Hartmut B. Rücker, geboren 1968, verbrachte seine Jugend als ältestes von drei Kindern in Mödling bei Wien. Nach der Matura (Abitur) begann er seine berufliche Karriere als Compliance Officer in einer großen öster- reichischen Bank. Er lebt in Guntramsdorf, ist verheiratet und Vater einer Tochter. Von Hartmut B. Rücker sind bereits zwei weitere Romane erschienen: Peter und der Regenbogen und Clowns der Straße.
Hartmut B. Rücker Der Herr der Spiegel DAKAMI
Besuchen Sie uns im Internet: www.dakami-buch.de Veröffentlicht bei DAKAMI Daniela Kayser, Katharina Musial-Buske, Mirko Seeling GbR, Gelnhausen Copyright © by Hartmut B. Rücker Copyright © 2016 dieser Ausgabe by Daniela Kayser, Katharina Musial-Buske, Mirko Seeling GbR, Gelnhausen Druck und Bindung: Heimdall, Rheine Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier Printed in Germany 2016 ISBN: 978-3-946881-02-5
Meinem Vater zum Gedenken 5
Morgen
Bin ich ein Feigling? Bin ich ein Zauderer? Bin ich ein Realitätsverweigerer? Es gibt Augenblicke, da nenne ich mich selbst so. Da weiß ich ohne den letzten Zweifel, dass ich eine falsche Entschei- dung getroffen habe. In diesen Augenblicken bereue ich mei- ne Entscheidung. Will sie ungeschehen machen. Doch es sind nur Augenblicke. Ein Windhauch, der meine Gedanken streift und sich wieder in Luft auflöst. Ein Schatten, dem ich nur kurz nachschaue, der meine trüben Augen nur kurz den Blick verän- dern lässt. Ein Déjà-vu. Denn Tatsache ist, ich konnte nicht anders. Würde noch ein- mal so handeln, selbst im Wissen, dass es falsch gewesen ist. Ich sitze hier und warte. Vor mir, einem Fernsehapparat gleich, dessen Sendezeit längst schon vorüber ist, der Spiegel. Ich starre ihn an. Wie lange schon? Ich weiß es nicht. Ich zähle die Tage und Nächte nicht mehr. Sie haben keine Bedeutung für mich. Ein Gespenst. Ich bin ein Gespenst. Mich gibt es nicht. Nicht mehr. Ich bin aus der Welt entschwunden und eingetaucht in meine ganz persönliche Welt. Diese Welt besteht aus einem Raum, einem Tisch und vierundzwanzig Stühlen. Niemand weiß, dass es ihn gibt. Fast niemand. Hin und wieder erscheint Heinrich, um mich mit Essen zu ver- sorgen oder die Bibliothek zu besuchen. Erscheint mir der Schlaf eine willkommene Abwechslung, die ich nie erreichen werde, so muss ich doch essen und trinken, um meine notwendigsten Körperfunktionen aufrechtzuerhalten – und um vielleicht eines Tages den Kampf meines Lebens zu führen. Heinrich ist der Einzige, dem ich erlaube, mir nahe zu sein. Heinrich. Mein Sohn. Mein Ein und Alles. Mein Anker. Des- sen Leben ich zerstört habe. Und warum? Aus purem Egoismus? 8
Aus Angst? Weil er einfach da war, als ich ihn brauchte? Ich verfluche den Tag, die Stunde, den Augenblick, als er damals … Jedes Mal, wenn ich Schritte höre, beginnt mein Herz wie ra- send zu schlagen. Ich frage dann: „Bist du es, Bruder?“ Jedes Mal erreicht mich zu meiner Erleichterung die Antwort: „Nein, Vater. Ich bin es nur, Heinrich.“ Dann sinke ich beruhigt in den Stuhl zurück und wünsche mir sehnlichst das Ende herbei. ER ist immer noch dort und ich weiß, ER kann nicht heraus. ER kann mich nicht überraschen. Solange ich hier sitze und warte. Dennoch die Frage: Habe ich etwas vergessen? Habe ich sie wirklich alle zerstört? Ist keiner übrig geblieben? Vor mir liegt die Pistole und ich weiß immer noch nicht, ob ich sie benutzen werde. Die Pistole ist alt. Nicht so alt wie ich, aber dennoch. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt funktio- niert. Vielleicht tut sie es. Vielleicht versagt sie im entscheiden- den Moment. So wie ich im entscheidenden Moment versagt habe. Ich wage nicht, die Waffe zu zerlegen. Ich habe Angst, dass genau in diesem Augenblick mein Bruder erscheint. Hie und da nehme ich sie aber in die Hand, fühle ihre Kälte, ihre Kompro- misslosigkeit. Wie leicht sie ist. Und wie schön. Mein Gesicht spiegelt sich im glänzenden Stahl des Laufes. Es ist das gleiche Gesicht, das ich jeden Tag, jede Stunde, jede Minute im Spiegel sehe. Ein altes Gesicht. Manchmal frage ich mich, ob es wirklich mein Gesicht ist, das mir entgegenblickt. Ich versuche, nicht allzu oft an Großvater zu denken. Aber in solchen Momenten fehlt er mir. Als Ansprechperson. Als Rat- geber. Es verursacht ähnliche Schmerzen wie die Gedanken an Maria und ich muss mit meiner Kraft haushalten. Wer weiß, wie lange ich hier noch sitze und warte. Um der Nachwelt meine Geschichte, die Geschichte meiner Familie, vor allem aber seine Geschichte zu hinterlassen, habe ich beschlossen, alles aufzuschreiben. Vieles weiß ich, weil ich es selbst erlebt habe, einiges hat mich Großvater gelehrt – das 9
meiste weiß ich, weil ich SEINE Tagebücher gefunden habe. ER hat sie gut versteckt. Dennoch habe ich sie gefunden. Ich glaube, es sind diese Tagebücher, die jemals Bedeutung für ihn gehabt haben. Kein Mensch, kein Ereignis, sondern Seiten aus Papier zwischen Karton geleimt. Gerne würde ich mich noch einmal mit IHM unterhalten, ein letztes Mal, bevor alles zu Ende geht. Die Bruderschaft mag es nicht mehr geben. Aber die Familie Weichselbaum gibt es noch und uns wird es geben, solange wir eine Aufgabe haben. Diese Aufgabe mag sich verändert haben. Wir mögen keine Beobachter mehr sein, Chronisten über die Jahrhunderte hinweg. Doch dafür haben wir eine neue Aufga- be erhalten. Wir, die letzten Nachkommen eines ehrbaren Ge- schlechts. Und diese Aufgabe ist IHM gewidmet. Ich sehe in den Spiegel und weiß: ER ist da. ER sitzt mir ge- genüber und sieht mich. Und genauso wie ich wartet auch ER. Wir sind wie zwei Raubtiere, die einander beobachten und auf den entscheidenden Fehler des anderen warten. Meine größte Angst ist es, eines Tages doch einzuschlafen. Oder an seiner Stelle meinen einzigen Sohn zu erschießen. Den Erben. Den Bewahrer der Traditionen. Er muss noch viel lernen. Doch er gibt sich Mühe. Die Zeit drängt. Ich spüre, dass ich bald keine Kraft mehr haben werde. 10
Gestern 11
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4713 a. C. 13
I In den Chroniken steht geschrieben: „Es geschah am 300. Tag des Jahres 4713 a. C. (oder um die Zeitrechnung der Menschen zu verwenden: am 27. Oktober 1189 a. D.) auf dem Weg in das Gelobte Land, als ein Mundschenk Friedrich Barbarossas, Kai- ser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, diesem das Leben rettete, indem er einen verirrten Pfeil während einer Jagdgesellschaft abfing, bevor dieser in der ungeschützten Brust des Erhabenen eindringen konnte, um seinem erlauchten Leben ein jähes Ende zu bereiten.“ Und weiter: „Kaiser Barbarossa war mit seinem Gefolge auf dem Weg in das Gelobte Land. Als Beschützer der christlichen Welt war es seine Pflicht, die Heilige Stadt Jerusalem von den Muselmanen zurückzufordern. Friedrich sammelte zu diesem Zweck ein gewaltiges Heer um sich, forderte von seinen Ge- folgsleuten die Lehenstreue und setzte sich in Marsch. Der Weg war weit und die Männer wollten versorgt werden während der Monate, die dieser Kreuzzug in das unbekannte Land Palästina dauern würde. Deswegen folgten dem Tross unzählige namenlo- se Diener und Leibeigene, um ihre Pflicht zu erfüllen und ihrem jammervollen Dasein seinen Sinn zu geben.“ Trotz der Aufgabe, die Friedrich Barbarossa als oberster Kriegs- herr des Okzidents übernommen hatte, wollte er auf die An- nehmlichkeiten des Lebens nicht verzichten. Nicht selten ließ er daher sein Heer öfter einen Halt einlegen, um sich und den seinen das Vergnügen der Jagd zu gönnen. Zum einen konnten sich damit seine Ritter in der Treffsicherheit mit Pfeil und Bo- gen üben, was später in der Schlacht durchaus von Vorteil sein würde, zum anderen verschmähte der Kaiser den mit der Jagd verbundenen Geschmack frisch erlegten Wildes nicht. Und so sammelten sich an einem herrlichen Tag – die Sonne stand schon hoch am Himmel – die Höflinge um ihren Kai- ser, um auf einer Anhöhe mit anzusehen, wie die besten Bogen- 14
schützen ihre Kunst demonstrierten. Die Temperaturen stiegen und machten die Leute durstig, so auch den Kaiser selbst. Der Mundschenk und mit ihm seine Gehilfen hatte alle Hände voll zu tun. Friedrich Barbarossa saß wie immer auf seinem Thron, wäh- rend die Jagdgesellschaft an ihm vorüberzog. Dabei ließ er sich Wein kredenzen und diese Aufgabe fiel dem noch jungen Gehil- fen des Mundschenks, Bleibtreu, gerade einmal sechzehn Jahre alt und ohne Eltern aufgewachsen, zu. In dem Augenblick, da der Junge nur noch wenige Meter vom Kaiser entfernt ging, sich darauf konzentrierend, nicht zu stolpern und den Wein zu ver- schütten, brach aus dem Wald ein riesiger Hirsch hervor, auf- geschreckt von den Hunden, die lärmend am Waldrand darauf warteten, endlich von den Leinen gelassen zu werden, um ihrer Bestimmung nachzugehen. Der Kaiser rief augenblicklich eine Belohnung von einem Goldstück für denjenigen aus, der ihm dieses kapitale Tier vor die Füße legen konnte. Im Nu waren die Bogen gezogen und die Pfeile angelegt. Ohne recht zu er- kennen, wohin die Schussrichtung zeigte, wohin der Hirsch in seiner Panik flüchtete, sauste ein Schwall an Pfeilen in Richtung des Kaisers, der wie angewurzelt auf seinem Thron saß und nicht glauben konnte, was gerade geschah. Während alle anderen um ihn herum der Flugbahn der Pfeile folgten, manche schon vor Schreck die Arme in die Höhe rissen oder versuchten, Deckung zu finden (unter anderem hinter Per- sonen niedrigeren Standes als man selbst), hatte Bleibtreu nur Augen für den mit Wein gefüllten Pokal. Und dann geschah, was sich der Junge in seinen schwärzesten Gedanken nicht vorzustellen gewagt hätte. Er befand sich nur noch wenige Schritte vor dem Kaiser, war gerade im Begriff, sich selbst zu loben, als er stolperte und die Katastrophe über ihn hereinzubrechen schien. Der Weinkelch begann zu kippen und die ersten Tropfen schwappten über den Rand des Gefäßes. Das durfte nicht ge- 15
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