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REFUGIEN - die persönliche Freiheit in der Isolation

Published by naomi.dutzi, 2020-08-31 03:33:38

Description: Katalog im Rahmen des Städtebau Entwerfens Erfahrungsräume im Sommersemester 2020. Betreut von Adrian Judt und Helene Schauer. Gruppenprojekt von Jennifer Kühn, Deyvi Papo, Naomi Dutzi

Keywords: architecture,urbanism,hideaway

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DAS REFUGIUM die persönliche Freiheit in der Isolation



ENTWERFEN ERFAHRUNGSRÄUME IM SOMMERSEMESTER 2020 Institut für Städtebau, Landschaftsarchi- tektur und Entwerfen, TU Wien bei Adrian Judt | Helene Schauer Naomi Dutzi | Jennifer Kühn | Deyvi Papo

S. 6-19 WAS MACHT EIN REFUGIUM UNAUFFÄLLIGKEIT GLEICHGÜLTIGKEIT VERBORGENHEIT AUS? unbemerkt S. 20-21 S. 52-53 S. 76-95 geduldet S. 96-97 S. 22-23 persönliche Freiheit S. 54-73 akzeptiert S. 24-49 S. 74-75 S. 20-21 umstritten S. 50.51 S . 50-51 S. 50-51

All jenen, die während des Covid bedingten Lockdowns keinen „room of one’s one“ mehr hatten, die statt der Vereinsamung dem Familienlagerkoller gegen- überstanden, die keine lebenswerten Wohnräume haben, die Ausflüchte an ihre Lieblingsorte vermisst haben, in deren Privatsphäre in unzähligen Online- meetings eingedrungen wurde, all jenen wurde die Wichtigkeit von Refugien für die eigene psychische Stabilität schmerzlich bewusst. Um die Möglichkeit zu haben abzuschalten, sich auszuklinken, abzudriften, den Regeln des Alltags zu entkommen, Kraft zu schöpfen, die Batterien aufzuladen, Muße zu finden, sich nicht messen zu müssen, nicht produktiv sein zu wollen, sich und die eigenen Gedanken zu ordnen, nicht gefallen zu müssen, eintau- chen zu können in ein besonderes Interesse, sich fallen zu lassen, zu entfliehen – dafür brauchen Menschen Refugien. Das Interesse dafür, was Refugien räumlich und nichträumlich ausmacht und wo man sie findet, hat in einem langen Prozess zu den folgenden Ergebnissen geführt, die anhand einer allgemeinen Kategorisierung, sowie anhand von ex- emplarischen Situationen erläutert werden. DAS REFUGIUM – DIE PERSÖNLICHE FREIHEIT IN DER ISOLATION Wir unterscheiden drei Arten von Refugiumsbildung, die alle als Ziel haben, eine gewisse Art der ISOLATION zu erreichen. Die UNAUFFÄLLIGKEIT schafft ein Untergehen in der Masse, eine Isolation durch Konformität. Die GLEICHGÜL- TIGKEIT hat eine isolierende Wirkung dadurch, dass sie so tut, als wäre sie in der VERBORGENHEIT, die wiederum Isolation dadurch schafft, nicht beobach- tet zu sein. Die PERSÖNLICHE FREIHEIT ist in der Unauffälligkeit sehr gering, da der Hand- lungsspielraum durch Regeln und Normen begrenzt ist. Er steigert sich in der Gleichgültigkeit, die Regeln soweit überschreiten kann, solange keine verhin- dernde Sanktionierung daraus resultiert und somit das Refugium gefährdet. In der Verborgenheit ist die persönliche Freiheit am größten, weil nur noch die eige- nen Gedanken Regeln vorgeben und selbst diese können im unbeobachteten Moment überschritten werden. Mit jeder Art der Refugiumsbildung geht eine Art der gesellschaftlichen Rezep- tion einher. AKZEPTIERT, GEDULDET, UMSTRITTEN oder UNBEMERKT. Die Einsicht aus unserer Arbeit ist, dass jede Art der Refugiumskonstitution nur mit einer Art der Rezeption einhergehen kann und die vierte Reaktion, umstritten, nicht mit dem Refugium vereinbar ist, weil eine offene Anfechtung die Qualität der Isolation und des Rückzugs verneint. Für die Frage, was ein Refugium ausmacht, haben wir sieben Kategorien un- terschieden, die wiederum sekundäre Einteilungen und deren Beschreibungen, Abhängigkeiten und Folgen unterscheiden. Unter ABGRENZUNGEN ist alles zusammengefasst, was räumliche Isolation möglich macht. Der FEHLENDE NUTZUNGSANSPRUCH kategorisiert Orte, die dafür prädestiniert sind, ange- eignet zu werden. Rekreationsorte, die typische Refugiumstätigkeiten beherber- gen, sind in NUTZUNGSKONFORMITÄT aufgelistet. UNGESTÖRTHEIT umfasst Faktoren menschlicher Präsenz. KONZENTRATION beschreibt Arten der indivi- duellen Abschottung. DOMINANZ bespricht die Rolle von Macht. ALTERNATI- VLOSIGKEIT unterscheidet Gründe für untypische Refugien. 5

visuelle & räumliche ABGRENZUNG Innenraum bauliche Einfassung massive Wand grüne Barriere undurchlässiger Zaun bedingt durchlässiger Zaun Topographie Höhe Überdachung Niveaunterschied raumbildender Baum Vorhang 6

Dunkelheit Refugium Flieh um so tiefer in dich selbst zurück, als du dich keinem recht enträtseln kannst ... Verhäng die Fenster deiner Seele mit dichtgeknüpften Alltagsphrasen! Mit lauem Lächeln stehn sie um dich her und rühren hier und tasten dort dich an – Gib acht! Bedroht sind deine Schätze von tempelschänderischen Fingern. Verbirg dich im Gewölb des Frühgewölks und in des Abends langem Schattenwurf, am liebsten aber in der Nächte hochherrlich ausgespannten Zelten. Dort wanderst du allein mit deinem Schmerz und schmückst die Erde ungestraft mit Lust, aus deines Geistes grünen Körben ein unerschöpflicher Verschwender. [Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Herausgegeben von H. O. Proskauer, Abteilung 1, Basel: Zbinden Verlag, 1971–1973. S.65] + informeller Zugang -> niedriger Geräuschpegel Be- und Abgrenzungen aller Art schaf- = sichtbegrenzend fen Räume, die reguliert betretbar und/ <- Regulierung oder nicht von überall sichtbar sind. Verbote verstärken physisch überwind- bare Grenzen und informelle Zugänge ignorieren diese. Manche Abgrenzungen können auch Schall dämpfen und somit eine zusätzli- che räumliche Qualität schaffen. <- Öffnungszeiten <- Ausblick 7

UNGESTÖRTHEIT niedrige Frequenz schnelle Passage Abgelegenheit <- Regulierung -> niedriger Geräuschpegel 8

Unbeobachtet und ungestört zu sein ist ein wichtiges Merkmal der Isolation und kann auch ohne physische Barrieren ver- wirklicht werden. 9

fehlender NUTZUNGSANSPRUCH Infrastrukturrestfläche Architekturrestfläche Brache, Leerstand, Baustelle sekundäre Erschließung Natur <- technische Installatio- <- ungepflegt <- Öffnungszeiten + Individualisierung = Wildnis = weitläufig 10

„Ordering, separating and segmenting the urban landscape leaves [Doron, G. (2008). . . . those marvellous empty zones at the gaps between the zones of activity. These gaps have no planned edge of cities, Heterotopia and the ‘dead zone’. In Dehaene function, and are often of irregular form – for example the spaces & De Cauter (Hrsg.), Heterotopia and the City (S.207). New between the industrial park and the residential neighbourhood, empty York: Routledge.] car parks, edges of shopping malls, spaces between tower blocks, between lines of transportation (highways and railways), at the edge of highways, under bridges and at river banks, and parks at night, pavements and so on. Some of these spaces can be perceived as dead zones only during certain times of the day or the year – thus temporality is another key aspect in the creation of such zones.“ Ein fehlender Nutzungsanspruch er- leichtert die Aneignung eines Ortes und der Begriff der Nutzungskonformität verschwimmt angesichts der Tatsache, dass es für viele Restflächen keine vor- gesehene Nutzung gibt. Auch die Natur erscheint vordergründig ungenutzt. Wildnis und Weitläufigkeit können dabei als besondere Qualitäten wahrgenom- men werden. 11

NUTZUNGSKONFORMITÄT Naturerholungsraum Sport- und Spielstätte Konsumationsort + Möblierung + Versorgung + Regulierung = geringer Geräuschpegel 12

„Heterotopia is a place where there is a blurring of public–private [Low S. (2008). The gated community as heterotopia. distinctions, a conceptual or physical border or boundary separating In Dehaene & De Cauter (Hrsg.), Heterotopia and the City heterotopia from everyday life, a regiment of rules and practices that (S.153). New York: Routledge.] are distinct within heterotopia and a sense of sanctuary or safe haven such that a special kind of community develops expressed in inclusi- on/exclusion or insider/outsider distinctions.“ Geplante Rekreationsorte können durch ihre gesetzliche und soziale Regulierung Einschränkungen und Refugiumsqualitä- ten gleichzeitig hervorbringen. 13

KONZENTRATION Bewusstsein visuelle Abschottung auditive Abschottung Suchtmittel = geschlossene Augen = Fokus = eingeschränktes Blickfeld = Stille = vertieft im Gespräch = Beschallung 14

Bis zu einem bestimmten Punkt kann es Refugien geben, die maßgeblich durch das eigene Bewusstsein geschaf- fen werden. Individuelle Abschottung oder bewusstseinsverändernde Drogen können dazu dienen, die notwendige Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt aufzubringen. 15

DOMINANZ Gruppendynamik Privateigentum <- Regulierung 16

„In a given society there is no general type of equilibrium between [Foucault, M. (1982). The Subject and Power. Critical Inquiry, finalized activities, systems of communication, and power relations. 8(4), (S. 787). Retrieved June 29, 2020, from www.jstor. Rather, there are diverse forms, diverse places, diverse circumstances org/stable/1343197] or occasions in which these interrelationships establish themselves according to a specific model. But there are also „blocks“ in which the adjustment of abilities, the resources of communication, and power relations constitute regulated and concerted systems.“ Die Dynamik einer Gruppe kann tem- porär bestimmte Regeln außer Kraft setzen und einen Raum schaffen, der für eine definierte Gruppe ein Refugium bildet. Ähnlich wie die Macht über und durch das Privateigentum jemandem die persönliche Freiheit gibt, dort nach den eigenen Regeln zu leben. 17

ALTERNATIVLOSIGKEIT räumliche Alternativlosigkeit sozioökon. Alternativlosigk. 18

These places, ‘left empty’, are opened to unplanned activities and [Doron, G. (2008). . . . those marvellous empty zones at the unofficial communities. From this perspective they have been places of edge of cities, Heterotopia and the ‘dead zone’. In Dehaene transgression in two ways: as spaces that cannot be utilized by hege- & De Cauter (Hrsg.), Heterotopia and the City (S.207). New monic culture and as spaces of minority groups. York: Routledge.] Da die Möglichkeit eines Rückzugs ein Grundbedürfnis ist, kann Alternativlosig- keit zu räumlich ungewöhnlich ausge- stalteten Varianten von Refugien führen. 19

UNAUFFÄL unbemerkt = VERBORG akzeptiert 20 20

LLIGKEIT In dieser Kategorie gibt es kein unbe- merktes Handeln im Refugium, da der bestimmende Faktor dann die Verbor- genheit wäre. Dasselbe gilt in umge- kehrter Form für akzeptiert. Akzeptanz setzt Kenntnis voraus, damit wechselt die Aneignung die Kategorie. GENHEIT 21

UNAUFFÄL geduldet 22

LLIGKEIT Innerhalb der Konformität gibt es keine Duldung, sondern ausschließlich Ak- zeptanz. Wenn diese Akzeptanz fehlt, braucht es die Leistung der Gleichgültig- keit, um sich ein Refugium zu schaffen. 23

UNAUFFÄL akzeptiert 24

LLIGKEIT Unauffälligkeit bedeutet in diesem Zu- sammenhang das widerspruchslose Untergehen in der Masse durch ein regel- und sozial konformes Verhal- ten. Durch diese Einschränkung kann es kaum als Raum der persönlichen Freiheit bezeichnet werden. Einen Graubereich schafft das Terrain Va- gue, an das kein Nutzungsanspruch gestellt wird und es somit auch kein nutzungskonformes Verhalten geben kann. In diesem Fall kann es unter Umständen auch zu außergewöhn- lichen Aneignungen kommen, die trotzdem akzeptiert sind. 25

Die offen unumstrittene Aneignung der Architekturrestfläche als persön- licher Vorgarten in einem stark regle- mentierten Kontext zeugt von einer durch Absprache konformen Nut- zung. Dadurch wird das Refugium unauffällig. Die Art des Rückzugs, als Rückzug in der Gartengestaltung, ist auch durch die eigene Konzentration charakterisiert. 26

Architekturrestfläche räumliche Alternativlosigkeit + Individualisierung bauliche Einfassung 27

Im Terrain Vague eines Schritt für Schritt umgenutzten ehemaligen Fabriksgeländes finden KfZ Bast- ler_innen [oder am Ende doch eher Bastler?] ihr Refugium. Mehrere Ga- ragen nebeneinander definieren und dominieren den Ort. Der Grillplatz eines Bikertreffs versteckt sich über- dacht in einer Ecke. Bezeichnend für Rückzugsorte dürfen wir im Innen- raum keine Fotos machen. Ein Teil des Refugiums bleibt also im Verbor- genen. 28

<- ungepflegt Infrastrukturrestfläche Innenraum bauliche Einfassung Überdachung + Möblierung + Versorgung Gruppendynamik 29

Camping als heterotopische Ge- genplatzierung und Refugium per se. Camping als Antithese zu Stad- torganisation und zeitgenössischer Architektur. Eingeschlossen und im Zutritt reglementiert ist es innen eine Welt für sich, in der alle glauben die persönliche Freiheit zu haben nach anderen Regeln zu leben, die doch täglich neu reproduziert längst insti- tutionalisiert sind. 30

Naturerholungsraum Konsumort + Möblierung + Versorgung massive Wand grüne Barriere = sichtbegrenzend = niedriger Geräuschpegel 31

Innerhalb der schützenden Begren- zung des Privatraums ein Refugium der Nostalgie. 32

Privateigentum grüne Barriere + Individualisierung bedingt durchlässiger Zaun + Möblierung 33

Ein flüchtiger kollektiver Paradiesgar- ten auf geschichtsträchtigem Boden im jetzt-noch bald-nicht-mehr „no man‘s land“. 34

<- ungepflegt Brache, Leerstand, Baustelle grüne Barriere = weitläufig bedingt durchlässiger Zaun 35

„Am Brunnen vor dem Tore Da steht ein Lindenbaum: Ich träumt in seinem Schatten So manchen süßen Traum.“, be- schreibt Wilhelm Müller schon in der Romantik den orts- und raumbilden- den Charakter einzelner Bäume. In Kombination mit einer niedrigen Frequenz schafft ein einziger Baum ein Refugium direkt an der Straße. 36

+ Regulierung Architekturrestfläche raumbildender Baum = niedriger Geräuschpegel niedrige Frequenz schnelle Passage = vertieft im Gespräch visuelle Abschottung = Fokus - r - m 37

Trotz eines ungewöhnlichen Stand- ortes mitten im Gewerbegebiet bie- tet dieses vorgesehene Refugium durch seine bauliche Einfassung und den angelegten Grünraum eine be- sondere Qualität. 38

Konsumort <- Regulierung bedingt durchlässiger Zaun + Möblierung Überdachung grüne Barriere + Versorgung = niedriger Geräuschpegel bauliche Einfassung 39

Hier liegen Ruhe und ewige Ruhe dicht beieinander. Wer nur den Rückzug in sich selbst sucht, findet in der starken räumlichen Fassung, der Begrünung und nah an Versor- gungsinfrastruktur einen konformen Ort des Müßiggangs. 40

Naturerholungsraum <- Regulierung bedingt durchlässiger Zaun massive Wand grüne Barriere = niedriger Geräuschpegel + Möblierung + Versorgung 41

In der Konformität des Privatbesitzes und im Schutz zweier Bäume gleich- gültig gegenüber der Situation. 42

Privateigentum grüne Barriere undurchlässiger Zaun 43

Der Mittagstisch der Arbeiter_innen liegt unumstritten in der ungenützten Grünfläche. Abgegrenzt durch Bäu- me, Zäune und die Weitläufigkeit der Anlage. 44

Natur bedingt durchlässiger Zaun raumbildender Baum 45

Bemüht aber doch von der Alter- nativlosigkeit getragen gestaltet sich dieses „Hintaus“ der Tankstelle nach vorne auf die Hauptstraße. 46

+ Möblierung Konsumort räumliche Alternativlosigkeit undurchlässiger Zaun Niveaunterschied 47

Rezept für ein nutzungskonformes Refugium: nutzlose Baulücke, Wild- nis, Möblierung 48

<- ungepflegt Brache, Leerstand, Baustelle bauliche Einfassung grüne Barriere = niedriger Geräuschpegel niedrige Frequenz 49

UGVENLREAIBCUOFHFRGÄGÜL umstritten 50 50


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