktiker für PsychotherapieFigur in Form. Das Gehirn benötigt im höchstens zwei bis drei Minuten. Man und Psychologischer Berater e.V.Schlaf nicht weniger Energie als im Wa- Lister Str. 7, 30163 Hannoverchen. Das sind gut 20 Prozent, obwohl es merkt entweder gar nichts oder stellt es Telefon 05 11 / 3 88 64 24gerade mal anderthalb Kilogramm wiegt. www.vfp.de | [email protected] wird bevorzugt während des fest, dreht sich um und schläft weiter.Schlafes die Nahrung im Darm verdaut, 9)3das entlastet das gesamte System. Und Selbst wer ab und zu nachts länger wach-schließlich verhindert der Schlaf, dass wir bildungshungrig?hungrig werden. Stattdessen fasten wir im liegt, braucht sich nicht zu sorgen. Die wissensdurstig?Schlaf, ohne dass es uns auch nur auffällt.Wer nachts zu lange wach bleibt, wird da- beste Reaktion: sich freuen, dass der We- Beratung | Soziale Arbeit | Therapie | Super-gegen unweigerlich hungrig und muss es- vision | Coaching | Mediation | MBSR-sen. Das sind nicht nur zusätzliche Nähr- cker noch nicht geklingelt hat. Wacht man und AchtsamkeitslehrerIn | Systemischstoffe, es stört auch die Verdauung. Beides lösungsorientierte Therapie- und Beratungs-setzt an. allerdings fast täglich auf, liegt dann mehr konzepte | HeilpraktikerIn (Psychotherapie) Seit über 40 Jahren berufsbegleitende, durch5 DIE BEULEN DER als eine halbe Stunde wach und grübelt Psychotherapeuten- und Landesärztekammer SCHLAFWANDLER Baden-Württemberg akkreditierte Fortbildungs- Bis zu zehn Prozent der Kinder dabei ohne Pause, kann sich das zu einer veranstaltungen.schlafwandeln, Erwachsene erheblich sel- fortbildung1.detener. Manche richten sich nur im Bett Schlafstörung entwickeln. Meist steckt Christian-Belser-Straße 79a | 70597 Stuttgartauf und sagen vielleicht etwas. Einige aberstehen wirklich auf und „wandeln“ umher, akuter Stress dahinter. Der muss das The- Kostenloses Programmheft anfordernalles in den Tiefschlafphasen zu Beginn ma werden, und zwar tagsüber. Die erste Frage ist: Welche Gedanken halten mich nachts wach, was genau geht mir da durch den Kopf? Die zweite: Was kann ich gegen das Problem tun? Oft ist es sinnvoll, sich für die Antwort psychotherapeutische Hilfe zu holen. Ein Schlafmittel ist nur selten angebracht, und auch das für höchs- tens drei Wochen. BARBARA KNAB LITERATUR Jürgen Zulley, Barbara Knab: Die kleine Schlafschu- le. Wege zum guten Schlaf. Herder, Freiburg 2011PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Das schaffen Sie!Sie haben sich vorgenommen, weniger zu essen und zu trinken, mehr Sport zu treiben und das Leben gelassener anzugehen? Das alles kann gelingen. Versprochen! VON JOCHEN METZGERW er in der Lebensmitte einem Terrie Moffitt jedenfalls hat ihre 100 Dollar ILLUSTR ATIONEN: EVA REVOLVER, SEPIA Klassentreffen beiwohnt, er- verloren. Denn die Zahlen offenbarten einen lebt dort ein seltsames Phä- mächtigeren Einflussfaktor als die Intelligenz, näm- nomen: Kein unbekannter lich das Maß an Selbstkontrolle während des Kin- Zeuge würde glauben, dass desalters. Wer seine Impulse mit drei, fünf, siebendie anwesenden Gäste demselben Jahrgang entstam- und neun Jahren kontrollieren konnte, hatte alsmen. Manche wirken frisch, wohlhabend und vital, Erwachsener mit hoher Wahrscheinlichkeit guteandere hingegen sind zeitig gealtert und leiden unter Gesundheitswerte und kaum Probleme mit Alkohol,teils erheblichen sozialen und gesundheitlichen Pro- Zigaretten oder Drogen. Er verdiente mehr Geldblemen. Zwischen einigen der Teilnehmer scheinen als seine einst ungeduldigen, reizbaren und fahrigenzehn Lebensjahre zu liegen. Klassenkameraden. Diese wiederum wurden mit höherer Wahrscheinlichkeit straffällig und zu Warum ist das so? Weshalb werden die einen ge- alleinerziehenden Eltern. Glaubt man diesem Ergeb-sund, glücklich und reich, die anderen hingegen nis, dann ist die früh erworbene Selbstkontrolle einkränklich, verzagt und verschuldet? Liegt es an den Schlüssel zu einem ziemlich glücklichen Leben.Genen? Am sozioökonomischen Status der Eltern?Oder haben manche einfach Glück und andere Pech? Selbstkontrolle bringt uns weiter. Diese Erkennt-„Ich habe mit meinen Kollegen um 100 Dollar ge- nis ist nicht neu. Bereits Walter Mischels berühmtewettet, dass vor allem der IQ für die Unterschiede Marshmallow-Studie weist in diese Richtung:verantwortlich ist“, sagt Terrie Moffitt von der Duke Mischel setzte ab Ende der 1960er Jahre Kinder-University in North Carolina. Ihre Daten zog die Psy- gartenkinder vor eine Süßigkeit. Die Kleinenchologin aus der Dunedin Study, einem statistischen konnten den Marshmallow sofort essen oder eineNibelungenhort für Sozialwissenschaftler. In Dune- Viertelstunde abwarten und dann die doppeltedin, der zweitgrößten Stadt auf der Südinsel Neusee- Menge kassieren. Mischel fand heraus: Kinder,lands, begann man in den frühen 1970er Jahren, mehr die genügend Selbstkontrolle für diese Beloh-als 1000 Kinder eines Jahrgangs regelmäßig auf ihre nungsverzögerung aufbringen konnten, bekamenkörperliche, seelische und soziale Entwicklung hin später bessere Noten und erreichten im Durch-zu vermessen. Diese Datensammlung dauert noch schnitt einen höheren Abschluss (siehe Interviewimmer an, und weil zu all den lästigen Interviews, mit Walter Mischel in Heft 4/2015: „Wir könnenUntersuchungen, Tests und Fragebögen auch ein kos- Selbstkontrolle erlangen, indem wir unsere Gedankentenloser Zahnarzt-Check gehört, erscheinen bis heu- verändern“). Im Jahr 2005 entdeckte die Psychologinte mehr als 90 Prozent der damaligen „Dunedin- Angela Duckworth von der University of Pennsylva-Kinder“ pünktlich zu jeder anberaumten Inspektion. nia, dass Schulerfolge sogar stärker von der Selbst-Die Probanden haben inzwischen das mittlere Er- disziplin der Schüler abhängen als von ihrer Intelli-wachsenenalter erreicht. genz.34 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

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Oh, wie scheuß- lich süß sieht diese Torte aus! Wer Verführungen umbewertet, wird mit der Zeit immun dagegen Im Leben des Einzelnen kommt Selbstkontrolle vielleicht auch unseren Job. Adam und Eva verlorendort ins Spiel, wo wir in Versuchung geraten: beim durch den Biss in den Apfel ihr Bleiberecht im Para-Essen, Trinken, unserem Bedürfnis nach Entspan- dies.nung, bei Sex, Drogen und Ablenkungen durch elek-tronische Medien. Der Psychologe Wilhelm Hofmann Wie können wir es schaffen, solchen Versuchun-bezeichnet solche Begierden als den new hot spot in gen zu widerstehen? Wilhelm Hofmann zeigt, dassder Erforschung der Selbstkontrolle. Wie häufig, so Begierden einen dreistufigen Prozess durchlaufen,fragte sich Hofmann, sind wir im Alltag solchen Ver- bis es zum Sündenfall kommt: Wir müssen zunächstlockungen ausgesetzt? Per Smartphone ließ er seine an den verlockenden Apfel denken. Eine VorstellungProbanden mehrmals täglich einen Fragebogen aus- von ihm muss in unseren Kopf gelangen, sein rot-füllen. Das wichtigste Ergebnis seiner Studie: Etwa wangiges Bild, sein süßer Geschmack, seine Saftig-die Hälfte der Zeit, die wir im Wachzustand verbrin- keit, sein fruchtiger Duft, das knackige Geräusch beimgen, lockt uns irgendetwas, das sofortiges Vergnügen Reinbeißen. Erst danach können wir anfangen, unsverspricht. Man sitzt im Büro und denkt, wie toll es in immer neuen Gedankenschleifen in den unbän-wäre, stattdessen ein Nickerchen zu machen, ein Stück digen Wunsch des Habenwollens hineinzusteigern.Torte zu essen, einen Cappuccino zu trinken – oder Im letzten Schritt folgt schließlich das Ausagierenmit dem Kollegen, der Kollegin aus der Marketing- der Begierde, das Pflücken und Genießen der verbo-abteilung eine Affäre anzufangen. Etwas mehr als 50 tenen Frucht. Umgekehrt bedeutet das: Selbstkont-Prozent dieser Begierden werden von uns als völlig rolle kann auf vielfache Weise gelingen, sie kann anproblemlos eingestuft. Der ganze Rest ist nichts wei- jeder der genannten Phasen ansetzen. Und manchmalter als eine Versuchung, der verbotene Apfel im Gar- kommt es nur darauf an, genau jene Strategie zu fin-ten Eden: Wir würden ja so gerne – aber wir wissen den, die am besten zu einem passt.genau, dass wir über kurz oder lang damit in Schwie-rigkeiten geraten. Wir schaffen unser Pensum nicht, 1. Das Objekt der Begierde meidenwenn wir am Schreibtisch einschlafen oder unsereZeit auf Facebook vertrödeln. Kuchen macht dick, Wer mit dem Rauchen aufhören möchte, sollte kei-vom Rauchen bekommen wir Krebs, der außerehe- ne Zigaretten im Haus haben. Wer abnehmen will,liche Sex am Arbeitsplatz gefährdet unsere Ehe und entfernt am besten die Schokolade aus dem Schrank. Das mögen Ratschläge aus den Kalenderblättern un- serer Großmütter sein – wirksam sind sie dennoch.36 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Die besonders kontrollierten Teilnehmer in Wilhelm Pilotstudie mehr Sport, wenn sie sich derlei positiveHofmanns Studieverfolgten intuitiv genaudieseStra- Bilder mehrmals täglich in Erinnerung riefen. Eintegie: Mit höchster Disziplin kontrollierten sie die zweites Experiment dieser Art konnte den Alkohol-Situationen, in die sie sich begaben. Sie setzten sich konsum starker Trinker um mehr als die Hälfte re-nur selten einer starken Versuchung aus und konnten duzieren – und zwar über einen Zeitraum von meh-so relativ konfliktfrei durch ihren Alltag navigieren. reren Monaten. Wie dieses Vorstellungstraining prak-Auf der anderen Seite des Spektrums fand Hofmann tisch am besten genutzt werden kann, wird derzeitjene Teilnehmer, die ihre Standfestigkeit dramatisch noch erforscht.überschätzten: Sie hielten sich für charakterstark undglaubten, auch der stärksten Versuchung widerstehen 4. Die Dinge mit anderen Augen sehenzu können. Die Folge: Sie räumten die Nougatriegeltrotz ihrer Diät nicht aus dem Schrank – und gaben Diese Methode gehört zur zweiten Phase des Verlan-der naheliegenden Verlockung entsprechend häufig gens: Die Süßigkeit liegt direkt vor uns auf dem Tel-nach. Eine Feldstudie der Cornell University kommt ler, unser Appetit ist bereits erwacht – wie in der obenzum selben Ergebnis: Dort naschten Sekretärinnen erwähnten Marshmallow-Studie von Walter Mischel.im Büro mehr als doppelt so viele Süßigkeiten, nur Dort widerstanden einige Kinder der Versuchung,weil diese in durchsichtigen statt in blickdichten weil sie sich die weißen Stücke nicht als Naschzeug,Behältern auf ihrem Schreibtisch standen. Der sondern als kleine Wolken vorstellten. Neuere Stu-Mensch sieht, was vor Augen ist, und lässt sich leicht dien zeigen, wie diese Umbewertungstechnik funk-davon verführen. tioniert. Sie unterbricht unsere automatisch ablau- fenden inneren Belohnungsprozesse, nimmt der2. Sich ablenken, wenn die Versuchung lockt Schokolade, der Torte, dem Bier einen Teil ihres Glücksversprechens. Verstärkt wird die WirkungKein Mensch kann an hundert Dinge gleichzeitig durch eine Technik, die Psychologen als evaluativedenken – das liegt an unserem Arbeitsgedächtnis, conditioning bezeichnen: Man lernt, einen Konsum-der engen Eingangspforte unseres Bewusstseins. Muss artikel im Geiste mit etwas Unangenehmem zu ver-die Versuchung womöglich draußen bleiben, wenn binden: die Whiskeyflasche mit Bildern eines Ver-wir diesen schmalen Flur mit anderen Gedanken kehrsunfalls, die Zigarette mit Bildern von Krebspa-blockieren? Das wollte Lotte van Dillen von der Uni- tienten im Endstadium. Walter Mischel behauptet,versität Leiden herausfinden. Tatsächlich ließen sich sich mithilfe dieses Tricks das Rauchen abgewöhntihre Versuchspersonen weniger von dargebotenem zu haben.Schokoladengebäck verführen, wenn man sie zuvormit kniffligen Zahlenrätseln beschäftigte. Allerdings 5. Die Lust unterdrückenscheint der Trick mit der Ablenkung nur zu funkti-onieren, wenn man die Rechenaufgaben zeitlich vor Die Strategie scheint intuitiv einleuchtend: Wenn dieden Brownies präsentiert. Denn hat sich der Wunsch Schwarzwälder Kirschtorte lockt, man im Geistenach Süßem bereits im Kopf festgesetzt, kehrt sich schon die Mischung aus Sahne, Kirschwasser undder Effekt um: Dann futtern die gedanklich stark dunklem Biskuit auf der Zunge spürt – dann sollteBeschäftigten ihre Kekse nebenbei und essen sogar man diese Fantasien einfach unterdrücken und diebesonders viele davon, ohne es recht zu bemerken. inneren Bilder verjagen wie eine lästige Fliege an ei- nem heißen Sommertag. Doch wie gut funktioniert3. Sich seine eigene Versuchung erschaffen das? In einer englischen Studie bat man Raucher, sieben Tage lang nicht an Zigaretten zu denken. Tat-Begehren entsteht zu einem großen Teil durch un- sächlich konsumierten die Probanden zunächst we-sere Vorstellungen. Wenn das stimmt – könnte man niger Tabak. Allerdings führte die Methode zu einemsich dann nicht auch gesunde, „vernünftige“ Versu- Bumerangeffekt: In der darauffolgenden Woche er-chungen selbst erschaffen, nur durch die Kraft der höhten die Testpersonen ihren Konsum und rauch-Fantasie? Lässt sich zum Beispiel unsere Lust auf Sport ten sogar mehr, als sie das vor dem Experiment getangedanklich steigern, indem wir uns regelmäßig den hatten. Dieser ironic rebound effect ist inzwischenwohligen Zustand ins Gedächtnis rufen, nach einem durch mehrere Studien belegt: Gedanken unterdrü-Dauerlauf unter die Dusche zu steigen? Diesen An- cken, wenn sie sich bereits bunt und verlockend insatz verfolgt derzeit ein australisch-britisches For- unsere Fantasie geschlichen haben, das führt zu ebenscherteam im sogenannten functional imagery trai- jenem Jo-Jo-Effekt, den man im Alltag so häufig beining. Tatsächlich trieben Versuchspersonen in einer Diäten erlebt.PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 37

„Ich will Schokolade, sofort!“ Willenskraft ist wie ein Muskel. Sie erlahmt viel Wer das denkt, ist verloren. schneller, als wir glauben. Die menschliche Psyche Distanz zum Begehren schafft ist offenbar nicht in der Lage, sich permanent am der Gedanke: „Ich spüre Lust Riemen zu reißen (siehe Heft 2/2012: Willenskraft). auf Schokolade“ Auch die Persönlichkeit spielt eine Rolle: Manchen fällt die Verhaltenskontrolle grundsätzlich leichter 6. Die Versuchung akzeptieren als anderen. Für eher willensschwache Menschen scheint die „Ich tu’s einfach nicht“-Strategie keine Gedankenunterdrückung scheint also keine sinn- besonders aussichtsreiche Option zu sein: Sie machen volle Strategie zu sein. Eine wachsende Zahl an Stu- Diät und nehmen trotzdem nicht ab, wie die Zahlen dien beschäftigt sich neuerdings mit Achtsamkeits- in Wilhelm Hofmanns Studie belegen. techniken, die das genaue Gegenteil empfehlen: Statt sich für seine Lust auf Süßigkeiten zu verurteilen, Ein weiterer Fallstrick dieser Strategie liegt in übt man sich darin, seinen Appetit zu akzeptieren einem Phänomen, das der Verhaltensökonom und zu hinterfragen (disidentification). Man sagt George Loewenstein als hot-cold empathy gapbezeich- nicht mehr „ich brauche jetzt unbedingt Schokola- net: Wir Menschen sind ausgesprochen schlecht da- de“, sondern „ich spüre, wie in mir die Lust auf Scho- rin, unser Verhalten im Zustand des Begehrens vor- kolade wächst“. Durch diese subtile Unterscheidung herzusagen. Wir unterschätzen systematisch die wird man, so die Hoffnung, nicht mehr zum Opfer, Macht der Versuchung – und handeln, wenn’s drauf sondern eher zum Beobachter des eigenen Verlangens ankommt, immer wieder gegen unsere vernünftigen, und kann deshalb leichter widerstehen. „Mein langfristigen Ziele. Appetit ist nur ein Gedanke“ – in dieser Geistes- haltung trainierten australische Forscher einen Teil Kann man Verhaltenshemmung lernen? Im ihrer Probanden, die ausschließlich aus Schoko- Prinzip ja: Manche Übungsprogramme versuchen holics bestanden. Anschließend schenkte man jeder die Verhaltenshemmung exakt dort einzuüben, wo Versuchsperson einen Beutel voller Schokolade sie am meisten gebraucht wird. Forscher der Univer- mit der Bitte, diesen eine Woche lang bei sich zu tra- sität Maastricht arbeiten dafür mit einer sogenann- gen, ohne davon zu naschen. Den Teilnehmern aus ten „Go/No-go-Aufgabe“. Die Probanden sitzen vor der Achtsamkeitsgruppe gelang dieses Kunststück einem Rechner und sollen möglichst schnell die Leer- mehr als dreimal häufiger als den Probanden aus der taste des Computers drücken, wenn auf dem Bild- Kontrollgruppe. schirm der Buchstabe „f“ erscheint (go), sie sollen gar nichts tun, wenn der Buchstabe „p“ erscheint 7. „Ich tu’s trotzdem nicht!“ (no-go). Im Monitorhintergrund stehen Bilder von vollen und leeren Biergläsern. Bei manchen der Wenn wir im Alltag von „Selbstkontrolle“ sprechen, Probanden erscheint das „p“ wie durch Zufall immer denken wir in der Regel an dieses Szenario – Wilhelm dort, wo ein volles Bierglas zu sehen ist. Die Ver- Hofmann nennt es eine late-stage strategy: Wir möch- suchspersonen werden also heimlich darauf kondi- ten Diät halten, aber am Nebentisch verzehrt jemand tioniert, auf ein volles Bierglas mit „Ich tue gar nichts“ ein Stück Sachertorte. Wir spüren, wie der Appetit zu reagieren. Erste Versuche zeigen, dass man den auf Süßes in uns wächst, reißen uns aber zusammen Konsum von Bier bei starken Trinkern mit dieser und bestellen nur ein stilles Mineralwasser. Man Methode tatsächlich verringern kann. Ein ähnliches hemmt also ein bestimmtes Verhalten. Manchmal Experiment aus England reduzierte den Bierkonsum gelingt uns das – und manchmal eben nicht. Einen der Probanden ebenfalls. Allerdings hielt der Effekt Grund für unser gelegentliches Scheitern sieht der nicht lange vor: Bereits eine Woche nach dem Sozialpsychologe Roy Baumeister in einem Phäno- Training tranken die Teilnehmer wieder genauso viel men, das er „Ich-Ermüdung“ (ego depletion) nennt: wie zuvor. Die Literaturangaben zu diesem Artikel finden Sie unter www.psychologie-heute.de/literatur38 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

SO FUNKTIONIEREN GUTE VORSÄTZE! Das neue Jahr liegt noch ganz frisch und unberührt vor Ihnen: Ein guter Zeitpunkt, um Ihre guten Vorsätze in die Tat umzusetzen. Doch wie gut sind Ihre Pläne eigentlich?A m Neujahrstag wird das Wort auf Erfolg. Wenn wir gute Vorsätze to größere Erfolgschancen haben Sie. „Diät“ 82 Prozent häufiger geg- fassen, betrifft das oft Dinge, die wir Es wird ein ganzes Stück schwieriger,oogelt als an Durchschnittstagen, das nicht mehr in unserem Leben haben sich eine Zigarette anzuzünden, wennhaben Forscher der Universität von wollen. Fragen Sie sich lieber, wovon jeder weiß, dass Sie mit dem RauchenPennsylvania errechnet. Und auch in Sie mehr haben möchten. Werden Sie aufhören wollen.Fitnessstudios strömen neue Mitglie- wirklich dreimal die Woche joggender traditionell vor allem zu Beginn Wird 2016 ein hartes Jahr für Sie?  des Jahres. Warum ist der Jahresan- gehen, wenn Sie nicht wirklich gerne Wenn wir mit unseren Vorhabenfang für viele Menschen ein magi- laufen? Oder stehen Sie jeden Tag um scheitern – und das passiert letztlichscher Moment und ein Anlass für halb sieben auf, wenn Sie doch ein in den meisten Fällen –, kann unserKurskorrekturen? Die Wissenschaftler Abendmensch sind? Fragen Sie sich Selbstbild leiden, und wir fühlen unsin Pennsylvania glauben, dass es uns also kritisch: Welche Veränderung, deprimiert. Deshalb: Wenn es vielean einem bedeutsamen Datum leich- die ich bis Ende des Jahres erreicht andere Dinge in Ihrem Leben gibt, de-ter fällt, uns psychologisch von unse- haben möchte, liegt mir wirklich am nen Sie Ihre Aufmerksamkeit widmenrem „alten Ich“ zu entfernen. Von Herzen? müssen, ist es wahrscheinlich klüger,dem Ich, das Arbeit lieber auf morgen Verhaltensänderungen zu verschie-verschiebt, das seine Liebsten an- Ist Ihr Vorsatz konkret genug? ben.schnauzt und mit größter Selbstver- Vage formulierte Pläne wie „ich willständlichkeit vor dem Schlafengehen gesünder leben“ oder „ich werde Wie schnell geben Sie auf?noch eine große Packung Ben & mich nicht mehr so unter Druck set- Es ist mühsam, das eigene VerhaltenJerry’s-Eiscreme löffelt. Mit diesem zen“ sind zum Scheitern verurteilt.alten Ich soll im neuen Jahr Schluss Machen Sie Ihr Vorhaben ganz kon- zu verändern. Studien haben gezeigt,sein. „Frischer-Start-Effekt“ – so nen- kret, raten Psychologen. Zum Beispielnen die Wissenschaftler in Pennsylva- so: „Mittwoch und Freitag gehe ich dass immer mehrere Versuche nötignia dieses Phänomen. Schade nur, vor dem Abendessen zwanzig Minu-dass es uns oft nicht gelingt, diesen ten joggen.“ Es hilft auch, ein großes sind, um Erfolg zu haben. Deshalb istAnfangselan beizubehalten. Ziel in viele kleine Ziele zu unterteilen. es nicht klug, sofort das Handtuch zu Wenn Sie im neuen Jahr durchhal- Erzählen Sie anderen, was Sieten wollen, sollten Sie prüfen, wie zu- vorhaben? werfen, wenn Sie einmal eine Verab-kunftsfähig Ihre Pläne sind. Je mehr Menschen von Ihren Vorha- ben wissen, desto mehr Unterstüt- redung zum Sport nicht einhaltenWie viele gute Vorsätze haben Sie? zung können Sie bekommen und des-Mit dem Rauchen aufhören, weniger oder wenn Sie vor einer Tüte Bon-trinken und gesünder essen: Oft sinddie Pläne, die wir zu Beginn des Jah- bons kapitulieren. Wissenschaftler ra-res schmieden, zu ambitioniert.Höchste Zeit, den Enthusiasmus zu ten dazu, Rückschläge als unvermeid-kanalisieren und einen Vorsatz auszu-wählen, den Sie wirklich realisieren bar zu betrachten und als Teil deswollen. Das vergrößert Ihre Erfolgs-chancen. Veränderungsprozesses zu akzeptie-Warum wollen Sie sich verändern? ren. Forscher der Universität von Wa-„Ich muss abnehmen, sonst macheich mich am Strand lächerlich.“ Unter- shington fanden zum Beispiel heraus,suchungen zeigen: Veränderungen,die auf Schuldgefühlen oder Angst dass angehende Nichtraucher zubasieren, haben die geringste Chance scheitern drohen, wenn sie in „Alles oder nichts“-Kategorien denken. Wer glaubt, er habe nicht genug Willens- kraft, weil er mal eine Zigarette ge- raucht hat, wird eher aufgeben als je- mand, der darüber nachdenkt, wie es zu dieser einen Zigarette kommen konnte. Und dann diese Situation in der Zukunft meidet. PH MARLOES ZEVENHUIZEN   Quelle: Psychologie Magazine. Übersetzung aus dem Niederländischen: Birgit SchreiberPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 39

„Wir würden es ohne Unruhe gar nicht aushalten“ Die Ruhe gilt als Voraussetzung für Glück. Doch unser Leben ist voller Unruhe. Der Philosoph Ralf Konersmann meint: Wir wollen es nicht anders Herr Professor Konersmann, alle sind heute im war? Mich interessiert, wie so ein neues Wort das Begreifen verändert, sodass man jetzt sagen kann: Stress. Ist die Unruhe ein neues Phänomen? „Was hatte ich heute wieder für einen Stress.“ Die Menschen haben schon immer die Erfahrung der Und mich interessiert, was auf der Strecke bleibt, Unruhe gemacht. Aber sie haben sie anders beschrie- wenn sich die Begriffe verändern. Denn wenn man ben. Wenn man in die Geschichte zurückblickt, stellt in die Geschichte zurückschaut, sieht man, dass es man fest, dass andere Zeiten gebräuchliche Begriffe zu anderen Zeiten andere Zugriffe auf alltägliche Be- von heute nicht zur Verfügung hatten, Stress oder lastungen gegeben hat: theologische, anthropologi- Burnout etwa. Burnout kommt zur Jahrtausendwen- sche, mythische. Im 20. Jahrhundert sind die psy- de auf, Stress um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Die- chologischen Beschreibungen dominant geworden. se Begriffe helfen uns, uns selbst und die Welt zu Mirscheint, dassdamitauchetwasverlorengeht,nicht beschreiben, unsere Situation zu erfassen. Aber sol- nur Beschreibungen, sondern vielleicht auch Lösun- len wir deshalb annehmen, dass die Menschen vorher, gen, weil sie in der Sprache der Psychologie nicht etwa die Zeitgenossen des Ersten Weltkriegs, keinen mehr artikulierbar sind. Stress hatten? Was war das denn, wenn es kein Stress40 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Ralf Konersmann Was ist denn so schlimm an der Unruhe? Zielen werden Zwischenziele, und schon kommt das ist Professor für nächste. Bis vor kurzem gab es noch den Ausdruck Philosophie an Das Problem hat als Erster Blaise Pascal gesehen, er „Reifezeugnis“. Der wurde dann von den Erziehungs-der Universität Kiel nennt es Zerstreuung. Die Pointe bei der Zerstreuung wissenschaftlern bekämpft, weil Reife ein Endzu- ist, dass sie unsere Urteilskraft, unser Gefühlsleben stand sei. Man wollte das lebenslange Lernen propa- und Direktor und all das, was uns helfen könnte, aus der Unruhe gieren. So normalisiert sich die Unruhe, das Wort des dortigen herauszukommen, korrumpiert. Etwa durch eine auf selbst braucht dabei gar nicht zu fallen. Philosophischen Dauer gestellte moralische Entrüstung. In einer Welt der Zerstreuung werden moralische Anstöße leicht Und zugleich träumen wir vom Paradies und der Seminars. zu Vorwänden, sie bekommen einen gewissen Un- terhaltungswert: Was ist denn heute wieder passiert? paradiesischen Ruhe? Oder sie werden zu Anlässen, um aktiv und aktivis- tisch zu sein, um dem Bedürfnis, sich zu kümmern, Natürlich. Eine der Pointen des jüdisch-christlichen einen Gegenstand zu bieten. Wenn hier, auf dem Paradiesbegriffs ist: einfach angenommen sein. Oh- Land eine Scheune brennt, kommen Helfer aus dem ne Gegenleistung, einfach weil man da ist. Ohne sich ganzen Umkreis, dann stehen 20 Feuerwehrwagen sein Leben verdient haben zu müssen. In der Neuzeit um die Scheune herum. Man sieht, wie die Sprung- und in der Moderne haben wir dagegen die Logik bereitschaft schon da war und man nur noch auf den des Verdienstes. Ruhe muss verdient sein, die Pause Anlass gewartet hat, um den ganzen präventiven Auf- muss verdient sein: durch Arbeit. Schon Kant schrieb, wand zu rechtfertigen. Das Bedenkliche an der Zer- Ruhe sei der Lohn für die erbrachte Anstrengung. streuung ist, dass sie solche Umkehrungen begünstigt. Wir knüpfen Ruhe an Bedingungen, die erfüllt sein Pascal sagt, wir jagen nicht mehr, um Fleisch zu be- müssen, damit wir uns das leisten können, sonst ha- kommen, sondern weil wir die Zerstreuung lieben. ben wir ein schlechtes Gewissen. Manchen verlässt Solche Verschiebungen im Motivationshaushalt sind ja auch im Urlaub das Gefühl nicht, eigentlich zu typisch für die Unruhe. Die Zerstreuung sorgt für Hause oder im Büro gebraucht zu werden. Ruhe ist eine Chaotisierung dieser Motivationshintergründe, heute von einem leichten Unbehagen, ja Unrechts- dafür, dass man nicht mehr ins Klare bringt, was bewusstsein begleitet. Ruhe ist etwas, was wir uns man warum tut. eigentlich nicht erlauben dürfen. Das Paradies ist ge- nau das Gegenteil: die Befreiung von jeder Verpflich- Ist der Mensch von Natur aus unruhig? tung; paradiesisch leben heißt, umsorgt zu sein, wunschlos zu sein. Das ist ein ganz starkes Motiv Das würde ich nicht sagen, weil wir in unserer Kul- und vermutlich der Grund dafür, dass die Paradies- tur ganz gegenteilige Wahrnehmungen des Phäno- vorstellung so zählebig ist. mens Unruhe haben. Den Menschen als Unruhewe- sen zu definieren wäre für die Menschen über viele Gibt es gute und schlechte Formen von Unruhe? Jahrhunderte hinweg ein unerträglicher Gedanke gewesen. Das Bestreben galt immer dem Versuch, Ja, darauf sind die Philosophen schon in der Antike aus dem Modus der Unruhe herauszukommen und gekommen. Um die Zeitenwende herum gibt es zwei wieder zu dem Geschöpf zu werden, als das wir aus große Beschreibungsmuster für die Unruhe. Das ei- den Händen Gottes hervorgegangen sind. Zu Para- ne ist das jüdisch-christliche Modell, das sagt, wir dieswesen, zu Wesen, die in Ruhe leben dürfen und hatten einmal die Ruhe, die Paradiesruhe, und leider denen es vergönnt ist, bei sich selbst zu sein und sich waren wir so blöd, sie zu verspielen. Jetzt müssen wir den Dingen hinzugeben, die sie selbst sich wünschen. uns damit auseinandersetzen, was wir da angerich- Die längste Zeit war die Unruhe ein Verhängnis. Und tet haben. Das andere ist das stoische Modell, das die heute stehen wir da und sagen: bloß keinen Stillstand, Zeitordnung umkehrt und sagt, die Ruhe ist etwas, bloß keine Stagnation. Wir würden es ohne die Un- was wir vor uns haben. Wir leben jetzt in einer Welt ruhe gar nicht mehr aushalten. der Unruhe, aber wenn wir uns klug anstellen und uns des Beistandes der Philosophie versichern, der Aber die meisten Menschen scheinen sich eher Vernunft, dann mag es uns gelingen, Seelenruhe zu finden. Aber das ist paradoxerweise ein lebenslanger nach Ruhe als nach Unruhe zu sehnen. Kampf: Wir müssen uns der Unruhe stellen, sie be- siegen. In diesem Zusammenhang unterscheidet der In der Tat, die wenigsten würden offen erklären, dass römische Philosoph Seneca zwischen guter und sie die Unruhe vorziehen. Andererseits genügt es schlechter Ruhe und zwischen guter und schlechter schon, dass wir uns ansprechen und mitreißen las- Unruhe. Die schlechte Ruhe ist die Trägheit, sich ein- sen, dass wir uns gegen die Unruhe nicht wehren. fach so gehenlassen. Die gute Ruhe ist die Seelenru- Unsere ganze Umgebung, Kindergarten, Schule, Ar- he, das ist der Zielpunkt des individuellen Bildungs- beitswelt, alles ist auf Dynamisierung angelegt. AusPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 41

prozesses. Und ebenso für die Unruhe: Es gibt eine Wir haben uns in den letztenUnruhe, die bloß Hektik, Betriebsamkeit, geistloses 200 Jahren viel Mühe gege-Nach-vorn-Stürmen ist. Und es gibt eine gute Un- ben, die Ruhe zu diffamieren.ruhe, die konstruktiv ist, die sich immer wieder dem Deshalb wissen wir heuteZiel verpflichtet fühlt, sich selbst und die eigene Träg- nicht, was Muße sein könnteheit zu überwinden, und die dem Einzelnen oder derGesellschaft dazu verhilft, einen Zustand echter Ru- Das sind Leidensgeschichten, und wenn solchen Men- Ralf Konersmann:he zu finden. Wir müssen also die gute Unruhe – den schen geholfen werden kann, wäre es zynisch, dage- Die Unruhe der Welt.Prozess der Bildung – gegen die schlechte Unruhe gen anzugehen. Ich wollte betonen, dass die Unruhe S. Fischer, Frankfurtmobilisieren, um aus unserer Lage herauszukommen. eingewoben ist in unsere Kulturmuster und wir letzt- lich außerstande sind, aus diesem Kokon auszubre- a. M. 2015, 461 S.,Wie haben wir gelernt, die Unruhe zu lieben? chen. In unseren Denkmustern bringen wir immer € 24,99 schon Spuren der Unruhe mit. Unsere Art, auf Un-Im Alten Testament ist die Verstoßung Kains nach ruhe zu reagieren, hier ein Meditationskurs, da ein Eine Rezensiondem Mord an seinem Bruder die Verstoßung in die Ratgeber, das sind selbst Unruhestrategien. Ich woll- des BuchesUnruhe: „Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde te darauf hinweisen, dass wir aus der Verfänglichkeitsein.“ Dort ist dann nichts mehr vertraut, die abso- der Situation nicht so ohne weiteres herauskönnen. ist in Heft 11/2015lute Fremdheit. Doch schon der heilige Augustinus Die abendländische Kultur ist eine Kultur der Un- erschienen.hat zu Anfang des fünften Jahrhunderts versucht, ruhe, und es bedarf einer ganz anderen Form vondie Welt, in der wir so unruhig unterwegs sind, als Anstrengung, um uns dem zu stellen, als mal einenOrt der Wiedergutmachung, der Bewährung zu be- Ratgeber zu lesen.stimmen. So wird der alttestamentarische Fluch derUnruhe unterwandert, indem der Unruhe ein Sinn Aber es gibt doch nicht nur Ratgeber, sondernbeigelegt wird. Es gab dann das ganze Mittelalterhindurch Diskussionen, und herausgekommen ist immer mehr Entschleunigungsbewegungen, vonso etwas wie: Wir sind hier auf die Probe gestellt,und wenn wir die bestehen, werden wir eine neue, slow food bis slow science.süßere Form der Ruhe an der Seite des Herrn erlan-gen. Das ist die vorsichtige Rehabilitierung der Un- Es stimmt, dass gewisse Zweifel an der Unruheideo-ruhe, die über die Jahrhunderte immer konkreter logie aufgekommen sind. Die Menschen merken, wiewird und immer plastischere Formen annimmt. Bis dürftig das Programm ist, immer gleich in den Mo-in der Moderne die Unruhe völlig entproblematisiert dus der Veränderung einzutreten und zu hoffen, dassscheint. sich die Lösung dann schon irgendwie von selbst ein- stellen wird. Das ist erfreulich. Mir scheinen aber In der christlichen Lehre bleibt die Welt ein Stein diese slow-Bewegungen mehr oder weniger deutlichdes Anstoßes, ein Ort der Uneigentlichkeit. Und die am Unruheparadigma festzuhalten. Das sind modi-Moderne ist, ganz gegen ihre Selbstwahrnehmung, sche Attitüden, aber sie packen das Problem nicht andem Christentum gerade in diesem Punkt gefolgt. der Wurzel. Und meistens sind sie regenerativ ange-Auch für die Modernen ist die Welt, wie sie ist, nicht legt, auf dass wir nachher umso fitter seien. Es gibtakzeptabel. Sie hat eine Schieflage, und wir müssen sicher eine gewisse Skepsis in Bezug auf die Unruhe,das geraderücken, müssen ständig etwas unterneh- aber das bleibt konsequenzlos. Die Erfolgsgeschich-men, können die Dinge nicht auf sich beruhen lassen. te der Unruhe war ja nur möglich, weil sie in derDas sagt auch Augustinus, diese Welt kann nicht das Lage ist, alle anderen Denkmodelle in sich aufzu-letzte Wort sein, wir müssen darüber hinaus. Und nehmen. Dann wird aus der Ruhe die Pause, werdendabei hilft uns die Unruhe. Aber dann gabelt sich aus ihr die Ferien, die uns erlauben, durchzuatmender Weg: Während der christliche, individualistische und nachher wieder voll mitzumachen.Weg vorsieht, dass ich alles daransetze, meine Seelenicht zu gefährden, und Einkehr suche in Gott, ver- Warum ist das Programm der Unruhe dürftig?sucht die Moderne das Problem zu kollektivieren undstatt des Einzelnen die Welt zu verändern. Das ganze karge, dünne und klägliche Programm der Unruhe besteht in der Inaussichtstellung: Es wirdSie schreiben, Unruhe sei nicht therapierbar. Was schon besser werden. Wenn wir nur immer weiter forschen und entwickeln und machen und tun, wirdbedeutet das?Auf einer bestimmten Ebene ist sie natürlich thera-pierbar, und alle, die sich bemühen, klinische Fällevon Unruhe zu behandeln, haben meinen Respekt.42 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

alles besser. Wenn nur alles kocht und fiebert, wird die Terminologie des Lassens, Zulassens, Nachlassensschon etwas dabei herauskommen. hat etwas mit Ruhe zu tun. Sich selbst nicht affizie- ren lassen von der Unruhe. Eine Einstellung finden,Wie könnte eine zeitgemäße Form der Ruhe aus- aus der man dem, was geschieht, zuschauen kann, ohne sich selbst immer wieder in die Unruhe hin-sehen? einreißen zu lassen.Wir haben uns in den letzten 200 Jahren viel Mühe Sind Sie selbst zur Ruhe gekommen?damit gegeben, die Ruhe zu diffamieren. Phlegma,Lethargie, Stillstand, Stagnation, das alles sind Wenn man gern und viel schreibt, mindert sich dasSchimpfwörter der Unruhekultur. Davon hat sich Problem, weil man sich selbst im Schreiben aufteilt,der Ruhebegriff nicht mehr erholt. Obwohl wir ja zugleich als Beobachter fungiert und das Beobach-noch Impulse haben, die uns skeptisch sein lassen tete zu Protokoll gibt und Formulierungen probiert.in Bezug auf das, was da geschieht. Aber was heute Da bildet sich so ein überschaubarer Mikrokosmos,Muße sein könnte, wissen wir nicht. Es ist Unsinn das hat beruhigende Wirkung. Und die großenzu sagen, wir lesen mal einen Stoiker, und dann wis- Schriftsteller haben immer gewusst, dass der Schreib-sen wir Bescheid. Es ist eine mühselige Arbeit, einen prozess ein Ordnungs- und Orientierungs- und inangemessenen Begriff zu finden, jenseits der einfa- diesem Sinne auch ein Beruhigungsprozess ist.chen Gegensätzlichkeit von Ruhe und Unruhe. Viel-leicht würde ich beim Begriff des Spiels ansetzen, das Ihr Buch hat einen eher gelassenen Tonfall. Ma-ist etwas, das man um seiner selbst willen tut. Manmuss aus der Zweck-Mittel-Relation ausbrechen. Die chen Sie nicht zu schnell Ihren Frieden mit derDinge beschreiben, wie sie sind, also etwa Sport alsSport, nicht als Fitness, Bildung als Bildung, nicht Unruhe?als Ausbildung. Ich glaube, es geht gar nicht anders. Wenn meineIn Ihrem Buch sprechen Sie über den Inquieteur. These richtig ist, kommen wir aus der Unruhe soWas ist das? schnell nicht heraus. Mein Ziel war eine Bestands-Den Begriff hat André Gide geprägt. Er wollte damiteine Kunstform beschreiben, in der es vor allem um aufnahme, und auch wenn ich in Interviews langsamdas Lassen geht. Der Inquieteur betont nicht die Ak-tivität, er bringt nicht etwas aus sich hervor, er lässt darauf festgelegt werde: Mein Buch ist kein Ratgeber.zu. Er legt dem, was geschieht, nichts in den Weg. Erversucht zu sehen, was man sehen würde, wenn man Ich will nicht gleich auf die zweite Stufe springen undkeine vorgefasste Meinung hätte. Das Zulassen spieltin der modernen Kunst eine große Rolle. Ich meine, erklären, was wir jetzt tun sollen. Dieser Automatis- mus, immer gleich Lösungen haben zu wollen, statt innezuhalten und zu fragen, wie es eigentlich um uns bestellt ist: Das ist seinerseits schon so ein Un- ruhesyndrom. Darauf, erst einmal die Lage zu klären, möchte ich als Philosoph bestehen. PH INTERVIEW: MANUELA LENZEN AnzeigeSchlüsselkonzepte der PsychologieDas neue Werk des renommierten Besteller-Autors Philip Zimbardo Philip G. Zimbardo,endlich auf Deutsch! Robert L. Johnson, Vivian McCannDank der Orientierung an den zentralen Schlüsselkonzepten und der SCHLÜSSELKONZEPTEanschaulichen Darstellungsweise die ideale Basis für alle, die einen Einstieg in DER PSYCHOLOGIEdie Psychologie suchen, ob Studienanfänger oder interessierter Laie. ISBN: 978-3-8689-4254-5„Probieren Sie es aus“- und „Psychologie im Alltag“-Exkurse verdeutlichen, 608 Seiten | 4-farbigwie psychologische Prinzipien funktionieren, und fördern kritisches Denken € 39,95 [D] | € 41,10 [A] | SFR 47,10*im Umgang mit psychologischen Aussagen. Weitere Informationen unter www.pearson-studium.de * unverbindliche PreisempfehlungPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 43

Die Kinder des Feindes ILLUSTR ATIONEN: CHRISTIAN BARTHOLD Ihre Mutter war Deutsche, ihr Vater ein alliierter Soldat: Rund 400 000 „Besatzungskinder“ wuchsen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland auf, oft diskriminiert und schikaniert. Was wurde aus ihnen? Wie geht es ihnen heute? VON EBBA DROLSHAGEN44 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Jeder weiß um sie, kaum jemand weiß et- hung, selten willkommen. Die Frauen waren jung, was über sie. Die Rede ist von Besatzungs- mittellos, ohne Berufsausbildung, ohne Lebenser- kindern, Deutschen, deren leiblicher Vater fahrung. Fast alle Kinder kamen unehelich zur Welt, ein amerikanischer, französischer, briti- was im Kriegs- und Nachkriegseuropa als große scher oder russischer Besatzungssoldat Schande galt. Bei einem „Kind des Feindes“ kam diewar. Im Nachkriegsdeutschland wurden Tausende Verachtung der Landsleute hinzu, dass die Muttersolcher Kinder geboren, und sie waren – wie Kinder sich „mit denen eingelassen“, keinen Stolz gezeigt,von ausländischen Soldaten und einheimischen Müt- ihr Land verraten hatte. Zur Erinnerung: Damalstern immer und überall – bei ihren Landsleuten nicht galten die Alliierten noch nicht als Befreier. Die un-willkommen. ehelich geborenen Feindeskinder mussten dafür bü- ßen, die falschen Eltern zu haben. Man beschimpfte sie häufig mit Wörtern, die auszwei Teilen bestanden: der Nationalität des (vermu- Schweigen und Deckgeschichtenteten) Vaters und einem diffamierenden Wort füreinunehelichgeborenesKind.ImvonderWehrmacht Trotz gesellschaftlicher Ächtung und finanzieller Notbesetzten Europa gab es ab 1940 das Wort Deutschen- wuchsen etwa 70 Prozent der westdeutschen Besat-balg, in Deutschland ab 1945 hießen sie Amibankert, zungskinder bei ihrer Mutter oder deren Familie auf.Russenbalg, Franzosenbastard. Dieses eine Wort er- Vom leiblichen Vater und seiner Armee war keineklärte zum einen das Kind zum Amerikaner, Russen Unterstützung zu erwarten, bis Anfang der fünfzigerund so weiter und grenzte es so aus der Gemeinschaft Jahre war es nicht einmal möglich, einen alliiertenaus, zum anderen diffamierte es seine Mutter als lie- Soldaten auf Unterhaltszahlung und Vaterschaftsan-derlich. So funktionieren ja auch die Schimpfwörter erkennung zu verklagen. Die Besatzungsmächte tatenAmihure oder Franzosenflittchen. Man kann verste- alles, um die Identität ihrer Soldaten zu verheimli-hen, dass Menschen, die so aufwuchsen, die Auf- chen und sie vor Ansprüchen zu schützen. Das hiel-merksamkeit nicht mehr suchen; Deutsche mit alli- ten sie für ihr Recht. Wie der deutsche Sohn einesiertem Vater gelten bei Soziologen und Psychologen Rotarmisten schreibt: „Mein Vater hat dieses Landals „verborgene Population“. befreit und da ein Kind hineingepflanzt, eine archa- ische, machomäßige Sache.“ Schon auf die Frage, wie viele es sind, fehlt einegesicherte Antwort. Lange sprach man von min- Wenn die Mutter verheiratet war oder später hei-destens 200 000, jetzt veranschlagen die Historiker ratete, wurde der Ehemann als Vater ausgegeben, esSilke Satjukow und Rainer Gries aufgrund von Ar- wurden Deckgeschichten erfunden. Oft steht in denchivrecherchen die Gesamtzahl der deutschen Be- Geburtsurkunden: Vater unbekannt. Während dassatzungskinder auf 400 000, das seien „geschätzte bei Gewaltverbrechen meistens stimmte, verheim-Mindestziffern, konservativ und vorsichtig gerech- lichten viele Frauen den Namen auch dann, wenn sienet“. Sie vermuten, dass allein 300 000 Kinder „un- den Mann gut gekannt, vielleicht sogar geliebt hatten.mittelbar zu Kriegsende und infolge von Verge- Es gibt zahllose Geschichten von Müttern, die nichtwaltigungen (durch Rotarmisten) geboren worden einmal ihrem Kind den Namen nannten, manchewaren“. schwiegen bis zum Tod. Hat eine Frau das Recht, einen Teil ihres intimsten Lebens vor ihren Kindern Diese Kinder wurden häufig noch im Kranken- zu verheimlichen? Darf sie ihnen die Identität deshaus zur Adoption gegeben oder einfach dort gelas- Vaters und die Umstände der Zeugung verheimli-sen. Wenn die Mutter das Kind dennoch behielt, war chen? Sie taten es offenbar aus Scham und weil siees auch eine ständige Erinnerung an erlebte Gewalt wussten, dass man das Kind schikanieren würde,und Demütigung. Als Elf- oder Zwölfjährige erfuhr weil man sie, die Mutter verachtete.ein Mädchen aus der französischen Besatzungszonean einem Faschingsmontag von den Umständen sei- Da aber die meisten zu schwach waren, um ihrner Zeugung. „Ich wollte weggehen, da beschimpfte Kind zu schützen, ermahnten sie es stattdessen, bravmeine Mutter mich wüst und meinte, ich sei genau- zu sein, nicht aufzufallen. Heute berichten viele Be-so ein Schwein wie mein Vater, der die Frauen ver- satzungskinder, dass sie ihrer Mutter nie von An-gewaltigen würde.“ feindungen anderer Kinder erzählten, weil ihr das weh getan hätte. Silke Satjukow und Rainer Gries Nun ist ein ungeplantes Kind nicht zwingend un- kommen zu dem Schluss, dass sich „die Kinder undgewollt, aber unter den herrschenden Umständen Jugendlichen … als erkennbare Zeichen der Schan-war auch ein Kind aus freiwilligen sexuellen Kon- de wahrnahmen und die Herkulesaufgabe annah-takten, ob flüchtige Begegnung oder Liebesbezie-PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016 45

Kinder von Afroamerikanern wurden Besonders hart traf dergleichen die Kinder vonin den Schulen oft als „Menschen anderer Afroamerikanern und Afrofranzosen. Satjukow undArt und Qualität“ angesehen Gries kommen nach Durchsicht zahlreicher Schul- berichte der fünfziger Jahre zu dem Ergebnis, die af- men, sich selbst und die ganze Familie zu sühnen – rodeutschen Kinder seien „regelmäßig als Menschen womöglich ein Leben lang“. anderer Art und Qualität“ beschrieben worden. Öf- fentliche Stellen waren ängstlich bemüht, Rassismus Anders als Kriegswaisen, die im Nachkriegs- in der Art des Dritten Reichs zu vermeiden, nur um deutschland ebenfalls ohne den leiblichen Vater auf- ihn unter dem Deckmantel von Fürsorge erneut zu wuchsen, wurde er in den Familien der Besatzungs- präsentieren. Man erwog, die Kinder in Heimen zu kinder kaum je erwähnt, oft war er ein Tabu. Fragen isolieren, eine CDU-Abgeordnete warnte 1952 im des Kindes wurden mit Schweigen oder Lügen, in Bundestag, „die klimatischen Bedingungen in unse- manchen Familien sogar mit Schlägen quittiert. Doch rem Lande“ seien ihnen „nicht gemäß“, es sei für sie alle Versuche, die Abstammung des Kindes geheim besser, „wenn man sie in das Heimatland ihrer Väter zu halten, scheiterten häufig an den engen Verhält- verbrächte“. Tatsächlich vermittelten Privatpersonen nissen von Nachbarschaft oder Schule, wo alle wuss- um die 500 farbige Besatzungskinder in schwarze Fa- ten, „was die Mutter für eine war“. milienin den USA, etwa3000kamennachDänemark, eine unbekannte Zahl nach Norwegen. „Dein Vater is a Russ!“ Die in der DDR geborenen „Russenkinder“ wur- So bekamen viele den ersten vagen Hinweis auf den den offiziell totgeschwiegen. Man wollte die Sowjet- Vater durch gehässige Gleichaltrige, die ihnen „Du union nicht brüskieren, indem man die etwa 1,9 Mil- bist ein Amibalg!“ oder „Dein Vater is a Russ!“ nach- lionen Vergewaltigungen erwähnte, die den Rotar- riefen, oder durch Erwachsene, die sie verachteten, misten am Ende des Zweiten Weltkriegs zur Last verhöhnten und ausgrenzten. Der Historiker Rainer gelegt werden. Später war den auf deutschem Boden Gries beschreibt den ersten Schultag eines Jungen, stationierten Soldaten jeder Kontakt zu Zivilisten dessenVateramerikanischerSoldat war, imJahr1954: untersagt. Dennoch wurden viele Kinder geboren, „Der war top herausgeputzt, der hatte seine Fliege und die staatlich verordnete Völkerfreundschaft an, der hat sich gefreut auf diesen ersten Schultag. konnte nicht verhindern, dass sie auf die gleiche Wei- Und der Lehrer sagt zu ihm: Du bist doch ein Ban- se verachtet und malträtiert wurden wie die Kinder kert, du bist doch ein Amikind, du kommst in die der Westalliierten. letzte Reihe, neben dir darf niemand sitzen.“ Spätes Interesse der Wissenschaft Erst jetzt, wo die Besatzungskinder im Rentenalter sind, entdeckt die Wissenschaft diese „wenig sicht- bare Bevölkerungsgruppe“ als Gegenstand der For- schung. Die Psychotherapeutinnen Heide Glaesmer und Marie Kaiser von der Universität Leipzig erfor- schen seit einigen Jahren ihre psychosoziale Entwick- lung. Grundlage ihrer Arbeit sind Fragebögen von 146 Betroffenen aus ganz Deutschland, die sich be- reiterklärt hatten, über „ihr Aufwachsen, ihre Erfah- rungen mit Stigmatisierung und Diskriminierung, ihre Identitätsentwicklung und zu ihrem heutigen psychischen Befinden“ Auskunft zu geben. Erstaunlicherweise sagen 86 Teilnehmer, also weit über die Hälfte, dass sie nie oder selten Erfahrungen mit Vorurteilen gemacht haben. Die anderen erin- nern sich an schwere Beschimpfungen wie „dass mei- ne Mutter als Tommynutte betitelt und ich Monkey genannt wurde“. Sie berichten von Ablehnung in der eigenen Familie und Ausgrenzung durch Pfarrer und Lehrer. Satjukow und Gries schreiben, dies habe den46 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

Schulgang so sehr belastet, dass sie in ihren schuli- Depressionen, Ängste,schen Leistungen hinter ihren intellektuellen Mög- Traumata: Die Kinderlichkeiten zurückblieben. von Besatzungssoldaten hatten in ihrem Leben In der Studie von Glaesmer und Kaiser berichtet häufig mit psychischenfast jeder zweite Befragte (gegenüber einem Fünftel Störungen zu kämpfender gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung) von trau-matischen Erfahrungen wie Missbrauch, körperlicher projektes von 2001 bis 2005 rekonstruierte ein TeamGewalt oder Vergewaltigung. Die ehemaligen Besat- aus Psychologen und Historikern deren Lebensweg.zungskinder hatten in ihrem Leben deutlich häufiger Mit 100 Wehrmachtskindern wurden biografischeals andere mit psychischen Störungen zu kämpfen. Interviews geführt, der Statistiker Dag Ellingsen wer-So haben knapp 14 Prozent (Allgemeinbevölkerung: tete anonymisierte Daten von 1150 Betroffenen aus.fünf Prozent) eine Depression und 11,6 Prozent (ge- Grundlage war die norwegische Personennummer,genüber 1,4 Prozent) eine posttraumatische Belas- unter der seit 1964 alle Informationen gespeicherttungsstörung. Als Ursache vermuten die Forscherin- werden, die beim Kontakt eines Staatsbürgers mitnen unter anderem „häufigen Bezugspersonenwech- öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen anfallen.sel“ und „Abhängigkeit von ablehnenden und ge-walttätigen Angehörigen sowie Aufenthalte in Anhand der Statistiken konnte Ellingsen nach-Kinderheimen, in denen sie Opfer von Missbrauch weisen, dass Wehrmachtskinder in vielem deutlichund erheblicher Vernachlässigung wurden“. Sie be- schlechter abschneiden als gleichaltrige Vergleichs-tonen, dass sich „der Zugang zu solchen Zielgruppen personen: Sie haben niedrigere schulische und be-schwierig gestaltet und es praktisch nicht möglich rufliche Qualifikationen und ein geringeres Einkom-ist, hier repräsentative Stichproben zu ziehen“. men. Sie sind häufiger geschieden, häufiger wegen psychischer Probleme arbeitsunfähig, überhaupt er-Spiegelschicksale: kranken sie häufiger und schwerer und gehen früher in Rente. Sie haben den höchsten Anteil an Suiziden,die „Wehrmachtskinder“ Krebs- sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ei- ne verkürzte Lebenserwartung.Blickt man aber über den deutschen Tellerrand, fin-det man Hunderttausende von Besatzungskindern, Ihre psychosozial belastete Kindheit führte alsoderen Erfahrungen denen der deutschen auf frappie- offenkundig zu körperlichen und psychischen Schä-rende Weise gleichen. Auch sie berichten von einerKindheit voller Schweigen, Lügen, vagen Andeutun-gen und Mobbing. Die Rede ist von Wehrmachts-kindern, jenen Europäern, deren leiblicher Vater alsdeutscher Soldat zwischen 1940 und 1945 in ihremHeimatland stationiert war. Die besterforschten Besatzungskinder Europas,wenn nicht der Welt, sind die norwegischen Wehr-machtskinder. Im Rahmen eines großen Forschungs-GeĚfüdŝhĞƌleĞe^mīŝpŶĞfinŶŶdeĞn^ƐŝƐĞƉũĞĞnjƚŝnjĮƚƐ/ĐŚŚƌĞĞtWćĂĚŚĂůŐĨŽƺŐƌŝŬΠSinne spürenŝŶĞĚĞƌǁŝĐŚƟŐƐƚĞŶ&ŽƌƚďŝůĚEƵnŶtŐsĞcŶhĨƺeƌiWdƐuLJNĐnŚugŽrůenŽonŐcĞhŶtwr͕eWećnfĚfigeĂeŐnPŽlŐäĞtzŶeƵfŶreĚi:BƌunjcŝĞhŚeĞnƌSie jetzt!¾ƚŚĞƌĂƉŝĞĞƌƐĞƚnjĞŶĚĞdƌĂƵŵĂďĞĂƌďĞŝƚƵŶŐ 10% ¾ŵŝƚƉƌŽĨĞƐƐŝŽŶĞůůĞŶDĂƘŶĂŚŵĞŶ Rabatt bei Buchung ¾ŝŶŚĂůƚƐĨƌĞŝĞWćĚĂŐŽŐŝŬ ¾ŶŽŶǀĞƌďĂůĞ<ŽŵŵƵŶŝŬĂƟŽŶ in 2015 für den ¾ŚŝůŌ ďĞŝƐĐŚǁĞƌĞŶĞĮnjŝƚĞŶǀŽŶ 1. Kurs 2016! <ůŝĞŶƚĞŶŝŶĚĞƌĞŶ^ĞůďƐƚǁĂŚƌŶĞŚŵƵŶŐ 2. Kurs 2016 ƵŶĚ^ĞůďƐƚŬŽŶƚƌŽůůĞ Ϭϲ͘Ϭϲ͘രʹരϬϵ͘Ϭϲ͘ ϭϮ͘Ϭϵ͘രʹരϭϱ͘Ϭϵ͘ TAGESSEMINAR Ϭϳ͘ϭϭ͘രʹരϭϬ͘ϭϭ͘ zum Ϯϴ͘ϭϭ͘രʹരϯϬ͘ϭϭ͘ Kennenlernen für nur 120,- € 1. Kurs 2016 'ĞƐĞůůƐĐŚĂŌ Ĩƺƌ ϭϴ͘Ϭϭ͘രʹരϮϭ͘Ϭϭ͘ ^ŝŶŶĞƐƐƉĞnjŝĮƐĐŚĞWćĚĂŐŽŐŝŬ ^ĐŚŶƵƉƉĞƌŬƵƌƐരര/͗ Ϯϵ͘ϬϮ͘രʹരϬϯ͘Ϭϯ͘ŝĞ<ƵƌƐĞnjƵũĞϰůŽĐŬͲŝŶŚĞŝƚĞŶ 23.03.2016 ϭϴ͘Ϭϰ͘രʹരϮϭ͘Ϭϰ͘ ,Žĩ ƌŽŽŬϮϭďäϮϰϭϭϵ<ƌŽŶƐŚĂŐĞŶ Ϯϯ͘Ϭϱ͘രʹരϮϱ͘Ϭϱ͘ĮŶĚĞŶŝŵĞŝŐĞŶĞŶŝůĚƵŶŐnjĞŶƚƌƵŵ dĞů͗͘ഭϬϰഭϯϭറͲറϱϴഭϯϲഭϵϲഭϭϴä&Ădž͗ϱϴഭϯϯഭϬϬ ^ĐŚŶƵƉƉĞƌŬƵƌƐര//͗ 30.09.2016ĚŝƌĞŬƚĂŶĚĞƌKƐƚƐĞĞƐƚĂƩ ͘ ǁǁǁ͘ŐͲƐͲƉ͘ŝŶĨŽäŵĂŝůΛŐͲƐͲƉ͘ŝŶĨŽ

Die Besatzungskinder sind vate Hilfe angewiesen. Während die USA Suchan-nun im Rentenalter. Erst jetztentdeckt die Wissenschaft träge bearbeiten, erhalten die Nachkommen vondiese bislang wenig beachteteBevölkerungsgruppe französischen, sowjetischen und britischen Soldaten den. Dennoch haben die meisten Besatzungskinder von den jeweiligen Regierungen selbst dann keine – in Norwegen ebenso wie in Deutschland – ein un- auffälliges, gelungenes Leben geführt. Aus den Ant- Auskünfte, wenn der Name und der ehemalige Sta- worten auf die Frage, wie sie sich heute sehen, erga- ben sich für Glaesmer und Kaiser fünf verschiedene tionierungsort bekannt sind. Identitätsbeschreibungen: Außenseiter, Überlebens- künstler, Kämpfer, Opfer negativer Erfahrungen und Horst Emrich wusste schon immer, dass sein Va- Unbelastete. Ausschlaggebend für die Selbsteinschät- zung als unbelastet war das Gefühl, „während der ter ein amerikanischer Soldat aus Puerto Rico war, Kindheit und Jugend von den wichtigen Bezugsper- sonen angenommen … worden zu sein“. doch erst mit 56 Jahren wandte er sich an die Orga- Auf der Suche nach dem Vater nisation GI trace mit der Bitte, ihm bei der Suche zu Auch wenn dies der Fall war: Es ist, sagt Heide Glaes- helfen. Tatsächlich konnte der Vater ermittelt werden. mer, für die Identitätsentwicklung ausgesprochen förderlich, wenn man seine biologischen Eltern kennt. Nach der ersten Begegnung mit dem 92-Jährigen sag- Und auch wenn es für die Identitätsentwicklung zu spät sein mag, machen sich jetzt viele auf die Suche te Emrich beseelt: „Ich bin von einer inneren Ruhe nach dem abwesenden, unbekannten, ersehnten Va- ter. Manche zögern lange, das Unterfangen anzuge- und Gelassenheit, die ich nie zuvor in meinem Leben hen, weil es zu schwierig scheint, nicht wenige hält die Angst zurück, von ihrer Schattenfamilie abge- so erlebt habe.“ wiesen zu werden. Paul Schmitz war 29 Jahre alt, als seine Mutter Bei der Recherche sind die meisten bei der frem- den Sprache, dem Auffinden und Durchforsten mög- starb und eine Tante erwähnte, zwei Nachbarinnen licher Archive, der Reise ins Land des Vaters auf pri- wüssten mehr über seinen unbekannten Vater. „Ich konnte die beiden damals nicht fragen“, sagt er, „es ging einfach nicht.“ Dreißig Jahre später, mit 60 Jah- ren, fragte er doch. Weitere fünf Jahre später hatte er seine Halbschwestern gefunden. Am Tag nach seinem 13. Geburtstag teilte Win- fried Behlaus Mutter ihm knapp mit, dass sein Vater ein Russe sei, sie sei vergewaltigt worden. „Und dann hat sie nichts mehr gesagt – das ganze Leben lang.“ Auch hier war es eine Tante, die Jahrzehnte später verriet, was seine Mutter nicht hatte sagen können: „Deine Mutter hat geschrien. Er hat sie auf dem Tisch vergewaltigt. Als du geboren wurdest, hat sie geheult: ‚Ich knall den Russek an die Wand.‘“ Mit Mitte 60 beschloss Behlau, seine Herkunft nicht mehr unter allen Umständen geheim zu halten, sondern öffent- lich darüber zu sprechen, „mit welchen Ängsten ich zeitlebens gelebt habe“. PH Eine Literaturliste zu diesem Beitrag finden Sie auf unserer Website unter www.psychologie-heute.de/literaturSUCHE IM NETZGI trace ist eine Organisation, BOWi.n. (Born of War, interna- Children Born of War ist eindie deutschen und österreichi- tional network) ist ein Netz- Forschungsnetzwerk mit überschen Kindern von amerikani- werk nationaler Organisatio- 100 Mitgliedern weltweit: Wis-schen Soldaten bei der Suche nen, in denen sich Menschen senschaftler, Betroffene, Jour-nach dem Vater hilft. zusammengefunden haben, nalisten und Mitglieder von Or-www.gitrace.org die aufgrund eines Krieges ganisationen. Ziel ist, die Wis- oder einer kriegerischen Ausei- sensbasis zu „Kindern des nandersetzung geboren wur- Krieges“ zu erweitern. den. www.bowin.eu www.childrenbornofwar.org48 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016

1 CD mit 12-seitigem Booklet. Laufzeit ca. 80 Minuten. »Der Kopf will immer alles haben, Ƚ%t*4#/ aber der Körper weiß, wann er genug hat« Prof. Dr. Eugene T. Gendlin, Begründer des Focusing 20 stärkende Übungen für mehr Kraft Der Audio-Ratgeber enthält einfache und wirkungsvolle Basisübungen zu den acht Focusing-Schlüsseln. Die Übungen helfen Ihnen, wach, positiv und produktiv den Tag zu meistern und abends noch fit zu sein. Alle Übungen sind leicht in den Arbeitsalltag zu integrieren. Sie sind Individuell anpass- bar und bieten Impulse für Meetings, Team- sitzungen und Seminare. Hörprobe auf www.beltz.de Wie Sie Burnout vermeiden können Den eigenen Perfektionis- mus bändigen – und end- Jeder kann sich selbst vor lich lernen, nein zu sagen: Burnout und Überlastung Die schwedische Erfolgs- schützen: Alltagstaugliche autorin macht Lust auf Werkzeuge helfen Früh- Veränderung, um Stress signale von Überlastung und Burnout dauerhaft zu erkennen und in Hand- vorzubeugen. lungskraft umzuwandeln. 188 Seiten, gebunden. € 29,95 D 280 Seiten, broschiert. € 17,95 D ISBN 978-3-407-36510-1 ISBN 978-3-407-85944-0 Leseprobe auf www.beltz.de

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