P.M. History Juni 2022

GEHEIRATET GERAUBT GEDAMPFT <0 !!! 0 Die Französin Isabelle Im Wilden Westen Die luxuriösesten vermählte sich 1308 entführten A pachen Traumschiffe fuhren ==\"' mit dem König von den Sohn deutscher auf dem Atlantik. Bis England. Später griff Siedler - und machten die Flugzeuge ihre -o sie nach der Macht ihn zu einem der Ihren Epoche beendeten �l() --<0 =-.o.. -\"' ==� =m -=m� ...



Editorial Kon • 1 statt Koexistenz LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, sind Sie alt genug, um sich an den 12. Juni 1989 erinnern zu können? An diesem Tag war der Mauerfall noch unvor­ stellbar, aber auf dem Bonner Rathausplatz wehte schon der Wind des Wandels. Der Kremlchef Michail Gorbatschow war zu Besuch in Westdeutschland, und die Bundesbürger, die doch eigentlich seine Gegner im Kalten Krieg waren, jubelten ihm zu. In ihren Augen stand Gorbatschow für die Hoffnung, dass die Trennung des Kontinents endlich überwunden wer­ \"' den könnte. Das Schlagwort dieses historischen Moments äi \"' 0 Joachim Telgenbüscher, war das \"gemeinsame Europäische Haus\", das man ausbauen u Redaktions leiter wollte. Heute, mehr als 30 Jahre später, liegt es in Trümmern. P.M. H ISTORY Denn der völkerrechtswidrige Angriffaufdie Ukraine und die Kriegsverbrechen, die russische Truppen dabei begangen haben, haben auch das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen schwer getroffen. Plötzlich erscheint uns der Kreml wieder als Trutzburg finsterer Mächte, und russische Politiker wüten über \"den Westen\", der angeblich die Zerstörung ihres Landes plane. Wie konnten die Beziehungen so entgleisen? Und kann Russ­ land überhaupt ein friedlicher Teil Europas sein? Darüber haben wir mit dem Historiker Martin Schulze Wessei gespro­ chen (siehe Seite 66). In diesem Heft schauen wir abervor allem zurück auf eine lange gemeinsame Vergangenheit. Diese war immer wieder von Kriegen geprägt - aber nicht nur. Es gab auch Phasen des Austauschs. Oder wussten Sie, dass die heute so umkämpfte Stadt Donezk von dem Waliser John Hughes gegründet wur­ de? Lassen Sie uns hoffen, dass diese Geschichte bald wieder eine positive Wendung nimmt. Moment der Hoffnung: Schreiben Sie uns gern, wie Ihnen diese Ausgabe gefallen Michail Gorbatschow und hat: [email protected]! seine Frau Raissa in Bonn Herzlich Ihr P.M. HISTORY - JUNI 2022 3

Inhalt 06/22 3 Editorial 6 Arena Kurz, bunt, lehrreich: vermi schte Geschichten und Neuigkeiten aus der Forschung 16 Herman der Apache Ein entführtes Siedlerkind unter Kriegern 22 Meisterwerk: Das Los der Königin Delaroches .. H i n richtung der Lady Jane Grey\" Russland 24 RUSSLAND U N D DER WESTEN Die Mauern und Türme des Moskauer Kreml beeindruckten west­ 24 Reich der Rätsel liche Gesandte wie Eroberer - geheimnisvoll, Ein österreichischer Diplomat am russischen Hof 30 Imperator ohne Gnade Peter der Große modernisiert sein Reich 38 Ausländer in Russland Steile Karrieren: Zaren, Ärzte, Tänzer, Brauer 44 Durch Feuer und Eis Napoleons verhängnisvoller Sturm auf Moskau 52 Im Abteil der Revolutionäre Lenins Zugfahrt aus dem Exil Richtung Umsturz 54 Der Krieg als Terror Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 60 Krisen seit 1945 Von der Berlinblockade bis zum Wettrüsten 62 Der Weg zur Einheit Der Poker um die deutsche Wiedervereinigung 6 6 Der Erbe der Zaren Interview: Wie Putins Geschichtsbild die Krisen der Gegenwart befeuert 70 Buchtipps zum T itelthema 72 \"BIrsietfeDviornuAnlbseertrCGalmüucsku bewusst?\" 16 nd Maria Casares TRAUMA Als Kind wird der deutsch­ 74 Eine Ehe mit Hindernissen stämmige Siedler­ sohn Herman von Wie Isabelle von Frankreich ihren Mann stürzt - Apachen entführt. Er wächst wie einer der den König von England Ihren auf. Als er Jah­ re später zu seiner 82 Schießereien als Folklore Familie zurückkehrt. kann er sich kaum Edith Durham reist durch die Bergwelt Albaniens noch einleben 84 Traumschiffe 1697 Luxusdampfer: erster Klasse über den Atlantik Peter der Große geht inkognito auf Westeuropa-Reise 94 Leserbriefe, Service & Rätsel Seite 30 96 Vorschau & Impressum 98 Sprengsatz Chronologie 1308 1517 Isabelle von Frankreich Der Österreichische Gesandte heiratet den englischen König Herberstein besucht Moskau Seite 74 Seite 24 4 P.M. HISTORY - JUNI 2022

trutzig, faszinierend. Sie sind Zentrum eines Riesenreichs. 30 ZAR U N D ZIMMERMANN Peter der Große dessen Verhältnis zu seinen westlichen Nachbarn von Bewun­ will sein rückständiges Reich nach westlichem derung über Ambivalenz bis zu offener Feindschaft reicht Vorbild modernisieren - mit aller Macht 74 TRAUMPAAR? Als Isabelle von Frankreich 1308 84 den König von England heiratet. ahnt sie nicht: Diese Ehe steht unter keinem guten Stern TRAUMSCHIFFE Sie trugen große Namen wie ..Queen Mary\" oder .. Imperator\" und transportierten betuchte Passagiere über den Atlantik. Aber auch im Krieg wurden sie gebraucht - manchmal bis zum Untergang 1812 1870 1936 Napoleon zieht mit seinen Herman Lehmann wird von Die \"Queen Mary\" geht auf Truppen in Moskau ein Apachen entführt Jungfernfahrt Seite 44 Seite 16 Seite 84 P.M. HISTORY - JUNI 2022 5





EIN FOTO U ND SEIN E G ESCHICHT E Capas letzter Krieg Soldaten, Panzer, exotische Vegetation in einem fernen Frankreich, wo er den Künstlernamen Robert Capa an­ Land: Was wir auf diesem Foto sehen, ist auch das Letzte, nahm, und schließlich nach Spanien, wo er seinen Durch­ was Robert Capa in seinem Leben sah. Denn kurz nachdem bruch als Fotograf erlebte. 1936 war dort der Bürgerkrieg er auf den Auslöser gedrückt hatte, trat er auf dem Wall ausgebrochen, und niemand fotografierte furchtloser den rechts im Bild auf eine Mine. Es war der 25. Mai 1954 in Kampf gegen die Faschisten als Capa. Sein Foto eines töd­ der Nähe der vietnamesischen Stadt Thai Binh, wo damals lich getroffenen Republikaners ging um die Welt und zählt der lndochina-Krieg tobte. Er war sofort tot. Ein tragisches bis heute zu den wichtigsten Kriegsfotos der Geschichte. und doch irgendwie passendes Ende für einen der g rößten Er war nun berühmt, fotografierte für die weltweit größten Fotografen aller Zeiten. Denn der Krieg war ein ständiger Zeitschriften, reiste mit seiner Kamera zu Schlachtfeldern in Begleiter Capas, der im Jahr 1913 unter dem Namen Endre China und - im bald darauf ausgebrochenen Weltkrieg - in Ernö Friedmann in Budapest zur Welt gekommen war. Nordafrika und Sizilien. Am D- Day befand er sich am Strand Weil er Jude war und sich für den Sozialismus begeisterte, der Normandie, den Endkampf ums .. Dritte Reich\" erlebte er musste er früh seine Heimat verlassen. Mit 18 ging er nach im Häuserkampf in Leipzig. Es ist fast ein Wunder, dass dies Deutschland, wo er das Fotografieren erlernte, dann nach hier sein letztes Foto ist. Und nicht eines seiner früheren. 8 P.M. HISTORY - JUNI 2022

Arena Meldung Wie \"Fake News\" Geschichte schreiben. Diesmal: Popcorn-Cola-Studie UNGLAUBLICH, wie sehr sich unterschwellige Werbung. Als Menschen von Werbung beein­ flussen lassen, vor allem wenn Wiederholungen seiner Ver­ sie diese nicht einmal bemerken. Sechs Wochen lang hat der US­ suche ergebnislos bleiben, gibt Werbefachmann James Vicary in einem Kino erfolgreich ein­ Vicary 1962 kleinlaut und voller wie er findet - vielversprechen­ des Experiment durchgeführt. Bedauern zu, was ihn angetrie­ Während der Filmvorführungen wurden alle fünf Sekunden für ben hat: Seiner Werbeagentur einen winzig kurzen Moment von gerade einmal einer Drittelsekun­ fehlten Aufträge. de die folgenden beiden Botschaften eingeblendet: \"Trink Coca-Cola\" und Gleichwohl wird weiter \"Iss Popcorn\". Dies habe dazu geführt, so berichtet Vicary am 12. September experimentiert: Aus Kanada 1957 auf einer Pressekonferenz in New York, dass das Publikum zur Kinotheke und Russland heißt es, TV-Sen­ eilte: Der Absatz von Cola sei um 18,1 Prozent gestiegen, der von Popcorn um der versuchten mit versteckten sagenhafte 57,7 Prozent. KURZER REIZ Solche Werbeslogans, nur Botschaften das Publikum zu Die Aktion verschafft dem Werbe­ für Millisekunden in Filmen eingeblendet. fachmann große Aufmerksamkeit. Al­ sollten das Publikum beeinflusst haben manipulieren. Einmal setzt auch die lerdings anders als vermutet: Er dach­ te, man würde ihm danken, weil nun die langen Werbeblöcke vorjedem Film US-Polizei auf die Methode: Einen ge­ überflüssig seien. Doch die Öffentlich­ keit zeigt sich entsetzt, manche wagen suchten Mörder will sie mit einem kurz sich nicht mehr ins Kino, viele fragen, ob wir Menschen uns nun allzeit in eingeblendeten Aufruf im Fernsehen einen willenlosen Kaufrausch verset­ zen lassen. Eine Zeitung schreibt gar: zur Selbstanzeige bewegen - erfolglos. \"Welcome to 1984\". Die Regierungen der USA, Großbritanniens und Austra­ Immerhin wurde in Großbritannien liens reagieren prompt und verbieten der Absatz einer Eismarke gesteigert, angeblich. Heute ist klar, dass Vicary nicht vollständig danebenlag: Unbe­ merkte Reize können unser Verhalten beeinflussen, aber bloß minimal und für kurze Zeit- und das wohl auch nur, wenn sie zudem eine schon bestehende Absicht verstärken. Dirk Liesemer Die Loreley WAS SAGT D I E L E G E N D E ? WIE WURDE SIE ÜBERLIEFERT? WAS IST WIRKLICH DRAN? ..Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, Clemens von Brentano veröffentlicht Ein ..Märchen aus uralten Zeiten\" ist dass ich so traurig bin. Ein Märchen 1801 den in rheinischer Landschaft aus uralten Zeiten, das kommt mir spielenden Roman ..Godwi\" mit der die Loreley-Geschichte definitiv nicht, nicht aus dem Sinn\", dichtete Heinrich Ballade von der .. Lore Lay\". Ab 1811 Heine 1824 über ..Die Lore- Ley\". Auf arbeitet er das Motiv in seinen .. Rhein­ sondern der Fantasie von Clemens einem Felsen über dem Rhein bei St. märchen\" weiter aus: Als ..treue Toch­ Goarshausen, an der engsten Stelle, ter\" des ..Vaters Rhein\" bewacht sie von Brentano entsprungen und von sitzt eine blonde Femme fatale. Unter den Nibelungenschatz beim Binger Ausnutzung des siebenfachen Echos Loch. Auf der Welle der Rheinroman­ Heine weitergeführt. Bemerkenswert an dieser Stelle singt sie und kämmt tik macht die Loreley Karriere: Fried­ aufreizend ihr langes Haar. Das macht rich Silcher vertont Heines Gedicht ist die Übertragung des Motivs vom die braven Flussschiffer dermaßen 1837, rund 40 Vertonungen folgen wuschig, dass sie vom Kurs abkom­ noch im 19. Jahrhundert, darunter Sirenengesang aus der griechischen men und Schiffbruch erleiden. von Franz Liszt und Clara Schumann. Mythologie an den Mittelrhein. Odys­ seus lässt grüßen. Der Name Loreley ist wesentlich älter und wohl auf das mittelhochdeutsche ..Iore\" (rauschen, g urgeln) und ..ley\", die örtliche Be­ zeichnung für einen Schieferfelsen, zurückzuführen. Thomas Röbke P.M. HISTORY - JUNI 2022 9

Arena DIESELBE ALTE LEI ER? Die // AUSGEGRABEN Reste eines Instruments aus Musik ohne Kasachstan (u.) ähneln jenen aus dem Fürstengrab von \"// Sutton Hoo / / // / / / / / Grenzen Z u den Funden aus dem spektakulären frühmittelalter­ lichen Schiffsbegräbnis im englischen Sutton Hoo zählt auch eine Leier unbekannten Ursprungs aus dem 7. Jahrhundert. Nun ist eine überraschende Parallele dazu aufgetaucht: zwei ähnliche Leiern aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., die bereits vor einiger Zeit in Kasachstan gefunden worden waren - etwa 4000 Kilometer von Sutton Hoo ent­ fernt. Der norwegische Musikarchäologe Gjermund Kolltveit hat über die Instrumente einige Überlegungen angestellt. Herr Kolltveit, was war das Erstaunliche bei der Neu­ Inwiefern gleichen sich denn die Instrumente aus untersuchung der beiden Leiern aus Kasachstan? Kasachstan und die Leier aus Sutton Hoo? Die ursprünglichen Ausgräber im Jahr 1973 hatten die Ins­ Das besser erhaltene Exemplar aus Kasachstan sieht nicht trumente gar nicht als solche erkannt und sie lediglich als nur mehr oder weniger genauso aus wie das aus Sutton Hoo, \"hölzerne Objekte\" klassifiziert. Nun aber hat der kasachi­ sondern gleicht auch der berühmten Leier aus Trossingen sche Archäologe Azilkhan Tazhekeev erkannt, dass es sich in Baden-Württemberg. Diese Leiern haben - anders als die dabei um die Überreste von doppelhalsigen Lauten handelt. Versionen, die wir von Vasenbildern aus der klassischen An­ tike kennen - eine eher rechteckige Form mit einem hohlen Was war Ihre erste Reaktion, als Sie die Bilder der beiden Klangkörper und zwei hohlen Armen, die mit einer Quer­ Instrumente aus Kasachstan gesehen haben? stange verbunden sind, an der die Saiten befestigt werden Ich war fassungslos, weil sie den westeuropäischen Leiern, konnten. Lediglich an dieser Querstange gibt es einige kleine die wir von Grabungen in Deutschland und England kennen, technologische Unterschiede zwischen den europäischen so ähnlich sind. Ich dachte immer, diese Instrumente hätte Leiern und dem Exemplar aus Kasachstan. Das Design dieser es außerhalb von Nord- und Westeuropa nicht gegeben. Komponente könnte auf eine eigenständige Entwicklung in Fundstücke Lisa \"':r Die Lesetipps der Redaktion Quentin ··Ein völlig anderes eben Taüutsen EINGETÜTET Seit 2022 sind EINDRI NGLICH Der E I N FÜHLSAM Das Thema Plastik Einwegtragetaschen aus Plastik Autor nimmt die Leser mit auf Zwangsadoptionen in der DDR verboten, der Umwelt zuliebe. Reportagereisen an Orte in ist bis heute kaum aufge­ Die 280 Plastiktüten in diesem den USA, die noch heute von arbeitet. Quentin hat intensiv Bildband erzählen deutsche der Geschichte der Sklaverei recherchiert, auch mit Betrof­ Alltags- und Konsumgeschichte künden. Erst diese Brücke fenen gesprochen, und Fakten seit 1965. Kunst, Kitsch, Tech­ zwischen einst und jetzt macht mit Fiktion zu einem gelun­ nikgeschichte, Zeitgeist: Hier die Auswirkungen bis in die genen Roman verwoben. Ein kommtalles in, nein: auf die Gegenwart begreifbar, All­ guter Einstieg, um Bewusstsein Tüte. Lustig und nostalgisch. tagsrassismus inklusive. Der für die Schicksale zu schaffen. schnörkellose Stil packt sofort. Frank Lang, Christina Lisa Quentin: Ein völlig Clint Smith: Was wir uns Thomson: Tüten aus Plastik erzählen. Siedler, 26 Euro anderes Leben Prestel, 29 Euro Goldmann, 20 Euro

Arena Zum Forscher Der Norweger Gjermund Kollt­ veit arbeitet als selbstständiger Musikarchäologe und -ethnologe und beschäftigt sich neben Leiern unter anderem mit der identitäts­ stiftenden Bedeutung des Singens. Material aus der Ukraine, das nahelegt, dass dieser Typus von Leiern bei den antiken Skythen verbreitet war. Zentralasien hindeuten. Aber in allen anderen Aspekten sind In welche Richtung, glauben Sie, haben sich die Technolo­ sich die Instrumente sehr, sehr ähnlich. gie und die Musik verbreitet: von Westen nach Osten oder eher von Osten nach Westen? Was schließen Sie daraus? Ich glaube, dass eine Menge Ideen und materielle Kultur Was wir schon jetzt ohne jeden Zweifel sagen können, ist, über Jahrhunderte den Weg von Osten nach Westen genom­ dass es zwischen diesen Instrumenten eine Verwandtschaft men hat. Das könnte auch hier der Fall sein. Aber die Lage gab. Es ist einfach undenkbar, dass diese Ähnlichkeiten ein wird verkompliziert durch das Vorkommen von Leiern in Zufall sind. Um aber sagen zu können, wie diese Verwandt­ Mesopotamien, Ägypten, Griechenland und Rom. Wir müs­ schaft aussah, brauchen wir noch etwas Zeit, um die Instru­ sen sowohl die geografische Verteilung berücksichtigen wie mente zu analysieren. Ich hoffe, dass ich dies in Zusammen­ auch die technologische Entwicklung. Mein erster Impuls arbeit mit Azilkhan Tazhekeev und anderen kasachischen sagt mir, dass sowohl die Technologie als auch die Musik in Archäologen sowie weiteren Kollegen aus anderen Ländern beide Richtungen wanderte und dass die Fundlage nicht die tun kann. Ich hoffe auch sehr, dass ich dabei Forscher aus tatsächliche Verbreitung im frühen Mittelalter widerspiegelt. der Ukraine mit einbinden kann. Es gibt sehr interessantes Möglicherweise wurden diese Instrumente tatsächlich von den Britischen Inseln bis nach Zentralasien gespielt. Um mit der Forschung fortzufahren, müssen wir über Länder- und Sprachgrenzen hinweg kooperieren. Das ist ein starkes Argument für eine Zusammenarbeit von Archäologen (und anderen Wissenschaftlern) aus Westeuropa, dem östlichen Teil Eurasiens und aus Zentralasien. Ich hoffe wirklich, dass der schreckliche Krieg in der Ukraine nicht dafür sorgt, dass erneut ein Eiserner Vorhang zwischen Ost und West fällt und die Zusammenarbeit verhindert. Interview: Angelika Franz l lll) �1A'l 0 Hl>Ll\\. l lt.NN Frank-Walcer Steinmeier CIIINA UND DIE �LIIlENS lllA�SL KUliUIIIJ\"OGESCHICHrt VON OEII fiiUHEN KAIUIIZUT BISZURGEGENWART E I N FÜ H R U N G Was wurde auf E I N SATZ Journalisten und der Seidenstraße, der Mutter Historiker porträtieren 30 der Globalisierung, gehan­ mutige Frauen und Männer, delt? Von wem, wann und die zwischen 1789 und 1918 warum? Der Sinologe bereitet der Demokratie in Deutsch­ Forschungsstand und Reise­ land den Weg ebneten. berichte auf und schlägt den Manche sind berühmt, viele Bogen zur heute von China unbekannt, alle auf ihre Art propagierten .neuen Seiden­ beeindruckend. Denn Demo­ straße\". Sehr gute B i ldtafeln. kratie, das sind wir alle. Thomas 0. Höllmann: China F.-w. Steinmeier (Hg.): und die Seidenstraße Wegbereiter der deutschen C.H. Beck, 34 Euro Demokratie. C.H. Beck, 28 € P.M. HISTORY - JUNI 2022 11

Arena Frauenfußball Nachdem 1863 in England der erste offizielle Dachverband für Fußball ge­ gründet worden war, bildete sich 1895 mit dem \"British Ladies' Football Club\" das erste englische Frauenfußballteam. Mütze und Knickerbocker garantierten die Einhaltung der guten Sitten. In Deutschland ist das erste Spielergeb­ nis zwischen zwei Frauenmannschaften 1927 aktenkundig. Der 1930 in Frank­ furt/Main gegründete \"DAMEN-FUSS­ BALL-CLUB\" traf auch auf männliche Gegner, löste sich aber bald wieder auf. Die Nationalsozialisten sahen Frauen lieber am Herd als aufdem Fußballplatz. Die frischen Ansätze in den 1950er-Jah­ ren erstickte der DFB und verbat seinen Mitgliedsvereinen Damenabteilungen: \"Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und See­ le erleiden unweigerlich Schaden, und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand.\" 1970 hob der DFB das Verbot auf, die erste Frauennationalelf wurde aber erst 1982 gegründet. Siegprämie für den EM-Titel des deutschen Nationalteams 1989: ein Kaffeeservice pro Spielerin. Die erste offizielle Frauen-WM fand 1991 in China statt. IM MUSEUM: GESCHICHTE UND KULTUR DER SAMURAI Samurai-Museum Seit mehr als 30 Jahren sammelt der ein neues Museum gewidmet Auguststraße 68, Berlin-Mitte, Berliner Unternehmer Peter Janssen wird: ln den Ausstellungsräu­ samuraimuseum.de. Seit 8. Mai 2022 alles, was er rund um die japanische men des Samurai-Museums Kriegerkaste der Samurai fin­ i n Berlin-Mitte werden unter den kann. Was mit einem Floh­ anderem Rüstungen, Waffen, marktkauf begann, hat sich im Malerei und kunstvolle Tee­ Lauf der Zeit zu einer Samm­ Utensilien gezeigt. lung von mehr als 1000 Stücken ausgeweitet. So VERGANGENE PRACHT Die wertvoll ist der Schatz, dass Rüstung eines Samurai-Kriegers aus ihm nun nach einem Umzug dem 16. Jahrhundert 12 P.M. HISTORY - JUNI 2022

MAGISCHES DREI­ Zu Unrecht ECK Der Pferde­ schmuckanhänger vergessen aus dem frühen 13. Jahrhundert wurde Minnesänger beim Ausheben der Bau­ Friedrich von Hausen grube für das Europäische Hansemuseum in Lübeck (um 1150-1190) gefunden aus dem Rhein-Main­ Mein Lieblingsstück Gebiet Es mag ein sonniger Maimorgen gewe­ authentischen Ort entstanden ist: Da ist die ideale Frau, die Schön­ sen sein, als sich 1229 ein Gefolgsmann Genau hier begaben sich nicht nur heit und Edelmut vereint - und des Grafen von Brehna und Wettin hin­ die Hansekaufleute auf große Reise, dort der werbende Ritter, der sich unter an die Trave begab, um sich gen sondern seit Ende des 12. Jahrhun­ nach ihr sehnt, aber nicht erhört Osten einzuschiffen. In voller Rüstung, derts auch Ritter, um Gebiete des wird: Das sind die klassischen Zu­ sein Pferd prächtig geschmückt. Lübeck heutigen Est- und Lettland zu chris­ taten jener M i nnelieder, die sich ab war damals mittelalterliche Metropole tianisieren. Dies und die komplexe etwa 1170 im deutschsprachigen und Handelsumschlagplatz für den ge­ Geschichte der Hanse erzählt unser Raum verbreiten, wobei das Wort samten Ostseeraum. Beim Bau unseres Museum: überregional, themen­ ..Minne\" so viel wie ..Zuneigung\", Museums blinkt den Archäolog:innen übergreifend, das historische wie ..Verlangen\" oder ..Gottesliebe\" ein Objekt entgegen. Sie säubern es und das heutige Lübeck einbindend. bedeutet. Als Wegbereiter dieser entdecken in ihm einen silbernen An­ Liedform gilt Friedrich von Hausen, hänger vonjust jenem mittelalterlichen Dr. Felicia Sternfeld ein Reichsbeamter unter Kaiser Zaumzeug, der hier verloren wurde. ist geschäftsführende Friedrich 1., genannt Barbarossa, Heute ist er eines meiner Lieblingsob­ Direktorin des 2015 er­ und dessen Sohn Heinrich. ln jekte im Europäischen Hansemuseum. öffneten Europäischen Tradition südfranzösischer Trouba­ Auch weil er zeigt, dass es an einem Hansemuseums in dour-Dichtung stilisiert er die Frau Lübeck. zur unerreichbaren Herrin, die gesellschaftlich über dem ihr treu IM TV: SPIELE DES LEBENS ergebenen Mann steht. Von Hausens Lyrik beeinflusst viele \"Spielzeuge, die die Welt veränder­ Matchbox, Mon opoly, Barbie: Spiele nachfolgende Minnesänger und tenu, 4 Folgen, ab 22. Mai, sonntags um und Spielzeug sind oft mehr als ein prägt damit unser Bild von der 21.55 Uhr. The H I STORY Channel Zeitvertreib. Sie prägten Generatio­ mittelalterlichen ..Ritterkultur\" bis nen. Und sie machten Unternehmen heute. Sein eigenes Leben endet wie Matte!, Hasbro oder MB zu milliar­ jedoch tragisch: Beim dritten denschweren Imperien. Aber das Ge­ Kreuzzug fällt er in Zentralanato­ schäft mit Puppen und Miniaturautos lien vom Pferd und stirbt. war kein Kinderspiel: Die neue Reihe auf The H I STORY Channel zeigt, dass P.M. HISTORY - JUNI 2022 13 es auch die Großen der Spielebranche oft schwer hatten.

Arena WyohuenriydoeuwriitdheHAiLtlOeNr 1E PLAKATIV Sparsam D er Zusammenhang zwischen Energie und Krieg KAMPF DEN LEEREN SITZEN iEsitnhneauhtme feünrajeudse0:. m1, KanonhloefufenndsiGchastlhicäht.teORhnusesd­ ie ..Wenn du allein fährst, fährst du mit Hitler\": Mit dieser Formulierung lands Präsident Putin seinen Angriff auf die Ukraine warben US-Behörden im Zweiten Weltkrieg für privates Carsharing. vielleicht gar nicht finanzieren können. Und auch in den Ziel: Autofahrten und damit Benzin für das Militär einsparen Jahrzehnten davor hat die Abhängigkeit von Öl-Baronen und Diktatoren den Westen immer wieder zu zweifel­ haften Partnerschaften gezwungen. Damit, so hat es sich nicht nur die Bundesregierung vorgenommen, soll allerdings bald Schluss sein. Erneuerbare Energien könnten künftig nicht nur das Klima retten, sondern auch unsere politische Unabhängigkeit und damit die Freiheit. Bis es so weit ist, fordern Umweltverbände und Politiker, könnte individuellerVerzicht das Problem zumindest reduzieren helfen: \"Frieren für die Freiheit\" hat das Alt­ bundespräsident Joachim Gauck auf den Punkt gebracht. Dieser Gedanke ist keineswegs neu. Schon in früheren Jahrzehnten appellierten Regierungen und Militärs aus strategischen Gründen an die Sparsamkeit von Zivilisten. Damals ging es meist darum, Ressourcen zu sparen, um die Militärmaschinerie am Laufen zu halten. Heute geht es darum, dass es gar nicht erst zum Krieg kommt. BÖSES LICHT KALTER KRIEG .. Licht verbraucht Für einen beson­ Kohle\": Auf diesen ders sparsamen Zusammenhang Spritverbrauch sind weist das Plakat der die Kampfjets und United States Fuel Panzer der Bundes­ Administration aus wehr nicht gerade der Zeit des Ersten bekannt. Vielleicht Weltkriegs hin. lm rief die Armee genau Zentrum des Bildes: deshalb in den eine Zugkette, mit 1980er-Jahren zum der man Lampen allgemeinen Ener­ damals auszuschal­ giesparen auf? ten pflegte 14 P.M. HISTORY - JUNI 2022

\\ II .J· .r..

Unter Kriegern Herman Als der deutschstämmige Herman Lehmann von Apachen entführt wird, passt er sich deren Lebensweise an. Die Rückkehr in die Welt der weißen Siedler zerreißt ihn fast Von Thomas Röbke D er Angriff geschieht völlig Baby Auguste, das allein auf dem Feld Gehölz. Das Dornengestrüpp reißt tiefe lautlos. Die vier Geschwis­ zurückbleibt. Sie konzentrieren sich Wunden in das Fleisch des Kindes, die ter im Weizenfeld sind in auf den knapp elfjährigen Herman. Der Sonne brennt erbarmungslos auf den ihr Spiel vertieft - und bli­ rennt um sein Leben. Körper. \"Der Tod wäre mir eine Erleich­ terung gewesen\", wird Herman in sei­ cken plötzlich in Gesichter Häuptling Carnoviste bekommt ihn nen Erinnerungen (\"Neun Jahre unter zu fassen, wirft sich auf ihn. Herman Indianern\") schreiben. Seinem Bruder mit voller Kriegsbemalung. Der Schreck schlägt um sich, zieht den Angreifer an Willie ergeht es nicht besser. den Haaren, beißt, kratzt, schreit aus fährt ihnen in die Glieder, der achtjähri­ Leibeskräften. Beinahe kann er sich los­ An ihrem Lagerplatz versorgen die reißen, doch ein Krieger kommt seinem Apachen die Wunden der Brüder und ge Willie ist wie gelähmt - die Apachen Häuptling zu Hilfe. Den fast nackten malen sie wie ihresgleichen an. Wei­ Jungen binden die Mescalero-Apachen ter geht der Ritt, einem ungewissen brauchen ihn nur aufzuheben und mit­ auf ein halbwildes Pferd und fliehen Schicksal entgegen. Die Stricke schnü­ mit ihm im Galopp, auch durch dichtes ren bei jeder Bewegung der Pferde äu- zunehmen. Die neunjährige Caroline rennt zum Wohnhaus, die Angreifer schießen. Sie fällt und bleibt liegen. Die Krieger halten sie für tot und kümmern sich nicht weiter um sie. Auch nicht um STOLZE KÄMPFER Szene am Lager des legendären Apachenhäuptlings Gero­ ni'mo in den Sierra Madre Mountains 16 P.M. HISTORY - JUNI 2022

WELTENWA N D E R E R Herman Lehmann posiert im hohen Alter in Stammeskleidung. ln das Leben der Siedler konnte er sich nie mehr ganz einfügen

Unter Kriegern KARGES LEBEN (1) fähigkeit testen. So legen sie Herman einmal die Wahl hat zwischen geröste­ Siedler vor ihrem nachts einen großen Stein auf den Rü­ tem und rohem Fleisch, ahnt er, dass Grassoden-Farmhaus cken, damit er nicht flieht, und fügen er zum rohen Fleisch greifen muss, um in den American ihm Brandmale zu. Dass er gezwungen nicht getötet zu werden. Und wird so Plains, Custer County, wird, rohes Fleisch und Innereien zu es­ tatsächlich einer von ihnen. Er gehört Nebraska in den sen, obwohl er sich davon übergibt, ge­ Carnoviste, der ihn gestohlen hat; so 1880er-Jahren hört noch zu den kleineren Übeln. verlangt es das Stammesgesetz. Er lernt die Sprache der Apachen, wie man Pfeil ßerst schmerzhaft in Hände und Füße, Herman übersteht alle ihm von den und Bogen herstellt und mit ihnen um­ die sonnenverbrannte Haut pellt sich Apachen auferlegten Prüfungen. Als er geht. Carnoviste selbst bringt ihm bei, großflächig, das Fleisch am Gesäß wird wilde Pferde zu reiten und im Laufen fast bis auf die Knochen abgescheuert. auf sie aufzuspringen. Auch das Heim­ weh wird mit der Zeit geringer - nicht Was den Kindern der deutschstäm­ zuletzt, weil die Indianer ihn glauben migen Siedlerfamilie Lehmann am 16. machen, dass sie seine Familie ausge­ Mai 1870 bei Fredericksburg in Texas löscht hätten. zustößt, ist kein Einzelfall. Die Prärie­ Indianer haben unter dem Ansturm \"Von unserer Siedlung aus gingen der Siedler, durch Kämpfe und einge­ wir auf Raubzug bei den weißen Sied­ schleppte Krankheiten, so zu leiden, lern. Wir hatten es auf die Pferde abge­ dass sie Kinder rauben und zu India­ sehen - und darauf, so viele Bleichge­ nern erziehen, um ihre Verluste etwas sichter wie möglich zu töten\", heißt es in auszugleichen. Von den Comanchen Herrnans Biografie. Bei etlichen Gräuel­ ist bekannt, dass sich die Stämme aus taten ist er dabei oder sogar selbst aktiv. bis zu 40 Prozent geraubten Menschen \"Wir entdeckten einen Planwagen mit zusammensetzten - von anderen India­ einem Mann, einer Frau und drei Kin­ nerstämmen, von weißen Siedlern und dern. Bevor sie uns überhaupt gewahr von Mexikanern. wurden, hatten wir sie umzingelt, und es war eine Sache von Sekunden, den Mann, die Frau und das Baby zu töten und zu skalpieren.\" Die anderen Kinder, ein achtjähri­ ges Mädchen und einen sechsjährigen Jungen, nehmen sie mit, nachdem sie den Planwagen angesteckt haben. Ein W illie Lehmann kann am neun­ FLICKWERK Indianerreservate der USA auf einer Landkarte (um 1890). Die Siedler ten Tag der Gefangenschaft haben die Ureinwohner willkürlich in für sie wertlose Gebiete abgeschoben fliehen. Er trifft auf Siedler, die ihn zu seiner Familie zurückbrin­ gen. Herman bietet sich diese Chance nicht. So versucht er, durch Wohlver­ halten wenigstens eine bessere Behand­ lung zu erreichen. Die Apachen gehen mit dem Kind alles andere als zimper­ lich um - sie wollen seine Widerstands- 18 P.M. HISTORY - JUNI 2022

KARGES LEBEN (2) Als Herrnans Apachen­ gruppe ausgelöscht wird, schließt er sich den Comanchen an. Hier Bisonjäger vor ihren Tipis (1871) paar Tage später töten sie die Kinder, einzustellen und in ein Reservat zu zie­ Schild und durch seinen Bauch. Als er weil die nicht aufhören zu schreien. hen: \"Im Reservat war es leicht, Whis­ seine Arme hochwarf, sandte ich einen ky der übelsten Art von Händlern zu weiteren Pfeil in seine Seite. Er fiel und Bei einer Zusammenkunft von Apa­ erwerben, die ihn an den wachsamen batmich, nicht weiter zu schießen, er sei chen und Comanchen lernt Herman Augen der Soldaten vorbei einschmug­ tödlich getroffen. Ich hatte Sorge, dass er den gleichaltrigen Adolph Korn kennen, gelten.\" Der Alkohol löst ständig Strei­ nicht so tot war, wie er mich glauben ma­ der kurz nach ihm entführt worden tigkeiten aus, es bilden sich verfeinde­ chen wollte, und schoss einen weiteren war. \"Wir unterhielten uns über unsere te Lager, und beinahe endet Herrnans Pfeil ab, der sein Herz traf. Er verdrehte Lage, auf Deutsch, sodass unsere in­ Leben unter dem Speer eines gegneri­ die Augen und starb mit einem matten dianischen Herren uns nicht verstehen schen Apachen: \"Doch Carnoviste sah Stöhnen. Carnoviste war gerächt!\" konnten. Wir hatten eine gute Zeit und hätten sicherlich einen Fluchtplan ent­ Herman soll ge opfert werden, als wickelt, wenn wir nicht auseinanderge­ ein Indianermädchen hervorstürzt rissen worden wären\" - die Comanchen reisen weiter. und seine Arme um ihn schlingt A ls Carnovistes Frau stirbt, sollen die Bewegung und durchbohrte ihn mit Anschließend flieht Herman. Eine ihr nach alter Sitte sämtliche einer Lanze. Im selben Moment töte­ Zeit lang zieht er allein durch die Prärie Besitztümer mit ins Grab gelegt te ein Medizinmann Carnoviste.\" An­ - bis er aufeine Gruppe von Comanchen werden. Das bezieht sich nicht nur auf schließend bedroht der Medizinmann trifft. Er nimmt allen Mut zusammen Sachen: Weil sie Herman zur Ersatz­ Herman mit einer Winchester. Der ver­ und geht auf sie zu. Eine alte Squaw mutter geworden ist, soll auch er ge­ steckt sich hinter einem Felsen. tritt als Erste an ihn heran und ergeht opfert werden. \"Alles war vorbereitet\", sich in einem Wortschwall, den er nicht schreibt Lehmann, \"als plötzlich ein Zwei-, dreimal schießt der Medi­ versteht. \"Später erfuhr ich, dass sie for­ Indianermädchen hervorstürzte und zinmann, doch die Kugeln werden von derte, mich sofort umzubringen, weil ihre Arme um mich schlang. So wurde Herrnans Schild abgelenkt. Sie liefern ich nur Ärger brächte.\" Dann kommt ein ich verschont. Ihr Klammern und ihr sich eine Verfolgungsjagd um den Fel­ junger Krieger dazu, der eine der Apa­ Flehen retteten mein Leben.\" Weiter er­ sen - dann \"drehte ich mich plötzlich chensprachen beherrscht. Ihm erzählt wähnt Herman die Apachin nicht. um und sandte einen Pfeil unter seinen EinTeil derApachen stimmt schließ­ lich zu, den Kampf gegen die Siedler P.M. HISTORY - JUNI 2022 19

Unter Kriegern Herman seine Geschichte. Ein weiterer trag mit den Weißen, um vereint mit nicht alle Indianer die Waffen nieder­ Krieger bestätigt, dass er Herman bei ihnen die Comanchen zu vernichten, gelegt. Herman Lehmann gehört zu den Apachen gesehen habe \"und dass indem sie für sie als Scouts, Führer und einer der letzten Gruppen, die Quanah wir um die Wette geritten waren und Krieger fungierten.\" Parker persönlich vom Friedensschluss ich sein Pferd besiegt hatte, er kannte überzeugt und die einem Leben im Re­ Carnoviste und andere Apachen\". Eines Tages überfallen die Tonka­ servat (Fort Sill, heutiges Oklahoma) ways ein Lager, in dem die Comanchen zustimmen. T atsächlich nehmen die Coman­ nur eine Notbesetzung zurückgelas­ chen Herman Lehmann in ihre sen hatten, während sie auf Büffeljagd Herrnans Mutter hatte die Hoffnung Gemeinschaft auf: \"Seitdem bin waren. Sie erobern das Lager schnell nie aufgegeben, ihren Sohn wieder­ ich ein Comanche geblieben. Ich bekam zurück und finden ein Feuer vor, auf zufinden. Von dem aus der Gefangen­ einen Comanchen-Namen - Monteche- dem das Bein eines Comanchen rös­ schaft zurückgekehrten Adolph Korn tet: \"Eines Kriegers unseres Stammes! erfährt sie, dass Herman bei den Apa­ chen lebt. Bei ihren Nachforschungen \"Ich hatte meine Leute gefunden. trifft sie auf den Kommandanten von Aber ich mochte sie nicht, weil sie Fort Sill, Ranald McKenzie. Der berich­ tet ihr von einem Weißen, der mit den Bleichgesichter waren\" Comanchen im Reservat lebt und frü­ her bei den Apachen gelebt haben soll. na -, und dieser Name ist heute im Stam­ Unser Häuptling stieß einen Wutschrei mesregister in Washington verzeichnet: nach Vergeltung aus, und wir fielen alle Mrs. Lehmann glaubt nicht, dass Montechena Herman Lehmann.\" mit ein.\" Die Comanchen verfolgen die es sich um ihren Sohn handelt, aber Tonkaways, es kommt zu einem gna­ McKenzie spricht Herman Lehmann an, Mit den Comanchen geht Herman denlosen Kampf mit zahlreichen Toten schlägt ihm vor, zu seinen Leuten zu­ wieder auf Kriegspfad, sie überfallen und Verletzten auf beiden Seiten, den rückzukehren. Herman stimmt erst zu, und skalpieren mexikanische Händler, die Comanchen schließlich für sich ent­ als Quanah Parker ihm verspricht, dass liefern sich Kämpfe mit den Regierungs­ scheiden. er zu den Comanchen zurückkommen truppen und verfeindeten Stämmen kann. wie den beinahe ausgelöschten Tonka­ Der oberste Comanchenhäuptling ways: \"Deren Hass saß tief, sie machten Quanah Parker verhandelt 1875 einen Im April 1878 wird Herman Leh­ die Comanchen für jedes Unglück ver­ Friedensvertrag mit den Weißen. Doch mann zu seiner Familie im texanischen antwortlich und schlossen einen Ver- auch zwei Jahre später haben noch Loyal Valley gebracht. Doch er erkennt seine Mutter nicht mehr: \"Die Jahre der Gefangenschaft hatten aus meinem Ge­ dächtnis alle Erinnerungen gelöscht an 20

nen Gottesdienst platzt, den er für eine Art Regentanz hält. Immer wieder verspürt Herman den Drang zu flüchten. Nur die Liebe sei­ ner Mutter und seiner Geschwister hält ihn davon ab. Und tatsächlich lebt sich Herman einigermaßen ein, nachdem er fließend Englisch und Deutsch gelernt hat. Er bekennt sich weiterhin zu seinen indianischen Kameraden, sagt aber auch: \"Als Gefangener dürstete es mich danach, zu töten und zu stehlen, weil mir gelehrt wurde, dass dies der Weg zu leben sei. Aber jetzt weiß ich, dass es falsch ist. Heute würde ich keinem Menschen mehr das Leben nehmen, noch würde ich stehlen.\" Seine erste, 1885 geschlossene Ehe scheitert. 1890 heiratet er Fannie Light aus Loyal Valley und bekommt mit ihr fünf Kinder. Doch auch diese Ehe ist nicht von Bestand. Herman Lehmann kann sich nie wieder vollständig in die Welt der Siedler integrieren. Des Öfteren besucht er die Coman­ chen, doch auch in ihre Welt - die nun, im Reservat, eine andere ist - kann er sich nicht einfügen. Mit Auftritten bei Wildwestshows, bei denen er mit seinen FAM I LI E N BANDE Herrnans Bruder Willie, mit i h m entführt, entkam nach neun Tagen. Reit- und Schießkünsten beeindruckt, Hier um 1930 mit seiner Frau Rebecca, den Töchtern Gerda (stehend) und Esther und mit seinen Erzählungen aus seinen Indianerjahren, erntet er einen beschei­ denen Ruhm. die Liebe und Zärtlichkeit einer Mutter. te zu Herman, schlang meine Arme um Am 2. Februar 1932 stirbt Herman In dieser Stunde, die ein krönendes Er­ seinen Nacken und weinte. Dann sah eignis des Glücks hätte sein sollen, war ich ihn mir noch mal im Licht an, und der Apache mit 72 Jahren in Loyal Val­ meine Mutter für mich nichts als eine - großer Gott! - ich dachte, das ist nicht weiße Squaw.\" Herman. Bis Mina sagte: , Mama, das ist ley. In seiner 1927 erschienenen Auto­ Herman. Siehst du denn nicht die Nar­ Erst als er Willie und Mina sieht, \"er­ be an seiner Hand? Da habe ich ihn mal biografie hatte er eine versöhnliche kannte (ich) meinen Bruder und meine mit unserem kleinen Beil verletzt.\"' Schwester und erinnerte mich an sie als Bilanz gezogen: \"Seit ich diese Welt meine Spielgefährten in einer weit ent­ S ich in die Welt der Siedler einzu­ fernten Vergangenheit. Dann sagte je­ gewöhnen, ist ein Schock für Her­ betrat, habe ich viele Veränderungen mand fortwährend ,Herman, Herman', man. Er weigert sich, in einem Fe­ und dieser Name hatte einen vertrauten derbett zu schlafen, und liegt lieber nur gesehen. Der Ochsenkarren wurde Klang. Plötzlich wurde mir klar, dass mit einer Decke auf dem Boden unter das mein eigener Name war. Langsam, freiem Himmel. Sich in die Kleidung vom Pferdegespann abgelöst, und das aber sicher begannen sich die Nebel zu der Siedler zu zwängen ist für ihn eine lichten, und ich wusste, dass ich meine Qual. Lieber malt er sich an, steckt sich Automobil hat die Art zu reisen völlig Leute gefunden hatte. Aber ich war ein Federn ins Haar und erschreckt halb Indianer, und ich mochte sie nicht, weil nackt die Leute. Zum spektakulärsten verändert. Schnelle Eisenbahnen, Flug­ sie Bleichgesichter waren.\" Zwischenfall kommt es, als Herman wild tanzend und in vollem Ornat in ei- maschinen, Radios und viele andere Auch wie Mrs. Lehmann das Wieder­ sehen erlebte, ist überliefert: \"Ich rann- Wunder sind real geworden. Wir leben in einem schnellen Zeitalter. Ich bin froh, dass ich diese wunderbaren Ver­ änderungen miterleben durfte.\" • Themas Röbke flüchtet sich in Katzenvideos, wenn er wieder mal nicht fassen kann, was Menschen Menschen anzutun in der Lage sind. P.M. HISTORY - JUNI 2022 21





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Russland W iedereinmal herrscht bildeten jungen Mannes, der mehrere schrieben und sogleich per Boten zum Krieg im Nordosten. Sprachen spricht, darunter auch Slowe­ Großfürsten geschickt wird. Als Drit­ Zum vierten Mal seit nisch, eine dem Russischen verwandte tes lernt Herberstein, dass er in allem 1492 greifen die Rus­ Sprache. Für die heikle Aufgabe in ein gegängelt wird und weder auf Route, sen das Großfürsten­ unbekanntes Land zu reisen, zu einem Tempo, noch Verpflegung einwirken tum Litauen an, die größte osteuropäi­ Herrscher, mit dem man zwar verbün­ kann. Das Maß voll macht einige Tage sche Macht, und holen Stück für Stück det ist, aber von dem man doch wenig später ein Unfall beim Überqueren das Land zurück, das sie einst nach dem weiß, kann das von Vorteil sein. eines reißenden Flusses, bei dem einer Einfall der Mongolen hatten aufgeben der Gesandten samt seinem Pferd bei­ müssen. In Wien ist Kaiser Maximilian K urz vor Palmsonntag erreicht die nahe ertrinkt. Die Russen rühren sich I. aufgerufen, Frieden zu stiften. Die Gesandtschaft hinter Dobrow­ nicht, um ihm zu helfen. Als Herber­ Habsburger sind mit dem Großfürsten­ na, einem befestigten Flecken in stein sie zur Rede stellt, entgegnen sie: tum Moskau verbündet - und deshalb Litauen am Dnjepr, die moskowitische \"Einem gebührt es zu arbeiten, dem an­ als Vermittler willkommen. Grenze und wird von einer russischen deren gebührt es nicht.\" Abordnung in Empfang genommen. Im Frühjahr 1517 beauftragt der Gleich der erste Eindruck Herbersteins Als talentierter Diplomat kann Kaiser seinen Hofrat Sigmund von ist ein Kräftemessen: Wer steigt zuerst Herberstein bereits aus seinen ersten Herberstein nach Moskau zu reisen und vom Pferd, wer lüftet zuerst den Hut? Eindrücken Gewinn ziehen und hält dort bei der Verhandlung eines Frie­ Wessen Herr hat die meisten Herr­ sich künftig nach außen bedeckt, wäh­ dens zu helfen. Sein Besuch wird sich schertitel, die da ein jedes Mal in voller rend er intensiv das Land, seinen Herr­ als wichtiger Meilenstein in den Bezie­ Länge aufgezählt werden? Der zweite scher, Wassili III., die Menschen, ihre hungen zwischen dem Reich der Russen Eindruck ist, dass jede noch so winzi­ Sitten und Gebräuche studiert. und dem Rest Europas erweisen. ge Kleinigkeit über sie erfragt, aufge- Das Großfürstentum Moskau ist Herberstein ist 31 Jahre alt, als der MOSKAU Die Kremlmauer wurde damals für das Habsburger Reich weit­ Kaiser ihn entsendet. Es ist bereits sei­ einige Jahrzehnte vor Herbersteins gehend eine Terra incognita. Über zwei ne dritte Mission. Maximilian sieht das Jahrhunderte war es den Tataren tri­ diplomatische Geschick des hochge- erster Russlandreise errichtet butpflichtig und trat politisch kaum in 26 P.M. HISTORY - JUNI 2022

internationale Erscheinung. Dies än­ UNTERWEGS dert sich grundlegend mit dem Moskau­ ln der russischen er Großfürsten Iwan III., dem Vater von Kälte kam der kai­ Wassili III. Ihm gelingt es, sein Fürsten­ serliche Gesandte tum um das Vierfache zu vergrößern. mit dem Schlitten Seine Ehe mit der Nichte des letzten am besten voran byzantinischen Kaisers gibt ihm Zugriff auf dessen Insignien. Der Doppeladler gehört nun zum russischen Wappen. Auch erklärt Iwan III. Moskau zum letzten Hort des orthodoxen Christen­ tums und damit zum Dritten Rom. Sein größter Erfolgjedoch ist, dass er das Ta­ tarenjoch von den Russen abschütteln kann. So erhebt sich an der nordöstli­ chen Peripherie Europas eine neue und rätselhafte politische Macht. H erbersteins Mission gewinnt da­ MAXIMILIAN I. rum umso mehr an Bedeutung. Der Kaiser aus dem Frieden wird zwar am Ende nicht geschlossen, dafür aber zumin­ Hause Habsburg dest ein dauerhafter Waffenstillstand. (1459-1519) schickte Neun Jahre später wird Herberstein erneut nach Moskau geschickt, dies­ Herberstein nach mal mit dem klaren Auftrag, auch In­ Russland formationen über den Moskauer Staat P.M. HISTORY - JUNI 2022 27

Russland und die religiösen Verhältnisse zu sam­ Sogar eine zweite Frau zur Doppel­ Dessen russische Frau zweifelt an sei­ meln. 1549 schließlich veröffentlicht ehe lässt die orthodoxe Kirche zu. \"Eine ner Liebe, weil er sie nicht schlägt. er seine Eindrücke in einem Buch, das dritte Frau nehmen duldet man nur, schnell zu einem internationalen Best­ wenn ganz besondere Ursachen dazu Die Menschen scheinen Herber­ seller wird. Über zwei Jahrhunderte ist sind.\" Das Leben der Frauen bezeichnet stein \"von solcher Natur, dass sie sich Herbersteins \"Rerum Moscoviticarum der Gesandte als erbärmlich. Denn eine der Leibeigenschaft mehr als der Frei­ commentarii\" die unangefochten beste Russin ist nicht ehrbar, wenn sie auf die heit freuen\". Sechs Tage in der Woche Quelle zum Moskauer Großfürstentum. Gasse geht. \"Darum halten die Reichen muss der Bauer für seinen Herrn arbei­ und Vornehmen ihre Frauen so abge­ ten, den siebten nur für sich. Er hat nur Das Werk umreißt die aktuellen schlossen, dass niemand ihnen zu Ge­ ein kleines Stück Feld und Wiese zur Grenzen des Reiches und gibt auch ge­ sicht oder mit ihnen zum Reden kommt, Verfügung, alles Übrige gehört dem naue Entfernungsangaben. So lässt sich übergeben ihnen auch nicht die Wirt­ Herrn. \"Es ist ein elendes Volk, mit al­ schnell ein Bild von diesem erstaunlich schaft, einzig das Nähen und Spinnen.\" lem Leib und Gut der Edlen Raub; dazu gewaltigen Großfürstentum gewinnen. Für ein Zeichen von Liebe halten russi­ schlägt man sie furchtbar.\" Und er no­ Im Norden endet es im Eismeer, wie sche Frauen wohl Schläge, so erfährt er tiert: \"Wie sie mit dem Essen kargen, weit es in den Nordosten nach Sibirien es von einem deutschen Kugelschmied. so sind sie mit Trinken maßlos, wo sich reicht, weiß keiner so genau. Im Osten, nur die Gelegenheit bietet.\" Süden und Westen erweitert es krie­ gerisch stetig seine Macht. Wald- und A�ofcouitctt Sto9fücff� flussreich ist das Land, einige Böden sind karg und sandig, andere unerhört bn�cü(fcn 1Uinig l'nb J,crtc g.t� fruchtbar. Fischreich die Flüsse, die =ain leb \"on nadnndtcrcn blur. Wälder voller Wild und Pelztiere. Die �ein�tml tel,) burc:b gelt \"\"b bin Winter sind lang und hart, die Sommer ':O.onnltman�Jt nl'autfccnitt. im Norden so hell, dass die Sonne kaum 2\\clm bmcn icbgcborfam 3\"'44: unterzugehen scheint. i:Mnn <Lbdtfo <Dome fun itfwa,;r. II U ber all das herrscht der Groß- fürst Wassili III., den seine Dol­ metscher lateinisch als Impera­ tor bezeichnen. Sie sehen dies als die angemessene Übersetzung für seinen Titel Zar, den der Großfürst in Anleh­ nung an das byzantinische Kaisertum angenommen hat. Ausführlich be­ schreibt Herberstein, mit welcher Wür­ de ein Großfürst durch den Metropoli­ ten der orthodoxen Kirche inthronisiert wird. Doch er erlebt auch, wie der Zar seinen Metropoliten entmachtet und einsperren lässt, als der es wagt, Kritik am Herrscher zu üben. Die Orthodoxie grenzt er ab zur rö­ mischen Kirche. Die Gottesdienste fol­ gen anderen Mustern, die Beichte und die Kommunion werden anders vollzo­ gen. Das Kreuz zeichnen die Orthodo­ xen anders, die Fastenzeiten sind stren­ ger. Eingehalten werden die Feiertage nur von den Vornehmen. \"Volk, Gesinde und Sklaven arbeiten wie an anderen Tagen\", schreibt Herberstein. WASSILl I I I . : Der Großfürst von Moskau (1479-1533) beanspruchte für sich das Erbe von Byzanz 28 P.M. HISTORY - JUNI 2022

RUSSISCHE REITER Als Herberstein i m 16. Jahrhundert nach Osten reiste, mehrten die Zaren ihre Macht in zahlreichen Kriegen Beeindruckt ist der Gesandte von Haus hat Gärten und Höfe, gebaut wird durchweg seinem Credotreu: \"Wer mei­ der Post. Dank eines gut ausgebauten aus Holz. Die Straßen sind aus Sand und Netzes an Posthäusern, die mit reichlich oft tief ausgetreten. Der riesige Kreml nen Herrn ehrt, den ehre ich billig auch, Pferden ausgestattet sind, lässt sich be­ aus roten Ziegeln am Ufer der Moskwa quem und schnell durch das große Land beeindruckt ihn. Doch die Moskauer wer aber meinen Herrn nicht ehrt, den reisen. Auch über den Handel berichtet selbst empfindet Herberstein als \"listig er. Besonders ist, dass keine Ware ver­ und betrüglich vor allen andern, zumal will ich auch nicht ehren.\" kauft werden darf, bevor nicht der Fürst in Verträgen biegen sie ihre Treue\". Gelegenheit hat, sie als Erster zu kau­ Als Herberstein im März 1566 als fen. Auch darf nicht jeder Kaufmann in D arin unterscheiden sie sich nicht jeder Stadt Handel treiben. Die Märkte so sehr von ihrem Fürsten. Im­ kaiserlicher Rat mit 79 Jahren stirbt, einiger Städte stehen nur bestimmten mer wieder lässt Herberstein in Nationen offen. Moskau etwa den Polen seinem Bericht durchscheinen, dass der liegen 69 diplomatische Missionen hin­ und Litauern. Schweden, Livländer und Großfürst bei aller Pracht und Macht Deutsche haben ihre Handelsniederlas­ nicht vor Lüge und Betrug zurück­ ter ihm. Nach Moskau ist er nicht noch sungen in Nowgorod. schreckt, wenn es ihm zum Vorteil ge­ reicht. Doch niemals lässt er sich dazu einmal gereist. Dort hatte kurz vor der Die Hauptstadt Moskau beschreibt hinreißen, offen abfällig über den Groß­ Herberstein als groß, weit und schmut­ fürsten zu sprechen, sondern bleibt Veröffentlichung seines Buches Iwan IV. zig. Doch die Luft ist gut. Jedes größere den Zarenthron bestiegen. Er wird als Iwan der Schreckliche in die Geschich­ te eingehen. • Claudia Weiss ist habilitierte Historikerin und Expertin für osteuropäische Geschichte. Sie lebt als Schriftstellerin in Harn­ burg (..Scharlatan\", 2012). P.M. HISTORY - JUNI 2022 29

Russland Mehr als 40 Jahre regiert Peter I., den man den Großen nennen wird, Russ­ land. Am Ende seiner Herrschaft 1725 hat er ein mittelalterliches Reich in einen modernen Staat verwandelt - allerdings mit barbarischer Brutalität Von WolfSchneider G roß war er wirklich: 2,01 Messer und Gabel hob der Zar storben, kinderlos. Außer Peter über­ Meter oder 2,04 Meter manchmal zuckend und scheinbar lebten ihn zwei weitere Geschwister, oder gar 2,13 Meter, da gegen seinen Willen dem Gesicht ent­ die 24-jährige Sofja und der 16-jährige sind sich die Quellen gegen. Seine Tischmanieren waren für Iwan. Die Versammlung der höchsten Europas Diplomaten und Monarchen Würdenträger des Reiches bestimmte nicht einig. Wo immer ohnehin ein Graus, ebenso seine nach- Peter zum neuen Zaren, denn Iwan, der Ältere, war geistig behindert. er auftauchte, zog er eine Schar von lässige, oft schmuddelige Kleidung. Zeitgenossen und D amit wollten sich Teile der Fami­ Gaffern auf sich, wie die Riesen, lie nicht abfinden. Sie verbünde­ Historiker führen sein ten sich mit den Strelitzen, der die man damals auf den schrulliges, verletzen­ ständig unzufriedenen Elitetruppe zur des Verhalten auf den Bewachung des Kremls. 40 von Peters Jahrmärkten zur Schau Schock zurück, den Verwandten fielen der Palast-Intrige Peter als Neunjähriger zum Opfer. Der junge Peter musste zu­ stellte. erlitt, als er in eine mör­ sehen, wie mehrere von ihnen, darun­ derische Intrige verwi- ter sein Onkel und sein bester Freund, Doch nicht nur ckelt wurde. aus dem Fenster gestürzt wurden und auf die Lanzen der unten stehenden durch seine Größe irri­ Im April 1682 war Strelitzen fielen; die vollendeten ihr Zar Fjodor III. ge- Werk mit der Axt. tierte Peter der Große. Sofja setzte ihren geistesschwachen Er war immer in Unru­ Bruder als weiteren Zaren und sich selbst als Regentin für die beiden Kna­ he. Ständig wechselte ben ein. Dem inzwischen zehnjährigen er das Standbein, zit­ ternd verkrampfte er die Hände, Arme und Schultern. Er verzerr- te die Lippen über wackelndem Kinn, er zwinkerte zwanghaft, und oft verdrehte er die Augen so, dass man nur noch das Weiße sah. 30 P.M. HISTORY - JUNI 2022



Russland Peter ließ sie zwar das Leben und den Handwerkern über die Schulter, freun­ die Herrschaft an. Die Staatsgeschäfte Titel, doch er musste den Kreml verlas­ dete sich mit Offizieren an, lernte Hol­ überließ er allerdings noch einige Jah­ sen und mit seiner Mutter in eine Som­ ländisch - und gewann offensichtlich re seiner Mutter, um seinen Interessen merresidenz in der Nähe von Moskau jenen Eindruck, der für seinen Lebens­ nachgehen und seine Bildung vervoll­ ziehen. Dort blieb Peter sieben prägen­ weg und das Schicksal ganz Russlands ständigen zu können. Dazu unternahm de Jahre lang. bestimmend wurde: dass die Russen so er Reisen durchs Reich, von denen eine werden müssten wie diese da. ihn nach Archangelsk führte, zum ein­ Er hatte zwei Hauslehrer, die ihm zigen Seehafen des Zarenreichs. Die fromme Texte eintrichterten. Bei einem Im August 1689 wurde Sofja auf Be­ Schiffe, die Wogen waren für Peter eine Holländer lernte er Mathematik. Er treiben von Peters Mutter und einiger Offenbarung. Er fragte die Kapitäne aus lauschte fasziniert den Erzählungen Hochadeliger gestürzt, nun trat Peter (Engländer und Holländer vor allem), seines Erziehers Nikita Sotow über die er erkletterte die höchsten Masten, er Feldzüge seines Vaters, des Zaren Ale­ gab bei einer holländischen Werft eine xej. Seine besondere Neugier aber galt Fregatte in Auftrag und ließ eine russi­ dem Handwerk. Früh ließ er sich das sche Werft errichten. Zimmern, das Tischlern, das Drechseln beibringen, er schaffte sich eine Dreh­ Im Januar 1694 starb Peters Mut­ bank an und arbeitete an ihr, als müsste ter. Nun, spätestens, wäre es an der er mit ihr sein Geld verdienen. Zeit gewesen, dass der 21-Jährige die Regierung selbst in die Hand genom­ Die Handwerker, die ihn voran­ men hätte. Aber nein: Im Sommer 1694 brachten, fand er in Moskaus Auslän­ reiste Peter wieder nach Archangelsk dervorstadt, einer merkwürdigen Ein­ und gab sich seiner Lust an den Segel­ richtung von großem Einfluss auf sein schiffen hin. Erst zwei Jahre nach dem Leben. Ausländer - Deutsche, Hollän­ Tod der Mutter und gerade 23 Jahre alt, der, Engländer, Schotten und Franzo­ brach Peter mit seiner merkwürdig lan­ sen - hatte schon Iwan IV. im 16. Jahr­ ge gespielten Rolle als Handwerker und hundert nach Russland geholt: Söldner, Hobby-Segler. Bündnisverpflichtungen Handwerker, Kaufleute, Ärzte, Künst­ gegenüber Venedig, Polen und dem ler. In dieser Vorstadt ging der heran­ Hause Habsburg zogen ihn in seinen wachsende Peter ein und aus, sah allen ersten Krieg. D ie türkische FestungAsow an der Mündung des Don ins Schwarze Meer wollte er erobern. Der An­ griff scheiterte - und das erst weckte Peters volle Kraft. Nun engagierte er in rasender Eile Schiffbauer und Zim­ merleute aus England, Holland und Venedig, damit sie Flussschiffe bauten für den Don und Hochseeschiffe fürs Schwarze Meer. Auch Österreichische Pioniere holte er sich und stellte eine Armee von 46 000 russischen Soldaten und 20 000 Kosaken auf die Beine. Asow kapitulierte schon im nächs­ ten Jahr, und Peter zog im Triumph in Moskau ein. Der Zar erschien in der Uniform eines deutschen Kapitäns, von keinem kirchlichen Würdenträger be­ gleitet; ein Affront also für rechtgläubi­ ge Russen. In den bewunderten Westen reiste Peter zum ersten Mal im März 1697, getarnt als Peter Michajlow in einer De­ legation von fast 300 Kammerherren, 32 P.M. HISTORY - JUNI 2022

Priestern, Ärzten, Musikern, Lakaien, dem rückständigen, trägen Volk der verharren wollten. Den Bojaren, den Soldaten und Dolmetschern. Mehr als Russen aufzuzwingen - sofort! Hochadeligen, die ihn zu seiner Heim­ vier Monate lang quartierte sich die kehr begrüßten, schnitt er sogleich mit Reisegesellschaft in Holland, dann für Schon am Tag nach seiner Heim­ eigener Hand die Bärte ab; nur ein paar dreieinhalb Monate in England ein, kehr fing er an. Weg mit den langen Würdenträger wie der Patriarch von den beiden Großmächten zur See. Hö­ Bärten, die fast alle Russen trugen - für Moskau durften den ihren behalten. hepunkt der Studienreise war für Peter sie der Ausdruck des Russenturns und Bald schwärmten Beamte als Barbiere ein Manöver der englischen Flotte. De­ der Rechtgläubigkeit, für Peter das ver­ durch die Straßen der Hauptstadt und ren Schönheit, Manövrierfähigkeit und hasste Signal, dass sie im Vorgestern rasiertenjeden Mann, den sie trafen. Segelkunst faszinierten ihn. Wenn ich nicht der Zar wäre, würde ich ein eng­ BAUSTELLE Aus dem Nichts ließ A uf das Bartverbot folgte die Klei­ lischer Admiral sein wollen, soll er ge­ der Zar die Weltstadt St. Peters­ derordnung: Kein altrussischer sagt haben. burg errichten. Manche Pläne Kaftan und kein Schafspelz zeichnete er persönlich mehr, sondern deutsche, französische Von England reiste Peter im Mai oder ungarische Mode! Bei Hofe über­ 1698 nach Wien. Auf die geplante Wei­ wachte Peter selbst die Garderobe, terfahrt nach Venedig - von wo die stol­ durch die Straßen Moskaus strichen In­ zesten Schiffe kamen - verzichtete er, spektoren, kassierten Geldstrafen und weil ihn die Nachricht ereilte, in Mos­ schnitten Überlängen ab. kau revoltierten die Strelitzen. Danach stellte er alle 560 Klöster Und so prallten im Sommer 1698 seines Reiches mit ihrem riesigen Land­ zwei Welten aufeinander: die alte, de­ besitz und fast einer Million männlicher ren Symbol die Kreml-Garde, und die Leibeigener unter Staatsaufsicht; wer neue, von der Peter voll war: Seefahrt, nunmehr Mönch werden wollte, musste Handel, Industrie! Dies alles galt es \"\"' � > J: u\"' « w \"' ::>: � u 0:: 0 z 3: .. I �\"' 0 z \":_ a_ � z >= V> 0 \" � 0 )\"'0 « \"' \"' :::; w \"' :::> � u 0:: � z B V> w \" �« z « w::;: \" 0 0: \"' v; � I u « z g a; 33

Russland die SO überschritten haben - bis dahin eine russische errichten, die Peter-und­ sollte er produktive Arbeit leisten. Paul-Festung. Der Gedanke, dass man eben auf diesem feindseligen Morast, Im August 1700 erklärte Peter der so hoch im Norden wie die Südspitze Großmacht Schweden den Krieg. Doch Grönlands, eine Stadt errichten könnte, Kar! XII., der 18-jährige schwedische Russlands Tor zur Welt, seine Haupt­ König, den alle Welt für ein Bübchen stadt sogar, eine Weltstadt vielleicht - gehalten hatte, schlug bei Narwa in Est­ der scheint Peter später gekommen zu land die an Zahl vierfach überlegenen sein, ganz klar erst 1709. Russen, wobei er auch noch deren ge­ samte Artillerie erbeutete. E s begann damit, dass Peter mehr als 80 000 Sträflinge, zwangs­ Aus der Schmach von Narwa lernte verpflichtete Bauern und schwe­ Peter mehr als aus seiner Niederlage ge­ dische Kriegsgefangene an die Newa gen die Türken fünf Jahre zuvor. Nicht kommandierte. Ganze Wälder muss­ darauf kam es an, einen raschen Sieg ten sie abholzen, um in den Sumpf die dagegenzusetzen, sondern eine Indust­ rie aufzubauen, die Russland dauerhaft ebenbürtig machen würde. Er gründete Pfähle zu rammen, die die Häuser tra­ Kapitän mit 500 Dukaten beschenkt. ein Bergbauministerium und warb im gen sollten. Dass die Zwangsarbeiter Nun musste man Baumeister und Bau­ Westen Bergwerksspezialisten an. Hüt­ zu Zehntausenden verreckten - ver­ handwerker gewinnen, sie kamen aus tenwerke galt es zu bauen, Waffenfabri­ hungert, erfroren, von Seuchen heim­ Italien, Deutschland, Holland, Frank­ ken, Tuchmanufakturen für die Unifor­ gesucht, von Stechmücken geplagt: reich. Und vor allem musste Peter, so men, Segeltuchwebereien, alles auf den Warum hätte ein Zar sich dafür inter­ sah er es, sich um alles selbst kümmern, Krieg ausgerichtet. essieren sollen? Auch gab es bei Weitem um alles! nicht genug Hacken und Schaufeln für Im östlichen Zipfel des Finnischen die armen Teufel, dafür die Knute des Hunderte von Bauskizzen von sei­ Meerbusens, im Mündungsdelta der Aufsehers, damit sie sich die Erde auch ner Hand sind erhalten, zum Teil auf Newa, eroberte Peter 1703 die dortige mit den Händen in die Jacke schaufel­ fernen Schlachtfeldern entworfen. Je­ schwedische Festung und ließ acht Ki­ ten, um sie wegzutragen. der Architekt hatte seine Pläne mit ihm lometer flussaufwärts auf einer Insel durchzusprechen, er selbst entschied Als im November 1703 das erste aus­ über Boulevards, Brunnen, Brücken ländische Handelsschiff, ein Holländer, und Grünanlagen, und natürlich ließ er in der Newa-Mündung Anker warf, um Orangenbäume aus Persien importie­ Wein und Salz auszuladen, wurde der ren und geheizte Hütten für sie bauen. 34 P.M. HISTORY - JUNI 2022

Sieger über Kar! XII. wurde er end­ Hauptstadt des Zarenreichs. Seinem Europa begann unterdessen stau­ lich auch. 1704 hatte der Zar in der Hofstaat befahl er, von Moskau nach nend auf die Metropole zu blicken, die zweiten Schlacht bei Narwa die Scharte Sankt Petersburg umzusiedeln. da im trüben Norden aus den Sümpfen von 1700 ausgewetzt, und 1709 brach­ wuchs, großzügig, ebenmäßig, voller te er bei Poltawa in der Ukraine dem Freiwillig kam allerdings kaum ei­ Pracht, von der mächtigen Newa durch­ schwedischen König eine dramatische ner: die Stadt eine lärmende Baustelle flossen. Niederlage bei. Nun schien Sankt Pe­ mit Baracken zwischen den Palästen, tersburg nicht mehr bedroht, und sein das Leben viel teurer als in Moskau, D en heiklen Zustand, dass seine Gründer, bis dahin noch mehr als mit das Wetter feuchter und düsterer; auch Hauptstadt immer noch gefähr­ seiner Stadt mit dem Krieg beschäftigt, fehlte das Hinterland mit Datschen und lich nahe an der Grenze zum konnte länger als nur ein paar Wochen Jagdrevieren. Und obendrein gab jeder, schwedischen Machtbereich lag, be­ im Jahr in ihr weilen. der an die Ostsee zog, das Signal, dass gann Peter 1713 zu ändern - er eroberte er ein Feind der Tradition, ein Lakai des Finnland. Im Jahr daraufbrach er sogar 1710 wurde der erste steinerne Pa­ Zaren sei. die schwedische Vorherrschaft zur See: last vollendet, und zum ersten Mal stell­ Bei Hangö am Ausgang des Finnischen te der Zar sein Petersburg als etwas vor, Meerbusens siegte die russische Flotte, worüber es nie einen Ukas gab: als die P.M. HISTORY - JUNI 2022 35

Russland die zur Jahrhundertwende noch kein der Mangel an Arbeitskräften. Wie all Der am schlechtesten gehorchte, einziges hochseetüchtiges Kriegsschiff die Segelschiffe bemannen, wie die Ka­ war Peters Sohn Alexej, der Zarewitsch. besessen hatte, mit überlegener Strate­ näle bauen, die Fabriken errichten, die Als Kind hatte er durchaus versucht, gie über die Schweden. Städte bevölkern? Landstreicher auf­ seinem Vater zu gefallen. Mit 18 an die greifen. Nur noch Mörder und Landes­ schwedische Front kommandiert, fühl­ Russland eine Seemacht - der Zar im verräter hinrichten - Räuber werden te er sich jedoch überfordert und er­ Rausch. 386 Schiffe wurden während begnadigt zu Brandmal, Knute und krankte lebensgefährlich. Dass er sich seiner Regierungszeit gebaut, darunter Zwangsarbeit. Die Faulen peitschen. nicht für die Flotte interessierte und das größte Kriegsschiff der Welt, mit Das ganze Leben zum Militärdienst ma­ den Ausländern in Peters Umgebung 100 Kanonen auf drei Decks bestückt. chen. misstraute, erhöhte die Spannung. Schiffe waren für Peter offensichtlich nicht nur der Schlüssel zum Welthandel Die Menschen in unserem Land sind Der Zarewitsch kränkelte, Tuber­ und zur Macht. Sie waren zugleich das wie Kinder, die ihr Alphabet nie lernen kulose wurde festgestellt, nach Karls­ Symbol einer Technik, in der jeder Zen­ werden, wenn ihr Herr sie nicht dazu bad fuhr er zur Kur. Dem Zaren musste timeter zählte, einer perfekten Orga­ zwingt, schrieb Peter in einem Manifest er als Nichtsnutz erscheinen. Von der nisation, in der jeder den Platz kannte, über die Errichtung neuer Fabriken, Thronfolge schloss Peter ihn trotzdem auf dem er zu funktionieren hatte - ja und einem Vertrauten sagte er: Wenn erst mehr als zwei Jahre später aus; der idealen Gesellschaft überhaupt: ein alle meine Untertanen gehorchen wür­ dann aber hatte Alexej kaum noch fünf gemeinsames Ziel, eine klare Befehls­ den wie mein Hund, müsste ich sie nicht Monate zu leben. struktur und für keinen eine Chance, mit der Keule prügeln. faul zu sein. In diesem Jahr, 1716, trat der Zar eine große Auslandsreise an. Zunächst Die Trägheit seiner Untertanen trieb besuchte er die Könige von Preußen den Zaren ebenso zur Verzweiflung wie und von Dänemark. In Stettin schaute 36 P.M. HISTORY - JUNI 2022

der vierjährige Kronprinz Friedrich zu ihm auf, der auch einmal der Große heißen sollte und als junger König den Zaren bewunderte. Aus Kopenhagen schickte Peter im August 1716 seinem Sohn das Ultimatum: Entscheide dich zwischen der Nachfolge und dem Klos­ ter- und besuche mich unverzüglich in Dänemark! A lexej aber floh nach Wien, er erlassen, wonach es allein im Willen desertierte sozusagen, und bat Kaiser Kar! VI. um Asyl. Peter, des regierenden Herrschers lag, seinen vor der Welt blamiert, schickte zwei Unterhändler, mit einem Brief, in dem Nachfolger zu bestimmen - aber be­ es hieß, ihn werde keine Strafe erwar­ ten, falls er nach Russland zurückkeh­ Armee rasch und effizient zu mobili­ stimmt hatte er keinen. re. Alexej willigte ein, unter der Be­ sieren. Um die enormen Kosten seiner dingung, dass er ein ungestörtes Leben Reformen finanzieren zu können, ver­ Unstreitig ist Peter der Große eine in der Nähe Moskaus führen dürfe. Im einfachte der Kaiser das Steuersystem: Januar 1718 kam er in Moskau an. Zu­ Er ordnete eine Kopfsteuer an, die am Zentralfigur der russischen Geschich­ nächst blieb er straffrei, das war ja ver­ leichtesten zu schätzen und einzutrei­ sprochen. Dann wurde er doch verhört. ben war. Nach schwedischem Vorbild te, unstreitig war er ein Beweger fast Alexej nannte Namen. Ihre Träger aber schuf er ein neues, strafferes Verwal­ beschrieb er nicht als Verschwörer, son­ tungssystem, strukturierte Zuständig­ ohnegleichen, ein Berserker des Ver­ dern als Sympathisanten - als Männer keiten neu und etablierte Kontrollin­ also, auf deren Unterstützung er rech­ stanzen. An die Stelle von Abstammung ändernwollens um jeden Preis. Nimmt nete. Peter war so erbost, dass er sein und Status trat das Leistungsprinzip. Versprechen brach und seinen Sohn man Peters Körpergröße hinzu, seine nun doch anklagen ließ. Peter der Große starb im Januar 1725 unter grässlichen Schmerzen an Hypermotorik, sein phänomenales Am ersten Tag des Prozesses be­ Urämie (Blutvergiftung durch Nieren­ kam Alexej 25 Schläge mit der Knute, versagen). Viele Russen schluchzten, handwerkliches Können, so steht er vor am zweiten nur noch 15, weil sein Ge­ noch mehr atmeten auf, die meisten zit­ sundheitszustand sich verschlechtert terten vor dem Vakuum, das plötzlich uns als ein Unikum der Schöpfung. Und hatte. Unter der Folter gestand er, wohl herrschte. Peter hatte zwar ein Statut der Wahrheit zuwider, er habe seinen seine Grausamkeiten erscheinen, wenn Vater stürzen wollen. Tage nach dem Urteil war Alexej tot - vermutlich von man die Umstände von Zeit und Ort be­ Schmerzen und Schwäche zerstört. denkt, in milderem Licht. • Im September 1721 endete nach 21 Jahren der Nordische Krieg, der an der Wolf Schneider blickt nicht nur Stelle Schwedens Russland zur Groß­ macht im Norden machte. Beim Dank­ in die Vergangenheit, sondern gottesdienst donnerten die Kanonen al­ ler 125 Schiffe der russischen Flotte auf auch in die Zukunft. Zuletzt der Newa. Der Senat verlieh dem Zaren erschien sein Öko-Manifest die Titel Vater des Vaterlands, Kaiser von ganz Russland, Peter der Große. .. Denkt endlich an die Enkel!\". Peter hatte das Zarenreich zu einer Großmacht umgebaut. Das russische Imperium war geboren. Der Zar führ­ te die lebenslange Wehrpflicht ein; die Soldaten wurden nun direkt vom Staat rekrutiert und besoldet, was Peter er­ möglichte, seine 200 000 Mann starke P.M. HISTORY - JUNI 2022 37

Russland Friedrich ]oseph •• Haass AU S LAN DE R Bis er 26 Jahre alt war, war Fried­ IN RUS SLAND rich Joseph Haass kein außer­ gewöhnlicher Arzt. ln Münster­ Manche kamen aus Abenteuerlust, manche auf eitel als Sohn eines Apothekers aufgewachsen, hatte er in Jena Einladung des Zaren: Einwanderer nach Russland und Göttingen studiert und sich in Wien zum Augenarzt ausbilden forschten, kämpften und schufen ganze Städte lassen. Doch dann empfahl ihm eine seiner Patientinnen, eine rus­ Bis heute in sische Fürstin, sich in ihrer Heimat Russland verehrt niederzulassen. Haas befolgte wird Agustin ihren Rat, ging 1806 nach Moskau de Betancourt, und erlangte dort rasch Berühmt­ General, Erfinder heit - die bis heute anhält. Sie und Architekt geht allerdings weniger auf seine aus Spanien Heilkunst zurück als auf sein sozia­ les Engagement. Vor allem für die Agustfn de Betancourt Insassen der Moskauer Gefäng­ nisse wu rde er ein leidenschaft­ Als Napoleons Armee 1812 aus Moskau abzog, lag die Stadt in Schutt und licher Fürsprecher. Haass sorgte Asche. Dass sie anschließend prächtiger wiederaufgebaut wurde als je für Hafterleichterungen und dafür, zuvor, lag auch an Agustin de Betancourt Zar Alexander I. hatte den tech­ dass die Gefangenen in weniger nisch begabten Spanier fünf Jahre zuvor in die russische Armee geholt. qualvolle Ketten gelegt wurden. Dort erwies er sich nicht nur als guter Soldat, sondern als noch besserer Dafür erfand er unter anderem die Ingenieur: Er konstruierte Kanäle, Brücken, Bahnlinien und Gebäude, die mit Leder ausgekleidete und daher heute Sehenswürdigkeiten sind, unter anderem die Moskauer Manege. hautschonendere ..Haass'sche Fes­ sel\". Als der Christ u n d Humanist 1853 starb, folgten 20000 Mos­ kauer seinem Sarg. Noch heute wird er als ..heiliger Doktor von Moskau\" verehrt, die katholische Kirche sprach ihn im Jahr 2018 sogar selig. 38 P.M. HISTORY - JUNI 2022

Zar Peter 111. ]ohn ]ames Hughes Eines der größten Dramen der russischen Geschichte spielte sich 1762 Als John Hughes 1870 nach Russ­ zwischen zwei Deutschen ab. Der Sturz Zar Peters I I I . durch seine Gattin land kam, war er 55 Jahre alt und Katharina. Seide entstammten norddeu tschem Adel, er a u s Kiel, sie aus bereits ein gestandener U nter­ Stettin; er war 14, als er Russlands Thronfolger wurde, sie war 16, als sie nehmer. ln England hatte er mit ihn heiratete. Doch die Ehe funktion ierte nicht, beide unterhielten zahllo­ Werften und Stahl ein Vermögen se Liebschaften, und als Peter 1762 einer Palastintrige zum Opfer fiel, war verdient, da bot ihm der Zar eine neben Adeligen und Militärs auch Katharina daran beteiligt. Peter wurde ganz besondere Aufgabe an: Am ermordet, Katharina regierte das Land als Zarin 34 Jahre lang in einer Schwarzen Meer waren Kohlevor­ Weise, die ihr den Beinamen ..die Große\" einbrachte. kommen entdeckt worden, und H ughes sollte sie erschließen, denn entsprechendes einheimisches Know-how gab es noch nicht. Hughes reiste mit acht Schiffen an und schuf aus dem Nichts eine gigantische Kohle- und Stahlpro­ duktion, die bis heute die Region prägt. Auch die Siedlung, die er für die Arbeiter errichten ließ, gibt es noch: Erst hieß sie Hughesowka, dann Stalino, heute ist sie als Millionenstadt Donezk bekannt. Ludwig Knoop Wäre der gebürtige Bremer Lud­ wig Knoop in England geblieben, wohin er zunächst ausgewandert war, wäre er nur einer von unzäh­ ligen Textilfabrikanten gewesen. Doch er ging nach Russland, wo es u m 1849 noch kaum Konku rrenz gab - und hatte so freie Bahn. Mehr als 100 Spinnereien und Webereien ließ er i m ganzen Land errichten und legte so den Grund­ stein nicht nur für seinen eigenen Reichtum, sondern für einen gan­ zen russischen Industriezweig. P.M. HISTORY - JUNI 2022 39

Russland Domenico Trezzini Alfred Ritter von Vacano Wäre es dort wärmer, könnte man St. Petersburg mancherorts ln Russland betrinkt man sich nur mit Wodka, für eine italienische Stadt halten. Bier gilt dort als alkoholfreies Getränk? Sicher Eigentlich kein Wunder, hatte ihr nicht, sonst wäre Altred Ritter von Vacano kaum wichtigster Architekt doch in Rom so erfolgreich gewesen. 1880 gründete der studiert und war im italienischen Österreicher in Samara eine Bierbrauerei - zwar Teil der Schweiz aufgewachsen. abgelegen in der Provinz, aber ganz modern mit Nach Russland kam er, als Peter elektrischen Kühlschränken und Eisenbahnan­ der Große ihm 1703 anbot, am schluss. Die Investition sollte sich bald auszah­ Aufbau der neuen Hauptstadt len: Vacanos Biere .. Schiguli\" und ..Wiener Lager\" mitzuwirken. Als H ofarchitekt des wurden so populär, dass Vacanos Unternehmen Zaren plante er die Festung Kron­ nach der Oktoberrevolution zwar verstaatlicht stadt, die Peter-und-Paul-Festung, wurde, Lenin persönlich ihm aber anschließend das Alexander- Newski-Kloster und die Geschäftsleitung übertragen haben soll. andere Sehenswürdigkeiten. So gab er der Stadt, die seine Heimat Unter den wachsamen wurde, das Gesicht, das sie noch Augen ihres Lehrers heute hat. Marius Petipa nimmt Tän­ zerin Anna P.a\\Äova eine anm utige Banett-Pose.ein Marius Petipa Als Marius Petipa 1847 nach St. Petersburg kam, um am Mariinski-Theater die Stelle als Erster Tänzer anzutreten, hatte er lediglich einen Ein­ Jahres-Vertrag unterschrieben. Doch der Franzose sollte 63 Jahre lang in Russland bleiben - und zum bedeutendsten Choreografen des Landes aufsteigen. Unter seiner Ägide entstanden Bearbeitungen des ..Schwa­ nensee\", des .. Nussknacker\" und der ..Tochter des Pharao\", die in die Bal­ lett-Geschichte eingingen. Mit 92 starb Petipa im Ruhestand auf der Krim, noch heute wird er als Gründervater des russischen Balletts verehrt. 40 P.M. HISTORY - JUNI 2022

Vitus Bering tionsfahrten zu erkunden. Zu klären war unter anderem die Frage, ob es eine Landbrücke zwischen Asien und Ame­ Eigentlich sollte Vitus Bering den Ruhm Russlands auf rika gab. Dazu stieß Bering mit seinen Schiffen bis nach kriegerischem Wege mehren. Zu diesem Zweck jedenfalls Alaska vor, entdeckte die nach ihm benannte Beringstraße heuerte die russische Marine den See-erfahrenen Dänen und wurde so zu einem der bedeutendsten Pioniere der im Jahr 1703 an. Und tatsächlich diente Bering dem Zaren Seefahrt. 1741 endete sein Leben mit dem Entdeckertod: zunächst in mehreren Kriegen, kämpfte unter anderem Gestrandet auf der heute nach ihm benannten Pazifikinsel gegen Schweden und Türken. Doch berühmt wurde er erst. starb er an Hunger und Entkräftung. als der Frieden kam. Nun wurde Bering nämlich beauftragt, die eisige Nordküste des russischen Reiches mit Expedi- Ferdinand von Einem �� Bonbons selbst herstellte. Die schmeckten IUDKDnAJlb. den Moskauern so gut, dass er bald eine Wenn sie das Wortpaar ..Roter Oktober\" neue Produktionsstätte brauchte. Selbstbe­ hören, läuft so manchen Russen bis heu­ wusst errichtete er seine Süßwarenfabrik im te das Wasser im Mund zusammen. Denn Zentrum der Stadt, nahe dem Kreml. Nun der Begriff ist nicht nur für die revolu­ konnte er seine Produkte im ganzen Land tionären Ereignisse aus dem Jahr 1917, anbieten, und die Russen kauften gern. sondern auch für eine Süßigkeitenmarke Sogar der Zar gehörte zu von Einems gebräuchlich. Die war schon zu Sowjet­ Kunden. Später verstaatlichten die Bol­ zeiten so populär, dass sie den Sturz des schewiken die Fabrik und gaben ihr ihren Kommunismus unbehelligt überstand. revolutionären Namen. Heute wird ..Roter Die Gründung des Unternehmens im 19. Oktober\" längst außerhalb Moskaus pro­ Jahrhundert geht auf einen Deutschen duziert - doch der Ort, an dem von Einem zurück: 1851 eröffnete der Zuckerbäcker einst seine Fabrik errichten ließ, heißt noch Ferdinand von Einem eine Konditorei immer .. Schokoladeninsel\". in Moskau, in der er Schokolade und P.M. HISTORY - JUNI 2022 41

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Russland A m 29. Mai 1812 besteigt EROBERER Der Militär N apoleon mobilisiert. 420 000 Kämpfer gehören Napoleon - Frankreichs Bonaparte ist seit 1804 Kaiser - zu der ersten Welle, die den Njemen mächtiger Kaiser und Feld­ und hat große Gebiete Europas überquert. Allein die Kavallerie zählt herr, Gebieter über halb unter seine Herrschaft gezwungen 80 000 Reiter. Auch Tausende Zivilisten Europa - in Dresden eine - Bäcker, Beamte, Angehörige - beglei­ Kutsche, um gegen Russland in den für den Übergang zu finden. Am folgen­ ten das Heer. Krieg zu ziehen. \"Nie war ein Sieg gegen den Tag setzen um zehn Uhr am Abend sie so sicher\", sagt er zu seinem Sekre­ die ersten drei Kompanien mit Booten Drei Armeen hat ZarAlexander nahe tär. In zwei Monaten, erklärt er, werde leise über den Fluss, während Pontonie­ der langen Westgrenze Russlands auf­ Zar Alexander um Frieden bitten. re beginnen, aus Schiffen und Planken gestellt, insgesamt immerhin 225 000 Brücken zu errichten. Es ist der 24. Juni, einsatzfähige Frontsoldaten. Doch der Bereits fünf Jahre zuvor hat Napo­ die Grande Armee fällt in Russland ein. Unterschied zwischen ihnen und den leon Russland in nur einer Schlacht in Truppen Napoleons könnte kaum grö­ Ostpreußen besiegt. Damals hatte Ale­ Napoleons Streitmacht ist die bis ßer sein. Frankreichs Heer gilt als das xander anschließend die Herrschaft des dahin größte der Weltgeschichte. Mehr beste Europas. Die russischen Truppen Franzosen über die eroberten Gebiete als 600 000 Mann aus seinem Herr­ dagegen rekrutieren sich vor allem aus in Europa anerkannt, hatte sich außer­ schaftsgebiet überall in Europa hat er Bauernburschen, die als Leibeigene dem einem Embargo gegen Frankreichs sklavischen Gehorsam verinnerlicht Erzrivalen England angeschlossen. haben. Der Drill ist gnadenlos. Bei Ar­ Doch inzwischen unterläuft Russland tilleriebeschuss müssen die Regimenter immer wieder die Handelssperre. Na­ aufrecht stehen bleiben. Sie sind darauf poleon will den Zaren wieder auf Linie getrimmt, fast alles zu ertragen. bringen. Für ihn ist Alexander eher ein widerspenstigerBündnispartner als ein D ie Taktik Napoleons bestand Feind. Aber er, der gefürchtetste Feld­ bislang immer darin, schnell herr des Kontinents, wird dennoch mit vorzurücken und den Feind nie­ aller militärischen Stärke vorgehen. derzumachen, bevor dieser wirklich wusste, wie ihm geschah. Doch nach­ Es ist nach Mitternacht, als die Kut­ dem die Truppen den Njemen überquert sche am 23. Juni endlich den Njemen haben, treffen sie weit und breit auf kei­ (Memel) erreicht, den Grenzfluss zu nen Gegner, denn die Russen weichen Russland. Im Morgengrauen reitet Na­ zurück. Um sie zu stellen, treibt Napo- poleon das Ufer ab, um die beste Stelle

_J_h �0�-lS=-O km Königs�erg • KÖNIGREICH )I PREUSSEN LANGER MARSCH Mehr als 2000 Kilometer legen Napoleons Soldaten auf russischem Gebiet zurück. Nur ein einziges Mal kommt es zu einer großen Schlacht: bei Borodino leon seine Armee zu Gewaltmärschen sehe Armee demAngreifer entzieht und eine große Schlacht gegen die Invaso­ an. Tagsüber steigen die Temperaturen ihn sich immer tiefer in einem verlasse­ ren vor. nun auf 36 Grad. Ortschaften mit Brun­ nen Land zu Tode marschieren lässt. nen sind rar, Teiche und Gräben enthal­ Die Kämpfe beginnen im Morgen­ ten nur abgestandenes Wasser oder sind B ald verschärfen die Russen ihre grauen des 7. September. Napoleons ausgetrocknet. Auch die Versorgung Taktik der verbrannten Erde Armee umfasst vermutlich nur noch mit Essen ist schlecht. Zahllose Kämp­ sogar noch: Sie vernichten alle knapp 130 000 einsatzfähige Männer fer sterben an Dehydrierung, an Ruhr Lebensmittel, die sie nicht mitnehmen und ist dem Gegner inzwischen zahlen­ oder Erschöpfung. Tausende halten das können, mähen das Weideland. Die mäßig unterlegen, der über gut 150 000 Marschtempo nicht durch, bleiben zu­ Straßen sind blockiert mit umgestürz­ Soldaten verfügt, außerdem über mehr rück. Viele desertieren. ten Fuhrwerken und gefällten Bäumen. Geschütze. Anfang September gelangt die russi­ Als die Armee am 28. Juli Witebsk sche Armee auf ihrem Rückzug nach Borodino wird eines der größten im Osten des heutigen Belarus er­ Borodino, dem letzten größeren Dorf Massaker seit Menschengedenken, das reicht, ist sie bereits um ein Drittel ge­ vor Moskau, mehr als 100 Kilometer blutigste Gefecht, das in napoleonischer schrumpft, ohne eine große Schlacht von der Metropole entfernt. Hier berei­ Zeit geschlagen wird. Als sich die Rus­ geschlagen zu haben. Das ist ein Krieg ten sich die Russen schließlich doch auf sen um 18 Uhr zurückziehen, haben sie neuen Typs, bei dem sich die gegneri- mehr als 45 000 Mann verloren : Tote, Verwundete und Gefangene - etwa ein

Russland Drittel ihrer Kampftruppen. Die Invaso­ Kaufleute einen siegreichen General serei versuchen die Männer der Grande ren beklagen 28 000 Mann Verlust. und überbringen als Zeichen der Unter­ Armee, so viel wie möglich an sich zu werfung die Schlüssel der Stadt. Zwei reißen, bevor es Opfer der Flammen Doch trotz seines Sieges hat Napo­ Stunden wartet er, nichts geschieht. wird. Überall laufen betrunkene Sol­ leon immer noch keine Entscheidung daten und Offiziere herum, beladen mit erlangt. Die russischen Truppen sind Schließlich erhält er die Nachricht, Beute und Proviant. Durch das Tosen allerdings massiv geschwächt, können dass der Großteil der Einwohner und der Flammen gellen die Schreie von keine Schlacht mehr wagen. Und so be­ Soldaten Moskau verlassen hat - wie Frauen, die vergewaltigt werden. schließt General Michail Kutusow, der man hört, auf Geheiß der Militärs. Of­ Oberbefehlshaber des Zaren, seine Ar­ fenbar überlassen ihm die Russen die Nach drei Tagen erst klingen die mee zu retten, indem er Moskau opfert. Stadt. Ohne Zweifel wird bald ein Ab- Brände ab. Mehr als zwei Drittel der Stadt sind zerstört. Napoleon kann die Die Russen verheeren ihr eigenes Ordnung wiederherstellen - aber er ist Land, um die Angreifer aus dem ratlos. Er hat eine bedeutende Schlacht Westen zu zermürb en gewonnen, aber den Feind nicht ver­ nichtet. Er hat das \"heilige\" Moskau, die alte Hauptstadt, in seinem Besitz. Trotz­ dem entgleitet ihm die Initiative. Am 14. September erreichen Napo­ gesandter des Zaren eintreffen und um N ach außen erweckt er den An­ leons Truppen, kaum mehr als 100 000 Frieden bitten, glaubt Napoleon. Der schein, in Moskau ausharren Mann sind es noch, eine Anhöhe vor der Kaiser bezieht Quartier in den Gemä­ und dort den Winter verbringen früheren Kapitale. Unter ihnen breitet chern des Zaren im Kreml, der Festung zu wollen. Er glaubt, das werde den sich eine der schönsten Städte der Welt direkt im Zentrum. Unterdessen frisst Druck auf Alexander erhöhen, zu ver­ aus, mit goldglänzenden Palästen, un­ sich ein Feuer durch die Kapitale - be­ handeln. Denn von einem vorteilhaften vorstellbar vielen Glockentürmen und wusst entzündet von Russen. Noch vor Friedensvertrag hängt es ab, ob sein bunt bemalten Kuppeln, auf deren Spit­ der Evakuierung der Bevölkerung hatte Rückzug am Ende in Europa als Sieg zen vergoldete Kreuze sitzen. Napoleon der Moskauer Militärgouverneur Vor­ oder Niederlage angesehen wird. Doch wundert sich, wieso ihn keine Delega­ kehrungen getroffen, Lagerhäuser so­ der Zar reagiert nicht. Langsam gehen tion empfängt. In der Regel begrüßen wie Wohnviertel in Brand zu setzen. die Vorräte zur Neige. Am 13. Oktober der Gouverneur, eine Abordnung der geht ein Schneeschauer über Moskau vornehmsten Bürger und reichsten Das Inferno ist wie ein Startsignal nieder. Und nun drängt der Kaiser, be- für Plünderungen. In einer wahren Ra- WETTERG EWALT Als der Winter einbricht, setzen Käl­ te und Hunger Napoleons Armee tödlich zu (Übergang über die Beresina)

sorgt wegen des kommenden Winters, BLUTBAD Die Invasoren gewinnen die Schlacht bei Borodino, das heftigste militäri­ doch zum Aufbruch. sche Gefecht jener Zeit. Doch noch ist der Krieg nicht entschieden Sechs Tage später verlässt er Mos­ bald verzehrt. Hunderte von Fuhrwer­ sodass ihr Fleisch nicht mehr zerteilt kau mit einer Armee, die weniger als ken mit dringend benötigten Vorräten werden kann. Die Hungernden begin­ 100 000 Mann zählt. Regen verwandelt müssen zurückgelassen werden, weil nen gesunden Tieren Teile aus dem die Straße bald in Schlamm. Mehr und die Pferde verenden. Ihren Hunger ver­ Körper zu schneiden, ihnen die Venen mehr Wagen müssen zurückgelassen suchen die Soldaten mit dem Fleisch aufzutrennen und das Blut zu trinken. werden. In der Nacht zum 23. Oktober der Tiere zu stillen. Bald schon über­ hören die Einheiten, die sich noch nahe steigt das Leid im Heerzug die Strapa­ Immer mehr wird der Rückzug zur Moskau befinden, das Grollen explo­ zen des Hinweges. Tausende sterben an Flucht. Es wäre für General Kutusow - dierender Sprengsätze - Napoleon hat mangelnder Ernährung, Erschöpfung, dessen Armee den Invasoren folgt - in­ der Nachhut befohlen, den Kreml in die Unterkühlung. zwischen leicht, die Reste der napoleo­ Luft zu sprengen. Da jedoch viele Zün­ nischen Truppen zu vernichten; doch er der versagen, wird die Festung, trotz Die Temperaturen sinken auf bis zu überlässt es dem Mangel, den Krankhei­ großer Schäden, nicht zerstört. minus 25 Grad. Binnen Minuten frieren ten und auch dem Hass der ansässigen die Körper sterbender Pferde steinhart, Bauern, den Feind weiter aufzureiben. Napoleon ist nun nicht mehr Jäger, sondern Gejagter. Kosaken, die schnel­ len russischen Reiterkrieger, haben die Order, den Feind Tag und Nacht zu stö­ ren, ihm keinen Schlaf zu gönnen und ihm keine Gelegenheit zu lassen, Le­ bensmittel zu beschaffen. Der Abstand zwischen Kolonnenspitze und Nachhut beträgt mitunter mehr als 100 Kilome­ ter. Wer zu weit zurückbleibt, fällt den Attacken der Kosaken zum Opfer A m 6. November beginnt es wie­ der zu schneien. In der Nacht erfrieren die ersten Soldaten. Die Essensrationen aus Moskau sind

ter zeigt minus 30 Grad. Viele Soldaten ertragen Hunger und Kälte nicht mehr und erschießen sich. Andere essen so­ gar Menschenfleisch, wie viele Kriegs­ teilnehmer bestätigen. Die einst so stol­ ze Streitmacht ist nur noch ein wüster Haufen zerlumpter und ausgehungerter Menschen, die allein der nackte Überle­ benswille vorwärtstreibt. LEIDENSWEG Der Rückzug von Napoleons Truppen wird zur verzweifelten, opfer­ A m 3. Dezember verfasst Napo­ reichen Flucht. Auf beiden Seiten sterben insgesamt eine Million Menschen leon einen Bericht für die Hei­ mat, in dem er die Ereignisse des Ende November erreichen die Fran­ mit Pferden und Fahrzeugen darauf Rückzugs schildert. Der Text gibt nicht zosen den Fluss Beresina, auf dem dicke warten, endlich den Strom überqueren die ganze Wahrheit wieder, lässt aber Schollen treiben. Unter Einsatz ihres zu können. Einen weiteren Tag später keinen Zweifel am Ausmaß der Nieder­ Lebens beginnen Pontoniere, die bis zu brennen die Brücken: Napoleons Sol­ lage. Doch es ist auch ein Propagan­ den Schultern im Wasser stehen, zwei daten haben sie angezündet, um dem dastück, das eine Legende in die Welt Behelfsbrücken zu bauen. Im Morgen­ Feind die Verfolgung unmöglich zu ma­ setzt: Es schiebt das Desaster allein auf grauen des 27. November beginnt die chen. Für Tausende Menschen aus dem den extremen russischen Winter. Garde ihren Übergang, dann geht der Tross, die nun zurückbleiben - Frauen, Kaiser mit seinem Stab und Hofstaat. Kinder, Kranke, Verwundete, Erschöpf­ Am Abend des 5. Dezember ruft der te -, ist es das sichere Todesurteil. Kaiser seine Marschälle zusammen. Am nächsten Tag tauchen plötzlich Sein Befehl lautet: Wilna (Vilnius) er­ russische Soldaten auf und beschießen Doch die entsetzlichsten Tage des reichen und die Stadt halten. Dort wer­ die Brücken und das östliche Flussufer, Rückzugs kommen noch. Ein heftiger de die Armee gut gefüllte Magazine wo noch immer Tausende Menschen Schneesturm hebt an, das Thermome- finden und könne ihr Winterquartier beziehen. Von Wilna aus solle im kom­ menden Jahr eine neue Offensive gegen Russland beginnen. Gegen 22 Uhr steigt Napoleon in seine Kutsche und fährt in die Dunkelheit davon, Richtung Paris.