JANUAR 201643. JAHRGANG HEFT 1 € 6,90 SFR 10,90 D6940E  AUSGEBRANNT                                                   Warum es kein Versagen ist,                                                 wenn Sie an Ihre Grenzen stoßen                                             GUTE VORSÄTZE      ACHTSAMKEIT          COMPUTER                                             Selbstveränderung  Der Boom verfälscht  Sind sie bald klüger                                             ist doch möglich   das Konzept          als der Mensch?
Auch als                                      Auch als                                                                                                                                                                   Auch alsE-Book                                        E-Book                                                                                                                                                                     E-Book96 S., kart. • € (D) 17,90 • ISBN 978-3-95571-053-8                                                                                240 S., kart. • € (D) 22,90 • ISBN 978-3-95571-416-1                                                                                                                                                                   160 S., kart. • € (D) 17,90 • ISBN 978-3-95571-329-4Der geborgene Ort                             Hochsensible Menschen                                                                                                                                                      Befreiung vom                                             VerlagSicherheit und Beruhigung bei                 im Coaching                                                                                                                                                                Inneren Kritikerchronischem Stress.                           Was sie ausmacht, was sie                                                                                                                                                  Konstruktive innere DialogeEin Übungsbuch mit CD                         brauchen und was sie bewegt                                                                                                                                                führen. Systemische Therapie                                                                                                                                                                                                                         mit der Inneren FamilieWer gestresst ist neigt dazu, äußere          Circa 20 Prozent der MenschenMittel einzusetzen, um sich so                gehören zu den hochsensiblen                                                                                                                                               Der Innere Kritiker ist der Teillange zu manipulieren, bis Körper             Personen (HSP), die ausge-                                                                                                                                                 von uns, der uns verurteilt,und Geist im gewünschten                      sprochen fein wahrnehmen,                                                                                                                                                  beschämt und dafür sorgt, dassModus sind. Oft hat man dabei                 gründlich nachdenken und                                                                                                                                                   wir uns unzulänglich fühlen. Statteine große Sehnsucht, einerseits              intensiv fühlen. Jeder Coach hat                                                                                                                                           ihn zum Schweigen zu bringen,nach Geborgenheit, andererseits               es somit in seiner Praxis – je nach                                                                                                                                        zu bekämpfen oder seinen Forde-danach, endlich mehr innere                   Ausrichtung mehr oder weniger                                                                                                                                              rungen nachzugeben, könntenRuhe zu finden. Um Menschen                    häufig – mit HSP zu tun. Auf-                                                                                                                                               wir versuchen, unseren Innerenmit chronischem Stress eine Idee              grund ihrer Wesensart stehen                                                                                                                                               Kritiker als Verbündeten zuvon Schutz und Geborgenheit                   HSP vor einer Vielzahl von                                                                                                                                                 gewinnen. Mithilfe des methodi-innerlich vermitteln zu können,               Herausforderungen und suchen                                                                                                                                               schen Ansatzes der Systemischenhat die Autorin eigene Übungen                daher oft Unterstützung und                                                                                                                                                Therapie mit der Inneren Familieentwickelt bzw. bestehende                    Orientierung in einem Coaching.                                                                                                                                            (IFS) nach Richard SchwartzÜbungen verändert. Dabei geht                 Neben dem facettenreichen                                                                                                                                                  lernen Sie, wie Sie die Ursachenes ihr insbesondere um diejenigen,            Phänomen Hochsensibilität selbst                                                                                                                                           von selbstsabotierendemdie als Kinder diese Geborgenheit             erklärt dieses Buch, wie Coaches                                                                                                                                           Verhalten entdecken und einnicht erlebt haben, aber eine                 HSP erkennen, wie sie sich                                                                                                                                                 verbessertes Selbstwertgefühlgroße Sehnsucht danach                        bestmöglich auf sie einstellen und                                                                                                                                         aufbauen können.verspüren.                                    sie effektiv unterstützen können.                                                                                                                                                                                                                                             Dr. Jay Earley                    Michaela Huber                                Ulrike Hensel                                                                                                                                                                ist Psychologe, Psycho-                      ist psychologische                            studierte Angewandte                                                                                                                                                       therapeut und Lehrer.                      Psychotherapeutin,                            Sprachwissenschaft,                                                                                                                                                        Der Spezialist für                      Supervisorin und                              arbeitet selbstständig                                                                                                                                                     IFS-Therapie ist Autor                      Ausbilderin in Trauma-                        als Textcoach u. Coach                                                                                                                                                     zahlreicher Bücher.                      behandlung. Sie ist                           für Hochsensible. Selbst                      seit deren Gründung                           hochsensibel, ist es ihr                                                                                                                             Bonnie Weiss ist Psychotherapeutin1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft     ein tiefes Anliegen, Hochsensible in ihrem                                                                                                                                 und gibt IFS-Workshops und Seminarefür Trauma und Dissoziation (DGTD).           Selbstwertgefühl zu stärken.                                                                                                                                               zum Thema Selbstwert.                                                                                                                                                                                                                                                                       Junfermann
Liebe Leserin, lieber LeserW ir sind die Ausgebrannten. Unser Selbst                wehrt sich der Organismus gegen Überreglementie-               ist erschöpft. Längst haben wir das       rung, Ausbeutung und Allverfügbarkeit. Der Psy-               Nicht-mehr-Können als scheinbar un-       chotherapeut Gunther Schmidt sieht im Burnoutausweichliche Folge unserer Leistungsgesellschaft        daher eine Kompetenz (Seite 22). Wer ausbrennt,akzeptiert. So wundert es niemanden, dass seelische      sollte sich das nicht als Schwäche oder Versagen aus-Erkrankungen wie Depressionen und Burnout in-            legen, sollte nicht schamvoll den Kopf senken undzwischen den zweiten Platz (nach Muskel-Skelett-         schuldbewusst daran arbeiten, seine Akkus wiederErkrankungen) der Krankschreibungen erobert ha-          aufzuladen. Schließlich kann er stolz sein auf seinben. Das vermeldete der aktuelle Gesundheitsatlas        Engagement – müdstolz, wie es Peter Handke in sei-der Betriebskrankenkassen (BKK) vor wenigen Mo-          nem Versuch über die Müdigkeit nennt. Ein „Müd-naten. Von einer Zunahme dieser Erkrankungen             stolzer“ weiß um seine Leistung und hat daher keinwollen die Autoren der Studie allerdings nicht reden.    Problem damit, sich und anderen einzugestehen:Seelische Erkrankungen seien heute kein Tabuthema        „Ich kann unmöglich allem gerecht werden.“mehr, die Betroffenen suchten selbstverständlicherund schneller Hilfe.                                                              [email protected]   Das ist gut. Doch was passiert mit den Müden,           Vielleicht wird Burnout irgendwann auch von Vorgesetz-Erschöpften, Ausgebrannten, die laut BKK im Durch-         ten als Kompetenz akzeptiert? Die Cartoonisten Michaelschnitt 39 Tage aus ihrem Alltag herausfallen? Eine        Schilling und Jan Blum spielen diesenriesige Burnoutindustrie steht mit Büchern, Selbst-        Gedanken auf Seite 57 schon mal durch.hilfeprogrammen und Therapien bereit, doch so viel-        Unter dem Motto „Irgendwas mitfältig die Hilfsangebote auf den ersten Blick scheinen,    Menschen“ sind die beiden nun insie sind überraschend ähnlich. Im Grunde lassen sie        jeder Ausgabe von Psychologiesich in zwei Kategorien einteilen: „Tun Sie mehr von       Heute vertreten. Wir freuendiesem“ und „Tun Sie weniger von jenem“. In die            uns über diesen Neuzugang.erste Kategorie fallen Empfehlungen wie Achtsamkeitüben, meditieren, regelmäßige Bewegung, Neinsagen,Pausen, Nichtstun. In der zweiten Kategorie findensich Unterlassungsgebote wie: keine Arbeit mit nachHause nehmen, auf Kaffee und Alkohol verzichten,sich nicht zum Sklaven digitaler Medien machen,stressige Situationen und Menschen meiden.   Helfen diese Strategien nachhaltig? Zielen sie aufden Kern des Problems? Erschöpfung, so meinteFriedrich Nietzsche einmal, ist „dort am größten …,wo am unsinnigsten gearbeitet wird“. In der Tat zei-gen alle relevanten Studien: Menschen brennen nichtaus, weil eine Tätigkeit zu anstrengend oder eineVerantwortung zu groß ist. Sie brennen aus, wennsie keinen persönlichen Einfluss auf ihr Tun nehmenkönnen. Je weniger Kontrolle jemand über seine Ar-beit hat, desto mehr Stress erlebt er, desto höher istsein Burnoutrisiko. Mit Achtsamkeitsübungen undEntspannungsstrategien ist da oft nicht geholfen.   Statt die eigene Erschöpfung zu individualisieren,ist es für die Betroffenen hilfreicher, das Empörungs-potenzial ihres Burnouts zu erkennen. SchließlichPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                                                          3
IN DIESEM HEFT   TITEL                                                T I T E LT H E M A18 Ausgebrannt                                          18 Burnout! Diese Diagnose                                                                    werten Betroffene als       Burnout ist kein individuelles Versagen.         Schwäche und Versagen. Doch wer       Vielmehr sehen Psychotherapeuten darin           ausgebrannt ist, hat sich vorher für       ein Zeichen von Kompetenz                        eine Sache von Herzen engagiert,                                                        hat loyal und solidarisch gehandelt.      Von Birgit Schönberger                            Psychotherapeuten sehen daher                                                        in einem Burnout zunehmend ein22 „Ich kann unmöglich                                  Zeichen von Kompetenz    allem gerecht werden“                                                                                                                                 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016       Wer ausgebrannt ist, hat sich vorher enga-       giert. Das sollte gewürdigt werden, meint       der Psychotherapeut Gunther Schmidt12 Im Fokus: „Ist das Altruismus?    Da bin ich nicht so sicher“       Der Sozialpsychologe Oliver Decker hat       untersucht, warum die Flüchtlingswelle nur       manche Menschen zu Helfern macht26 Der achtlose Umgang    mit der Achtsamkeit       Vieles, was unter „Achtsamkeit“ vermarktet       wird, hat mit der Grundidee nur wenig zu tun      Von Andreas Knuf30 „Der Boom wird immer wilder“       Der Psychologe Paul Grossman fürchtet eine       Verfälschung des Konzepts Achtsamkeit34 Das schaffen Sie!       Selbstveränderung ist doch möglich      Von Jochen Metzger39 Überprüfen Sie Ihre guten Vorsätze       Wie realistisch sind Ihre Pläne fürs neue Jahr?      Von Marloes Zevenhuizen40 „Wir würden es ohne Unruhe    gar nicht aushalten“       Warum ist die Ruhe aus dem Leben       verschwunden?      Ein Gespräch mit Ralf Konersmann44 Die Kinder des Feindes       400 000 Kinder von Besatzungssoldaten       wuchsen nach dem Zweiten Weltkrieg in       Deutschland auf. Was ist aus ihnen geworden?      Von Ebba Drolshagen4
26 Vor 2600 Jahren von Buddha                                     58 Computer, klüger als                                            gelehrt, galt Achtsamkeit         der Mensch?                             bis vor wenigen Jahren als esoterisch-                             anrüchig. Heute boomt das Thema.                    Schon heute steuern Computerprogramme                             Experten fürchten inzwischen, dass das              unsere Autos und sprechen mit uns. Werden                             Konzept Achtsamkeit durch die vielen                sie uns eines Tages überlegen sein?                             populären Versionen verwässert und                             verfälscht werden könnte                           Von Manuela Lenzen        34 Ein neues Jahr liegt vor                                       64 Wozu das Ganze?                                            uns. Zeit für gute Vorsätze.                             Wer jetzt abwinkt, weil er zu wissen                Auf die Frage nach dem Sinn werden wir nie                             glaubt: „Es funktioniert doch alles                 eine abschließende Antwort finden, meint                             nicht“, irrt. Die Psychologie kennt                 der Psychotherapeut Alfried Längle                             die Mechanismen der Selbstverände-                             rungen und weiß, wie Wunschziele             70 Sie haben einen guten Rat?                             realisiert werden können                         Behalten Sie ihn für sich!PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                        Man sollte die Stolpersteine kennen, ehe                                                                                 man anderen „kluge“ Vorschläge macht                                                                                Von Yvonne Vávra                                                                             RUBRIKEN                                                                          16 Therapiestunde                                                                                 Komm her, geh weg                                                                                Von Wolfgang Schmidbauer                                                                          32 Psychologie nach Zahlen                                                                                 Schlafgespinste                                                                                Von Thomas Saum-Aldehoff                                                                          76 Der Psychotest                                                                                 Wie gut ist mein Gedächtnis?                                                                                Von Jochen Metzger                                                                          78 Pehnts Alltag                                                                                 Ich weiß nicht, ob Helfen überhaupt                                                                                 noch hilft                                                                                Von Annette Pehnt                                                                             3 Editorial                                                                             6 Themen & Trends                                                                           52 Körper & Seele                                                                           57 Schilling & Blum: Irgendwas mit Menschen                                                                           80 Buch & Kritik                                                                           91 Medien                                                                           92 Leserbriefe                                                                           93 Impressum                                                                           94 Im nächsten Heft                                                                           95 Markt                                                                          106 Noch mehr Psychologie Heute                                                                                                                                             5
THEMEN&TRENDS REDAKTION:                                                                                                                                                                                                                                 JOHANNES KÜNZELZeig deine Gefühle!                                                                                                                 Wer seine                                                                                                                                    Emotionen hinterManchmal wollen wir nicht, dass andere sehen, wie       sterben. Diese Szene entnahmen die Psychologen dem                          einer Masketraurig wir sind. Manchmal erscheint uns ein Lachen                                                                                 verbirgt, mussunangebracht. Dann setzen wir ein Pokerface auf.        Film Der Champ, nach Ansicht von Kritikern einer                            mit Nebenwir-Die Emotionen sind dann zwar noch da, aber für                                                                                      kungen rechnenandere nicht mehr so gut sichtbar.                      der traurigsten Filme aller Zeiten.   Doch das Leben ist kein Kartenspiel. Wer seine       Die Studenten begutachteten jeweils zwei Perso-Emotionen für sich behält, muss mit Nebenwirkun-gen rechnen. Menschen, die zu diesem Verhalten nei-     nen, die ihren Emotionen freien Lauf ließen, undgen, sind häufiger einsam als andere. Das haben For-scher bereits mit früheren Arbeiten belegt.             zwei Personen, die keine Regung zeigten. Im An-   Was sind die Ursachen? Die Psychologen Allison       schluss beantworteten die Probanden eine Reihe vonTackman und Sanjay Srivastava hatten eine Vermu-tung. Wer sich nicht in seine seelischen Karten schau-  Fragen zu jedem der vier Gezeigten: Würde ich miten lässt, sendet damit Signale an seine Umwelt aus,etwa: Ich bin nicht sehr umgänglich und bleibe lieber   ihm gerne Zeit verbringen? Ist er umgänglich, gehtfür mich.                                                        er aus sich heraus? Die Ergebnisse waren eindeutig.   Tackman und Srivastava bestätigten ihre Hypo-these mit zwei Experimenten. Bei der ersten Unter-      Pokerfaceträger erschienen den Studenten tenden-suchung zeigten sie 149 Studenten jeweils vier kurzeVideoclips. Zu sehen waren Menschen, die dabei ge-      ziell als Eigenbrötler, mit denen sie ungerne etwasfilmt worden waren, wie sie eine Filmszene betrach-teten. In der lustigen Bedingung war dies die welt-     unternehmen wollten. Einen besonders seltsamenberühmte Orgasmusszene aus Harry und Sally. Inder traurigen Variante sah ein Junge seinen Vater       Eindruck machten Leute, die sich bei einem lustigen                                                        Film das Lachen verkniffen.                                                        Beim Aufbau einer Freundschaft investieren wir                                                        Zeit und machen uns emotional verletzlich, gerade                                                        weil wir uns für den anderen öffnen. Verbirgt dieser                                                        Mensch seine Emotionen vor uns, könnten wir das                                                        so verstehen, dass sich diese Investitionen nicht loh-                                                        nen, spekulieren Tackman und Srivastava.  JK                                                        Allison M. Tackman, Sanjay Srivastava: Social responses to expressive sup-                                                        pression: The role of personality judgments. Journal of Personality and                                                        Social Psychology, 2015, online vor Print. DOI: 10.1037/pspp00000536 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Ein Angestellter surft stundenlang privat im Netz,      1,5der Chef bemerkt es. Es könnte sich für den Cheflohnen, die Situation mit Humor zu nehmen und zu        Sekundensagen: Überarbeite dich nicht. Denn Ironie amArbeitsplatz scheint die Kreativität zu befördern.      länger als weiße US-BürgerWer etwas sagt (überarbeite dich nicht), aber           warten Afroamerikaner ameigentlich das Gegenteil meint (du Faulpelz!), nutzt    Zebrastreifen. Das zumindestdabei abstrakte Gedankengänge und bringt sich so        hat ein Feldexperiment in Port-selbst mental auf Touren – und sein Gegenüber           land gezeigt. Während Weißegleich mit.                                             im Durchschnitt nur ein Fahr-                                                        zeug passieren ließen, bevorDOI: 10.1016/j.obhdp.2015.07.001                        sie gefahrlos die Straße über-                                                        querten, mussten Schwarze ein                                                        weiteres Auto abwarten.                                                        DOI: 10.1016/j.trf.2015.06.002Mächtig abstraktPolitiker drücken sich gerne kompliziert aus. Ein Bei-                                                                             Abstrakt undspiel gefällig? „Es müssen große Investitionsanstren-                                                                              unverbindlich:gungen mit einem klaren Auftrag zur Modernisie-                                                                                    „Was interessierenrung und Digitalisierung gemacht werden, wenn wir                                                                                  mich die Details …“weiterhin Innovationsland bleiben wollen“, sagteAlexander Dobrindt, Minister für Verkehr und di-        andere mehr an der Problemlösung interessiert. Ins-gitale Infrastruktur, im Herbst. Wie genau Deutsch-     gesamt zeigten sich die Versuchspersonen differen-land moderner und digitaler werden soll, verschwieg     ziert in ihrem Urteil: Von einer Führungspersön-der CSU-Mann vor dem Bundestag jedoch.                  lichkeit wünschten sie sich beides – den Blick fürs                                                        große Ganze und den für die Umsetzung.   Einerseits verhielt Dobrindt sich so, wie man esvon einer Führungskraft erwartet. Er widmete sich       Mauricio Palmeira: Abstract language signals power, but also lack of actiondem großen Ganzen und verwendete eine entspre-          orientation. Journal of Experimental Social Psychology, 61, 2015, 59–63.chend abstrakte Sprache. Damit führte er vor: Seht      DOI: 10.1016/j.jesp.2015.07.003her, ich bin mächtig und halte mich nicht mit demalltäglichen Klein-Klein auf.   Andererseits haben klare Worte eben auch ihrenWert. Das hat der Marketingexperte Mauricio Pal-meira gezeigt. In einem Experiment legte der Wis-senschaftler von der Monash University in Melbourne79 Probanden Zitate von Politikern vor. Ein Volks-vertreter äußerte sich allgemein zu wirtschaftlichenSchwierigkeiten, ein anderer widmete sich einemkonkreten Arbeitslosen namens Joe Smith. Währendder abstrakte Redner mächtiger erschien, wirkte derPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                                                                                               7
In der Fremde vermitteln Erinnerungen an                                        Spätestens als Bettina Wulff als erstedie Heimat Geborgenheit. Amerikanische                                          tätowierte First Lady ins SchlossStudenten in Hongkong jedenfalls tankten                                        Bellevue einzog, waren Tattoos in dereiniges an Sicherheit, wenn sie sich in einem                                   Mitte der deutschen Gesellschaft an-Experiment gedanklich mit der uramerika-                                        gekommen. Gerade weil dieser Kör-nischen Sportart Baseball beschäftigten –                                       perschmuck heute so weit verbreitetverglichen mit der fernöstlichen Kampfkunst                                     ist, lässt er kaum noch RückschlüsseTai-Chi. Mehr noch: Die Studenten fühlten                                       auf die Persönlichkeit seiner Trägersich anschließend auch offener, ihr Gastge-                                     zu. Das zeigten Psychologen nun amberland zu erkunden.                                                            Beispiel der Impulsivität: Menschen                                                                                mit Tinte unter der Haut neigen imDOI: 10.1016/j.jesp.2015.02.004                                                 Durchschnitt kaum stärker als andere                                                                                zu Kurzschlussreaktionen. Die Ver-                                                                                mutung, dass Tattooträger auch                                                                                sonst einen Hang zu risikoreichem                                                                                Verhalten haben, bestätigte sich                                                                                nicht.                                                                                DOI: 10.1016/j.paid.2015.08.054Die Kita verdirbt auchdie Jüngsten nichtKinder werden kaum aggressiver, wenn sie mit etwa      betreut werden, als nur minimal aggressiver als an-                          Kitakinder:einem Jahr in eine Kita kommen. Und selbst dieser                                                                                   gut gelauntEffekt verschwindet nach relativ kurzer Zeit. Das ist  dere, die erst kurze Zeit in der Kita herumtollen. Das                       statt aggressivdas Ergebnis einer neuen norwegischen Untersu-chung mit 939 Kindern. Dagegen waren vor allem         zeigte sich, als das Kitapersonal in Fragebögen angab,amerikanische Studien in der Vergangenheit zu be-denklicheren Ergebnissen gekommen. Allerdings war      wie oft ihre Zöglinge andere Kinder schlagen, zwi-bei diesen Arbeiten unklar, was Ursache und wasWirkung ist: Möglicherweise kommen in den USA          cken oder an den Haaren ziehen. Am dritten Ge-Kinder aus vorbelasteten Familien früher in die Ki-ta. Treten dann Probleme auf, muss dies nicht an der   burtstag waren weniger Unterschiede zu sehen, amBetreuung liegen.                                                       vierten gar keine mehr.  JOCHEN PAULUS   Die neue Studie des Psychologen Eric Dearingmacht sich dagegen zunutze, dass in Norwegen die       Eric Dearing u. a.: Age of entry into early childhood education and care asMehrheit der Ein- bis Zweijährigen in die Kita geht.   a predictor of aggression: Faint and fading associations for young Norwe-Zudem bestimmt dort der Zufall, in welchem Alter       gian children. Psychological Science, 2015, online vor Print. DOI:ein Kind in die Kita kommt. Es muss beim Aufnah-       10.1177/0956797615595011metag im August mindestens ein Jahr alt sein. Vielesind also schon einige Monate oder fast ein ganzesJahr älter, wenn die Erzieherinnen und Erzieher siein Empfang nehmen.   Doch an ihrem zweiten Geburtstag erweisen sichdie Jungen und Mädchen, die schon beinahe ein Jahr8 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Wer Filz undBestechung gutheißtDeutschland schneidet bei internationalen Korrup-       auf Regeln. Wenn es ihren Interessen dient, greifen                      Geld gegentionsvergleichen regelmäßig nicht mit Bestnoten ab.                                                                              Gefälligkeit – fürAktuelle Zahlen liegen für das Jahr 2014 vor. Da be-    sie eher als andere zu korrupten Praktiken“, sagt Litz-                  manche Menschenfragte die Organisation Transparency International                                                                               kein ProblemMenschen aus 175 Staaten nach der Situation in ih-      cke. Je gewissenhafter dagegen und je verträglicherrem Land. Deutschland landete dabei nur auf Platz12, Dänemark auf Platz 1; Schlusslichter waren Nord-    und je weniger offen Menschen sind, umso negativerkorea und Somalia.                                                        bewerten sie entsprechendes Verhalten. „Gewissen-   Wie aber stehen die Deutschen eigentlich zu Be-stechung und Bestechlichkeit, zu Käuflichkeit und       hafte arbeiten nicht nur genau und zuverlässig, son-Schmiergeldzahlungen? Und beeinflussen bestimm-te Persönlichkeitsmerkmale diese Einstellungen? Das     dern sind auch weniger anfällig für Korruption“, sofragte sich jetzt ein Forscherteam um Sven Litzcke,Psychologe an der Hochschule Hannover, und Ruth         Litzcke.  EVA TENZERLinssen, Soziologin an der Fachhochschule Münster.In drei Studien wurden Daten von insgesamt knapp        Sven Litzcke u. a.: Korruptionsbewertung. Psychopathie, Intelligenz und700 Studenten und Berufsschülern erfasst. Die Wis-      das Fünf-Faktoren-Modell, Polizei & Wissenschaft, 2/2015, 2–23senschaftler interessierte einerseits, ob Merkmale wieIntelligenz und Psychopathie – also Empathiemangel,Rücksichtslosigkeit und Manipulationsfähigkeit – dieHaltung zu Korruption beeinflussen. Zudem wurdendie sogenannten Big Five der Persönlichkeit erfasst(emotionale Stabilität, Extraversion, Gewissenhaf-tigkeit, Verträglichkeit, Offenheit). Die Wirkung die-ser Faktoren auf Korruption sei bislang nur unzu-reichend untersucht, sagt Litzcke.   Das Ergebnis: Intelligenz spielt bei der Bewertungvon Machtmissbrauch keine Rolle. Dagegen findenMenschen mit höheren Psychopathiewerten Korrup-tion eher in Ordnung. „Sie verfolgen ihre Ziele häu-fig ohne Rücksicht auf andere und ohne RücksichtPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                                                                                            9
Ist diese Frau wütend?                                                                   Zufriedene SinglesWir verstehen uns recht gut darauf, die Emotionen unserer Mit-                           Ist ein Leben in Zweisamkeit immer ein glückliche-menschen zu lesen. Immerhin ist es oft ziemlich wichtig zu                               res? Frühere Befunde hatten in diese Richtung ge-wissen, was der andere gerade fühlt: Der Mann dort mit dem                               deutet. Doch ganz so einfach ist es wohl nicht, sagenschwarz-gelben Schal hebt die Faust, nur weil ich eben den BVB                           nun neuseeländische Psychologen um Yuthika Gir-beleidigt habe.                                                                          me von der Universität von Auckland. Denn eine                                                                                         Partnerschaft ist eben nicht immer nur schön, Part-   Nun ist die Körpersprache aggressiver männlicher Fußball-                             ner streiten und verletzen sich auch. Zudem habenfans vergleichsweise leicht zu interpretieren. Wenn Frauen sich                          Singles mehr Zeit zur Verfügung, können zum Bei-ärgern, zeigen sie das hingegen nicht unbedingt offen, sondern                           spiel besser Freundschaften pflegen.machen gute Miene zu bösem Spiel.                                                                                            Girme geht davon aus, dass für manche Menschen   Einem aggressiven Fußballfan kann man aus dem Weg ge-                                 eine Beziehung keinen Glücksmehrwert hat – wäh-hen. Auf versteckte Aggression zu reagieren, ist dagegen schwie-                         rend andere tatsächlich erst aufblühen, wenn sie ihrrig. Frauen sind besonders oft Opfer derartiger Attacken. Ver-                           persönliches Herzblatt gefunden haben. Den Unter-mutlich ist das der Grund, warum sie dem neutralen Gesicht                               schied machen die Ziele, die jemand verfolgt. Aufeiner Geschlechtsgenossin häufig misstrauen. Das zeigt zumin-                            der einen Seite sind da die Vermeider, die Konfliktendest eine aktuelle Studie von Psychologen der Arizona State Uni-                         möglichst aus dem Weg gehen. Wie Girme nach derversity.                                                                                 Auswertung von 4200 Datensätzen zeigte, waren sie                                                                                         allein ebenso glücklich wie in einer festen Bindung.   Sie konfrontierten Probandinnen mit Fotos neutral blicken-                            Für die anderen galt dagegen, dass sie in einer Bezie-der Männer und Frauen. Die Teilnehmerinnen vermuteten in                                 hung zufriedener durchs Leben gingen. Diese Men-den Frauenfotos deutlich häufiger versteckte Anzeichen für Är-                           schen werden stärker von positiven Anreizen ange-ger als in den Männerfotos. Das (in diesem Fall unbegründete)                            zogen. Sie legen den Fokus mehr auf die Belohnungen,Misstrauen könne Frauen vor versteckter Aggression durch Ge-                             die eine Partnerschaft bietet – Nähe und gemeinsa-schlechtsgenossinnen schützen, spekulieren die Forscher.                                 mes Wachstum. Im Gegenzug leiden sie mehr dar-                                                                                         unter, wenn ihnen der Gegenpart fehlt.   Je begehrenswerter sich die befragten Teilnehmerinnen fan-den, desto öfter hielten sie die neutralen Frauengesichter für                           Yuthika U. Girme u. a.: Happily single: The link between relationship statusbloße Fassade. Vermutlicher Grund: Gerade attraktive Frauen                              and well-being depends on avoidance and approach social goals. Socialwerden häufig Opfer von Neid und Missgunst. „Sie tragen da-                              Psychological and Personality Science, 2015, online vor Print. DOI:her ein besonders hohes Risiko, zur Zielscheibe weiblicher Ag-                           10.1177/1948550615599828gression zu werden“, schreiben die Autoren. FRANK LUERWEG                                                                                                                                            PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016Jamie Arona Krems u. a.: Is she angry? (Sexually desirable) women “see” anger on femalefaces. Psychological Science, 2015, online vor Print. DOI: 10.1177/095679761560370510
Noch ein Schlückchen?                                          Ein volles  Glas                                                                                                                                                                                                                entspricht   200ml                                                                                                                                                  Allmählich dürfte sich herumgesprochen haben: Zu viel                                                                                                                                                  Alkohol ist nicht gesund. Doch wie viel ist zu viel? Die      FINNLAND                                                                                                                                                  Gesundheitsbehörden geben dazu Empfehlungen heraus,            M: 268 ml                                                                                                                                                  die wir in unserer Grafik in Weinmengen dargestellt haben.       F: 179 ml                                                                                                                                                  Man sieht: Welches Maß an Suff pro Tag als gerade noch                                                                                                                                                  tolerabel gilt, unterscheidet sich deutlich von Land zu                                                                                                                                                  Land, selbst innerhalb Europas. Die Deutschen, typisch,                                                                                                                                                  sind besonders streng, die Katalanen umso laxer – und                                                                                                                                                  nutzen den Anlass, sich mal wieder vom Rest Spaniens                                                                                                                                                  abzugrenzen.Quelle: Alkoholspiegel. Hintergrundinformationen zur Alkoholprävention der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Juni 2015, www.bzga.de  SPANIEN                                                                           DEUTSCHLAND    Grafik Gödecke Illustration & Infografik                                                                                                      M: 341ml                                                                               M: 250 ml                                                                                                                                                  F: 341 ml                                                                               F: 125 ml                                                                                                                                                                                                  ITALIEN                                    SCHWEDEN                                                                                                                                                                                                     M: 341ml                                    M: 227 ml                                                                                                                                                                                                     F: 205 ml                                   F: 227 ml                                                                                                                                                                                          FRANKREICH                                  SPANIEN                                                                                                                                                                                                 M: 341 ml                          KATALANIEN                                                                                                                                                                                                 F: 341 ml                                                                                                                                                                                                                                       M: 795 ml                                                                                                                                                  PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                            F: 795 ml                                                                                                                                                                                                                                                  11
IM FOKUS        „Ist das Altruismus?    Da bin ich nicht so sicher“     Deutschland ist gespalten: Ein Teil der Bevölkerung zeigt eine ungeahnte             Hilfsbereitschaft Flüchtlingen und Asylbewerbern gegenüber.     Ein anderer ist voller Aggression. Wovon es abhängt, zu welcher Gruppe                  man gehört, erklärt der Sozialpsychologe Oliver Decker12 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Herr Decker, vor wenigen Monaten gab es eine              Dr. Oliver Decker     Eine aktuelle Studie über Ehrenamtliche in der                                                         studierte Psycholo-Welle der Hilfsbereitschaft in Deutschland. Un-          gie, Soziologie und    Flüchtlingsarbeit kam zum Ergebnis: Die Zahl der                                                          Philosophie an derzählige Menschen kümmerten sich an Bahnhöfen              Freien Universität    ehrenamtlichen Helfer in der Flüchtlingsarbeit                                                        Berlin. Seit 2002 lei-um Flüchtlinge oder arbeiteten ehrenamtlich in          tet er zusammen mit     ist den letzten drei Jahren um 70 Prozent ge-Kleiderkammern. Waren Sie davon überrascht?               Elmar Brähler die     wachsen. Vor allem Frauen engagieren sich. Ha-                                                         „Mitte“-Studien derIch war nicht völlig überrascht. In den letzten zwan-    Universität Leipzig    ben Sie eine Erklärung für diesen neuen Altruis-zig Jahren hat sich die Wahrnehmung von Migran-         zum Rechtsextremis-ten in der Bundesrepublik ja ziemlich verändert:        mus in Deutschland.     mus?Während Helmut Kohl 1990 in einer Regierungser-klärung noch ausdrücklich betonte, dass Deutsch-                                Ist das Altruismus? Da bin ich mir gar nicht so sicher.land kein Einwanderungsland sei, sagte Angela Mer-                              Ich finde, man sollte den Blick nicht zu stark aufkel jüngst auf dem Integrationsgipfel, dass Deutsch-                            das Individuum richten, sonst teilt man unsere Ge-land ein Einwanderungsland sein wolle. Die sozialen                             sellschaft zu sehr in Gerettete oder Verdammte.Normen haben sich also verschoben, Migranten wer-                               Aus der Psychologie wissen wir ja, dass Altruismusden mittlerweile wahrgenommen als Gruppe, die                                   stark situationsabhängig ist: Nur wer überhaupt ge-auch etwas zu diesem Land beitragen kann. Dahin-                                nug Zeit hat, kann anderen Menschen helfen. Mirter stecken Nützlichkeitserwägungen; Gründe wie                                 ist es viel wichtiger zu schauen, warum eine Gesell-der Facharbeitermangel und demografischer Wandel                                schaft eine bestimmte Form von Persönlichkeits-rechtfertigen die Anwesenheit von Migrantinnen und                              struktur hervorbringt, sei es die autoritäre Persön-Migranten.                                                                      lichkeitsstruktur oder die altruistische Persönlich-                                                                                keitsstruktur. Aber wir wissen generell aus der For-   Es lassen sich außerdem Anzeichen finden, dass                               schung, dass prosoziales Verhalten eher weiblich ist:sich die kulturelle Identität verändert hat: Während                            Männer neigen zu kurzfristigen Handlungen wiefrüher noch als Deutscher galt, wer deutsche Vor-                               Lebensrettung, Frauen eher zu beziehungsorientier-fahren hatte, kann man jetzt auch Deutscher werden.                             tem Handeln.Das „Blutrecht“ im Staatsbürgerrecht wurde abge-schafft, es wurde liberalisiert. Und wir haben in den                           Interessant ist, dass die Untersuchung des Berli-letzten Jahren große Veränderungen durch die Un-terstützung des zivilgesellschaftlichen Engagements                             ner Instituts für empirische Integrations- und Mi-erlebt, viele Bürger sind mittlerweile für die Demo-kratie und Migrantinnen und Migranten aktiv.                                    grationsforschung zeigt, dass viele der engagier-Was bringt so viele Deutsche dazu, sich für                                     ten Flüchtlingshelfer schon vorher in persönli-Flüchtlinge zu engagieren?                                                      chem Kontakt zu Flüchtlingen standen. Viele ha-Das dürften ganze Motivationsbündel sein, die sich                              ben im Familienkreis Menschen mit Migrationsge-individuell stark unterscheiden. Empathie und Iden-tifikation mit den Flüchtlingen spielen natürlich ei-                           schichte oder sind mit Flüchtlingen befreundet.ne Rolle. Aber mir fällt auch auf, dass viele Menschensehr symbolisch und öffentlich reagieren. Sie begrü-                            In der Psychologie gibt es zur Erklärung dieses Phä-ßen die Flüchtlinge an Bahnhöfen und gehen an die                               nomens die Kontakthypothese: Persönliche Kontak-Öffentlichkeit mit ihren Vorstellungen, wie unsere                              te bauen Vorurteile ab. Es ist wesentlich schwerer,Gesellschaft aussehen sollte. Anders gesagt: Sie ver-                           einem Menschen gegenüber Vorurteile aufrechtzu-suchen, Einfluss zu nehmen auf eine gesellschaftliche                           erhalten, wenn man ihn kennt und wertschätzt. DasSituation, die sie als bedrohlich erleben. Das kennen                           erklärt auch, warum in Ostdeutschland, wo der An-wir aus der Psychologie: Forschungen zeigen, dass                               teil an Migranten gering ist, die Vorurteile so großerlebter Kontrollverlust zwar einerseits Ressenti-                              sind: Es gibt einfach zu wenige Gelegenheiten, Flücht-ments erhöhen kann, bei bestimmten Gruppen von                                  linge kennenzulernen. Ein anderer Punkt: Wir wis-Menschen aber zu kollektivem Handeln führt. Denn                                sen, dass jüngere Menschen und Menschen mit einemgemeinsames Handeln kann sinnvoll und erfolgreich                               höheren Bildungsgrad weniger Vorurteile haben ge-sein, diese Erfahrung haben viele Menschen durch                                gen Migranten.die zivilgesellschaftlichen Projekte in den letztenJahren gemacht. Die Herausforderung in den nächs-                               Wie interpretieren Sie das? Mehr Wissen führt zuten Jahren wird sein, dieses solidarische Handelnund Engagement auch auf Dauer zu zeigen.                                        einer höheren Reflexionsfähigkeit?                                                                                Nicht nur das. Wer ein höheres Bildungsniveau hat,                                                                                hat als Kind wahrscheinlich auch eine förderlichere                                                                                Erziehung genossen und günstige Bedingungen für                                                                                die eigene Entwicklung und damit auch für die Aus-                                                                                bildung eines demokratischen Verständnisses vor-                                                                                finden können. Anerkennung des anderen setzt näm-                                                                                lich voraus, dass ich selbst auch diese Erfahrung ge-                                                                                macht habe.PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                       13
IM FOKUSUnter den vielen Flüchtlingshelfern sind auffal-       Um Empathie für   Menschen, die einem selbst geholfen haben, an de-                                                        andere empfin-   nen man sich orientieren kann. Oder dass man alslend viele Menschen jüngeren Alters.                    den zu können,   Kind in einer fremden Umgebung die Erfahrung                                                                         machte, dass man aufgefangen wurde. Diese Bedin-Bei den älteren Geburtsjahrgängen vor 1970 und noch      muss man als    gungen führen dann eher dazu, dass Betroffene imviel stärker vor 1940 spielte Gewalt in der Kindheit     Kind in seinen  Erwachsenenalter Menschen mit ähnlichen Erfah-eine wesentlich größere Rolle, das haben wir in un-      Bedürfnissen    rungen unterstützen.seren„Mitte“-Studienbeobachten können.Vielewur-         anerkannt wor-den sehr autoritär erzogen und konnten gar nicht die                     Der Zusammenhang zwischen der deutschen Ge-psychischen Strukturen ausbilden, um Empathie und            den seinAnteilnahme empfinden zu können. Die jüngeren                            schichte und der aktuellen Flüchtlingskrise wirdGesprächspartner allerdings berichteten in unserenStudien über mehr Nähe und weniger körperliche                           aber selbst von der Politik immer wieder be-Züchtigung in ihren Familien. Die Gründe dafür,Empathie für andere empfinden zu können, sind zwar                       schworen: Bundespräsident Gauck sagte jüngst,vielschichtig, aber wir wissen doch, dass die eigeneSozialisation ausschlaggebend ist: Wer als Kind die                      „die Schicksale von damals und die SchicksaleErfahrung gemacht hat, dass man Freiräume hatteund in seinen Bedürfnissen und Wünschen anerkannt                        von heute“ gehörten „auf eine ganz existenziel-wurde, kann später auch andere Menschen in ihrenberechtigten Interessen gut wahrnehmen. Ist das nicht                    le Weise“ zusammen.so, werden Fremde schnell zur Projektionsfläche fürdas eigene Verdrängte und die eigenen Ängste.                            Gauck versucht, die Schicksale von damals und heu-                                                                         te parallel zu setzen, um ein Angebot zur Identifi-Eigentlich würde man ja denken, dass gerade wir                          kation zu machen: die Differenz zwischen Deutschen                                                                         und den Flüchtlingen zu reduzieren. Man weiß jaDeutsche – ein kriegstraumatisiertes Volk mit                            aus der Psychologie: Die Akzeptanz von anderen ist                                                                         höher, wenn sie als Angehörige der eigenen Gruppevielen eigenen Flucht- und Vertreibungserfah-                            wahrgenommen werden.rungen – eine innere Verbindung zu Kriegsflücht-                         Sie forschen seit bald fünfzehn Jahren über dielingen verspüren würden. Aber die ältere Gene-                           psychologischen Hintergründe von rechtsextre-ration tut sich damit schwer. Viele ehemalige Ver-                       men Einstellungen. Wovor genau haben die Leu-triebene fühlen sich geradezu bedroht von den                            te denn Angst, wenn um die Ecke ein Flüchtlings-Flüchtlingen.                                                            heim gebaut wird?Nach unseren Erhebungen ist der Einfluss eigener                         Das sichtbarste Phänomen ist nicht die Angst, son-Flucht- und Vertreibungserfahrungen beim Enga-                           dern die Aggression. Dass Menschen sich fragen, wiegement für Flüchtlinge nicht allzu groß. Wir finden                      das Zusammenleben gelingen kann und vielleichtzwar immer wieder Menschen, die ihr Handeln da-                          Angst haben, ist vollkommen nachvollziehbar undmit begründen, dass sie selbst als Kinder die Erfah-                     überhaupt nicht irrational.rung von Flucht, Stigmatisierung oder Ausgrenzunggemacht haben. Aber das ist nur ein relativ kleiner                         Sehr viel bedeutsamer ist das hohe Maß an Ag-Teil. Und meist spielen da noch ganz andere Fakto-                       gression, das wir seit fast einem Jahr nicht nur inren mit hinein, die Flucht allein ist nicht der aus-                     den Einstellungen finden, sondern auch in den Ma-schlaggebende Faktor, die kann nämlich genauso gut                       nifestationen. Wir wissen seit unseren Erhebungenstarke Ressentiments zur Folge haben. In dem Zu-                         in 2002, dass in Ostdeutschland in manchen Jahrensammenhang ist übrigens geradezu auffällig, dass                         bis zu fünfzig Prozent aller Befragten ausländerfeind-die Bundesländer, die nach dem Krieg einen sehr                          lichen Positionen zustimmen. In der Regel sind die-starken Anteil an Wanderungsbewegungen aufwie-                           se Ressentiments Selbstauskünfte, die weniger mitsen – vor allem Mecklenburg-Vorpommern und Bay-                          Angst zu tun haben als mit eigenen Enttäuschungenern – bis heute hohe Anteile an von Vorurteilen be-                      und eigenem Verzicht – und natürlich einer projek-lasteten Menschen haben.                                                 tiven Aufladung des anderen.Aus etwas Schlechtem erwächst also nicht unbe-                           Worüber geben die Ressentiments Auskunft?dingt etwas Gutes.                                                       Wir hören wirklich abstruse Vorwürfe, etwa dass                                                                         Flüchtlinge in Hotels mit Wellnessbereichen wohnen,Das ist auch ganz logisch: Flucht und Vertreibung                        Häuser und Autos vom Staat gestellt bekommen undsind per se schlimme Erlebnisse. Um daraus etwas                         sogar Viagra von der Krankenkasse. Die FlüchtlingeGutes im Menschen hervorzubringen, braucht es oft                        haben also ein schönes arbeitsfreies Leben mit einernoch andere Erfahrungen: Identifikation mit guten                        erfüllten Sexualität und müssen sich nicht unter-                                                                         werfen unter Regeln, die sie nicht selbst gemacht ha-                                                                         ben. Mit Sorgen oder Ängsten hat das nicht viel zu                                                                         tun.14 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Sondern?                                                Die Ressenti-   Wenn der Flüchtlingsstrom anhält, wird Deutsch-                                                        ments habenMit autoritären Aggressionen. Menschen, die sich      wenig mit Angst   land auch in den nächsten Monaten Hunderttau-als Kinder gegenüber der elterlichen Autorität nichtdurchsetzen durften, identifizieren sich notgedrun-       zu tun. Sie   sende Menschen aufnehmen müssen. Wird diesegen mit dem elterlichen Aggressor. Auch als Erwach-    resultieren aussene neigen sie dazu, sich machtvollen Interessen zu  Enttäuschungen    Integration gelingen?unterwerfen. In unserer Gesellschaft übt ja nun aber    und der Wut,kein Einzelner mehr Macht aus, die Macht geht in-                       Es bleibt ja noch abzuwarten, wie sich die Situationzwischen vom Markt aus. Unsere Ergebnisse bestä-            nicht amtigen, dass die starke Ökonomie im Großen und             Wohlstand     entwickelt. Wenn entschieden wird, dass man an derGanzen eine integrierende Funktion hat – aber den-       teilhaben zunoch immer mehr Deutsche auf eigene Wünsche                             Dublin-Regelung festhält, dass also diejenigenverzichten müssen: Durch die Arbeitsmarktreform,            könnendie hohe Arbeitsverdichtung und das Schwinden des                       Flüchtlinge, die über Ungarn oder Kroatien nachEinkommens der Mittelschicht fühlen sich immermehr Menschen abgehängt. Irgendwo muss die Ent-                         Deutschland eingereist sind, auch dorthin wiedertäuschung und auch die Wut hin, dass man im Wohl-stand lebt, ohne den entsprechenden Anteil zu be-                       zurückmüssen, schafft man eine Situation, die wahr-kommen. Gegen eine Autorität kann sich die Ag-gression aber nicht richten, stattdessen richtet sie                    scheinlich eher zur Eskalation führt. Weil die Flücht-sich gegen „andere“ und wird projektiv aufgeladen.                                                                        linge natürlich nicht zurückwollen und die LänderWie erklären Sie sich, dass gerade in Ostdeutsch-                                                                        sie ja auch nicht haben wollen. Die Gefahr bestehtland diese Dynamik besonders lebendig ist?                                                                        dann, dass sie illegal hierbleiben und notgedrungenIch denke, dass gerade in der DDR mehr Menschendie Erfahrung gemacht haben, dass sie für den Ver-                      kriminell werden, um überleben zu können. Fürzicht auf eigene Wünsche nicht ausreichend entschä-digt wurden. Die Wut auf die politische Autorität                       Menschen mit Vorurteilen wäre das die Bestätigungwird dann auf Schwächere umgelenkt. Das erklärtunter Umständen, warum sich im Osten vor bren-                          ihres Ressentiments. Das wäre eine hochkritischenenden Flüchtlingsheimen auch noch eine Mengeversammelt und jubelt, das passiert im Westen nicht.                    Situation. Wir müssen also die Flüchtlinge, die kom-                                                                        men, aktiv integrieren. Alles andere ist realitätsun-                                                                        tauglich: Weder kann man einen Bypass um Europa                                                                        legen, noch ist Integration eine Aufgabe allein der                                                                        Ankommenden. Das heißt: Wir müssen gerade die-                                                                        jenigen Bürger in unserer polarisierten Gesellschaft                                                                        stärken, die engagiert sind. Sodass wir hier eine ech-                                                                        te Willkommenskultur schaffen können. Denn die                                                                        Flüchtlinge werden so schnell nicht wieder gehen,                                                                        sie sind aus existenziellen Gründen und um einen                                                                        sehr hohen Preis hierhergekommen.  PH                                                                                               INTERVIEW: ANNE-EV USTORF   MACHT UNS                                                                                                                    336 Seiten | € [D] 19,99KONSUM GLÜCKLICH?Der Sozialpsychologe Jens Förster zeigt, welchen Einflüssenunsere Bedürfnisse unterliegen und ob unsere Lebenszieletatsächlich geeignet sind, uns glücklich zu machen.»Jens Förster ist heute einer der international     einflussreichsten Psychologen seiner Generation.«              Deutsche Gesellschaft für Psychologie
THERAPIESTUNDE                KOMM HER, GEH WEGDie Paaranalyse von Marion und                   Sie hat Verlustängste                   zu seinen Prüfungen begleitet und dafür           Bernd wurde durch Marions               und klammert sich                     gesorgt, dass er sich trotz seiner Ängste           Therapeutin vermittelt. Sie hatte                                             zum Examen anmeldete. Jetzt hat er eine mich auf die beiden vorbereitet. Da gebe      an den Partner. Der ver-                  gute Stelle, ist aber viel unterwegs. Wir es eine heftige Krise, Bernd sei auch schon   schließt sich, was sie nur                können uns eine schöne Wohnung leisten. tätlich geworden und manchmal völlig         noch verzweifelter macht.                  Es könnte uns gutgehen, doch jetzt strei- unansprechbar, was Marion zur Verzweif-                                                 ten wir uns ständig.“ Marion macht seit lung bringe.                                    Gibt es einen Ausweg                    Jahren Therapie und meint: „Bernd müss-                                               aus diesem Teufelskreis?                  te endlich auch etwas tun.“    Die beiden kommen pünktlich. Sie sind mit dem Rad unterwegs, zwei sportlich ge-       Ein Fall aus der Praxis                    Bernd sitzt still da, er stimmt nicht zu kleidete, ernsthafte Dreißigjährige. Bernd     des Psychoanalytikers                    und widerspricht auch nicht. Marion er- mustert mich skeptisch, Marion lächelt        Wolfgang Schmidbauer                      zählt weiter. Sie hat die Therapie begon- mich an. In dem Behandlungszimmer steht                                                 nen, nachdem ein langjähriger Freund sie vor der Couch ein kleiner runder Tisch,                    Wolfgang Schmidbauer         von einem Tag auf den anderen verließ daran, einander gegenüber, zwei gleiche                 arbeitet als Psychoanalytiker,  und sie entdecken musste, dass er bereits Sessel und etwas im Hintergrund, gegen-                 Familientherapeut und Autor     seit einem Jahr eine heimliche Liebschaft über der Couch, ein bequemer Stuhl aus                                                  hatte. Sie ist sich zwar sicher, dass Bernd gedrechseltem Holz. Ich bitte das Paar, die               in München. Sein aktuelles    sie nicht betrügt, aber Bernd müsste doch Sessel zu nehmen, schalte das Telefon aus                Buch Unbewusste Rituale in     verstehen, dass sie misstrauisch ist und und setze mich zu ihnen. Sie haben einan-                der Liebe. Einführung in die   möglichst viel über ihn wissen will – und der als Gegenüber, ich die leere Couch.               Paaranalyse ist im Klett-Verlag,  gerade dann verschließt er sich und lässt                                                         erschienen (Stuttgart 2014).    sie verhungern!    „Wir stehen kurz vor der Trennung und könnten es doch eigentlich endlich schön                                                   Bernd hat ein Hobby, das ihm sehr haben, wir haben schon viel schwierigere                                                wichtig ist. Er gehört zu einer Gruppe von Zeiten gemeinsam durchgestanden“, be-                                                   Laienschauspielern und führt mit diesen ginnt Marion. „Bernd hatte große Prob-                                                  jedes Jahr in einem Freilichttheater ein leme im Studium und in seinem ersten                                                    Stück auf. Marion ist eifersüchtig. Sie wür- Job. Ich habe mich um ihn gekümmert,                                                    de ihm am liebsten verbieten, mitzuspie- wenn er Magenschmerzen hatte und nicht                                                  len. Aber er müsse das freiwillig tun, er in die Arbeit gehen wollte, ich habe ihn                                                müsse doch sehen, wie sie leide! Jeder wis-16 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
se doch, wie locker die Sitten in solchen      radox es klingt, eine heftige Sehnsucht                                                                                                                                                                                                                               NEUGruppen seien! Jetzt widerspricht Bernd.       nach Ruhe, Friede und Geborgenheit.Solche Klischees könne er nicht leiden.                                                                                                                                                                                                                                                        Hofmann, Heise (Hrsg.)                                                  Nicht ganz untypisch, konnten die Ein-   Marion vertritt den Standpunkt: „Ich        sichten aus den Einzelgesprächen in den                                                                                                                                                                                                         Spiritualitäthabe mich so um dich gekümmert, und            ersten Paarsitzungen nicht bewahrt wer-                                                                                                                                                                                                         und spirituelle Krisendu willst gar nichts für unsere Beziehung      den. Es hatte wieder einen heftigen Streittun!“ Er: „Ich lasse mich nicht erpressen.“    gegeben. Marions Vorsatz, Bernd nicht                                                                                                                                                                                                           Handbuch zu Theorie, ForschungIch verstehe, warum Bernd sich von Ma-         mehr zu kontrollieren, war unter dem                                                                                                                                                                                                            und Praxisrion nicht in eine Therapie zwingen lassen     Druck ihrer Ängste ebenso zusammen-                                                                                                                                                                                                             8SWRGDWHdurch gezieltes Nachschla-will. Er würde sich unterwerfen.               gebrochen wie Bernds Einsicht, dass Ma-                                               rion zwar kein Recht auf totale Kontrolle                                                                                                                                                                                                         gen aktueller Erkenntnisse aus Theorie,   „Paare finden sich, weil jeder Teil hofft,  habe, aber doch liebevolle Zuwendung                                                                                                                                                                                                              Forschung und Praxisdass das Leben zu zweit schöner ist und        und Trost in ihrer Verlustangst verdiene,                                                                                                                                                                                                       *HEQGHOWHZLVVHQVFKDIWOLFKHpsycho-es jemanden gibt, der einen unterstützt        nicht Entwertung und kühle Abwehr.                                                                                                                                                                                                                therapeutische und erfahrungsbasierteund hilft, Kränkungen zu verarbeiten“,                                                                                                                                                                                                                                                           Expertise durch Beteiligung namhaftererkläre ich. „Aber wenn Paare zu mir kom-         Ich erinnerte beide an die Sicht auf den                                                                                                                                                                                                       Fachvertreter, Repräsentanten einesmen, ist es meist so, dass die Partner selbst  Konflikt, die im Gespräch mit jedem Ein-                                                                                                                                                                                                          renommierten spirituellen Zentrums undfüreinander zur Kränkungsquelle gewor-         zelnen von ihnen erarbeitet worden sei,                                                                                                                                                                                                           semi-professioneller unterstützenderden sind. Wenn wir herausfinden, warum         und erklärte, dass ich eine Wurzel des                                                                                                                                                                                                            Netzwerkedas geschehen ist, gibt es auch eine Chan-     Konflikts in einem bei ihnen beiden sehrce, das zu verändern.“                         unterschiedlichen Tempo der Reaktion                                                                                                                                                                                                            Spiritualität als Suche nach Sinn und                                               auf Kränkungen sähe. Marion reagiere                                                                                                                                                                                                            Bedeutung des eigenen Seins ist ein   In dem Bericht über die jüngste Aus-        schnell und sei auch schnell wieder ent-                                                                                                                                                                                                        menschliches Grundbedürfnis. Persönlicheeinandersetzung lässt sich ein Regelkreis      spannt; er reagiere langsam und brauche                                                                                                                                                                                                         Schicksalsschläge oder existenzielle Fra-erkennen: Bernd wird im Streit immer           lange Zeit, um sich zu erholen und sein                                                                                                                                                                                                         gen, die sich innerhalb eines materialis-kühler, Marion immer hitziger. Bernd will      Selbstgefühl wiederzufinden. Daher sei es                                                                                                                                                                                                       tischen Weltbilds nur unzureichend beant-sich zurückziehen, sie lässt ihn nicht ge-     vielleicht auch hilfreich, zu erproben, ob                                                                                                                                                                                                      worten lassen, können dieses Bedürfnishen. Sie hält ihn fest, er reißt sich los und  getrennte Wohnungen eine Lösung sein                                                                                                                                                                                                            verstärken und den Wunsch nach einerschubst sie weg. Je mehr er sich verschließt,  könnten: Vielleicht seien sie zusammen-                                                                                                                                                                                                         Neuorientierung wachrufen. Verbindetdesto heftiger kämpft Marion um seine          gezogen, ohne die Folgen zu bedenken?                                                                                                                                                                                                           sich dies mit einer unkritischen Anwen-Aufmerksamkeit.                                                                                                                                                                                                                                                                                dung von spirituell-meditativen Techniken,                                                  In den nächsten Sitzungen entspannte                                                                                                                                                                                                         können sich krisenhafte Zuspitzungen   Nach dem ersten Gespräch zu dritt fol-      sich die Situation. Marion hatte tatsäch-                                                                                                                                                                                                       ergeben, in denen Sie als Wegbegleitergen Einzelgespräche mit jedem Partner          lich eine eigene Wohnung bezogen. Sie                                                                                                                                                                                                           oder Therapeut gefordert sind.und dann mehrere Sitzungen zu dritt.           richtete sich ein, Bernd half ihr, Marion                                               war stolz auf die eigenen vier Wände. Sie                                                                                                                                                                                                       2016. Ca. 480 Seiten, 32 Abb., 40 Tab., geb.Sind sie zusammengezogen, ohne                 lebte dennoch die meiste Zeit in Bernds                                                                                                                                                                                                         Ca. € 59,99 (D) / € 61,70 (A)                                               Wohnung. Die Möglichkeit, sich zurück-                                                                                                                                                                                                          ISBN 978-3-7945-3057-1die Folgen zu bedenken?                        zuziehen, wenn die Beziehung nicht har-                                               monisch war, hatte beide beruhigt. Sie                                                                                                                                                                                                                www.schattauer.deMarion gab mir recht, als ich in unserem       hatten sich den äußeren und damit inne-Einzelgespräch erklärte, dass Bernd sie        ren Abstand geschaffen, die Unterschied-nicht aus der ihm unterstellten Haltung        lichkeit ihrer Wünsche zu erkennen undeiner kalten Macht abtropfen ließ, sondern     sie nicht als tödliche Gefahr für die Be-sich vor ihr zurückzog, weil er Angst vor      ziehung zu bekämpfen.ihr hatte und mit ihren Vorwürfen nichtzurechtkam, er sei ein miserabler, lieblo-        Ich diente als Übergangsobjekt, als Ga-ser Partner. Bernd umgekehrt konnte sich       rant dafür, dass Verlustangst eher durchder Einsicht nähern, dass Marion keine         liebevolle Trennung als durch Anklam-mächtige Hexe war, die ihm sein Selbst-        mern überwunden werden kann. So konn-bewusstsein rauben wollte, sondern sich        te der Teufelskreis aufhören, dass Verlas-in ihrem Anklammern fühlte wie ein ver-        senheitsangst Kontrollbedürfnisse weckt,ängstigtes Kind. Insgesamt hatte ich wäh-      die wiederum Rückzugswünsche auslösenrend der Einzelgespräche den Eindruck,         und dadurch die Angst verstärken.dass beide Partner beisammenbleibenwollten. Keiner dachte an eine andere Lie-be, der Grund für den Streit war, so pa-ILLUSTR ATION: MICHEL STREICH                                                                                                                                                                                                                                 Irrtum und Preisänderungen vorbehalten. Abb.: M.-L. BodirskyPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
TITEL    Ausgebrannt            Wenn Körper und Seele signalisieren „So geht es nicht mehr weiter“,                      werten viele Betroffene das als individuelles Versagen.                   Experten sehen das anders: Burnoutsymptome sind für sie                  ein Zeichen von Kompetenz. Dieser Perspektivenwechsel hat                                           spannende Auswirkungen                                                                                             VON BIRGIT SCHÖNBERGER18
ILLUSTR ATIONEN. GUILIO CASTAGNARO  A n manchen Tagen konnte die Pfle-                           erzwungene Pause eine angemessene Antwort des                                                       gedienstleiterin eines großen Kran-       biologischen und emotionalen Systems auf die dau-                                                       kenhauses nur noch Halbsätze her-         erhafte Überlastung, erklärt Schmidt und spricht von                                                       ausbringen. Auf unerklärliche Wei-        verletzten „Vertragsbedingungen des Organismus“.                                                       se war ihr Wortschatz drastisch zu-       Dieser teile durch Kopfschmerzen, Schlafstörungen,                                    sammengeschrumpft. Obwohl sie sich schon morgens             Müdigkeit, Gereiztheit mit, dass er etwas anderes                                    beim Aufwachen vollkommen zerschlagen fühlte und             braucht.                                    ihre Beine sich kaum noch bewegen wollten, arbei-                                    tete sie weiter, telefonierte, diktierte, rechnete, schrieb     Gerade weil die Betroffenen sich als Versager auf                                    Berichte, rannte im Stechschritt von Station zu Sta-         der ganzen Linie fühlen und oft von Vorgesetzten                                    tion. Je schwächer sie sich fühlte, desto unerbittlicher     und Kollegen als nicht belastbar abgestempelt wer-                                    schwang sie die innere Peitsche: „Stell dich nicht so        den, sei es wichtig, ihnen eine andere Interpretation                                    an. Reiß dich verdammt nochmal zusammen!“ Doch               für ihre Symptome anzubieten und diese als „Leib-                                    dann brach sie mitten in einem Gespräch mit ihren            wächter“ und „Sinn-Wecker“ zu verstehen. „Wer Er-                                    Mitarbeitern in Tränen aus und konnte nicht mehr             schöpfungssymptome nur als Schwäche und Inkom-                                    aufhören zu weinen. Die Hausärztin diagnostizierte           petenz erlebt, will sie so schnell wie möglich wegha-                                    ein Burnoutsyndrom, schrieb sie krank und schick-            ben. So bleibt das problemverursachende Muster                                    te sie in psychotherapeutische Behandlung. Erst im           jedoch bestehen.“ Hilfreicher und langfristig heilsa-                                    Verlauf der Therapie wurde Bianca Rösler klar, dass          mer sei es, die Symptome zu übersetzen in Botschaf-                                    die Erschöpfung sich schon über Jahre aufgebaut und          ten über wichtige Bedürfnisse, die lange missachtet                                    sie alle Warnsignale ignoriert hatte.                        oder nicht erfüllt wurden.                                       Burnout, das klingt nach Schwäche, Versagen,                 Gunther Schmidt plädiert dafür, die mittlerweile                                    Energiemangel, Kontrollverlust und Kapitulation.             kontrovers diskutierte Abgrenzung zwischen Burn-                                    Deshalb blickt Gunther Schmidt oft in verwunderte            out und Depression beizubehalten und beide Diag-                                    Gesichter, wenn er seine Vorträge mit dem Satz be-           nosen nicht in einen Topf zu werfen. Ein Teil der                                    ginnt: „Burnout ist eine Kompetenz.“ Der ärztliche           Burnoutpatienten zeige auch Symptome, die übli-                                    Leiter der privaten sysTelios-Klinik in Siedelsbrunn         cherweise mit einer schweren Depression verbunden                                    bei Heidelberg und Begründer des hypnosystemi-               sind, die Dynamik der Erkrankung sei jedoch deut-                                    schen Ansatzes wirbt dafür, Burnout nicht nur durch          lich anders. „Viele, die an Burnout erkrankt sind,                                    die Mangelbrille zu betrachten, sondern auch die             empfinden es als vernichtend und abwertend, wenn                                    Kompetenz zu würdigen, die in der Erschöpfung und            sie eine psychiatrische Diagnose bekommen und als                                    im Zusammenbruch zum Ausdruck kommt (siehe                   depressiv bezeichnet werden. Sie sehen sich dann                                    Interview Seite 22). Wenn der Organismus signali-            überhaupt nicht gewürdigt in ihrer Kompetenz und                                    siere „Halt! Stopp! So geht es nicht weiter“, sei die        ihrem überdurchschnittlichen Einsatz, den sie vor                                                                                                 dem Zusammenbruch gezeigt haben, und halten sich                                    PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                                                           19
TITELDas beste Burnout-                                                            ben, wenn er zu achtzig Prozent gut ist, und auf die                                                                              letzten zwanzig Prozent, die unverhältnismäßig vielVerhütungsmittel: Nein                                                        Kraft und Zeit kosten, verzichten. Den Schreibtisch                                                                              verlassen, obwohl nicht alles erledigt ist. Abends kei-sagen zu überhöhten                                                           ne Mails mehr checken. Im Urlaub nicht in der Fir-                                                                              ma anrufen, um zu hören, wie es so läuft. In Rollen-inneren Ansprüchen                                                            spielen üben Patienten, sich Kollegen und Vor-                                                                              gesetzten gegenüber auf angemessene Wei-                      für verkorkst und krank, was den Heilungsprozess        se abzugrenzen. „Ich erledige das gerne                      nicht gerade befördert.“ Aus Loyalität mit seinen Kli-  morgen für dich, jetzt habe ich Feier-                      enten wehre er sich gegen den individualisierenden      abend.“ „Wenn ich das neue Projekt über-                      und pathologisierenden Blick auf Erschöpfung, so        nehmen soll, möchte ich dafür eine an-                      Gunther Schmidt.                                        dere Aufgabe abgeben.“                         Auch Christoph Middendorf, Facharzt für psy-         Meditation wird häufig als                      chotherapeutische Medizin und ärztlicher Geschäfts-                      führer der Oberbergkliniken, die unter anderem auf      Kuschelecke missbraucht                      die Behandlung von Burnout spezialisiert sind, sieht                      im natürlichen Rückkoppelungsmechanismus des            Auch wenn die Oberbergkliniken Achtsam-                      Gehirns, das auf chronische Überlastung mit Stopp-      keit in ihr Therapiekonzept integriert haben                      signalen reagiert, eine wichtige Ressource. Allerdings  und damit werben, sieht Christoph Midden-                      sei es manchmal in der Therapie ein längerer Prozess,   dorf den gegenwärtigen Hype um Achtsamkeit                      Patienten mit der Idee vertraut zu machen, dass sie     als Allheilmittel im Umgang mit Stress und                      ihren Körper nicht einfach beherrschen und zu           Burnout auch kritisch. Meditation sei ohne Fra-                      Höchstleistungen zwingen können wie eine Maschi-        ge ein empfehlenswerter Weg, zur Ruhe zu kom-                      ne. „Wir leben in dem Irrglauben, wir könnten die       men, den Körper zu spüren, Warnsignale recht-                      Natur vollkommen nach unseren Wünschen formen.          zeitig wahrzunehmen und die eigenen Muster zu                      Dieses mechanistische Verständnis haben wir auch        erkennen. „Manchmal lernen Menschen jedoch auch,                      auf uns selbst und unseren Körper übertragen und        mithilfe von Achtsamkeit Dinge zu akzeptieren, die                      denken, wir könnten alles erreichen. Ein Burnout        ihnen schaden. Unter dem Motto, ganz wertfrei und                      konfrontiert uns jedoch damit, dass unsere Natur        entspannt das Problem gar nicht an sich heranzu-                      das nicht mitmacht und sich wehrt.“ Viele sehen die     lassen, wird wunderbar meditiert, aber nichts ver-                      Klinik als Reparaturwerkstatt und hoffen, schnell       ändert.“ Meditation werde dann als Kuschelecke                      wieder fit zu werden, um weitermachen zu können.        missbraucht, in der man sich regeneriert, ohne an-                      Sich einzugestehen, dass Burnout kein kleiner Schwä-    stehende Veränderungen anzupacken. Um nicht                      cheanfall ist, sondern möglicherweise ein ganzes Le-    gleich im nächsten Burnout zu landen, könne es wich-                      benskonzept infrage stellt, sei ein schmerzhafter       tig sein, den eigenen Gestaltungsspielraum zu nutzen                      Lernprozess.                                            und mit dem Vorgesetzten über eine neue Aufgaben-                                                                              verteilung und andere Arbeitszeiten zu verhandeln.                         Gunther Schmidt geht es in der therapeutischen       „Achtsamkeit sollte nicht zum Fluchtweg werden.                      Arbeit darum, die inneren Antreiber zu erkennen,        Dann kann sie sogar kontraproduktiv werden“, sagt                      die Menschen dazu bringen, über ihre Grenzen zu         Middendorf.                      gehen und sämtliche Stoppsignale zu ignorieren. Das                      sieht auch Middendorf so. Er hält die Fähigkeit, nein      Ob mithilfe von Achtsamkeit, hypnosystemischer                      sagen zu können, für einen goldenen Schlüssel in der    Balance oder Verhaltenstherapie, letztlich geht es bei                      Burnoutbehandlung. Der Mediziner zitiert gerne den      allen therapeutischen Ansätzen darum, verschütte-                      Satz: „Nein ist das beste orale Burnoutverhütungs-      te Stärken wieder zu entdecken, Kraftquellen zu ak-                      mittel.“ In der Therapie lernen seine Patienten, zu     tivieren, einen gesünderen Umgang mit Belastungen                      überhöhten inneren Ansprüchen nein zu sagen. In         zu finden und wieder in Balance zu kommen. Gun-                      der Praxis heißt das zum Beispiel: den Bericht abge-    ther Schmidt unterstützt seine Klienten, aus der ne-                                                                              gativen Selbstsuggestion, die ihnen ständig vorgau-                                                                              kelt, nicht gut genug zu sein, auszusteigen und eine                                                                              neue Sensibilität für die wertvollen Signale des Kör-                                                                              pers zu entwickeln. „Wenn ich auf meine Körperre-                                                                              aktionen achte und spüre, wie weit ich gehen kann20 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Burnoutkompe-         und wann ich mich übernehme, ist das eine Stärke                           tenz: Anerkennen,     und keine Schwäche. Dann bin ich relativ gut vor                           dass man nicht        Burnout geschützt.“ Gunther Schmidt nennt das „die                           alles schaffen kann,  eigene Endlichkeit anerkennen“. Ich erkenne an, dass                           und auf die wert-     ich nicht alles schaffen kann, und akzeptiere meine                           vollen Signale des    Begrenztheit mit Würde und Stolz. „In unserer ge-                           Körpers achten        sellschaftlichen Ideologie wird Endlichkeit tabui-                                                        siert. Wir tun so, als gäbe es keine Grenzen.                                                           Doch das stimmt nicht. Burnout spiegelt                                                             auf der individuellen Ebene unser kultu-                                                             relles Muster, das Begrenzungen leugnet.                                                             Insofern ist Burnout auch eine Chance für                                                               Kulturveränderungsprozesse.“                                                                   Zu seinem Engagement für Burnout-                                                                erkrankte gehört für Gunther Schmidt                                                                 auch, die Strukturen zu sehen, die                                                                   Burnout begünstigen. „Unternehmen                                                                    müssen lernen, Mitarbeiter, die mit                                                                    Erschöpfung reagieren, nicht als                                                                   schwach, faul oder unmotiviert ab-                                                                  zustempeln. Burnoutsignale sind                                                               wichtige Informationen für eine Orga-                                                      nisation, die signalisieren, was man an der Ar-                                                   beitsverteilung, der Kommunikation und am Kli-                                                 ma verbessern kann“, sagt Schmidt. Mangelnde                                                 Transparenz, Entscheidungen, die als unfair emp-                                                 funden werden, unklare Arbeitsaufträge, fehlende                                                 Anerkennung, kaum Gestaltungsspielraum, zu we-                                                 nig Ressourcen, um den Anforderungen gerecht zu                                                 werden, ständige Umstrukturierungen, Personalab-                                                 bau. All das sind Risikofaktoren für Burnout in Un-                                                 ternehmen und Organisationen.                                                    Obwohl in einigen Führungsetagen die Erkennt-                                                 nis angekommen ist, dass Stressbewältigungskurse                                                 allein nicht ausreichen und sich auch an Arbeitszei-                                                 ten und Arbeitsstrukturen etwas ändern muss, lan-                                                 den die meisten Unternehmen in der Individualisie-                                                 rungsfalle und erwarten von ihren Mitarbeitern ein-                                                 seitig ein besseres Stressmanagement. „So wie Pati-                                                 enten sich nicht gerne infrage stellen, ist die Frage,                                                 wie sich die Mitarbeiter fühlen und ob sie genügend                                                 Gestaltungsspielraum, Fairness, Transparenz und                                                 Anerkennung bekommen, in Unternehmen auch                                                 nicht sehr beliebt“, sagt Christoph Middendorf. „Die                                                 Mitarbeiter sollen funktionieren und schnell und                                                 effizient die Ziele erreichen.“ Burnout sei aber immer                                                 ein Zusammenspiel von äußeren und inneren Fak-                                                 toren. Auch resiliente, also belastbare Menschen mit                                                 einer robusten Grundausstattung und einem stabi-                                                 len sozialen Umfeld können in schwierigen Organi-                                                 sationsstrukturen an Burnout erkranken.PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                        21
TITEL       „Ich kann unmöglich       allem gerecht werden“                     Wer ausgebrannt ist, hat sich vorher für eine Sache                        von Herzen engagiert, hat loyal und solidarisch                            gehandelt. Der Arzt und Psychotherapeut                      Gunther Schmidt kann darin kein Versagen sehenHerr Schmidt, Sie überraschen in Ihren Vorträgen            Gunther Schmidt,      das ähnlich wie eine Warnblinkanlage auf eine Ge-                                                          Facharzt für psycho-    fahr hinweist und signalisiert: „So kannst du nichtdamit, dass Sie Burnout als Kompetenz bezeich-             somatische Medizin     weitermachen.“ Burnout wäre demnach ein Ver-                                                          und Psychotherapie,nen. Das klingt provokativ. Denn die Betroffenen                                  such unseres Systems, wieder ins Gleichgewicht                                                             leitet das Milton-erleben sich als kraftlos, schwach und unfähig.           Erickson-Institut Hei-  zu kommen?                                                          delberg und ist ärzt-Warum sprechen Sie dennoch von Kompetenz?                                         Wenn Klienten mir erzählen, dass sie versagt haben,                                                            licher Direktor der   sage ich: „Nicht Sie haben versagt, etwas in IhnenMir ist bewusst, dass diese Formulierung zu Miss-           sysTeliosKlinik für   hat sich versagt, aus sehr guten Gründen, um Ihreverständnissen einlädt. Man könnte auf die Idee             psychosomatische      Gesundheit zu erhalten. Sie haben nur die wertvollenkommen, dass ich das Leiden, die Erschöpfung, die         Gesundheitsentwick-     Informationen, die Ihr Körper Ihnen sendet, nochSinnlosigkeitsgefühle und die Selbstzweifel der Be-       lung und Kompetenz-     nicht beachtet, aber wenn Sie das jetzt tun, kann ei-troffenen nicht ernst nehme. Tatsächlich spreche ich                              ne neue Balance entstehen.“ Eine starke Identifika-bewusst von Kompetenz, um die Menschen, die                      entfaltung.      tion mit Leistung, perfektionistische Ansprüche, ho-Burnoutsymptome entwickelt haben, zu würdigen.                                    he Einsatzbereitschaft, ein ausgeprägtes Verantwor-Diese Patienten werten sich selbst massiv ab, fühlen                              tungsgefühl, das alles kann Burnout begünstigen.sich als Versager und sind mit kränkenden Kom-                                    Auch diese Aspekte sollten als wertvolle Kompeten-mentaren wie „Der ist nicht mehr belastbar. Der                                   zen gewürdigt werden, die das hohe Engagement derkriegt seine Arbeit nicht mehr auf die Reihe“ kon-                                Betroffenen widerspiegeln. Mir ist jedoch wichtig,frontiert. Mir liegt sehr viel daran, diesen Selbst- und                          nicht nur die individuelle, intrapsychische DynamikFremdabwertungen mit einem ressourcenorientier-                                   im Blick zu haben, sondern auch die Organisations-ten Verständnis entgegenzuwirken. Wer einen Burn-                                 dynamik am Arbeitsplatz. Man entwickelt nicht ein-out entwickelt, fühlt sich vollkommen erschöpft,                                  fach losgelöst als Individuum einen Burnout. Dazuerlebt alle Anforderungen als Qual, zieht sich zurück,                            gehören auch entsprechende Situationsbedingungen.sieht keinen Sinn mehr, wird vielleicht zynisch und                               Eine hohe Arbeitsbelastung ist nicht per se ein Pro-erlebt gleichzeitig einen enormen inneren Druck,                                  blem. Gefährlich wird es, wenn die eigenen Gestal-etwas ändern zu müssen. Dass jemand in dieser Spi-                                tungs- und Einflussmöglichkeiten kleiner werdenrale landet, ist jedoch auch ein Ausdruck von Kom-                                und die verfügbaren Ressourcen nicht ausreichen,petenz. Der Organismus reagiert auf eine als uner-                                die Arbeit zu bewältigen. Wenn jemand in einemträglich empfundene Situation mit Erschöpfung,                                    Burnout landet, ist das nicht nur ein individuellesSchwäche und Antriebslosigkeit. Diese Symptomegehören zu einem kompetenten Rückmeldesystem,22 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Problem. Die Erkrankung weist auch auf notwendi-          Ich prakti-   che ich von Burnout als Kompetenz. Es ist doch etwasge Veränderungen in der Organisation hin.               ziere Metazu-   Positives, wenn Menschen nicht nur an ihren eigenen                                                         friedenheit:   Vorteil denken, sondern auch Verantwortung für an-Das wird aber in vielen Unternehmen nicht so ge-         Ich bin ganz   dere und für höhere Ziele übernehmen. Gebende Be-                                                                        ziehungen sind extrem wichtig für eine funktionie-sehen. Burnout wird immer noch als individuelle            zufrieden    rende Gesellschaft und das persönliche Wohlergehen.                                                         damit, dass    Entscheidend ist, wieder in Balance zu kommen.Schwäche abgetan, den Betroffenen wird gera-            ich nicht ganz                                                        zufrieden bin   Sie sprechen von einem zermürbenden innerenten, ihr Stress- und Zeitmanagement zu verbes-                                                                        Krieg, der alle Kräfte bindet. Wer kämpft gegensern und sich besser zu erholen.                                                                        wen?Es gibt immer eine Wechselwirkung zwischender inneren und der äußeren Dynamik. Die Be-                            Typischerweise gibt es mindestens zwei innere Frak-troffenen haben den Eindruck, dass die Situa-                           tionen, die sich bekämpfen. Eine Seite sagt, eigentlichtion am Arbeitsplatz sie fertigmacht. Tatsäch-                          macht das alles so schon lange keinen Sinn mehr, ichlich gibt es Arbeitsbedingungen, die Men-                               bin müde und kraftlos, ich schleppe mich nur nochschen in massive Zwickmühlen bringen. Die                               zur Arbeit, ich habe gar keine Freizeit mehr, ich müss-Anforderungen sind oft schlicht nicht zu                                te dringend etwas ändern. Doch eine andere, pflicht-erfüllen oder in sich vollkommen wider-                                 bewusste, loyale Seite protestiert und fordert gna-sprüchlich. Ein schlechtes Arbeitsklima,                                denlos: Das geht nicht, du musst weitermachen. Somangelnde Fairness, fehlende Anerkennung                                beginnt ein zermürbender innerer Ambivalenzkrieg,und Transparenz können sehr belasten. Was                               der auf Dauer erschöpft. Dieser Kampf ist oft einaber letztlich zur Erschöpfung beiträgt, ist ein                        innerer Ausdruck äußerer Zwickmühlen, die in deraufreibender, scheinbar niemals endender inne-                          Organisationsstruktur liegen. Lehrer beispielsweiserer Kampf. Es sind typischerweise vor allem sehr                        werden von Schülern, Eltern, Kollegen und der Schul-engagierte, leistungsbereite und solidarische Men-                      leitung mit vollkommen widersprüchlichen Erwar-schen, die in einem Burnout landen. Wer mit der                         tungen konfrontiert. Sie können es nie allen rechtArbeitseinstellung rangeht, ich tue, was ich kann,                      machen. Ebenso Führungskräfte im mittleren Ma-und was ich heute nicht schaffe, erledige ich morgenoder übermorgen, ist gut geschützt.Es sind also eher die Perfektionisten und Idealis-ten, die gefährdet sind?In der Klinik begegne ich vor allem Menschen, diesich für ein höheres Ziel engagiert und für etwas ge-glüht haben. Sie wollten etwas bewegen, das weit übersie und ihr persönliches Interesse hinausgeht. Unddann machen sie häufig enttäuschende Erfahrungen.Die Kollegen kommentieren ihr ausgeprägtes Enga-gement eher negativ. Und sie erzielen wegen der Wi-dersprüche in der Organisation nicht die Ergebnisse,die sie sich erhoffen. Wenn sie merken, dass sie nichtso viel bewegen können wie erhofft, ziehen sie darausdie Schlussfolgerung, dass sie noch nicht genug getanhaben. Sie puschen sich, verdoppeln ihre Anstren-gung, ihr perfektionistischer Antreiber, der sich fürsehr gute Ergebnisse einsetzt, wird durch die Ent-täuschung angestachelt. Sie steigern ihren Arbeits-einsatz, vergessen Pausen, machen Überstunden,überhören die Signale ihres Körpers, vernachlässigenFamilie und Freunde und beuten sich gewissermaßenselbst aus.   In unserer Gesellschaft gibt es viele, die sagen,schön blöd, wenn sich jemand so verausgabt und zuwenig an sich denkt. Ich finde jedoch, dass diesesEngagement, das aus Loyalität und Solidarität herausentsteht, gewürdigt werden sollte. Auch deshalb spre-PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                               23
TITELnagement, die ihren Mitarbeitern Entscheidungen              Mein      produziert zusätzlichen Druck, weil Entspannung invon oben verkaufen sollen, die ihnen völlig gegen den  Kriterium fürStrich gehen. Wer besonders engagiert und loyal ist,                   dieser Situation gar nicht möglich ist. Die Menschen,nimmt diese Zwickmühlen, bildlich gesprochen,              relativemental in sich hinein und versucht sie mit erhöhtem    Zufriedenheit   mit denen ich zu tun habe, haben alles über Stress-Engagement zu lösen. Aber auf dieser Ebene ist derKonflikt gar nicht lösbar. Bei Burnoutentwicklungen        ist nicht   und Zeitmanagement gelesen, sie scheitern jedochgeht es nach meinen Erfahrungen so gut wie immer            Erfolg,um Sinnkrisen.                                          sondern die    an der Umsetzung, weil die unwillkürlichen Bedürf-                                                          Frage, obDie Lösung wäre vermutlich Abgrenzung. Aber                das, was    nisse dadurch nicht beruhigt werden. Erst wenn die                                                           ich tue,genau daran scheitern viele.                             sinnvoll ist  grundsätzlichen Zwickmühlen aufgelöst sind, wennEs ist auch nicht leicht, weil gerade die erhöhte Be-                  in den schon angesprochenen Sinnkrisen ein neuer,reitschaft, Verantwortung zu übernehmen, dazuführt, dass Menschen widersprüchliche Erwartungen                      stimmiger Sinn entwickelt werden kann, hat diesals unauflösbare Zwickmühle erleben. Eine Füh-rungskraft im mittleren Management müsste sich                         entscheidende innere Befriedung und Erleichterungsagen, ich mache meinen Job, ich gebe weiter, wasoben entschieden wurde, aber ich ziehe mir den Schuh                   zur Folge. Sofort entsteht ein Gefühl von Würde, undnicht an, denn ich habe diese Entscheidung nicht ge-troffen. Die Führungskräfte, die in einem Burnout                      aus diesem Erleben von Würde entwickelt sichlanden, fühlen sich jedoch sehr empathisch mit ihrenMitarbeitern verbunden und wollen gleichzeitig die                     interessanterweise erst die Kraft, die man für denErwartungen der Leitung erfüllen. Diese Interessen-konf likte mahlen wie zwei Mühlsteine gegeneinander.                   Umgang mit den Herausforderungen und für denDie Betroffenen versuchen, den Konflikt selbst zulösen. Wenn das nicht funktioniert – und es kann                       optimalen Umgang mit den Zwickmühlen in dernicht funktionieren –, beginnt die Selbstabwertung.Die Klienten erzählen mir dann, dass sie schon mor-                    Organisation braucht.gens beim Aufstehen fix und fertig sind und keineEnergie für gar nichts haben. Wenn ich sie dann fra-                   Sie leiten eine Klinik und das Milton-Erickson-In-ge, wie sie das finden und was sie über sich selbstdenken, antworten mir die meisten, dass sie sich Vor-                  stitut, Sie sind ein gefragter Vortragsredner, vielwürfe machen und es schrecklich finden, dass sie soschwach sind. Sie haben das nagende Gefühl, das                        unterwegs und haben sicher keinen Achtstunden-Falsche zu tun und entweder am Arbeitsplatz oderin der Familie nicht zu genügen. Wichtig ist, diese                    tag. Wie sieht Ihre persönliche Burnoutprophy-Zerrissenheit und die daraus resultierende Erschöp-fung nicht als Schwäche abzutun, sondern sie zu über-                  laxe aus?setzen als wertvolle Kompetenz. Ich sage den Men-schen dann: „Ihr kluger Organismus schickt kom-                        Ich habe oft Dreizehnstundentage und nicht immerpetente Rückmeldungen und sagt Ihnen, dass er imUmgang mit dieser Zwickmühle von Ihnen etwas                           eine Fünftagewoche. Aber es kommt nicht auf dieanderes braucht und dass es intuitiv keinen Sinn mehrmacht, Ihre Situation auf diese Weise anzugehen.“                      Quantität an. Für mich ist entscheidend, dass ichSagt der Organismus: Ich brauche inneren Ab-                           meine Arbeit als sinnvoll erlebe. Ich bin als Selbstän-stand und Entspannung?                                                 diger in der privilegierten Situation, nur das zu ma-Oft wird den Leuten geraten, sie sollen sich entspan-                  chen, wofür ich mich autonom entschieden habe. Ichnen. Aber das ist kontraproduktiv, denn sie wollenihre Zwickmühle lösen, vorher können sie sich nicht                    kann unmöglich allen und allem gerecht werden.entspannen. Wie soll jemand, der einen massiven in-neren Konflikt hat, sich entspannen? Der vielleicht                    Deshalb führe ich innere Dialoge mit mir und wen-gut gemeinte Rat „Jetzt entspann dich doch mal“                                                                       de dabei natürlich meine eigenen Konzepte an. Eins                                                                       nenne ich Metabalance. Das heißt, ich bin in Balan-                                                                       ce, akzeptiere mich aber auch, wenn ich mal wieder                                                                       ins Schleudern komme. Und ich praktiziere Meta-                                                                       zufriedenheit, das heißt, ich bin ganz zufrieden da-                                                                       mit, dass ich nicht ganz zufrieden bin, denn ich kann                                                                       machen, was ich will, irgendwem werde ich immer                                                                       nicht gerecht, selbst wenn mein Tag 70 Stunden hät-                                                                       te. Ich tue nach bestem Wissen und Gewissen, was                                                                       mir möglich ist, erkenne meine Endlichkeit an und                                                                       sage, mehr geht jetzt nicht. Wenn mein Organismus                                                                       sagt, jetzt reicht es, sonst kriegst du die Konventio-                                                                       nalstrafe, zum Beispiel Kopfschmerz, dann sage ich:                                                                       Danke lieber Organismus, und dann muss ich damit                                                                       leben, dass ich etwas nicht schaffe, was es wert gewe-                                                                       sen wäre. Mein Kriterium für relative Zufriedenheit                                                                       ist nicht Erfolg, sondern die Frage, ob das, was ich                                                                       tue, sinnvoll ist. Selbst wenn etwas nicht klappt, wür-                                                                       dige ich mich dafür, dass ich es überhaupt versucht                                                                       habe, und tröste mich. Meistens gelingt mir das,                                                                       manchmal drehe ich auch eine Ehrenrunde im Ha-                                                                       dern.                  INTERVIEW: BIRGIT SCHÖNBERGER24 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
SIND SIE BURNOUT-GEFÄHRDET?Bitte beantworten Sie alle Fragen, und kreuzen Sie spontan ohne langes Überlegen an:1. Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen alles zu viel wird?      nein  eher  eher  ja                                                                   nein    ja2. Sind Sie gereizter als früher?                              0           4   63. Haben Sie Freude an Ihrer Arbeit?                           0     2         34. Sind Sie ständig niedergeschlagen?                          3           2   05. Fühlen Sie sich zu erschöpft für Freizeitaktivitäten?       0     1     1   36. Häufen sich in den letzten Monaten körperliche Symptome?    0     2     2   37. Ziehen Sie sich zunehmend von Ihrem Freundeskreis           0     1     2   6                                                               0     1     4   3   zurück?                                                           2     28. Greifen Sie häufiger als früher zu Alkohol?                 0     1         69. Haben Sie Hoffnung, dass Sie etwas ändern können?           3               010. Haben Sie neue Pläne?                                      3        24     011. Schlafen Sie gut?                                          6        21     012. Haben Sie Zeit für den Partner?                            3        21     013. Stellen Sie dafür oder zu anderen wichtigen                6        42     0                                                                        21    Gelegenheiten das Handy aus?                               0        42     314. Fühlen Sie sich innerlich leer?                            0               315. Treten Ängste auf, die Sie früher nicht kannten?           0        12     316. Kommt Ihnen alles sinnlos vor?                             0        12     317. Fühlen Sie sich ständig unter Spannung?                    6        12     018. Spüren Sie Rückhalt beim Partner                                    12                                                               0        42     3     beziehungsweise bei Freunden?                                                               0        12     319. Haben Sie das Gefühl, Pausen sind für Sie                           12    verschwendete Zeit?20. Nehmen Sie Schlaf- oder Beruhigungsmittel?Auswertung:                                     35–49 Punkte: Sie sind burnoutgefährdet.Zählen Sie bitte die einzelnen Zahlen der von   Beachten Sie, dass Burnout eine schleichendeIhnen angekreuzten Felder zusammen, und         Symptomatik hat und Sie jetzt noch gut rea-schauen Sie nach, in welchen Bereich Ihre       gieren können.Additionssumme fällt. Lesen Sie dort nach.Das Ergebnis sollten Sie dann gegebenenfalls    50–78 Punkte: Sie sind stark burnoutgefährdetmit einer kompetenten Person, zum BeispielIhrem Hausarzt besprechen.                      und schon im Begriff „auszubrennen“; je früher0–15 Punkte: Sie meistern Ihre Herausforderun-  und mutiger Sie sich das eingestehen, umsogen mit wirksamen Strategien und pflegen IhrLeben und Ihr Umfeld. Gratulation!              rascher erhalten Sie wirkungsvolle Hilfe und die                                                notwendige Behandlung.                      PH                                                                         MANFRED NELTING16–34 Punkte: Sie sollten auf sich achten, um   Quelle: Manfred Nelting: Burn-out. Wenn dieeinem Burnout vorzubeugen; Sie haben hierfür    Maske zerbricht. Wie man Überbelastung erkenntgute Möglichkeiten, nutzen Sie sie!             und neue Wege geht. Goldman, München 2014PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                                         25
Der achtlose   Umgang    mit derAchtsamkeit     Achtsamkeit ist angesagt.Kaum ein Ratgeber kommt ohneVerweis darauf aus, immer neue Trainingsmethoden entstehen, und selbst aus der Psychologie     ist das Thema nicht mehr  wegzudenken. Aber: Hat das    alles noch einen Bezug zur    Grundidee des Konzeptes?                           VON ANDREAS KNUFE igentlichbeganndieKarrierederAcht-                   Bewusstheitsübungen bestand. Mit den Teilnehmen-                  samkeit recht unspektakulär irgend-  den vereinbarte er ein wöchentliches Treffen und                  wann in den 1970er Jahren. Ein ame-  ermunterte sie, zwischen den Terminen täglich so-                  rikanischer Molekularbiologe kehrte  genannte Achtsamkeitsübungen zu praktizieren. Sei-                  damals nach längeren Meditationsse-  ne Methode nannte er akademisch-trocken MBSRminaren in Asien in seine Klinik zurück und über-      – mindfulness-based stress reduction, zu Deutsch: acht-legte, wie er auch seine Patienten an die gelernten    samkeitsbasierte Stressreduktion.Methoden heranführen könnte. Was er als hilfreicherlebt hatte, würde möglicherweise auch ihnen hel-        Lange Zeit, so erzählt Jon Kabat-Zinn, von demfen, mit Stress und psychosomatischen Erkrankun-       hier die Rede ist, habe diese, seine erste Gruppe etwagen besser zurechtzukommen, so sein Gedanke.           in dem Rhythmus Nachwuchs bekommen, wie er                                                       bei Elefanten üblich ist: Alle paar Jahre wurde ir-    Da er der Meinung war, dass sich seine Patienten   gendwo ein weiteres MBSR-Training angeboten.wohl eher nicht tagelang auf Meditationskissen set-    Doch dann geschah das Unerwartete: Eines Tageszen würden, entwickelte er ein recht überschaubares    vermehrten sich die Elefanten plötzlich wie die Ka-Programm über acht Wochen, das vor allem aus Ele-      ninchen. Von überall auf der Welt erhielt Kabat-Zinnmenten der Vipassana-Meditation, Hatha-Yoga und        Anfragen, er wurde zu einem der weltweit gefragtes-26 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
ILLUSTR ATIONEN: JAN RIECKHOFF                                          Dass Achtsam-    dazu unter anderem Dax-Konzerne wie Siemens oder                                                                        keit sich als    RWE.                                                                        Mainstreambe-                                                                        wegung eignet,      Auch aus der modernen Psychotherapie und der                                                                        war lange Zeit   Arbeit in psychosomatischen Kliniken ist das Kon-                                                                        unvorstellbar.   zept nicht mehr wegzudenken. Inzwischen sind Be-                                                                        Noch vor weni-   handlungsansätze für fast alle Krankheitsbilder ent-                                                                        gen Jahren galt  wickelt worden, darunter Depressionen, Suchter-                                                                        das Konzept      krankungen und Angststörungen. War Achtsamkeit                                                                        als esoterisch-  früher eine fast schon belächelte Randerscheinung                                                                        anrüchig         eher unbekannter Therapiemethoden wie Hakomi                                                                                         oder Focusing, ist sie heute Bestandteil der moder-                                ten Referenten. Heute ist Achtsamkeit längst zu ei-      nen Verhaltenstherapie, dem Inbegriff wissenschaft-                                nem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden.          lich anerkannter Psychotherapie.                                   Nicht nur MBSR-Gruppen entstanden in den ver-            Dass Achtsamkeit sich als Mainstreambewegung                                gangenen Jahren zu Tausenden überall auf der Welt,       eignet, war lange unvorstellbar. Vor 2600 Jahren von                                es wurden auch Dutzende von Achtsamkeitsschu-            Buddha gelehrt, um eine grundlegende spirituelle                                lungen für verschiedenste Zielgruppen entwickelt         Vertiefung zu erfahren, galt Achtsamkeit bis vor we-                                – von Eltern über Kinder zu Kindergärtnerinnen,          nigen Jahren noch als esoterisch-anrüchig. Thera-                                Polizisten und so weiter. Vor allem an Schulen und       peuten, die sich mit buddhistischer Psychologie und                                im Managementbereich liegt Achtsamkeit im Trend.         Meditation befassten, sprachen nur hinter vorge-                                Das amerikanische Programm MindUP hat entspre-           haltener Hand über solche Ansätze, zu groß war die                                chende Kurse bereits an mehr als 1000 Schulen durch-     Gefahr, als unwissenschaftlich disqualifiziert zu                                geführt. Besonders bekannt wurde das Google-Pro-         werden. Zudem ist Achtsamkeit, wenn sie richtig                                jekt Search inside yourself, ein Acht-Wochen-Training    praktiziert wird, eine anspruchsvolle Angelegenheit,                                für Mitarbeitende des Internetriesen. Hunderte von       geht es doch um eine nicht bewertende Präsenz im                                Unternehmen haben Achtsamkeit als Ressource für          gegenwärtigen Moment. Was zunächst fast banal                                ihre Mitarbeiter entdeckt; in Deutschland zählen         klingen mag, ist bei genauerer Betrachtung ausge-                                                                                         sprochen schwierig: Kaum jemand ist ohne Training                                                                                         in der Lage, längere Zeit im Augenblick zu verweilen                                                                                         und sich allen aufkommenden Empfindungen an-                                                                                         nehmend zu öffnen.                                                                                            Die Gründe für den Achtsamkeitsboom vor allem                                                                                         in den westlichen säkularisierten Industrienationen                                                                                         sind vielfältig. Einer ist sicher die zunehmende Acht-                                                                                         losigkeit in unserer Kultur. Wer im Multitasking-                                                                                         Modus gar nicht mehr mitbekommt, wie das teure                                                                                         Sushi eigentlich schmeckt, der mag sich nach der                                                                                         Einfachheit der reinen Wahrnehmung sehnen. Dau-                                                                                         eraktivität führt zwangsläufig irgendwann zur Er-                                                                                         schöpfung. Der Achtsamkeitsansatz ist die Gegen-                                                                                         bewegung. Ihm zu folgen kann helfen, sich nicht                                                                                         länger von To-do-Listen durchs Leben jagen zu las-                                                                                         sen, sondern wieder Zugang zur eigenen inneren Welt                                                                                         zu erhalten und sich vor Reizüberflutung und Be-                                                                                         schleunigung zu schützen – eine Form der Selbstre-                                                                                         gulation in einer vom Stress übersteuerten Gesell-                                                                                         schaft.                                                                                            Vielerorts ist die Buddhafigur zum Inbegriff der                                                                                         Sehnsucht nach mehr Gelassenheit und Bewusstheit                                                                                         geworden. Aber auch spirituelle Bedürfnisse erfüllt                                                                                         das Achtsamkeitskonzept – und zwar ohne einen                                                                                         religiösen Überbau, dem viele Menschen heute kei-                                PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                27
Gegenbewegung zurAlltagshektik:Achtsamkeit soll ineiner reizüberflutetenWelt einen Zugangzur eigenen innerenWelt schaffennen Glauben mehr schenken können. Meditation istein Ersatz für klassische christliche Rituale, zu denensie keinen Bezug mehr haben.   Während in den USA und England bereits seitlängerem kritische Stimmen zu diesem Hype um dieAchtsamkeit zu hören sind, sind sie im deutschspra-chigen Raum noch verhalten – doch es gibt sie. Vonbuddhistischer Seite wird vor allem angemerkt, dasses sich dabei auch um ein ethisches Konzept hande-le, das eine von Mitgefühl und Toleranz geprägteHaltung umfasst. Im Westen werde Achtsamkeit aberin erster Linie auf Entspannung und Konzentrationreduziert.Kritik kommt auch aus der WissenschaftErfahrene Meditationslehrer machen darauf auf-           Selbstoptimierungskultur geworden, zu der sie ur-merksam, dass es sich bei Meditation um einen sehr       sprünglich einen Gegenpol bildete.langwierigen und intensiven Prozess handelt. So be-schreibt Andreas Remmel, der eine psychosomatische          Achtsamkeitstrainings werden von ArbeitgebernKlinik in Österreich leitet, Achtsamkeit als einen       finanziert, um die Leistungsfähigkeit ihrer Angestell-längerfristigen und anstrengenden Weg, der in der        ten zu steigern. Achtsamkeit ist zu einem Produkt,Regel mit langjähriger Praxis verbunden sei. Nicht       wie jedes andere auch geworden, das konsumiert wer-zuletzt kommen kritische Anmerkungen von wis-            den kann, um noch besser zu funktionieren. Die Ver-senschaftlicher Seite, denn die Studienlage ist alles    sprechen, die sich in Seminarprospekten und aufandere als eindeutig. Zwar werden Effekte nachge-        Internetseiten finden, haben mit Achtsamkeit häufigwiesen, doch diese sind längst nicht so umfassend,       nichts mehr zu tun.wie teilweise suggeriert wird (siehe Interview, S. 30).Viele hatten die Hoffnung, dass Achtsamkeit in der          Statt zu lernen, sich allen Empfindungen offenLage ist, wieder die richtige Balance von Anspannung     zuzuwenden, wird mit einem Mehr an positiven Ge-und Entspannung, Stress und Erholung, gedankli-          fühlen gelockt. Statt den eigenen Geist besser beob-cher Aktivität und innerer Ruhe herzustellen. Doch       achten und sich so von seinen Inhalten distanzierenseitdem sie nicht nur spirituelle Sucher, sondern zu-    zu können, soll die Konzentrationsfähigkeit gefördertnehmend die Masse anspricht, ist auch ein Phänomen       werden. Und das Ganze auf die Schnelle. Selbst einmit dem Spottnamen McMindfulness entstanden:             Acht-Wochen-Kurs scheint mancherorts viel zu langAchtsamkeit ist selbst Teil der Beschleunigungs- und     zu sein; stattdessen ist teilweise von Drei-Minuten-                                                         Achtsamkeit die Rede.28 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Der Achtsamkeitsforscher Stefan Schmidt vom                 WAS BEZEICHNETUniversitätsklinikum Freiburg klagt, dass Meditati-            ACHTSAMKEIT GENAU?on für die Systemerhaltung instrumentalisiert werdeund wir quasi gezwungen würden zu meditieren, um               Der Begriff Achtsamkeit ist die Übersetzung des„wieder fit zu werden und den nicht menschenge-                englischen Wortes mindfulness und darf nicht mitmäßenTakt halten zu können“. McMindfulness nutzt               unserem umgangssprachlichen Verständnis vonAchtsamkeit für die Belange der modernen Leistungs-            Achtsamkeit im Sinne von „vorsichtig“, „konzent-gesellschaft. Jede ethische Reflektion, jedes spiritu-         riert“ oder auch „respektvoll“ verwechselt werden.elle Anliegen verschwindet dabei.                                                               In Achtsamkeitstrainings lernen die Teilnehmen-   Vor einigen Jahren stellte das amerikanische Mi-            den, bei dem zu verweilen, was sie in dem Moment,litär mehrere Millionen Dollar zur Verfügung, um               jetzt gerade wahrnehmen, auch wenn es ein unan-ein Acht-Wochen-Programm für Soldaten zu entwi-                genehmes Gefühl oder Langeweile sein mag. Sieckeln. Das sogenannte Mindfulness-based Mind Fit-              wenden sich also genau dem zu, was in einer be-ness Training (MMFT) hat nicht nur das Ziel, die               schleunigten und reizüberfluteten Gesellschaftpsychische Widerstandskraft von Soldaten zu fördern            meist vermieden wird: dem Jetzt.und posttraumatischen Belastungsstörungen vorzu-beugen; auch die Leistungsfähigkeit im Kampfeinsatz            Sie lernen, Tätigkeiten wie Treppensteigen oder Es-soll so verbessert werden. Spätestens bei diesem An-           sen achtsam, also bewusst auszuführen, ohne dabeisatz dürfte manchem Achtsamkeitslehrer mulmig                  zu telefonieren oder den morgigen Tag zu planen.zumute werden.                                                 Aber auch Gedanken oder Gefühle sollen sie wahr-                                                               nehmen, ohne sie sofort mit Fernsehkonsum oderAndreas Knuf ist als Psychologischer Psychotherapeut in eige-  Internetshopping zu unterdrücken.ner Praxis in Konstanz tätig. Daneben bildet er Mitarbeitendepsychiatrischer Einrichtungen unter anderem in Achtsamkeits-   Das Ziel der Übungen ist, sich den eigenen Empfin-konzepten aus. Er ist Autor des Buches Ruhe da oben! Der Weg   dungen annehmend und offen zuzuwenden, ohnezu einem gelassenen Geist (Arbor 2010).                        sie zu bewerten oder sofort verändern zu müssen.                                                               Achtsamkeit soll unter anderem zu mehr innererLITERATUR                                                      Gelassenheit und Gleichmut führen. Die Identifika-                                                               tion mit Gedanken nimmt im Idealfall ab, unange-Chade-Meng Tan: Search Inside Yourself: Optimiere dein Leben   nehme Gefühle lassen sich leichter ertragen, unddurch Achtsamkeit. Goldmann 2015                               die Körperwahrnehmung verbessert sich.Stefan Schmidt: Vom Meditieren in der beschleunigten Leis-                                                                                     ANDREAS KNUFtungsgesellschaft. Kulturveränderung oder Konsumprodukt?Buddhismus aktuell, 2, 2015, 22–25Resilienz leicht                                                                                                                                             48 Seiten | € 9,99 [D] | ISBN 978-3-466-34614-1gemacht                                                                                                                                                         Auch als E-Book erhältlich         Wie können wir mit Veränderungen umgehen         und Krisen unbeschadet überstehen? Jutta         Heller erklärt spielerisch leicht, wie Sie Ihre         Widerstandskraft stärken und Resilienz auf-         bauen: Mit dem Känguru als Vorbild kann         jeder seine »Stehaufkompetenz« trainieren.                                                               www.koesel.de
H err Grossman, freut Sie der                  „Der Boom wird             Achtsamkeitsboom noch, oder        immer wilder“             macht er Ihnen eher Kummer?        Der Forscher Paul Grossman wundert sich                                                  über die große Beliebtheit des Themas, Seit seinem Beginn mache ich mir Sorgen hinsichtlich einer Verwässerung und Ver-     schließlich ist Achtsamkeit kein Wundermittel fälschung des Verständnisses. Aber wenn ich überlege, ob es besser wäre, wenn es     ern nur acht Wochen. Was macht das         sie nicht zu vermeiden. In einem Acht- diese Bewegung gar nicht gäbe, würde ich                                                Wochen-Kurs kann sich natürlich kein so das wohl verneinen. Achtsamkeit eröffnet     für einen Unterschied?                     intensiver Prozess entfalten wie bei lang- die Möglichkeit, wieder Zugang zu einer                                                 jähriger Meditation. So ein Programm anderen Welt als der Materiellen zu ge-      Ich glaube, wenn man 30 Jahre meditiert,   verändert das Leben nicht grundsätzlich. winnen, nämlich der unserer eigenen, in-     wird man einigermaßen bescheiden, was      Trotzdem kann es sehr bedeutsam sein. dividuellen inneren Erfahrung – ein von      den Erfolg dieses Prozesses im Alltag an-  Ich glaube, es geht darum, eine achtsame den Wissenschaften und der Gesellschaft      geht. So ist es zumindest mir ergangen.    Haltung zu kultivieren, und ein solcher allzu oft vernachlässigter Bereich. Ein we-  Aber ich denke auch, dass Meditation       Kurs ist ein Anfang, eine Einladung wei- sentlicher Aspekt ist die Erkundung des-     Auswirkungen auf mein Leben hat. Als       terzumachen. Die Praktiken und die Hal- sen, was wir wahrnehmen, fühlen, denken      zum Beispiel meine Frau vor dreieinhalb    tung können sich dann über die Jahre im- und glauben. Alle populären Versionen        Jahren gestorben ist, hat mir die Medita-  mer weiter vertiefen. des Konzeptes enthalten diesen Baustein      tionspraxis sehr geholfen, meine Trauer des Sich-nach-innen-Wendens. In dieser       tief und bedeutungsvoll zu erfahren und Hinsicht istdassicher einFortschritt. Aber ich habe immer noch die Befürchtung, dass der Kern der Achtsamkeit verloren- geht. Der Boom wird immer wilder. Vielleicht weil so viele sich gestresst fühlen und sich dringend mehr Ent- spannung wünschen? In vieler Hinsicht wird Achtsamkeit heu- te so verstanden und verkauft: Als eine Strategie, um schnell herunterzukommen. Von MBSR-Lehrern habe ich gehört, dass immer mehr Teilnehmer sagen, sie wollten sich vor allem entspannen. Sie suchen ei- ne schnelle und wirkungsvolle Methode, um danach mit ihrem hektischen Leben weitermachen zu können. Das hat mit Achtsamkeit wenig zu tun. Achtsamkeit, so wie ich sie auf der Grundlage der bud- dhistischen Psychologie und meiner per- sönlichen Erfahrungen verstehe, ist die Praxis, sich allen Erfahrungen in wohl- wollender Offenheit zuzuwenden und sie zu erkunden. Dabei ist unwichtig, ob es sich um angenehme, unangenehme oder neutrale Erlebnisse handelt. Manchmal mag diese Praxis zu Entspannung führen, sie führt aber vor allem dazu, toleranter mit den unvermeidbaren und nicht kon- trollierbaren Ereignissen umzugehen, die unser Leben so oft bestimmen. Sie meditieren seit mehr als 30 Jahren. Die meisten Achtsamkeitskurse dau-30 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Sie sind international einer der nam-       on für psychische Erkrankungen kein            des Themas. Heute geht es in Wissenschaft                                            Wundermittel, aber es gibt in manchen          und Forschung um viel Geld, und für Acht-haftesten Forscher zur Achtsamkeit.         Studien gute Ergebnisse, die weitere For-      samkeit gelingt es derzeit recht gut, Gelder                                            schung sinnvoll machen.                        einzuwerben. Aufgrund des Booms möch-Wie wirkungsvoll sind denn die kurzen                                                      ten sich sehr viele Forscher mit dem The-                                            Das hört sich an, als ließe sich auch mit      ma beschäftigen, auch solche, die sich mitAchtsamkeitsprogramme bei der Be-                                                          dem Achtsamkeitskonzept gar nicht wirk-                                            einem Kurzprogramm viel erreichen.             lich auskennen. Ich möchte nicht sagen,handlung von psychischen Schwierig-                                                        dass Studien manipuliert werden, aber es                                            Überhaupt klingt es heute häufig so,           werden sicher positive Ergebnisse betont.keiten?                                                                                    Manchmal wird der Eindruck erweckt, als                                            als wäre Achtsamkeit sogar wirkungs-           würden günstige Veränderungen bei ei-Im Allgemeinen kann man sagen, dass                                                        nigen Patienten beweisen, dass die Me-solche Interventionen wirkungsvoller sind   voller als andere Methoden.                    thode in allen Fällen wirksam ist. Diesesals keine oder placeboähnliche Behand-                                                     Problem findet man heute allerdings inlungen, wenn es um psychische Probleme      Das ist sicher nicht so. Ich bin den Acht-     allen wissenschaftlichen Bereichen.wie Depressionen oder Angst geht oder       samkeitsinterventionen zugewandt, aberdarum, ein grundsätzlich beeinträchtigtes   ich bin auch Wissenschaftler. Wenn man         Sie beklagen, dass der ethische AspektLeben zu verbessern. Wenn man sie mit       die Literatur anschaut und die großen Me-anderen, eher unterstützenden Methoden      taanalysen betrachtet, zeigt sich eine eher    des ursprünglichen Achtsamkeitsan-vergleicht, die keine spezifischen Acht-    durchschnittliche Wirksamkeit. Der Wertsamkeitselemente enthalten, psychoedu-      der Achtsamkeitsansätze liegt auch darin,      satzes im Westen oft verlorengeht.kativen Gruppen mit sozialer Unterstüt-     dass sie eine Alternative zu klassischenzung etwa, schneiden sie etwas besser ab.   Ansätzen wie Psychotherapie oder Medi-         Was fehlt Ihnen genau?Wenn man sie aber mit anderen bewähr-       kamenten bieten. In einem Bereich habenten Behandlungen vergleicht, mit kogni-     sie sich besonders bewährt. Und zwar hel-      In vielen Adaptionen wird Achtsamkeittiver Verhaltenstherapie oder psychody-     fen sie Menschen mit schweren Krank-           vor allem als Aufmerksamkeitsübung in-namischen Interventionen beispielsweise,    heiten wie multipler Sklerose oder Krebs,      strumentalisiert. Es gibt aber wesentlichegibt es zumindest über ähnliche Messzeit-   besser mit den existenziellen Herausfor-       Qualitäten des Phänomens, die weit überräume keinen wirklichen Unterschied,        derungen umzugehen, die mit den kör-           Entspannung und Konzentration hinaus-was die Verbesserung der psychischen Si-    perlichen Beeinträchtigungen verbunden         gehen. Es geht um eine relativ unvorein-tuation angeht. Nach allem, was wir heu-    sind. MBSR etwa ist das einzige fest eta-      genommene Wahrnehmung, die Freund-te wissen, ist Achtsamkeit als Interventi-  blierte und evidenzbasierte Programm,          lichkeit, Großzügigkeit, Mitgefühl, Tole-                                            das sich mit diesen Problemen auseinan-        ranz, Offenheit und Mut einschließt. Die-                                            dersetzt und sich in vielen Studien als hilf-  se Qualitäten zusammen ergeben eine                                            reich erwiesen hat. Trotzdem verstehe ich      ethische Haltung, und damit meine ich                                            nicht, wie der wahnsinnige Boom in der         absolut nichts Religiöses. Diese Haltung                                            Wissenschaft zustande kommt. Die Ef-           zu kultivieren ist weit anspruchsvoller, als                                            fektivität von Achtsamkeitsmethoden bei        einfach nur aufmerksam zu sein. Die Auf-                                            der Behandlung von rein psychischen Pro-       merksamkeit, von der im Achtsamkeits-                                            blemen oder auch als Intervention in der       ansatz die Rede ist, ist eine sehr spezifi-                                            Schule ist nicht groß, sondern mittelmä-       sche, die von den genannten Herzensqua-                                            ßig, sogar bescheiden. Den Nutzen über-        litäten durchdrungen ist. Das ist die ei-                                            trieben darzustellen dient weder den Pa-       gentliche Herausforderung von Achtsam-                                            tienten noch den anderen Zielgruppen.          keit. PH                                            Und es dient nicht der zukünftigen Ent-                                            wicklung solcher Interventionen, die eine                                         INTERVIEW: ANDREAS KNUF                                            kritische Evaluation benötigen, um ver-                                            bessert werden zu können.                                               Paul Grossman                                                                                                                    ist Direktor des Europäischen                                            Wenn die Effekte „nur“ durchschnitt-                                    Zentrums für Achtsamkeit in                                                                                                                    Freiburg und Forschungsleiter                                            lich sind, woher kommt dann der Hype,                                   der Abteilung für Psychoso-                                                                                                                    matik und innere Medizin am                                            was meinen Sie?                                                         Universitätshospital Basel. Als                                                                                           Projektleiter hat er verschiedene wissenschaft-                                            Ich glaube, das hängt mit vielen Faktoren      liche Studien zur Wirksamkeit von Achtsamkeit                                            zusammen, unter anderem mit dem                bei Fibromyalgie, multipler Sklerose und Krebs                                            Wunsch nach frischen Paradigmen in der         begleitet. Der Psychologe ist im Vorstand des                                            Psychologie, interessanter neurowissen-        Instituts Mind and Life in Europa.                                            schaftlicher Forschung zur Achtsamkeit,                                            aber auch mit einer guten VermarktungPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                                  31
PSYCHOLOGIE NACH ZAHLEN   SCHLAFGESPINSTE6 MYTHEN RUND UM UNSERE NACHTRUHES chon immer haben Menschen ge-             schen, die weniger als sieben, und andere,    ten. Doch es gibt ein Zeitfenster für den     ILLUSTR ATION: STEFAN BACHMANN         rätselt, warum sie schlafen müs-   die mehr als acht Stunden Schlaf brau-        Tiefschlaf: die Zeit, in der die Körpertem-         sen. Heute befasst sich die Wis-   chen. Normal und damit gesund kann            peratur fällt. Dies geschieht bis nachtssenschaft mit dem Schlaf, und inzwischen    alles zwischen fünf und zehn sein. Das        zwischen 2 und 4 Uhr. Ab da beginnt siekann sie gut beschreiben, was dabei in      glasklare Kriterium für ausreichenden         wieder zu steigen, bei Morgentypen frü-Körper und Psyche passiert. Im Schlafla-    Schlaf: Die Betroffenen sind tagsüber         her, bei Abendtypen später. Der Tempe-bor messen Forscher mittels Elektroen-      wach und leistungsfähig, mit Ausnahme         raturverlauf bei einem Menschen ist Tagzephalografie (EEG)die elektrischen Ak-     des Mittagstiefs. Wer dagegen tagsüber        für Tag ziemlich gleich. Das individuelletivitäten des Gehirns, außerdem Augen-      regelmäßig müde ist, schläft schlicht zu      Minimum verschiebt sich nicht sehr leicht,bewegungen und Muskelspannung, und          wenig; dazu gehören viele der Fünf-bis-       man nennt es auch „biologische Mitter-vergleichen das mit dem, was die Proban-    sechs-Stunden-Schläfer. Sie leben riskant.    nacht“. Nach dem Minimum haben Er-den selbst sagen. Einige der alten Ideen    Sie erkranken häufiger an Bluthochdruck,      wachsene praktisch keinen Tiefschlafhat die Schlafforschung bestätigt, andere   Schlaganfällen, Herzinfarkten, sogar          mehr, der erholsamste Schlaf findet vor-widerlegt. Dennoch halten sich manche       Krebs. Im Mittel sterben sie auch früher.     her statt. Insofern stimmt der Großeltern-Mythen über den Schlaf hartnäckig. Eine                                                   satz nicht für 24 Uhr, schon gar nicht inAuswahl.                                    2 DER SCHLAF                                  der Sommerzeit. Für die biologische Mit-                                                     VOR MITTERNACHT                      ternacht gilt er aber.1 ACHT STUNDEN                                        Besorgte Großelternpredigenger-      SCHLAF                                ne, der Schlaf vor Mitternacht sei der bes-   3 ALKOHOL UND       Acht Stunden Schlaf seien normal,    te. Richtig ist das nicht, glücklicherweise.           SCHLAFsagen die Leute – und bewundern alle,       Ein Körnchen Wahrheit steckt trotzdem                   Nein, als Schlafmittel eignet sichdie kürzer schlafen. Doch ganz so klar ist  drin, und das liegt am Tiefschlaf. Im Tief-   Alkohol nicht. Zwar entspannt Alkoho-die Sache nicht. Statistisch schlafen die   schlaf sind die Wellen im EEG besonders       lisches körperlich wie seelisch, solange esmeisten Erwachsenen zwischen sieben         langsam, das Gehirn beschäftigt sich mit      nicht zu viel ist. Und einschlafen könnenund acht Stunden, und das ist tatsächlich   sich selbst. Deshalb überhört es dann Ge-     wir nur entspannt – sobald wir uns an-auch die Schlafdauer, die die Mehrzahl      räusche leichter als im Rest der Nacht. Die   spannen oder verspannen, bleiben wirbiologisch benötigt. Es gibt aber Men-      Schlafqualität ist in diesen Phasen am bes-   ziemlich sicher wach. Insofern kann Al-32 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
kohol das Einschlafen erleichtern, in stra-   der Nacht. Während sie schlafwandeln,                                    Dipl.-Soziologin Nadine Labanßenverkehrstauglicher Dosis. Steigt die       sind die Betroffenen nur teilweise wach,                                 Heilpraktikerin für PsychotherapieDosis, schwindet der Nutzen für das Ein-      ihr Großhirn schläft an einigen Stellen                                  Privatpraxisschlafen. Durchschlafen dagegen wird          tief, an anderen aber nicht. Sie bewegen                                 für heilkundliche Psychotherapievom Alkohol meistens gestört – je mehr        sich nicht gezielt, sondern automatenhaft.                               Geschwister-Scholl-Str. 83, PotsdamStoff, umso stärker. Zum einen wacht man      Normalerweise finden sie trotzdem gut                                    www.praxis-laban.deauf, sobald die Alkoholwirkung nachlässt,     zurück ins Bett. Da ihr Gehirn aber teil-und kann schlecht wieder einschlafen.         weise schläft, können sie Gefahren nicht              Ich binZum anderen schläft man mit Alkohol           erkennen und folgerichtig nicht richtig               Mitgliedflacher und erholt sich schlechter. Er be-    darauf reagieren. Da werden Treppen,                  im VFPweilhindert nämlich den Tiefschlaf und pro-       Fenster oder Straße schnell zur Falle. Des-duziert immer wieder längere Wachepi-         halb muss man Schlafwandler vor Unfäl-               ... er meine Interessen souverän vertrittsoden. Je mehr Alkohol, umso intensiver       len schützen, vor allem Kinder. Das Wich-            ... ich die professionelle Zusammenarbeitstört er den Schlaf, von Rausch und Kater     tigste: Türen absperren. Die „schlafwand-ganz zu schweigen.                            lerische Sicherheit“ ist jedenfalls eindeu-              und Unterstützung sehr schätze                                              tig ein Märchen.4 SCHLAFEN                                                                                         ... regelmäßig Symposien stattfinden          UND GEWICHT                         6 AUFWACHEN UND                                      ... der VFP mit ca. 9.500 Mitgliedern           „Vielschläfer sind faul, und auf            WEITERSCHLAFENdie Dauer macht viel schlafen auch noch                 Nachts aufwachen ist noch kein                 der größte berufsständische Verbanddick.“ Für Schlafverächter ist das Tatsache,  Anzeichen für eine Schlafstörung. Nach                   der Freien Psychotherapie isttatsächlich ist es frei erfunden, und dasauch noch schlecht. Trotzdem haben            EEG-Kriterien wachen alle Menschen auf,              ... sich immer wieder neue MöglichkeitenSchlaf und Gewicht etwas miteinander zutun. Allerdings ist es genau umgekehrt.       bis zu dreißigmal, und das jede Nacht. Das               zu Netzwerken ergebenGuter, ausreichender Schlaf macht nicht                                                            Informationen über den VFP erhalten Sie hier:nur schlau, aktiv und leistungsfähig. Er      Wachsein dauert jedoch nur Sekunden,                 Verband Freier Psychotherapeuten,hilft auch dem Stoffwechsel und hält die                                                           Heilpraktiker für PsychotherapieFigur in Form. Das Gehirn benötigt im         höchstens zwei bis drei Minuten. Man                 und Psychologischer Berater e.V.Schlaf nicht weniger Energie als im Wa-                                                            Lister Str. 7, 30163 Hannoverchen. Das sind gut 20 Prozent, obwohl es      merkt entweder gar nichts oder stellt es             Telefon 05 11 / 3 88 64 24gerade mal anderthalb Kilogramm wiegt.                                                             www.vfp.de | [email protected] wird bevorzugt während des       fest, dreht sich um und schläft weiter.Schlafes die Nahrung im Darm verdaut,                                                                                        9)3das entlastet das gesamte System. Und         Selbst wer ab und zu nachts länger wach-schließlich verhindert der Schlaf, dass wir                                                         bildungshungrig?hungrig werden. Stattdessen fasten wir im     liegt, braucht sich nicht zu sorgen. Die                           wissensdurstig?Schlaf, ohne dass es uns auch nur auffällt.Wer nachts zu lange wach bleibt, wird da-     beste Reaktion: sich freuen, dass der We-               Beratung | Soziale Arbeit | Therapie | Super-gegen unweigerlich hungrig und muss es-                                                               vision | Coaching | Mediation | MBSR-sen. Das sind nicht nur zusätzliche Nähr-     cker noch nicht geklingelt hat. Wacht man               und AchtsamkeitslehrerIn | Systemischstoffe, es stört auch die Verdauung. Beides                                                           lösungsorientierte Therapie- und Beratungs-setzt an.                                     allerdings fast täglich auf, liegt dann mehr            konzepte | HeilpraktikerIn (Psychotherapie)                                                                                                      Seit über 40 Jahren berufsbegleitende, durch5 DIE BEULEN DER                              als eine halbe Stunde wach und grübelt                  Psychotherapeuten- und Landesärztekammer         SCHLAFWANDLER                                                                                Baden-Württemberg akkreditierte Fortbildungs-          Bis zu zehn Prozent der Kinder      dabei ohne Pause, kann sich das zu einer                veranstaltungen.schlafwandeln, Erwachsene erheblich sel-                                                              fortbildung1.detener. Manche richten sich nur im Bett        Schlafstörung entwickeln. Meist steckt                  Christian-Belser-Straße 79a | 70597 Stuttgartauf und sagen vielleicht etwas. Einige aberstehen wirklich auf und „wandeln“ umher,      akuter Stress dahinter. Der muss das The-                    Kostenloses Programmheft anfordernalles in den Tiefschlafphasen zu Beginn                                              ma werden, und zwar tagsüber. Die erste                                              Frage ist: Welche Gedanken halten mich                                              nachts wach, was genau geht mir da durch                                              den Kopf? Die zweite: Was kann ich gegen                                              das Problem tun? Oft ist es sinnvoll, sich                                              für die Antwort psychotherapeutische                                              Hilfe zu holen. Ein Schlafmittel ist nur                                              selten angebracht, und auch das für höchs-                                              tens drei Wochen.  BARBARA KNAB                                              LITERATUR                                              Jürgen Zulley, Barbara Knab: Die kleine Schlafschu-                                              le. Wege zum guten Schlaf. Herder, Freiburg 2011PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Das schaffen Sie!Sie haben sich vorgenommen, weniger zu essen und zu trinken,          mehr Sport zu treiben und das Leben gelassener         anzugehen? Das alles kann gelingen. Versprochen!                                                                   VON JOCHEN METZGERW er in der Lebensmitte einem                                Terrie Moffitt jedenfalls hat ihre 100 Dollar       ILLUSTR ATIONEN: EVA REVOLVER, SEPIA                            Klassentreffen beiwohnt, er-  verloren. Denn die Zahlen offenbarten einen                            lebt dort ein seltsames Phä-  mächtigeren Einflussfaktor als die Intelligenz, näm-                            nomen: Kein unbekannter       lich das Maß an Selbstkontrolle während des Kin-                            Zeuge würde glauben, dass     desalters. Wer seine Impulse mit drei, fünf, siebendie anwesenden Gäste demselben Jahrgang entstam-          und neun Jahren kontrollieren konnte, hatte alsmen. Manche wirken frisch, wohlhabend und vital,          Erwachsener mit hoher Wahrscheinlichkeit guteandere hingegen sind zeitig gealtert und leiden unter     Gesundheitswerte und kaum Probleme mit Alkohol,teils erheblichen sozialen und gesundheitlichen Pro-      Zigaretten oder Drogen. Er verdiente mehr Geldblemen. Zwischen einigen der Teilnehmer scheinen          als seine einst ungeduldigen, reizbaren und fahrigenzehn Lebensjahre zu liegen.                               Klassenkameraden. Diese wiederum wurden mit                                                          höherer Wahrscheinlichkeit straffällig und zu   Warum ist das so? Weshalb werden die einen ge-         alleinerziehenden Eltern. Glaubt man diesem Ergeb-sund, glücklich und reich, die anderen hingegen           nis, dann ist die früh erworbene Selbstkontrolle einkränklich, verzagt und verschuldet? Liegt es an den       Schlüssel zu einem ziemlich glücklichen Leben.Genen? Am sozioökonomischen Status der Eltern?Oder haben manche einfach Glück und andere Pech?             Selbstkontrolle bringt uns weiter. Diese Erkennt-„Ich habe mit meinen Kollegen um 100 Dollar ge-           nis ist nicht neu. Bereits Walter Mischels berühmtewettet, dass vor allem der IQ für die Unterschiede        Marshmallow-Studie weist in diese Richtung:verantwortlich ist“, sagt Terrie Moffitt von der Duke     Mischel setzte ab Ende der 1960er Jahre Kinder-University in North Carolina. Ihre Daten zog die Psy-     gartenkinder vor eine Süßigkeit. Die Kleinenchologin aus der Dunedin Study, einem statistischen       konnten den Marshmallow sofort essen oder eineNibelungenhort für Sozialwissenschaftler. In Dune-        Viertelstunde abwarten und dann die doppeltedin, der zweitgrößten Stadt auf der Südinsel Neusee-      Menge kassieren. Mischel fand heraus: Kinder,lands, begann man in den frühen 1970er Jahren, mehr       die genügend Selbstkontrolle für diese Beloh-als 1000 Kinder eines Jahrgangs regelmäßig auf ihre       nungsverzögerung aufbringen konnten, bekamenkörperliche, seelische und soziale Entwicklung hin        später bessere Noten und erreichten im Durch-zu vermessen. Diese Datensammlung dauert noch             schnitt einen höheren Abschluss (siehe Interviewimmer an, und weil zu all den lästigen Interviews,        mit Walter Mischel in Heft 4/2015: „Wir könnenUntersuchungen, Tests und Fragebögen auch ein kos-        Selbstkontrolle erlangen, indem wir unsere Gedankentenloser Zahnarzt-Check gehört, erscheinen bis heu-       verändern“). Im Jahr 2005 entdeckte die Psychologinte mehr als 90 Prozent der damaligen „Dunedin-            Angela Duckworth von der University of Pennsylva-Kinder“ pünktlich zu jeder anberaumten Inspektion.        nia, dass Schulerfolge sogar stärker von der Selbst-Die Probanden haben inzwischen das mittlere Er-           disziplin der Schüler abhängen als von ihrer Intelli-wachsenenalter erreicht.                                  genz.34 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016  35
Oh, wie scheuß-                                                       lich süß sieht                                                       diese Torte aus!                                                       Wer Verführungen                                                       umbewertet,                                                       wird mit der Zeit                                                       immun dagegen   Im Leben des Einzelnen kommt Selbstkontrolle        vielleicht auch unseren Job. Adam und Eva verlorendort ins Spiel, wo wir in Versuchung geraten: beim     durch den Biss in den Apfel ihr Bleiberecht im Para-Essen, Trinken, unserem Bedürfnis nach Entspan-        dies.nung, bei Sex, Drogen und Ablenkungen durch elek-tronische Medien. Der Psychologe Wilhelm Hofmann          Wie können wir es schaffen, solchen Versuchun-bezeichnet solche Begierden als den new hot spot in    gen zu widerstehen? Wilhelm Hofmann zeigt, dassder Erforschung der Selbstkontrolle. Wie häufig, so    Begierden einen dreistufigen Prozess durchlaufen,fragte sich Hofmann, sind wir im Alltag solchen Ver-   bis es zum Sündenfall kommt: Wir müssen zunächstlockungen ausgesetzt? Per Smartphone ließ er seine     an den verlockenden Apfel denken. Eine VorstellungProbanden mehrmals täglich einen Fragebogen aus-       von ihm muss in unseren Kopf gelangen, sein rot-füllen. Das wichtigste Ergebnis seiner Studie: Etwa    wangiges Bild, sein süßer Geschmack, seine Saftig-die Hälfte der Zeit, die wir im Wachzustand verbrin-   keit, sein fruchtiger Duft, das knackige Geräusch beimgen, lockt uns irgendetwas, das sofortiges Vergnügen   Reinbeißen. Erst danach können wir anfangen, unsverspricht. Man sitzt im Büro und denkt, wie toll es   in immer neuen Gedankenschleifen in den unbän-wäre, stattdessen ein Nickerchen zu machen, ein Stück  digen Wunsch des Habenwollens hineinzusteigern.Torte zu essen, einen Cappuccino zu trinken – oder     Im letzten Schritt folgt schließlich das Ausagierenmit dem Kollegen, der Kollegin aus der Marketing-      der Begierde, das Pflücken und Genießen der verbo-abteilung eine Affäre anzufangen. Etwas mehr als 50    tenen Frucht. Umgekehrt bedeutet das: Selbstkont-Prozent dieser Begierden werden von uns als völlig     rolle kann auf vielfache Weise gelingen, sie kann anproblemlos eingestuft. Der ganze Rest ist nichts wei-  jeder der genannten Phasen ansetzen. Und manchmalter als eine Versuchung, der verbotene Apfel im Gar-   kommt es nur darauf an, genau jene Strategie zu fin-ten Eden: Wir würden ja so gerne – aber wir wissen     den, die am besten zu einem passt.genau, dass wir über kurz oder lang damit in Schwie-rigkeiten geraten. Wir schaffen unser Pensum nicht,    1. Das Objekt der Begierde meidenwenn wir am Schreibtisch einschlafen oder unsereZeit auf Facebook vertrödeln. Kuchen macht dick,       Wer mit dem Rauchen aufhören möchte, sollte kei-vom Rauchen bekommen wir Krebs, der außerehe-          ne Zigaretten im Haus haben. Wer abnehmen will,liche Sex am Arbeitsplatz gefährdet unsere Ehe und     entfernt am besten die Schokolade aus dem Schrank.                                                       Das mögen Ratschläge aus den Kalenderblättern un-                                                       serer Großmütter sein – wirksam sind sie dennoch.36 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Die besonders kontrollierten Teilnehmer in Wilhelm       Pilotstudie mehr Sport, wenn sie sich derlei positiveHofmanns Studieverfolgten intuitiv genaudieseStra-       Bilder mehrmals täglich in Erinnerung riefen. Eintegie: Mit höchster Disziplin kontrollierten sie die     zweites Experiment dieser Art konnte den Alkohol-Situationen, in die sie sich begaben. Sie setzten sich   konsum starker Trinker um mehr als die Hälfte re-nur selten einer starken Versuchung aus und konnten      duzieren – und zwar über einen Zeitraum von meh-so relativ konfliktfrei durch ihren Alltag navigieren.   reren Monaten. Wie dieses Vorstellungstraining prak-Auf der anderen Seite des Spektrums fand Hofmann         tisch am besten genutzt werden kann, wird derzeitjene Teilnehmer, die ihre Standfestigkeit dramatisch     noch erforscht.überschätzten: Sie hielten sich für charakterstark undglaubten, auch der stärksten Versuchung widerstehen      4. Die Dinge mit anderen Augen sehenzu können. Die Folge: Sie räumten die Nougatriegeltrotz ihrer Diät nicht aus dem Schrank – und gaben       Diese Methode gehört zur zweiten Phase des Verlan-der naheliegenden Verlockung entsprechend häufig         gens: Die Süßigkeit liegt direkt vor uns auf dem Tel-nach. Eine Feldstudie der Cornell University kommt       ler, unser Appetit ist bereits erwacht – wie in der obenzum selben Ergebnis: Dort naschten Sekretärinnen         erwähnten Marshmallow-Studie von Walter Mischel.im Büro mehr als doppelt so viele Süßigkeiten, nur       Dort widerstanden einige Kinder der Versuchung,weil diese in durchsichtigen statt in blickdichten       weil sie sich die weißen Stücke nicht als Naschzeug,Behältern auf ihrem Schreibtisch standen. Der            sondern als kleine Wolken vorstellten. Neuere Stu-Mensch sieht, was vor Augen ist, und lässt sich leicht   dien zeigen, wie diese Umbewertungstechnik funk-davon verführen.                                         tioniert. Sie unterbricht unsere automatisch ablau-                                                         fenden inneren Belohnungsprozesse, nimmt der2. Sich ablenken, wenn die Versuchung lockt              Schokolade, der Torte, dem Bier einen Teil ihres                                                         Glücksversprechens. Verstärkt wird die WirkungKein Mensch kann an hundert Dinge gleichzeitig           durch eine Technik, die Psychologen als evaluativedenken – das liegt an unserem Arbeitsgedächtnis,         conditioning bezeichnen: Man lernt, einen Konsum-der engen Eingangspforte unseres Bewusstseins. Muss      artikel im Geiste mit etwas Unangenehmem zu ver-die Versuchung womöglich draußen bleiben, wenn           binden: die Whiskeyflasche mit Bildern eines Ver-wir diesen schmalen Flur mit anderen Gedanken            kehrsunfalls, die Zigarette mit Bildern von Krebspa-blockieren? Das wollte Lotte van Dillen von der Uni-     tienten im Endstadium. Walter Mischel behauptet,versität Leiden herausfinden. Tatsächlich ließen sich    sich mithilfe dieses Tricks das Rauchen abgewöhntihre Versuchspersonen weniger von dargebotenem           zu haben.Schokoladengebäck verführen, wenn man sie zuvormit kniffligen Zahlenrätseln beschäftigte. Allerdings    5. Die Lust unterdrückenscheint der Trick mit der Ablenkung nur zu funkti-onieren, wenn man die Rechenaufgaben zeitlich vor        Die Strategie scheint intuitiv einleuchtend: Wenn dieden Brownies präsentiert. Denn hat sich der Wunsch       Schwarzwälder Kirschtorte lockt, man im Geistenach Süßem bereits im Kopf festgesetzt, kehrt sich       schon die Mischung aus Sahne, Kirschwasser undder Effekt um: Dann futtern die gedanklich stark         dunklem Biskuit auf der Zunge spürt – dann sollteBeschäftigten ihre Kekse nebenbei und essen sogar        man diese Fantasien einfach unterdrücken und diebesonders viele davon, ohne es recht zu bemerken.        inneren Bilder verjagen wie eine lästige Fliege an ei-                                                         nem heißen Sommertag. Doch wie gut funktioniert3. Sich seine eigene Versuchung erschaffen               das? In einer englischen Studie bat man Raucher,                                                         sieben Tage lang nicht an Zigaretten zu denken. Tat-Begehren entsteht zu einem großen Teil durch un-         sächlich konsumierten die Probanden zunächst we-sere Vorstellungen. Wenn das stimmt – könnte man         niger Tabak. Allerdings führte die Methode zu einemsich dann nicht auch gesunde, „vernünftige“ Versu-       Bumerangeffekt: In der darauffolgenden Woche er-chungen selbst erschaffen, nur durch die Kraft der       höhten die Testpersonen ihren Konsum und rauch-Fantasie? Lässt sich zum Beispiel unsere Lust auf Sport  ten sogar mehr, als sie das vor dem Experiment getangedanklich steigern, indem wir uns regelmäßig den        hatten. Dieser ironic rebound effect ist inzwischenwohligen Zustand ins Gedächtnis rufen, nach einem        durch mehrere Studien belegt: Gedanken unterdrü-Dauerlauf unter die Dusche zu steigen? Diesen An-        cken, wenn sie sich bereits bunt und verlockend insatz verfolgt derzeit ein australisch-britisches For-    unsere Fantasie geschlichen haben, das führt zu ebenscherteam im sogenannten functional imagery trai-        jenem Jo-Jo-Effekt, den man im Alltag so häufig beining. Tatsächlich trieben Versuchspersonen in einer      Diäten erlebt.PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                                                          37
„Ich will Schokolade, sofort!“                                                      Willenskraft ist wie ein Muskel. Sie erlahmt viel Wer das denkt, ist verloren.                                                       schneller, als wir glauben. Die menschliche Psyche Distanz zum Begehren schafft                                                       ist offenbar nicht in der Lage, sich permanent am der Gedanke: „Ich spüre Lust                                                       Riemen zu reißen (siehe Heft 2/2012: Willenskraft). auf Schokolade“                                                                    Auch die Persönlichkeit spielt eine Rolle: Manchen                                                                                    fällt die Verhaltenskontrolle grundsätzlich leichter                               6. Die Versuchung akzeptieren                        als anderen. Für eher willensschwache Menschen                                                                                    scheint die „Ich tu’s einfach nicht“-Strategie keine                            Gedankenunterdrückung scheint also keine sinn-          besonders aussichtsreiche Option zu sein: Sie machen                            volle Strategie zu sein. Eine wachsende Zahl an Stu-    Diät und nehmen trotzdem nicht ab, wie die Zahlen                            dien beschäftigt sich neuerdings mit Achtsamkeits-      in Wilhelm Hofmanns Studie belegen.                            techniken, die das genaue Gegenteil empfehlen: Statt                            sich für seine Lust auf Süßigkeiten zu verurteilen,        Ein weiterer Fallstrick dieser Strategie liegt in                            übt man sich darin, seinen Appetit zu akzeptieren       einem Phänomen, das der Verhaltensökonom                            und zu hinterfragen (disidentification). Man sagt       George Loewenstein als hot-cold empathy gapbezeich-                            nicht mehr „ich brauche jetzt unbedingt Schokola-       net: Wir Menschen sind ausgesprochen schlecht da-                            de“, sondern „ich spüre, wie in mir die Lust auf Scho-  rin, unser Verhalten im Zustand des Begehrens vor-                            kolade wächst“. Durch diese subtile Unterscheidung      herzusagen. Wir unterschätzen systematisch die                            wird man, so die Hoffnung, nicht mehr zum Opfer,        Macht der Versuchung – und handeln, wenn’s drauf                            sondern eher zum Beobachter des eigenen Verlangens      ankommt, immer wieder gegen unsere vernünftigen,                            und kann deshalb leichter widerstehen. „Mein            langfristigen Ziele.                            Appetit ist nur ein Gedanke“ – in dieser Geistes-                            haltung trainierten australische Forscher einen Teil       Kann man Verhaltenshemmung lernen? Im                            ihrer Probanden, die ausschließlich aus Schoko-         Prinzip ja: Manche Übungsprogramme versuchen                            holics bestanden. Anschließend schenkte man jeder       die Verhaltenshemmung exakt dort einzuüben, wo                            Versuchsperson einen Beutel voller Schokolade           sie am meisten gebraucht wird. Forscher der Univer-                            mit der Bitte, diesen eine Woche lang bei sich zu tra-  sität Maastricht arbeiten dafür mit einer sogenann-                            gen, ohne davon zu naschen. Den Teilnehmern aus         ten „Go/No-go-Aufgabe“. Die Probanden sitzen vor                            der Achtsamkeitsgruppe gelang dieses Kunststück         einem Rechner und sollen möglichst schnell die Leer-                            mehr als dreimal häufiger als den Probanden aus der     taste des Computers drücken, wenn auf dem Bild-                            Kontrollgruppe.                                         schirm der Buchstabe „f“ erscheint (go), sie sollen                                                                                    gar nichts tun, wenn der Buchstabe „p“ erscheint                               7. „Ich tu’s trotzdem nicht!“                        (no-go). Im Monitorhintergrund stehen Bilder von                                                                                    vollen und leeren Biergläsern. Bei manchen der                            Wenn wir im Alltag von „Selbstkontrolle“ sprechen,      Probanden erscheint das „p“ wie durch Zufall immer                            denken wir in der Regel an dieses Szenario – Wilhelm    dort, wo ein volles Bierglas zu sehen ist. Die Ver-                            Hofmann nennt es eine late-stage strategy: Wir möch-    suchspersonen werden also heimlich darauf kondi-                            ten Diät halten, aber am Nebentisch verzehrt jemand     tioniert, auf ein volles Bierglas mit „Ich tue gar nichts“                            ein Stück Sachertorte. Wir spüren, wie der Appetit      zu reagieren. Erste Versuche zeigen, dass man den                            auf Süßes in uns wächst, reißen uns aber zusammen       Konsum von Bier bei starken Trinkern mit dieser                            und bestellen nur ein stilles Mineralwasser. Man        Methode tatsächlich verringern kann. Ein ähnliches                            hemmt also ein bestimmtes Verhalten. Manchmal           Experiment aus England reduzierte den Bierkonsum                            gelingt uns das – und manchmal eben nicht. Einen        der Probanden ebenfalls. Allerdings hielt der Effekt                            Grund für unser gelegentliches Scheitern sieht der      nicht lange vor: Bereits eine Woche nach dem                            Sozialpsychologe Roy Baumeister in einem Phäno-         Training tranken die Teilnehmer wieder genauso viel                            men, das er „Ich-Ermüdung“ (ego depletion) nennt:       wie zuvor.                                                                                    Die Literaturangaben zu diesem Artikel finden Sie unter                                                                                    www.psychologie-heute.de/literatur38 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
SO FUNKTIONIEREN GUTE VORSÄTZE!             Das neue Jahr liegt noch ganz frisch und unberührt vor Ihnen: Ein guter Zeitpunkt,         um Ihre guten Vorsätze in die Tat umzusetzen. Doch wie gut sind Ihre Pläne eigentlich?A m Neujahrstag wird das Wort            auf Erfolg. Wenn wir gute Vorsätze          to größere Erfolgschancen haben Sie.       „Diät“ 82 Prozent häufiger geg-   fassen, betrifft das oft Dinge, die wir     Es wird ein ganzes Stück schwieriger,oogelt als an Durchschnittstagen, das    nicht mehr in unserem Leben haben           sich eine Zigarette anzuzünden, wennhaben Forscher der Universität von       wollen. Fragen Sie sich lieber, wovon       jeder weiß, dass Sie mit dem RauchenPennsylvania errechnet. Und auch in      Sie mehr haben möchten. Werden Sie          aufhören wollen.Fitnessstudios strömen neue Mitglie-     wirklich dreimal die Woche joggender traditionell vor allem zu Beginn                                                 Wird 2016 ein hartes Jahr für Sie?  des Jahres. Warum ist der Jahresan-      gehen, wenn Sie nicht wirklich gerne        Wenn wir mit unseren Vorhabenfang für viele Menschen ein magi-        laufen? Oder stehen Sie jeden Tag um        scheitern – und das passiert letztlichscher Moment und ein Anlass für          halb sieben auf, wenn Sie doch ein          in den meisten Fällen –, kann unserKurskorrekturen? Die Wissenschaftler     Abendmensch sind? Fragen Sie sich           Selbstbild leiden, und wir fühlen unsin Pennsylvania glauben, dass es uns     also kritisch: Welche Veränderung,          deprimiert. Deshalb: Wenn es vielean einem bedeutsamen Datum leich-        die ich bis Ende des Jahres erreicht        andere Dinge in Ihrem Leben gibt, de-ter fällt, uns psychologisch von unse-   haben möchte, liegt mir wirklich am         nen Sie Ihre Aufmerksamkeit widmenrem „alten Ich“ zu entfernen. Von        Herzen?                                     müssen, ist es wahrscheinlich klüger,dem Ich, das Arbeit lieber auf morgen                                                Verhaltensänderungen zu verschie-verschiebt, das seine Liebsten an-       Ist Ihr Vorsatz konkret genug?              ben.schnauzt und mit größter Selbstver-      Vage formulierte Pläne wie „ich willständlichkeit vor dem Schlafengehen      gesünder leben“ oder „ich werde             Wie schnell geben Sie auf?noch eine große Packung Ben &            mich nicht mehr so unter Druck set-         Es ist mühsam, das eigene VerhaltenJerry’s-Eiscreme löffelt. Mit diesem     zen“ sind zum Scheitern verurteilt.alten Ich soll im neuen Jahr Schluss     Machen Sie Ihr Vorhaben ganz kon-           zu verändern. Studien haben gezeigt,sein. „Frischer-Start-Effekt“ – so nen-  kret, raten Psychologen. Zum Beispielnen die Wissenschaftler in Pennsylva-    so: „Mittwoch und Freitag gehe ich          dass immer mehrere Versuche nötignia dieses Phänomen. Schade nur,         vor dem Abendessen zwanzig Minu-dass es uns oft nicht gelingt, diesen    ten joggen.“ Es hilft auch, ein großes      sind, um Erfolg zu haben. Deshalb istAnfangselan beizubehalten.               Ziel in viele kleine Ziele zu unterteilen.                                                                                     es nicht klug, sofort das Handtuch zu    Wenn Sie im neuen Jahr durchhal-     Erzählen Sie anderen, was Sieten wollen, sollten Sie prüfen, wie zu-  vorhaben?                                   werfen, wenn Sie einmal eine Verab-kunftsfähig Ihre Pläne sind.             Je mehr Menschen von Ihren Vorha-                                         ben wissen, desto mehr Unterstüt-           redung zum Sport nicht einhaltenWie viele gute Vorsätze haben Sie?       zung können Sie bekommen und des-Mit dem Rauchen aufhören, weniger                                                    oder wenn Sie vor einer Tüte Bon-trinken und gesünder essen: Oft sinddie Pläne, die wir zu Beginn des Jah-                                                bons kapitulieren. Wissenschaftler ra-res schmieden, zu ambitioniert.Höchste Zeit, den Enthusiasmus zu                                                    ten dazu, Rückschläge als unvermeid-kanalisieren und einen Vorsatz auszu-wählen, den Sie wirklich realisieren                                                 bar zu betrachten und als Teil deswollen. Das vergrößert Ihre Erfolgs-chancen.                                                                             Veränderungsprozesses zu akzeptie-Warum wollen Sie sich verändern?                                                     ren. Forscher der Universität von Wa-„Ich muss abnehmen, sonst macheich mich am Strand lächerlich.“ Unter-                                               shington fanden zum Beispiel heraus,suchungen zeigen: Veränderungen,die auf Schuldgefühlen oder Angst                                                    dass angehende Nichtraucher zubasieren, haben die geringste Chance                                                                                     scheitern drohen, wenn sie in „Alles                                                                                     oder nichts“-Kategorien denken. Wer                                                                                     glaubt, er habe nicht genug Willens-                                                                                     kraft, weil er mal eine Zigarette ge-                                                                                     raucht hat, wird eher aufgeben als je-                                                                                     mand, der darüber nachdenkt, wie es                                                                                     zu dieser einen Zigarette kommen                                                                                     konnte. Und dann diese Situation in                                                                                     der Zukunft meidet.                    PH                                                                                                                              MARLOES ZEVENHUIZEN                                                                                                                                                                           Quelle: Psychologie Magazine. Übersetzung aus                                                                                     dem Niederländischen: Birgit SchreiberPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                                                                   39
„Wir würden es ohne Unruhe          gar nicht aushalten“                Die Ruhe gilt als Voraussetzung für Glück. Doch unser          Leben ist voller Unruhe. Der Philosoph Ralf Konersmann meint:                                     Wir wollen es nicht anders    Herr Professor Konersmann, alle sind heute im           war? Mich interessiert, wie so ein neues Wort das                                                            Begreifen verändert, sodass man jetzt sagen kann:    Stress. Ist die Unruhe ein neues Phänomen?              „Was hatte ich heute wieder für einen Stress.“    Die Menschen haben schon immer die Erfahrung der           Und mich interessiert, was auf der Strecke bleibt,    Unruhe gemacht. Aber sie haben sie anders beschrie-     wenn sich die Begriffe verändern. Denn wenn man    ben. Wenn man in die Geschichte zurückblickt, stellt    in die Geschichte zurückschaut, sieht man, dass es    man fest, dass andere Zeiten gebräuchliche Begriffe     zu anderen Zeiten andere Zugriffe auf alltägliche Be-    von heute nicht zur Verfügung hatten, Stress oder       lastungen gegeben hat: theologische, anthropologi-    Burnout etwa. Burnout kommt zur Jahrtausendwen-         sche, mythische. Im 20. Jahrhundert sind die psy-    de auf, Stress um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Die-  chologischen Beschreibungen dominant geworden.    se Begriffe helfen uns, uns selbst und die Welt zu      Mirscheint, dassdamitauchetwasverlorengeht,nicht    beschreiben, unsere Situation zu erfassen. Aber sol-    nur Beschreibungen, sondern vielleicht auch Lösun-    len wir deshalb annehmen, dass die Menschen vorher,     gen, weil sie in der Sprache der Psychologie nicht    etwa die Zeitgenossen des Ersten Weltkriegs, keinen     mehr artikulierbar sind.    Stress hatten? Was war das denn, wenn es kein Stress40                                                          PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Ralf Konersmann      Was ist denn so schlimm an der Unruhe?                   Zielen werden Zwischenziele, und schon kommt das  ist Professor für                                                            nächste. Bis vor kurzem gab es noch den Ausdruck   Philosophie an     Das Problem hat als Erster Blaise Pascal gesehen, er     „Reifezeugnis“. Der wurde dann von den Erziehungs-der Universität Kiel  nennt es Zerstreuung. Die Pointe bei der Zerstreuung     wissenschaftlern bekämpft, weil Reife ein Endzu-                      ist, dass sie unsere Urteilskraft, unser Gefühlsleben    stand sei. Man wollte das lebenslange Lernen propa-    und Direktor      und all das, was uns helfen könnte, aus der Unruhe       gieren. So normalisiert sich die Unruhe, das Wort    des dortigen      herauszukommen, korrumpiert. Etwa durch eine auf         selbst braucht dabei gar nicht zu fallen.  Philosophischen     Dauer gestellte moralische Entrüstung. In einer Welt                      der Zerstreuung werden moralische Anstöße leicht         Und zugleich träumen wir vom Paradies und der       Seminars.      zu Vorwänden, sie bekommen einen gewissen Un-                      terhaltungswert: Was ist denn heute wieder passiert?     paradiesischen Ruhe?                      Oder sie werden zu Anlässen, um aktiv und aktivis-                      tisch zu sein, um dem Bedürfnis, sich zu kümmern,        Natürlich. Eine der Pointen des jüdisch-christlichen                      einen Gegenstand zu bieten. Wenn hier, auf dem           Paradiesbegriffs ist: einfach angenommen sein. Oh-                      Land eine Scheune brennt, kommen Helfer aus dem          ne Gegenleistung, einfach weil man da ist. Ohne sich                      ganzen Umkreis, dann stehen 20 Feuerwehrwagen            sein Leben verdient haben zu müssen. In der Neuzeit                      um die Scheune herum. Man sieht, wie die Sprung-         und in der Moderne haben wir dagegen die Logik                      bereitschaft schon da war und man nur noch auf den       des Verdienstes. Ruhe muss verdient sein, die Pause                      Anlass gewartet hat, um den ganzen präventiven Auf-      muss verdient sein: durch Arbeit. Schon Kant schrieb,                      wand zu rechtfertigen. Das Bedenkliche an der Zer-       Ruhe sei der Lohn für die erbrachte Anstrengung.                      streuung ist, dass sie solche Umkehrungen begünstigt.    Wir knüpfen Ruhe an Bedingungen, die erfüllt sein                      Pascal sagt, wir jagen nicht mehr, um Fleisch zu be-     müssen, damit wir uns das leisten können, sonst ha-                      kommen, sondern weil wir die Zerstreuung lieben.         ben wir ein schlechtes Gewissen. Manchen verlässt                      Solche Verschiebungen im Motivationshaushalt sind        ja auch im Urlaub das Gefühl nicht, eigentlich zu                      typisch für die Unruhe. Die Zerstreuung sorgt für        Hause oder im Büro gebraucht zu werden. Ruhe ist                      eine Chaotisierung dieser Motivationshintergründe,       heute von einem leichten Unbehagen, ja Unrechts-                      dafür, dass man nicht mehr ins Klare bringt, was         bewusstsein begleitet. Ruhe ist etwas, was wir uns                      man warum tut.                                           eigentlich nicht erlauben dürfen. Das Paradies ist ge-                                                                               nau das Gegenteil: die Befreiung von jeder Verpflich-                      Ist der Mensch von Natur aus unruhig?                    tung; paradiesisch leben heißt, umsorgt zu sein,                                                                               wunschlos zu sein. Das ist ein ganz starkes Motiv                      Das würde ich nicht sagen, weil wir in unserer Kul-      und vermutlich der Grund dafür, dass die Paradies-                      tur ganz gegenteilige Wahrnehmungen des Phäno-           vorstellung so zählebig ist.                      mens Unruhe haben. Den Menschen als Unruhewe-                      sen zu definieren wäre für die Menschen über viele       Gibt es gute und schlechte Formen von Unruhe?                      Jahrhunderte hinweg ein unerträglicher Gedanke                      gewesen. Das Bestreben galt immer dem Versuch,           Ja, darauf sind die Philosophen schon in der Antike                      aus dem Modus der Unruhe herauszukommen und              gekommen. Um die Zeitenwende herum gibt es zwei                      wieder zu dem Geschöpf zu werden, als das wir aus        große Beschreibungsmuster für die Unruhe. Das ei-                      den Händen Gottes hervorgegangen sind. Zu Para-          ne ist das jüdisch-christliche Modell, das sagt, wir                      dieswesen, zu Wesen, die in Ruhe leben dürfen und        hatten einmal die Ruhe, die Paradiesruhe, und leider                      denen es vergönnt ist, bei sich selbst zu sein und sich  waren wir so blöd, sie zu verspielen. Jetzt müssen wir                      den Dingen hinzugeben, die sie selbst sich wünschen.     uns damit auseinandersetzen, was wir da angerich-                      Die längste Zeit war die Unruhe ein Verhängnis. Und      tet haben. Das andere ist das stoische Modell, das die                      heute stehen wir da und sagen: bloß keinen Stillstand,   Zeitordnung umkehrt und sagt, die Ruhe ist etwas,                      bloß keine Stagnation. Wir würden es ohne die Un-        was wir vor uns haben. Wir leben jetzt in einer Welt                      ruhe gar nicht mehr aushalten.                           der Unruhe, aber wenn wir uns klug anstellen und                                                                               uns des Beistandes der Philosophie versichern, der                      Aber die meisten Menschen scheinen sich eher             Vernunft, dann mag es uns gelingen, Seelenruhe zu                                                                               finden. Aber das ist paradoxerweise ein lebenslanger                      nach Ruhe als nach Unruhe zu sehnen.                     Kampf: Wir müssen uns der Unruhe stellen, sie be-                                                                               siegen. In diesem Zusammenhang unterscheidet der                      In der Tat, die wenigsten würden offen erklären, dass    römische Philosoph Seneca zwischen guter und                      sie die Unruhe vorziehen. Andererseits genügt es         schlechter Ruhe und zwischen guter und schlechter                      schon, dass wir uns ansprechen und mitreißen las-        Unruhe. Die schlechte Ruhe ist die Trägheit, sich ein-                      sen, dass wir uns gegen die Unruhe nicht wehren.         fach so gehenlassen. Die gute Ruhe ist die Seelenru-                      Unsere ganze Umgebung, Kindergarten, Schule, Ar-         he, das ist der Zielpunkt des individuellen Bildungs-                      beitswelt, alles ist auf Dynamisierung angelegt. AusPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                      41
prozesses. Und ebenso für die Unruhe: Es gibt eine         Wir haben uns in den letztenUnruhe, die bloß Hektik, Betriebsamkeit, geistloses        200 Jahren viel Mühe gege-Nach-vorn-Stürmen ist. Und es gibt eine gute Un-           ben, die Ruhe zu diffamieren.ruhe, die konstruktiv ist, die sich immer wieder dem       Deshalb wissen wir heuteZiel verpflichtet fühlt, sich selbst und die eigene Träg-  nicht, was Muße sein könnteheit zu überwinden, und die dem Einzelnen oder derGesellschaft dazu verhilft, einen Zustand echter Ru-       Das sind Leidensgeschichten, und wenn solchen Men-       Ralf Konersmann:he zu finden. Wir müssen also die gute Unruhe – den        schen geholfen werden kann, wäre es zynisch, dage-     Die Unruhe der Welt.Prozess der Bildung – gegen die schlechte Unruhe           gen anzugehen. Ich wollte betonen, dass die Unruhe     S. Fischer, Frankfurtmobilisieren, um aus unserer Lage herauszukommen.          eingewoben ist in unsere Kulturmuster und wir letzt-                                                           lich außerstande sind, aus diesem Kokon auszubre-         a. M. 2015, 461 S.,Wie haben wir gelernt, die Unruhe zu lieben?               chen. In unseren Denkmustern bringen wir immer                  € 24,99                                                           schon Spuren der Unruhe mit. Unsere Art, auf Un-Im Alten Testament ist die Verstoßung Kains nach           ruhe zu reagieren, hier ein Meditationskurs, da ein       Eine Rezensiondem Mord an seinem Bruder die Verstoßung in die            Ratgeber, das sind selbst Unruhestrategien. Ich woll-        des BuchesUnruhe: „Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde         te darauf hinweisen, dass wir aus der Verfänglichkeitsein.“ Dort ist dann nichts mehr vertraut, die abso-       der Situation nicht so ohne weiteres herauskönnen.       ist in Heft 11/2015lute Fremdheit. Doch schon der heilige Augustinus          Die abendländische Kultur ist eine Kultur der Un-            erschienen.hat zu Anfang des fünften Jahrhunderts versucht,           ruhe, und es bedarf einer ganz anderen Form vondie Welt, in der wir so unruhig unterwegs sind, als        Anstrengung, um uns dem zu stellen, als mal einenOrt der Wiedergutmachung, der Bewährung zu be-             Ratgeber zu lesen.stimmen. So wird der alttestamentarische Fluch derUnruhe unterwandert, indem der Unruhe ein Sinn             Aber es gibt doch nicht nur Ratgeber, sondernbeigelegt wird. Es gab dann das ganze Mittelalterhindurch Diskussionen, und herausgekommen ist              immer mehr Entschleunigungsbewegungen, vonso etwas wie: Wir sind hier auf die Probe gestellt,und wenn wir die bestehen, werden wir eine neue,           slow food bis slow science.süßere Form der Ruhe an der Seite des Herrn erlan-gen. Das ist die vorsichtige Rehabilitierung der Un-       Es stimmt, dass gewisse Zweifel an der Unruheideo-ruhe, die über die Jahrhunderte immer konkreter            logie aufgekommen sind. Die Menschen merken, wiewird und immer plastischere Formen annimmt. Bis            dürftig das Programm ist, immer gleich in den Mo-in der Moderne die Unruhe völlig entproblematisiert        dus der Veränderung einzutreten und zu hoffen, dassscheint.                                                   sich die Lösung dann schon irgendwie von selbst ein-                                                           stellen wird. Das ist erfreulich. Mir scheinen aber   In der christlichen Lehre bleibt die Welt ein Stein     diese slow-Bewegungen mehr oder weniger deutlichdes Anstoßes, ein Ort der Uneigentlichkeit. Und die        am Unruheparadigma festzuhalten. Das sind modi-Moderne ist, ganz gegen ihre Selbstwahrnehmung,            sche Attitüden, aber sie packen das Problem nicht andem Christentum gerade in diesem Punkt gefolgt.            der Wurzel. Und meistens sind sie regenerativ ange-Auch für die Modernen ist die Welt, wie sie ist, nicht     legt, auf dass wir nachher umso fitter seien. Es gibtakzeptabel. Sie hat eine Schieflage, und wir müssen        sicher eine gewisse Skepsis in Bezug auf die Unruhe,das geraderücken, müssen ständig etwas unterneh-           aber das bleibt konsequenzlos. Die Erfolgsgeschich-men, können die Dinge nicht auf sich beruhen lassen.       te der Unruhe war ja nur möglich, weil sie in derDas sagt auch Augustinus, diese Welt kann nicht das        Lage ist, alle anderen Denkmodelle in sich aufzu-letzte Wort sein, wir müssen darüber hinaus. Und           nehmen. Dann wird aus der Ruhe die Pause, werdendabei hilft uns die Unruhe. Aber dann gabelt sich          aus ihr die Ferien, die uns erlauben, durchzuatmender Weg: Während der christliche, individualistische       und nachher wieder voll mitzumachen.Weg vorsieht, dass ich alles daransetze, meine Seelenicht zu gefährden, und Einkehr suche in Gott, ver-        Warum ist das Programm der Unruhe dürftig?sucht die Moderne das Problem zu kollektivieren undstatt des Einzelnen die Welt zu verändern.                 Das ganze karge, dünne und klägliche Programm                                                           der Unruhe besteht in der Inaussichtstellung: Es wirdSie schreiben, Unruhe sei nicht therapierbar. Was          schon besser werden. Wenn wir nur immer weiter                                                           forschen und entwickeln und machen und tun, wirdbedeutet das?Auf einer bestimmten Ebene ist sie natürlich thera-pierbar, und alle, die sich bemühen, klinische Fällevon Unruhe zu behandeln, haben meinen Respekt.42 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
alles besser. Wenn nur alles kocht und fiebert, wird      die Terminologie des Lassens, Zulassens, Nachlassensschon etwas dabei herauskommen.                           hat etwas mit Ruhe zu tun. Sich selbst nicht affizie-                                                          ren lassen von der Unruhe. Eine Einstellung finden,Wie könnte eine zeitgemäße Form der Ruhe aus-             aus der man dem, was geschieht, zuschauen kann,                                                          ohne sich selbst immer wieder in die Unruhe hin-sehen?                                                    einreißen zu lassen.Wir haben uns in den letzten 200 Jahren viel Mühe         Sind Sie selbst zur Ruhe gekommen?damit gegeben, die Ruhe zu diffamieren. Phlegma,Lethargie, Stillstand, Stagnation, das alles sind         Wenn man gern und viel schreibt, mindert sich dasSchimpfwörter der Unruhekultur. Davon hat sich            Problem, weil man sich selbst im Schreiben aufteilt,der Ruhebegriff nicht mehr erholt. Obwohl wir ja          zugleich als Beobachter fungiert und das Beobach-noch Impulse haben, die uns skeptisch sein lassen         tete zu Protokoll gibt und Formulierungen probiert.in Bezug auf das, was da geschieht. Aber was heute        Da bildet sich so ein überschaubarer Mikrokosmos,Muße sein könnte, wissen wir nicht. Es ist Unsinn         das hat beruhigende Wirkung. Und die großenzu sagen, wir lesen mal einen Stoiker, und dann wis-      Schriftsteller haben immer gewusst, dass der Schreib-sen wir Bescheid. Es ist eine mühselige Arbeit, einen     prozess ein Ordnungs- und Orientierungs- und inangemessenen Begriff zu finden, jenseits der einfa-       diesem Sinne auch ein Beruhigungsprozess ist.chen Gegensätzlichkeit von Ruhe und Unruhe. Viel-leicht würde ich beim Begriff des Spiels ansetzen, das    Ihr Buch hat einen eher gelassenen Tonfall. Ma-ist etwas, das man um seiner selbst willen tut. Manmuss aus der Zweck-Mittel-Relation ausbrechen. Die        chen Sie nicht zu schnell Ihren Frieden mit derDinge beschreiben, wie sie sind, also etwa Sport alsSport, nicht als Fitness, Bildung als Bildung, nicht      Unruhe?als Ausbildung.                                                          Ich glaube, es geht gar nicht anders. Wenn meineIn Ihrem Buch sprechen Sie über den Inquieteur.                                                          These richtig ist, kommen wir aus der Unruhe soWas ist das?                                                          schnell nicht heraus. Mein Ziel war eine Bestands-Den Begriff hat André Gide geprägt. Er wollte damiteine Kunstform beschreiben, in der es vor allem um        aufnahme, und auch wenn ich in Interviews langsamdas Lassen geht. Der Inquieteur betont nicht die Ak-tivität, er bringt nicht etwas aus sich hervor, er lässt  darauf festgelegt werde: Mein Buch ist kein Ratgeber.zu. Er legt dem, was geschieht, nichts in den Weg. Erversucht zu sehen, was man sehen würde, wenn man          Ich will nicht gleich auf die zweite Stufe springen undkeine vorgefasste Meinung hätte. Das Zulassen spieltin der modernen Kunst eine große Rolle. Ich meine,        erklären, was wir jetzt tun sollen. Dieser Automatis-                                                          mus, immer gleich Lösungen haben zu wollen, statt                                                          innezuhalten und zu fragen, wie es eigentlich um                                                          uns bestellt ist: Das ist seinerseits schon so ein Un-                                                          ruhesyndrom. Darauf, erst einmal die Lage zu klären,                                                          möchte ich als Philosoph bestehen.  PH                                                                                  INTERVIEW: MANUELA LENZEN                                                                                                                   AnzeigeSchlüsselkonzepte der PsychologieDas neue Werk des renommierten Besteller-Autors Philip Zimbardo                               Philip G. Zimbardo,endlich auf Deutsch!                                                                          Robert L. Johnson, Vivian McCannDank der Orientierung an den zentralen Schlüsselkonzepten und der                             SCHLÜSSELKONZEPTEanschaulichen Darstellungsweise die ideale Basis für alle, die einen Einstieg in              DER PSYCHOLOGIEdie Psychologie suchen, ob Studienanfänger oder interessierter Laie.                                                                                              ISBN: 978-3-8689-4254-5„Probieren Sie es aus“- und „Psychologie im Alltag“-Exkurse verdeutlichen,                    608 Seiten | 4-farbigwie psychologische Prinzipien funktionieren, und fördern kritisches Denken                    € 39,95 [D] | € 41,10 [A] | SFR 47,10*im Umgang mit psychologischen Aussagen.                           Weitere Informationen unter www.pearson-studium.de                                      * unverbindliche PreisempfehlungPSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                                                                                            43
Die Kinder des Feindes                                                       ILLUSTR ATIONEN: CHRISTIAN BARTHOLD                  Ihre Mutter war Deutsche, ihr Vater ein alliierter Soldat:    Rund 400 000 „Besatzungskinder“ wuchsen nach dem Zweiten Weltkrieg    in Deutschland auf, oft diskriminiert und schikaniert. Was wurde aus ihnen?                                        Wie geht es ihnen heute?    VON EBBA DROLSHAGEN44                       PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Jeder weiß um sie, kaum jemand weiß et-                 hung, selten willkommen. Die Frauen waren jung,            was über sie. Die Rede ist von Besatzungs-  mittellos, ohne Berufsausbildung, ohne Lebenser-            kindern, Deutschen, deren leiblicher Vater  fahrung. Fast alle Kinder kamen unehelich zur Welt,            ein amerikanischer, französischer, briti-   was im Kriegs- und Nachkriegseuropa als große            scher oder russischer Besatzungssoldat      Schande galt. Bei einem „Kind des Feindes“ kam diewar. Im Nachkriegsdeutschland wurden Tausende           Verachtung der Landsleute hinzu, dass die Muttersolcher Kinder geboren, und sie waren – wie Kinder      sich „mit denen eingelassen“, keinen Stolz gezeigt,von ausländischen Soldaten und einheimischen Müt-       ihr Land verraten hatte. Zur Erinnerung: Damalstern immer und überall – bei ihren Landsleuten nicht    galten die Alliierten noch nicht als Befreier. Die un-willkommen.                                             ehelich geborenen Feindeskinder mussten dafür bü-                                                        ßen, die falschen Eltern zu haben.   Man beschimpfte sie häufig mit Wörtern, die auszwei Teilen bestanden: der Nationalität des (vermu-     Schweigen und Deckgeschichtenteten) Vaters und einem diffamierenden Wort füreinunehelichgeborenesKind.ImvonderWehrmacht             Trotz gesellschaftlicher Ächtung und finanzieller Notbesetzten Europa gab es ab 1940 das Wort Deutschen-     wuchsen etwa 70 Prozent der westdeutschen Besat-balg, in Deutschland ab 1945 hießen sie Amibankert,     zungskinder bei ihrer Mutter oder deren Familie auf.Russenbalg, Franzosenbastard. Dieses eine Wort er-      Vom leiblichen Vater und seiner Armee war keineklärte zum einen das Kind zum Amerikaner, Russen        Unterstützung zu erwarten, bis Anfang der fünfzigerund so weiter und grenzte es so aus der Gemeinschaft    Jahre war es nicht einmal möglich, einen alliiertenaus, zum anderen diffamierte es seine Mutter als lie-   Soldaten auf Unterhaltszahlung und Vaterschaftsan-derlich. So funktionieren ja auch die Schimpfwörter     erkennung zu verklagen. Die Besatzungsmächte tatenAmihure oder Franzosenflittchen. Man kann verste-       alles, um die Identität ihrer Soldaten zu verheimli-hen, dass Menschen, die so aufwuchsen, die Auf-         chen und sie vor Ansprüchen zu schützen. Das hiel-merksamkeit nicht mehr suchen; Deutsche mit alli-       ten sie für ihr Recht. Wie der deutsche Sohn einesiertem Vater gelten bei Soziologen und Psychologen      Rotarmisten schreibt: „Mein Vater hat dieses Landals „verborgene Population“.                            befreit und da ein Kind hineingepflanzt, eine archa-                                                        ische, machomäßige Sache.“   Schon auf die Frage, wie viele es sind, fehlt einegesicherte Antwort. Lange sprach man von min-              Wenn die Mutter verheiratet war oder später hei-destens 200 000, jetzt veranschlagen die Historiker     ratete, wurde der Ehemann als Vater ausgegeben, esSilke Satjukow und Rainer Gries aufgrund von Ar-        wurden Deckgeschichten erfunden. Oft steht in denchivrecherchen die Gesamtzahl der deutschen Be-         Geburtsurkunden: Vater unbekannt. Während dassatzungskinder auf 400 000, das seien „geschätzte       bei Gewaltverbrechen meistens stimmte, verheim-Mindestziffern, konservativ und vorsichtig gerech-      lichten viele Frauen den Namen auch dann, wenn sienet“. Sie vermuten, dass allein 300 000 Kinder „un-     den Mann gut gekannt, vielleicht sogar geliebt hatten.mittelbar zu Kriegsende und infolge von Verge-          Es gibt zahllose Geschichten von Müttern, die nichtwaltigungen (durch Rotarmisten) geboren worden          einmal ihrem Kind den Namen nannten, manchewaren“.                                                 schwiegen bis zum Tod. Hat eine Frau das Recht,                                                        einen Teil ihres intimsten Lebens vor ihren Kindern   Diese Kinder wurden häufig noch im Kranken-          zu verheimlichen? Darf sie ihnen die Identität deshaus zur Adoption gegeben oder einfach dort gelas-      Vaters und die Umstände der Zeugung verheimli-sen. Wenn die Mutter das Kind dennoch behielt, war      chen? Sie taten es offenbar aus Scham und weil siees auch eine ständige Erinnerung an erlebte Gewalt      wussten, dass man das Kind schikanieren würde,und Demütigung. Als Elf- oder Zwölfjährige erfuhr       weil man sie, die Mutter verachtete.ein Mädchen aus der französischen Besatzungszonean einem Faschingsmontag von den Umständen sei-            Da aber die meisten zu schwach waren, um ihrner Zeugung. „Ich wollte weggehen, da beschimpfte       Kind zu schützen, ermahnten sie es stattdessen, bravmeine Mutter mich wüst und meinte, ich sei genau-       zu sein, nicht aufzufallen. Heute berichten viele Be-so ein Schwein wie mein Vater, der die Frauen ver-      satzungskinder, dass sie ihrer Mutter nie von An-gewaltigen würde.“                                      feindungen anderer Kinder erzählten, weil ihr das                                                        weh getan hätte. Silke Satjukow und Rainer Gries   Nun ist ein ungeplantes Kind nicht zwingend un-      kommen zu dem Schluss, dass sich „die Kinder undgewollt, aber unter den herrschenden Umständen          Jugendlichen … als erkennbare Zeichen der Schan-war auch ein Kind aus freiwilligen sexuellen Kon-       de wahrnahmen und die Herkulesaufgabe annah-takten, ob flüchtige Begegnung oder Liebesbezie-PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016                                                                                       45
Kinder von Afroamerikanern wurden                                                   Besonders hart traf dergleichen die Kinder vonin den Schulen oft als „Menschen anderer                                         Afroamerikanern und Afrofranzosen. Satjukow undArt und Qualität“ angesehen                                                      Gries kommen nach Durchsicht zahlreicher Schul-                                                                                 berichte der fünfziger Jahre zu dem Ergebnis, die af-                          men, sich selbst und die ganze Familie zu sühnen –     rodeutschen Kinder seien „regelmäßig als Menschen                          womöglich ein Leben lang“.                             anderer Art und Qualität“ beschrieben worden. Öf-                                                                                 fentliche Stellen waren ängstlich bemüht, Rassismus                             Anders als Kriegswaisen, die im Nachkriegs-         in der Art des Dritten Reichs zu vermeiden, nur um                          deutschland ebenfalls ohne den leiblichen Vater auf-   ihn unter dem Deckmantel von Fürsorge erneut zu                          wuchsen, wurde er in den Familien der Besatzungs-      präsentieren. Man erwog, die Kinder in Heimen zu                          kinder kaum je erwähnt, oft war er ein Tabu. Fragen    isolieren, eine CDU-Abgeordnete warnte 1952 im                          des Kindes wurden mit Schweigen oder Lügen, in         Bundestag, „die klimatischen Bedingungen in unse-                          manchen Familien sogar mit Schlägen quittiert. Doch    rem Lande“ seien ihnen „nicht gemäß“, es sei für sie                          alle Versuche, die Abstammung des Kindes geheim        besser, „wenn man sie in das Heimatland ihrer Väter                          zu halten, scheiterten häufig an den engen Verhält-    verbrächte“. Tatsächlich vermittelten Privatpersonen                          nissen von Nachbarschaft oder Schule, wo alle wuss-    um die 500 farbige Besatzungskinder in schwarze Fa-                          ten, „was die Mutter für eine war“.                    milienin den USA, etwa3000kamennachDänemark,                                                                                 eine unbekannte Zahl nach Norwegen.                             „Dein Vater is a Russ!“                                                                                    Die in der DDR geborenen „Russenkinder“ wur-                          So bekamen viele den ersten vagen Hinweis auf den      den offiziell totgeschwiegen. Man wollte die Sowjet-                          Vater durch gehässige Gleichaltrige, die ihnen „Du     union nicht brüskieren, indem man die etwa 1,9 Mil-                          bist ein Amibalg!“ oder „Dein Vater is a Russ!“ nach-  lionen Vergewaltigungen erwähnte, die den Rotar-                          riefen, oder durch Erwachsene, die sie verachteten,    misten am Ende des Zweiten Weltkriegs zur Last                          verhöhnten und ausgrenzten. Der Historiker Rainer      gelegt werden. Später war den auf deutschem Boden                          Gries beschreibt den ersten Schultag eines Jungen,     stationierten Soldaten jeder Kontakt zu Zivilisten                          dessenVateramerikanischerSoldat war, imJahr1954:       untersagt. Dennoch wurden viele Kinder geboren,                          „Der war top herausgeputzt, der hatte seine Fliege     und die staatlich verordnete Völkerfreundschaft                          an, der hat sich gefreut auf diesen ersten Schultag.   konnte nicht verhindern, dass sie auf die gleiche Wei-                          Und der Lehrer sagt zu ihm: Du bist doch ein Ban-      se verachtet und malträtiert wurden wie die Kinder                          kert, du bist doch ein Amikind, du kommst in die       der Westalliierten.                          letzte Reihe, neben dir darf niemand sitzen.“                                                                                 Spätes Interesse der Wissenschaft                                                                                 Erst jetzt, wo die Besatzungskinder im Rentenalter                                                                                 sind, entdeckt die Wissenschaft diese „wenig sicht-                                                                                 bare Bevölkerungsgruppe“ als Gegenstand der For-                                                                                 schung. Die Psychotherapeutinnen Heide Glaesmer                                                                                 und Marie Kaiser von der Universität Leipzig erfor-                                                                                 schen seit einigen Jahren ihre psychosoziale Entwick-                                                                                 lung. Grundlage ihrer Arbeit sind Fragebögen von                                                                                 146 Betroffenen aus ganz Deutschland, die sich be-                                                                                 reiterklärt hatten, über „ihr Aufwachsen, ihre Erfah-                                                                                 rungen mit Stigmatisierung und Diskriminierung,                                                                                 ihre Identitätsentwicklung und zu ihrem heutigen                                                                                 psychischen Befinden“ Auskunft zu geben.                                                                                    Erstaunlicherweise sagen 86 Teilnehmer, also weit                                                                                 über die Hälfte, dass sie nie oder selten Erfahrungen                                                                                 mit Vorurteilen gemacht haben. Die anderen erin-                                                                                 nern sich an schwere Beschimpfungen wie „dass mei-                                                                                 ne Mutter als Tommynutte betitelt und ich Monkey                                                                                 genannt wurde“. Sie berichten von Ablehnung in der                                                                                 eigenen Familie und Ausgrenzung durch Pfarrer und                                                                                 Lehrer. Satjukow und Gries schreiben, dies habe den46 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
Schulgang so sehr belastet, dass sie in ihren schuli-         Depressionen, Ängste,schen Leistungen hinter ihren intellektuellen Mög-            Traumata: Die Kinderlichkeiten zurückblieben.                                     von Besatzungssoldaten                                                              hatten in ihrem Leben   In der Studie von Glaesmer und Kaiser berichtet            häufig mit psychischenfast jeder zweite Befragte (gegenüber einem Fünftel           Störungen zu kämpfender gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung) von trau-matischen Erfahrungen wie Missbrauch, körperlicher     projektes von 2001 bis 2005 rekonstruierte ein TeamGewalt oder Vergewaltigung. Die ehemaligen Besat-      aus Psychologen und Historikern deren Lebensweg.zungskinder hatten in ihrem Leben deutlich häufiger    Mit 100 Wehrmachtskindern wurden biografischeals andere mit psychischen Störungen zu kämpfen.       Interviews geführt, der Statistiker Dag Ellingsen wer-So haben knapp 14 Prozent (Allgemeinbevölkerung:       tete anonymisierte Daten von 1150 Betroffenen aus.fünf Prozent) eine Depression und 11,6 Prozent (ge-    Grundlage war die norwegische Personennummer,genüber 1,4 Prozent) eine posttraumatische Belas-      unter der seit 1964 alle Informationen gespeicherttungsstörung. Als Ursache vermuten die Forscherin-     werden, die beim Kontakt eines Staatsbürgers mitnen unter anderem „häufigen Bezugspersonenwech-        öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen anfallen.sel“ und „Abhängigkeit von ablehnenden und ge-walttätigen Angehörigen sowie Aufenthalte in              Anhand der Statistiken konnte Ellingsen nach-Kinderheimen, in denen sie Opfer von Missbrauch        weisen, dass Wehrmachtskinder in vielem deutlichund erheblicher Vernachlässigung wurden“. Sie be-      schlechter abschneiden als gleichaltrige Vergleichs-tonen, dass sich „der Zugang zu solchen Zielgruppen    personen: Sie haben niedrigere schulische und be-schwierig gestaltet und es praktisch nicht möglich     rufliche Qualifikationen und ein geringeres Einkom-ist, hier repräsentative Stichproben zu ziehen“.       men. Sie sind häufiger geschieden, häufiger wegen                                                       psychischer Probleme arbeitsunfähig, überhaupt er-Spiegelschicksale:                                     kranken sie häufiger und schwerer und gehen früher                                                       in Rente. Sie haben den höchsten Anteil an Suiziden,die „Wehrmachtskinder“                                 Krebs- sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ei-                                                       ne verkürzte Lebenserwartung.Blickt man aber über den deutschen Tellerrand, fin-det man Hunderttausende von Besatzungskindern,            Ihre psychosozial belastete Kindheit führte alsoderen Erfahrungen denen der deutschen auf frappie-     offenkundig zu körperlichen und psychischen Schä-rende Weise gleichen. Auch sie berichten von einerKindheit voller Schweigen, Lügen, vagen Andeutun-gen und Mobbing. Die Rede ist von Wehrmachts-kindern, jenen Europäern, deren leiblicher Vater alsdeutscher Soldat zwischen 1940 und 1945 in ihremHeimatland stationiert war.   Die besterforschten Besatzungskinder Europas,wenn nicht der Welt, sind die norwegischen Wehr-machtskinder. Im Rahmen eines großen Forschungs-GeĚfüdŝhĞƌleĞe^mīŝpŶĞfinŶŶdeĞn^ƐŝƐĞƉũĞĞnjƚŝnjĮƚƐ/ĐŚŚƌĞĞtWćĂĚŚĂůŐĨŽƺŐƌŝŬΠSinne spürenŝŶĞĚĞƌǁŝĐŚƟŐƐƚĞŶ&ŽƌƚďŝůĚEƵnŶtŐsĞcŶhĨƺeƌiWdƐuLJNĐnŚugŽrůenŽonŐcĞhŶtwr͕eWećnfĚfigeĂeŐnPŽlŐäĞtzŶeƵfŶreĚi:BƌunjcŝĞhŚeĞnƌSie jetzt!¾ƚŚĞƌĂƉŝĞĞƌƐĞƚnjĞŶĚĞdƌĂƵŵĂďĞĂƌďĞŝƚƵŶŐ             10%                                                                                                                                                                                                                                    ¾ŵŝƚƉƌŽĨĞƐƐŝŽŶĞůůĞŶDĂƘŶĂŚŵĞŶ             Rabatt bei Buchung                                                                                                                                                                                                                                    ¾ŝŶŚĂůƚƐĨƌĞŝĞWćĚĂŐŽŐŝŬ                                                                                                                                                                                                                                    ¾ŶŽŶǀĞƌďĂůĞ<ŽŵŵƵŶŝŬĂƟŽŶ                   in 2015 für den                                                                                                                                                                                                                                    ¾ŚŝůŌ ďĞŝƐĐŚǁĞƌĞŶĞĮnjŝƚĞŶǀŽŶ           1. Kurs 2016!                                                                                                                                                                                                                                       <ůŝĞŶƚĞŶŝŶĚĞƌĞŶ^ĞůďƐƚǁĂŚƌŶĞŚŵƵŶŐ     2. Kurs 2016                                                                                                                                                                                                                                       ƵŶĚ^ĞůďƐƚŬŽŶƚƌŽůůĞ                           Ϭϲ͘Ϭϲ͘രʹരϬϵ͘Ϭϲ͘                                                                                                                                                                                                                                                                                         ϭϮ͘Ϭϵ͘രʹരϭϱ͘Ϭϵ͘                                                                                                                                                                                                                                                                  TAGESSEMINAR                Ϭϳ͘ϭϭ͘രʹരϭϬ͘ϭϭ͘                                                                                                                                                                                                                                                                  zum                             Ϯϴ͘ϭϭ͘രʹരϯϬ͘ϭϭ͘                                                                                                                                                                                                                                                                  Kennenlernen                                                                                                                                                                                                                                      für nur 120,- €                           1. Kurs 2016                                    'ĞƐĞůůƐĐŚĂŌ Ĩƺƌ                                                                                                                                                                                                                               ϭϴ͘Ϭϭ͘രʹരϮϭ͘Ϭϭ͘                                    ^ŝŶŶĞƐƐƉĞnjŝĮƐĐŚĞWćĚĂŐŽŐŝŬ                                                                                                                                                                       ^ĐŚŶƵƉƉĞƌŬƵƌƐരര/͗                                 Ϯϵ͘ϬϮ͘രʹരϬϯ͘Ϭϯ͘ŝĞ<ƵƌƐĞnjƵũĞϰůŽĐŬͲŝŶŚĞŝƚĞŶ                                                                                                                                                                                                    23.03.2016                                              ϭϴ͘Ϭϰ͘രʹരϮϭ͘Ϭϰ͘                                    ,Žĩ ƌŽŽŬϮϭďäϮϰϭϭϵ<ƌŽŶƐŚĂŐĞŶ                                                                                                                                                                                                                             Ϯϯ͘Ϭϱ͘രʹരϮϱ͘Ϭϱ͘ĮŶĚĞŶŝŵĞŝŐĞŶĞŶŝůĚƵŶŐnjĞŶƚƌƵŵ   dĞů͗͘ഭϬϰഭϯϭറͲറϱϴഭϯϲഭϵϲഭϭϴä&Ădž͗ϱϴഭϯϯഭϬϬ                                                                                                                                                         ^ĐŚŶƵƉƉĞƌŬƵƌƐര//͗                                                                                                                                                                                                                                      30.09.2016ĚŝƌĞŬƚĂŶĚĞƌKƐƚƐĞĞƐƚĂƩ ͘        ǁǁǁ͘ŐͲƐͲƉ͘ŝŶĨŽäŵĂŝůΛŐͲƐͲƉ͘ŝŶĨŽ
Die Besatzungskinder sind                                                        vate Hilfe angewiesen. Während die USA Suchan-nun im Rentenalter. Erst jetztentdeckt die Wissenschaft                                                        träge bearbeiten, erhalten die Nachkommen vondiese bislang wenig beachteteBevölkerungsgruppe                                                               französischen, sowjetischen und britischen Soldaten                         den. Dennoch haben die meisten Besatzungskinder         von den jeweiligen Regierungen selbst dann keine                         – in Norwegen ebenso wie in Deutschland – ein un-                         auffälliges, gelungenes Leben geführt. Aus den Ant-     Auskünfte, wenn der Name und der ehemalige Sta-                         worten auf die Frage, wie sie sich heute sehen, erga-                         ben sich für Glaesmer und Kaiser fünf verschiedene      tionierungsort bekannt sind.                         Identitätsbeschreibungen: Außenseiter, Überlebens-                         künstler, Kämpfer, Opfer negativer Erfahrungen und      Horst Emrich wusste schon immer, dass sein Va-                         Unbelastete. Ausschlaggebend für die Selbsteinschät-                         zung als unbelastet war das Gefühl, „während der        ter ein amerikanischer Soldat aus Puerto Rico war,                         Kindheit und Jugend von den wichtigen Bezugsper-                         sonen angenommen … worden zu sein“.                     doch erst mit 56 Jahren wandte er sich an die Orga-                            Auf der Suche nach dem Vater                         nisation GI trace mit der Bitte, ihm bei der Suche zu                         Auch wenn dies der Fall war: Es ist, sagt Heide Glaes-  helfen. Tatsächlich konnte der Vater ermittelt werden.                         mer, für die Identitätsentwicklung ausgesprochen                         förderlich, wenn man seine biologischen Eltern kennt.   Nach der ersten Begegnung mit dem 92-Jährigen sag-                         Und auch wenn es für die Identitätsentwicklung zu                         spät sein mag, machen sich jetzt viele auf die Suche    te Emrich beseelt: „Ich bin von einer inneren Ruhe                         nach dem abwesenden, unbekannten, ersehnten Va-                         ter. Manche zögern lange, das Unterfangen anzuge-       und Gelassenheit, die ich nie zuvor in meinem Leben                         hen, weil es zu schwierig scheint, nicht wenige hält                         die Angst zurück, von ihrer Schattenfamilie abge-       so erlebt habe.“                         wiesen zu werden.                                                                                 Paul Schmitz war 29 Jahre alt, als seine Mutter                             Bei der Recherche sind die meisten bei der frem-                         den Sprache, dem Auffinden und Durchforsten mög-        starb und eine Tante erwähnte, zwei Nachbarinnen                         licher Archive, der Reise ins Land des Vaters auf pri-                                                                                 wüssten mehr über seinen unbekannten Vater. „Ich                                                                                 konnte die beiden damals nicht fragen“, sagt er, „es                                                                                 ging einfach nicht.“ Dreißig Jahre später, mit 60 Jah-                                                                                 ren, fragte er doch. Weitere fünf Jahre später hatte                                                                                 er seine Halbschwestern gefunden.                                                                                 Am Tag nach seinem 13. Geburtstag teilte Win-                                                                                 fried Behlaus Mutter ihm knapp mit, dass sein Vater                                                                                 ein Russe sei, sie sei vergewaltigt worden. „Und dann                                                                                 hat sie nichts mehr gesagt – das ganze Leben lang.“                                                                                 Auch hier war es eine Tante, die Jahrzehnte später                                                                                 verriet, was seine Mutter nicht hatte sagen können:                                                                                 „Deine Mutter hat geschrien. Er hat sie auf dem Tisch                                                                                 vergewaltigt. Als du geboren wurdest, hat sie geheult:                                                                                 ‚Ich knall den Russek an die Wand.‘“ Mit Mitte 60                                                                                 beschloss Behlau, seine Herkunft nicht mehr unter                                                                                 allen Umständen geheim zu halten, sondern öffent-                                                                                 lich darüber zu sprechen, „mit welchen Ängsten ich                                                                                 zeitlebens gelebt habe“.                                     PH                                                                                 Eine Literaturliste zu diesem Beitrag finden Sie auf unserer                                                                                 Website unter www.psychologie-heute.de/literaturSUCHE IM NETZGI trace ist eine Organisation,  BOWi.n. (Born of War, interna-                                    Children Born of War ist eindie deutschen und österreichi-   tional network) ist ein Netz-                                     Forschungsnetzwerk mit überschen Kindern von amerikani-     werk nationaler Organisatio-                                      100 Mitgliedern weltweit: Wis-schen Soldaten bei der Suche     nen, in denen sich Menschen                                       senschaftler, Betroffene, Jour-nach dem Vater hilft.            zusammengefunden haben,                                           nalisten und Mitglieder von Or-www.gitrace.org                  die aufgrund eines Krieges                                        ganisationen. Ziel ist, die Wis-                                 oder einer kriegerischen Ausei-                                   sensbasis zu „Kindern des                                 nandersetzung geboren wur-                                        Krieges“ zu erweitern.                                 den. www.bowin.eu                                                 www.childrenbornofwar.org48 PSYCHOLOGIE HEUTE 01/2016
1 CD mit 12-seitigem Booklet. Laufzeit ca. 80 Minuten.  »Der Kopf will immer alles haben,   Ƚ%t*4#/                   aber der Körper weiß, wann er genug hat«                                                        Prof. Dr. Eugene T. Gendlin, Begründer des Focusing                                                                                                                                         20 stärkende Übungen für mehr Kraft                                                                                                                                         Der Audio-Ratgeber enthält einfache und                                                                                                                                         wirkungsvolle Basisübungen zu den acht                                                                                                                                         Focusing-Schlüsseln.                                                                                                                                         Die Übungen helfen Ihnen, wach, positiv                                                                                                                                         und produktiv den Tag zu meistern und                                                                                                                                         abends noch fit zu sein.                                                                                                                                         Alle Übungen sind leicht in den Arbeitsalltag                                                                                                                                         zu integrieren. Sie sind Individuell anpass-                                                                                                                                         bar und bieten Impulse für Meetings, Team-                                                                                                                                         sitzungen und Seminare.                                                        Hörprobe auf www.beltz.de                                                        Wie Sie Burnout vermeiden können                                                                             Den eigenen Perfektionis-                                                                                                                                                                     mus bändigen – und end-                                                                                                      Jeder kann sich selbst vor                                     lich lernen, nein zu sagen:                                                                                                      Burnout und Überlastung                                        Die schwedische Erfolgs-                                                                                                      schützen: Alltagstaugliche                                     autorin macht Lust auf                                                                                                      Werkzeuge helfen Früh-                                         Veränderung, um Stress                                                                                                      signale von Überlastung                                        und Burnout dauerhaft                                                                                                      zu erkennen und in Hand-                                       vorzubeugen.                                                                                                      lungskraft umzuwandeln.                                                        188 Seiten, gebunden. € 29,95 D                                           280 Seiten, broschiert. € 17,95 D                                                        ISBN 978-3-407-36510-1                                                    ISBN 978-3-407-85944-0                                                        Leseprobe auf www.beltz.de
PSYCHOLOGIE    HEUTEJETZT ABONNIERENund alle Vorteile genießen:   12X                        INZAKURLGUCASHNIIVVGE-IM JAHRIHR WILLKOMMENSGESCHENK:         eine Prämie nach WahlBUCH, 255 SEITEN              BUCH, 221 SEITENAnti-Materialismus, Down-     Weniger ist mehr! Wer sichshifting, ein neues Umwelt-   von Ballast, Statussymbo-bewusstsein – die heute 15-   len und falschen Zielenbis 30-Jährigen nehmen ihr    befreit, findet zu einer per-Leben auf ganz andere Art     sönlichen Lebenskunst, diein die Hand als sämtliche     angesichts schrumpfenderVorgängergenerationen. Für    Ressourcen zukunftswei-den renommierten Jugend-      send ist. Helena Horn zeigt,forscher Klaus Hurrelmann     wie uns Kunstwerke beflü-und den Journalisten Erik     geln können zu mehr Auto-Albrecht sind sie die »heim-  nomie und Individualitätlichen Revolutionäre«.        im eigenen Leben.Online finden Sie alle Aboarten und eine größere Prämienauswahl.                WWW.PSYCHOLOGIE-HEUTE.DEBELTZ MEDIEN-SERVICE TELEFON 06201/6007-330
                                
                                
                                Search
                            
                            Read the Text Version
- 1
 - 2
 - 3
 - 4
 - 5
 - 6
 - 7
 - 8
 - 9
 - 10
 - 11
 - 12
 - 13
 - 14
 - 15
 - 16
 - 17
 - 18
 - 19
 - 20
 - 21
 - 22
 - 23
 - 24
 - 25
 - 26
 - 27
 - 28
 - 29
 - 30
 - 31
 - 32
 - 33
 - 34
 - 35
 - 36
 - 37
 - 38
 - 39
 - 40
 - 41
 - 42
 - 43
 - 44
 - 45
 - 46
 - 47
 - 48
 - 49
 - 50
 - 51
 - 52
 - 53
 - 54
 - 55
 - 56
 - 57
 - 58
 - 59
 - 60
 - 61
 - 62
 - 63
 - 64
 - 65
 - 66
 - 67
 - 68
 - 69
 - 70
 - 71
 - 72
 - 73
 - 74
 - 75
 - 76
 - 77
 - 78
 - 79
 - 80
 - 81
 - 82
 - 83
 - 84
 - 85
 - 86
 - 87
 - 88
 - 89
 - 90
 - 91
 - 92
 - 93
 - 94
 - 95
 - 96
 - 97
 - 98
 - 99
 - 100
 - 101
 - 102
 - 103
 - 104
 - 105
 - 106
 - 107
 - 108