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Lettres_1964

Published by danielsoares, 2021-09-17 17:38:51

Description: Lettres_1964

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Donnerstag 15:30 • Es ist geschafft. Der Brief an die Poudrière ist fertig. Um 14 Uhr habe ich ihn zur Post gebracht, um sicher zu sein, dass er heute Nachmittag noch abgeht. Das erfordert eine Stunde Fußmarsch, tut mir gut! Jetzt sitze ich wieder am Schreibtisch, neben dem Büro des P. Pinus und erledige eingegangene Rechnungen. P. Pinus bekam gestern Abend einen Herzanfall: kaputt gearbeitet. Vielleicht war es nur ein Schwächeanfall, aber Pinus muss Obacht geben, er ist klein, dünn und nervös. Er ist äußerst aktiv, immer auf Achse. Soviel weiß ich schon. Und hier herrscht eine heiß-feuchte Temperatur. Eben Urwald, viel Nie­derschlag. Ich werde Pinus spürbar entlasten können. Ich bin kein echter Buchhalter, das wird auch nicht von mir verlangt, ich muss die Geld­trans­fers auf den Franken genau verfolgen. Die Einnahmen und die Ausgaben. Damit ist eine gewisse Diskretion verbunden, die Pinus mir zutraut. Danke sehr, ich werde versuchen, ihn nicht zu enttäuschen. Lhh023 19641225 Freitag 04:00 morgens. Weihnachtsmette. Gestern Abend, sehr spät – das scheint hier normal zu sein – zeigt uns eines der Mädchen, das als Henri Milesis Verlobte gilt, Lichtbilder von ihren Reisen. Die Dame heißt Odile, kommt aus dem Elsass und scheint die Nichte der Oberin (Mère Whisky) zu sein. Anschließend eine sehr gute Weih­nachtsplatte. • Um 24 Uhr ging ich zur Kathedrale. Sie war brechend voll mit Menschen, die Weihnachten feiern wollten. Der Bischof zelebrierte. Schade, dass die Messe sehr europäisch langweilig war, lateini­scher Choral. Was sollen die Leute damit anfangen, denen prickelt es in den Ve­nen, sie wollen singen und tanzen. Nichts dergleichen, sie mussten brav zuhören und hatten das Recht, zu zu schau­en. In dieser Messe war der Gläubige nur Zuschauer, nicht Handeln­der. Ich habe natürlich den Vorteil, dass ich die lateinischen Texte bestens kenne und verste­he. Ich komme halt von einem andern Planeten! Anschließend ein sehr gutes Essen bei und mit den Mädchen, eine Truthenne. So was hatte ich noch nicht genossen. Die Atmosphäre war heiter und angeregt, keiner hat über die Stränge geschlagen. 11:00 Frohes Fest an alle! • Die JTS haben beschlossen, mit den Mädchen zum Strand zu gehen, um dort zu picknicken. Ich ge­he mit, würde es jedoch vorziehen, in meiner Klause zu bleiben. Ich nehme das braune Tagebuch mit und dieses Blatt. Wie sieht es jetzt in der Poudrière aus? Ein festliches Mittag­essen? Nach dem Imbiss – wir haben keinen großen Hunger, da wir nach der Mitternachtsmesse ge­schlemmt haben – ist ein gemeinsamer Ausflug fällig. Etwa 30 Kilometer. Und wie es sich so ge­hört, ist ein Reifen des Landrovers krepiert. Für die Herren der Mechanik die Gelegen­heit, um ihr technisches Können und Wissen unter Beweis zu stellen. Die Mädchen standen daneben und bewunderten. Statt mich um mein Tagebuch zu kümmern, trieb ich mich mit einer Herde Kinder herum. Nur eini­ge sprachen ein wenig Französisch. Aber wir konnten ja zeichnen. Und das taten sie mit Begeister­ung. So waren wir beinahe zwei Stunden mit Zeichnen beschäftigt. Die Kinder waren aufmerksam bei der Sache. Sie schnatterten durcheinander und amüsierten sich. Ich auch! 21:00 • Hopp, ins Bett, unters Moskitonetz! Ich bin müde. Viel Bewegung, Schwimmen, neue Ein­drücke, und die ermüdende Hitze haben ihr Werk getan. Heute Abend hat es mich erwischt. Am Ende der Messe (ich bin fromm!) fiel ein zünftiges Tropengewitter über uns her. Es hör­te und hörte nicht auf. Also zwanzig Minuten im strömenden Regen nach Hause. Natürlich war ich völlig durchnässt. Noch eine Überraschung: mein Tisch

stand unter Wasser, das Brief­papier schwamm darin herum. Teresas Brief, mein Lexikon, die JTS-Blätter und Mi­lènes Weihnachtskarte hängen jetzt brav auf einem Be­sen­stiel, um zu trocknen. Das kommt davon, wenn man die Fenster nicht sorgfältig schließt. Übrigens sind die Fenster im Centre nicht verglast, sondern offen, mit schräg eingesetzten Holzla­mellen versehen, die das Wasser nach außen abtropfen lassen. Luftig und Praktisch. Man muss sie aber schließen, wenn Wind aufkommt. Lhh023 19641226 Samstag 07:00 Schön, dass nach dem Weihnachtsfest der Sonntag folgt. Ich habe so fest geschlafen, dass der Ange­lus der alten Pfarrkirche mich erst wecken musste. Diesmal kam ich mit Verspätung zur Messe, noch nicht ganz wach. • Ich bin nun seit beinahe drei Monaten in Afrika. Ich beginne die Europäer zu verstehen, die im afri­kanischen Exil keinen festen Halt finden. Sie verlieren Herz und Vernunft an eine anti­lo­pen­schlanke afrikanische Schönheit, bei der sie Wärme und Zuwendung finden. Hier, in der Fremde, spürt man stärker das Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Da kann ich von Glück reden, dass ich mei­nen Anker bei Milène ausgeworfen habe! Bei ihr finde ich den Halt, den ich nötig habe. Ein afri­kanisches Mädchen nur als Spielzeug zu benutzen, wie es sehr viele tun, das man nach einer gewis­sen Zeit wegwirft, das ist nicht mein Ding. • JTS-Wochenblätter. Während der Woche notiere ich meine Bemerkungen in eine Kladde, auf Deutsch, übersetze und kopiere sie dann auf Französisch. Die Blätter der drei letzten Wochen sind fertig, müssen aber noch kopiert werden, um sie andern JTS-Kameraden zu schicken. • Seit ich zurück bin, habe ich meine erste Katechismusstunde gegeben. Es handelt sich um eine kleine Schule, Barackenbau, zwei Klassenräume. Ich habe mit dem Lehrer Bekannt­schaft machen können: Gilbert; er hat natürlich einen afrikanischen Namen, den ich ver­gessen habe; „Sima“ und noch etwas. Ein netter junger Mann, wir werden sicher den Kon­takt vertiefen. • Wir, die JTS, haben beschlossen, drei Tage zum Cap Esterias zu fahren, wo wir uns einrichten wer­den. Da muss allerhand vorbereitet werden, Lebensmittel, un­sere Siebensachen und Moskito­netze gehen mit. Das Cap ist der äußerste Zipfel des Gabun im Atlan­tik, zwischen Meer und Wald. Eine kleine Autostunde vom Zentrum, wenn der Pfad im normalen Zustand ist. Lhh024 19641227 Sonntag 09:00 Vor dem Einschlafen, gestern Abend, machten einige, auch ich, einen kurzen Bummel entlang der Bucht. Jetzt haben wir ein einfaches Früstück eingenommen. Ich hocke auf einer Felsplatte, unter einem Ko­kos­baum, die Füße im lauwarmen Meerwasser. Jean-Claude und Jean-Louis versuchen auf einer Felsbank ein paar Fische an die Angel zu locken, - bisher ohne Erfolg.

Die Küste ist hier felsig, für Schifffahrt ungeeignet. Ich kenne da eine Erdkundelehrerin, die mit Inter­esse die Gesteinsbildungen analysieren würde – wenn sie hier wäre! Von oben nach unten: Eine Humusschicht, etwa einen Meter hoch; dann eine dünne Lage bleiches, helles Gestein; dann eine andere, die ich nicht einordnen kann; organische Sedimente, etwa 15 bis 30 cm dick. Schließ­lich 30 cm weiche anorganische (?) Sedimente, ein brü­chi­ges Konglomerat aus Muscheln und Schnecken, das in großen Fetzen abbricht. Darunter hartes Gestein, Erstarrungsgestein? Das Meer lässt die Oberfläche dieser letzten Formation frei. Ist dies der Grundsockel des Kontinents? Ich hoffe, ich habe somit Milènes Neugierde gestillt, mehr kann ich ihr nicht verkaufen. Es ist warm, auch im Schatten, Arme und Beine sind voller Stiche; wie Flohstiche, ganz winzig kleine Viecher, gegen die es kein Moskitonetz gibt. Der Salzburger Hut (den hatte ich dort gekauft) thront auf dem Kopf. Der Meeresspiegel steigt sichtlich, es ist Flut; der Niveauunterschied zwischen den Gezeiten scheint nicht sehr groß zu sein. Vor mir sitzt ein Schwarm Krabben auf dem Felsboden. Sie werden immer wieder von den Wellen überrollt. Sobald diese verebbt sind, suchen die Tierchen den Boden mit ihren zwei Vordergliedern nach Nahrung ab; mit der Flut schwappen sie in meine Richtung, Zentimeter um Zentimeter. 13:30 Das Meer zieht sich diskret zurück. Mit Gérard machte ich eine kleine Fahrt auf einem Floß, das die Jungen gebastelt haben. Beinahe hätten wir es treiben lassen müssen, wir fanden zum Staken plötz­lich keinen Grund mehr. Von dem Erdkundeunterricht, den ich in St. Wendel genossen habe, weiß ich, dass der afrikanische Kontinent steil aus dem Meer aufsteigt, weshalb die Schifffahrt im Westen des Kontinents schwierig ist. Wir erwarten P. Pinus; er wollte herkommen und die Messe lesen. • Hier sind noch zwei Burschen bei uns, die in einer von Spiritanerbrüdern (dem Orden De Langa­vants und Pinus') geleiteten Schule in Libreville Unterricht geben. Einer ist Deutsch­schweizer; er hat die Besonderheit, kein Wort Deutsch von sich zu geben. Noch einer, der Prinzipien hat und mit ihnen durchs Leben gehen will.

Aber er singt gern und – natürlich – auf Deutsch. Gestern abend zwit­scherten wir eine Reihe Lieder. Unsere kleinen Franzosen spitzten dabei erstaunt die Ohren. Unnö­tig zu bemerken, dass ich öfter am Tag mit einer Harmonika das eine oder andere Lied vor mich herspiele. Nach dem Abendessen. • Der Sonnenuntergang war wieder herrlich. Während einiger Minuten ist der Himmel ein Far­ben­meer. Inzwischen ist schwarze, lärmende Nacht über uns hereingebrochen. Am Äqua­tor ist die Däm­merung sehr kurz, sowohl morgens wie abends. Dass die Näch­te manchmal unerträg­lich laut sind, hatte ich nicht erwartet. Es ist aber so. Man hört vor allem die Grillen, die überall ihr Konzert geben. Im Wald selbst, der uns umgibt, hört man das eine oder an­dere Tier rufen oder schrei­en. Das Nachtleben hier ist pulsierend. Auch die gefürchteten In­sekten tragen das Ihre bei, denn außer stechen können sie auch surren und summen, und da sie Myriaden sind... • Die meisten JTS sind kaputt und erledigt: Sonnenbrand, Kopfschmerzen. Die Burschen sind kopfüber ins nasse Vergnügen gesprungen und müssen jetzt bezahlen. Ich fühle mich sehr wohl; ich weiß, dass man gemächlich beginnen soll. Bloß nichts überstürzen, besonders in einer Um­welt, die mir noch fremd ist. In wenigen Minuten wird das Licht ausgeschaltet. Ich werde einen kleinen erfrischenden Spa­zier­gang am Strand machen. Dort gibt es ein wenig Wind und deshalb wenig Moskitos. P. Pinus ist heute nicht gekommen. Ein Sonntag ohne Messe. Und dennoch ein Sonnentag! Lhh024 19641228 Montag 09:00 • Das Leben, das wir hier am Cap führen, ist zeitlos. Ich glaube, meine Uhr tickt nicht mehr richtig, ich ver­ges­se das Datum und sogar den Wochentag. Im Moment hocke ich am Strand. Über uns dicke Re­gen­wolken. So, wie wir aussehen, würden wir einem wohlzivilisierten Zeit­genossen einen Schreck einjagen: Unrasierte Gestalten; die Kleider, soweit vorhanden, verschmutzt und ungepflegt. Wenn man Durst hat, öffnet man mit einer Machete (übrigens Made in Belgium) eine Kokosnuß und trinkt deren Saft; eine Technik, die man erlernen muss. Jean-Claude, unser Naturbursche, holt die Nüssen von den Palmen herunter. Ich glaube es regt sich bei den meisten eine leise Sehnsucht nach dem Centre d'Appren­tiss­age und seinem Komfort. Bei mir kommt hinzu, dass ich von der Post abgeschnitten bin und Milènes letzten Brief nicht in Händen halte. Neben mir liegt „Die Sonne Satans“ (Sous le soleil de Satan) von G. Bernanos. Ich habe so viel davon gehört, jetzt wird es gelesen. Versprochen! 18:30 Am Nachmittag hat es kräftig geregnet. Ich habe gefaulenzt wie selten in meinem Leben. Das heißt, ich war voll und ganz mit Lesen beschäftigt. Nach dem Mittagessen musste allerdings das Geschirr gereinigt werden. In Meerwasser. • Die ersten zwei Teile der „Sonne Satans“ habe ich verschlungen, manches habe ich nicht recht ver­standen. Es ist ein großartiges Buch. Weshalb ich soviel lese? Um meine innere Leere und Hohlheit zu füllen. Und neugierig bin ich auch. Jetzt, während dieser freien Tage, habe ich die Muße, um mich auf das eine oder andere Buch zu konzentrieren. Und ich tu es gerne. Allerdings wird der Brief­verkehr ein wenig darunter leiden. „Sous le Soleil de Satan“ ist die Geschichte eines Priesters und Heiligen unserer Zeit. Eines Man­nes, der Vorbild des heutigen Menschen sein kann. Ich denke auch an den Roman von Graham Greene, „The Power and the Glory“. Bernanos versucht, das Wesentliche, das Ei­gent­liche des Priesters darzustellen und seinen heroischen Kampf gegen sich selbst. Es lohnt sich, darüber eine kurze Abhandlung zu schreiben. In den nächsten Tagen werde ich es wa­gen; es wird mir helfen, mir über einiges klarer zu werden.

Einige grundsätzliche Bedenken werde ich nicht los. Wo hat der Religionsgründer Jesus ei­nen Priesterstand (vom kleinen Dorfpfarrer bis zum Papst, der ja kein Priester zu sein braucht) eingesetzt? Warum also den „Priester“ so aus der Gemeinschaft der Gläubigen herausheben? Welches Sakrament hat dieser Jesus denn eingesetzt, damit Priester es verwalten? Im Neuen Testament kann ich nirgends eine Andeutung finden, dass der Prediger aus Naza­reth eine Religion gründen wollte. Das haben andere später getan: Paul und Constantin, der sogenannte Große. Greenes Roman bleibt dennoch ein Meisterwerk, auch wenn die Rolle des Priesters fiktiv ist. Hier einige Stellen, die ich auf gut Glück herausfische. Seite 54: „Freilich ist den Überlegungen und den Möglichkeiten kein Ende gesetzt, aber leben heißt vor allem: sich entscheiden. Gestehen Sie es ein, mein Freund: die alten Leute fürchten weniger den Irrtum als das Wagnis.“ Ich hoffe, in dreißig oder fünfzig Jahren erinnere ich mich an diesen Satz. Bisher sind Co­painville und JTS, Poudrière und Gabun solche Wagnis-Entscheidungen. Wird das so weiter gehen? „Nichts kann uns besser den Sinn der Freiheit geben als ein rheumatischer Anfall.“ Weiß ich noch nicht. Mal abwarten, wann und ob ich diese Erfahrung machen werde. Ist geistreich und französisch. Und könnte stimmen. Seite 62: „Alles muss neu begonnen werden, immer – bis zum Ende.“ Eine ähnliche Stelle findet sich zufällig in „Pacem in Terris“. Seite 67: „Gott bewahre mich davor, bloß die Sprache des gesunden Menschenverstandes zu sprechen: im Guten wie im Bösen ist es ratsam, ein wenig verrückt zu sein...“ Keine Angst also vor Entscheidungen, die von der Umwelt als verrückt angesehen wird. „Ver-rückt“ fällt aus dem normalen Rahmen. „Normal“ ist eh nur ein statistischer Wert. Niemand ist normal. Seite 69: „Die Heiligkeit ... ist eine Berufung. Wohin Gott Sie ruft, dorthin müssen Sie steigen, steigen oder zugrunde gehn!... Erwarten Sie keine menschliche Hilfe...“ Ohne Kommentar. Seite 75: „Er sieht wie ein Heiliger aus und trotzdem: etwas in ihm stößt ab und zwingt zur Abwehr... Ihm fehlen die Freunde...“ Seite 134: „Auch die Hölle hat ihre Klöster.“ Glaube ich gerne. Seite 141: „Jeder von uns ist irgendwie bald ein Verbrecher, bald ein Heiliger; bald wird er zum guten getrie­ben, und zwar nicht durch eine kluge Berechnung seiner Vorteile, sondern rein und einzig durch einen Aufschwung seines ganzen Wesens, hingerissen von einem Strom der Liebe, der gerade Leid und Verzicht zum Gegenstand der Begierde macht; bald wird er von der unerklärlichen Lust an der Selbsterniedrigung gequält, vom Ergötzen am Geschmack des Staubes, vom Schwindel der Tierheit befallen, seinem unbegreiflichen Heimweh... Das Gute wie das Böse wird um seiner selbst willen geliebt und befolgt.“ „Nicht also, weil es vernünftig, logisch, nützlich ist. Denn der Mensch ist mehr als ein Verstandes- und Triebwesen; er steht im Spannungsbereich von Bös und Gut, hat sich zu entscheiden für die Realität Gottes oder des Teufels. Der Mensch hat mehr als nur psychologisch-medizinisch berechenbare und zwingende Reaktionsweisen, - er steht dem Einfluss von Sünde und Gnade offen. Deshalb ist das Innerste seines Wesens und seines Lebens geheimnisvoll, für uns Menschen unergründlich. Bernanos wiederholt mit aller Eindringlichkeit oft und oft:

„Die Sünde existiert,- der Teufel existiert und hat eine wirkliche, übernatürliche Macht; aber auch die Gnade existiert, - Gott lebt.“ Hier gerate ich ins Schleudern, ich denke, dieses Thema wird mich noch oft und intensiv beschäftigen. Gott hat alles geschaffen, also auch den Teufel?! Gott ist allmächtig? Wenn der Teufel ebenfalls über Macht verfügt, ist Gott eben nicht allmächtig. Wenn mich nicht alles täuscht, hat Augustinus Hölle und Teufel „erfunden“. Heute ist das ein fester Bestandteil der katholischen Identität. Ich frage mich manchmal, was unsere Gottgläubigkeit noch wäre, wenn wir nicht an den Teufel glaubten. Wir sind fromm aus Angst vor Tod, Teufel und Hölle. Alles verwirrend. Das Leben spielt sich, wenn ich Bernanos glaube, zwischen den zwei Polen ab: Gut und Böse, schwarz und weiß, oben und unten. Ob das stimmt? Können wir überhaupt etwas über Gott aussagen??? Seite 142: „Die Arbeit, die Gott in uns tut, ist selten das, was wir erwarten. Fast immer kommt es uns so vor, als ob der Heilige Geist verkehrte Wege ginge und Zeit verlöre. Wenn das Eisen die Feile begreifen könnte, die es langsam abschleift, welche Wut wäre das und welcher Verdruss! Doch geradeso be­han­delt uns Gott. Das Leben mancher Heiliger scheint uns von schrecklicher Eintönigkeit, eine wahre Wüste.“ Sehr schön gesagt. Der Sinn ist mir zugänglich. Die Gefahr ist eben, dass Bilder benutzt wer­den, die nur einen sehr beschränkten Teil der auszudrückenden Tatsache abdecken. Vielleicht drücke ich mich schlecht aus, aber je mehr Poesie man in eine Erklärung packt, desto mehr entfernt man sich vom eigentlichen Faktum. Können wir dieses Faktum über­haupt mit un­serm Intellekt wiedergeben? Die Worte sind nur ein Versuch, etwas darzustel­len, das wir nicht fassen und darstellen können. Das Erste, was Adam unternahm, war den Dingen und Kreaturen einen Namen zu geben. Indem er ein Etikett aufklebte, glaubte er, das Objekt zu besitzen und darüber zu verfügen. „Gott“ ist ein solcher Name. Es ist Zeit, unters Moskitonetz zu kriechen. Ich schreibe dies im schwa­chen Schein der Taschen­lampe. Und die ist nicht ewig. Hinzu kommt, dass das Ungeziefer immer aufdringlicher wird. Lhh024 19641229 Dienstag 08:10 Ich bin als erster aufgestanden, mich hält es morgens nicht lang im Bett. Das ist mir im Internat und im Kloster angedrillt worden. Ich habe Geschirr gespült, meine „Toilette“ erledigt und mir sogar den Bart geschoren. Nachmittag, 13:00 Den dritten Teil der „Sonne Satans“ habe ich nun auch gelesen. Danach machte ich einen län­geren Spaziergang, von dem ich jetzt gerade zurückkomme. Die andern halten ihren Mittagsschlaf. Ich esse ein Stück Brot mit Sardinen und schreibe. Zurück zu Bernanos. Seite 154: „Aber nicht von diesen oder einem andern Bild werden die Sinne des alten Einsiedlers (Pfarrer von Lumbres, Hauptfigur des Romans) getrübt, sondern in seinem eigensinnigen, reinen Herzen er­wacht jene andere Lüsternheit, das Fieber nach Erkenntnis, das an der Schwelle von Gut und Böse die aufrichtige, nachdenkliche Menschenmutter zu Fall brachte. Erkennen, um zu vernichten, und in der Vernichtung die Erkenntnis und das Verlangen zu erneuern – o Sonne Satans! - Ver­langen nach dem NICHTS, um seiner selbst willen begehrt, abscheulich verströmendes Herz! ....“

Das geht mir unter die Haut. Der Mensch ist von Natur neugierig, er will wissen. Um die Dinge zu begreifen, zerstört er das Objekt seiner Neugierde, um es nachher neu zu schaffen. Der Mensch will Schöpfer sein, deshalb zerstört er. So ähnlich sehe ich das. Der uralte Konflikt zwischen Wissenschaft (Erkenntnis) und Religion (Erhal­ten) schimmert hier auf. Solange die Menschheit besteht, wird diese Bipolarität bestehen, meine ich. Seite 156: „Erwartet ihn gleich wieder ein neuer Kampf? Denn etwas trägt er in sich, was er nicht nennen kann: breit und schwer kauert es in seinem Herzen: seine Angst, Satan. Er weiß (der Pfarrer von Lumbres), er hat den Frieden nicht wiedergefunden. Mit ihm atmet ein anderes Wesen. Denn die Versuchung ist wie die Zeugung und das furchtbare Wachsen eines neuen Menschen im Menschen. Diese Last schleppt er in seinem Innern; er wagt sie nicht von sich zu werfen, wohin sollte er sie werfen? In ein anderes Herz. Aber der Heilige ist immer allein; zu Füßen des Kreuzes. Er hat kei­nen andern Freund.“ Bernanos muss sich sehr allein und verlassen gefühlt haben, was durchaus verständlich ist. Ich glaube tatsächlich, dass wir in den entscheidenden Momenten unseres Lebens allein sind. Ob das Kreuz uns hilft? Der persische Galgen, an dem ein verendender Mensch hängt, - soll das den Sieg Gottes über den Tod bedeuten? Seite 159: „Dieser seltsame Mann, dem so mancher seine Last auflud, besaß die Gabe des Trostes, und war selber nie getröstet... So teilte er mit vollen Händen den Frieden aus, der ihm fehlte. Seite 162: „Der alte Empörer (Satan)..., - er, dem Gott zur Verteidigung nur eine einzige, eintönige Lüge gelassen hat... Ach es ist dieselbe Lüge..., immer dieselbe Lüge: „Du wirst wissen... Du sollst wissen“ Jedes Wagnis kann fatal enden. Erkenntnis ist Wagnis. Man weiß nicht, wie es ausgehen wird. So steht die Menschheit seit jeher – und heute mehr denn je – vor dem Abgrund. Ist es nicht besser, sich dessen bewusst zu sein, als unbewusst den Schritt zuviel zu tun?! Ich kann die Angst vor dem Erkennen nicht nachvollziehen. Wissen ist die einzige Chance, - sie ist vielleicht gering – dass der Mensch sich und die Welt rettet. Hat das nicht mit der Bemer­kung des Autors (Seite 54) zu tun, dass die Alten lieber den Irrtum akzeptieren als ein Wagnis riskieren? Seite 167: „Es ist so leicht, alles Gute, was man uns nachsagt, zu glauben!“ Schön beobachtet. Seite 171: „Hüten Sie sich, die Welt ist keine gut zusammengebaute Maschine. Gott warf uns zwischen Sich und Satan als seinen letzten Wall... Ach, so hoch wir uns auch in Gebet und Liebe erheben, wir tra­gen ihn an unsere Flanken geheftet mit uns, den gräulichen, vor unermesslichem Gelächter bersten­den Begleiter!...“ Die Welt ist im Werden, auch der Mensch ist nur ein Entwurf. Angepasstes und Unange­pass­tes koexistieren und warten auf einen gangbaren Kompromiss, auf die Überlebenschance. Wir leben in der Annahme, dass alles seinen Anfang und sein Ende hat, unsere praktische Existenz lehrt uns das. Aber existiert die Zeit als absolute Dimension im Universum? Ob wir dies Frage wohl einmal beantworten können? Es wäre eine grundlegende Erkenntnis. Angst davor? Seite 175: „Merken Sie sich: die Sünde dringt selten mit Gewalt in uns ein, sondern mit List... Sein Gelächter! das ist die Waffe des Fürsten der Welt. Mit jeder Lüge entschlüpft er, er nimmt alle Gesichter an, selbst unser eigenes. Er wartet nie, er hält nirgends stand. Er ist in dem Blick, der ihm trotzt, er ist in dem Mund, der ihn verneint. Er ist in der geheimnisvollen Angst, in der Selbstsicherheit und der Lustigkeit der Toren. „Fürst der Welt! Fürst der Welt!“ Wenn „das Böse“ der Fürst der Welt ist, wo ist da noch Platz für einen allmächtigen (?) Gott, der das Universum in seiner Hand hält? Irrtum, Unwissenheit, Naivität, Schwäche werden ver­selbständigt: Sünde, das Böse, Fürst und Herr der Welt. Ich kann dem nicht folgen. Seite 187: „Der Mensch am Kreuz ist nicht dazu da, um zu siegen, sondern um bis zum Tod Zeugnis abzulegen wider List, Unrecht, Gemeinheit und falschen Urteilsspruch, gegen die er Gott anruft.“

Man muss schon Theologe sein, um zu verstehen, dass und weshalb Gott sich zu Tode foltern lässt (ein toter Gott???), um seine Schöpfung zu vervollkommnen. Ich kann diese poetischen Zeilen nicht umsetzen. Wie sollen diese Wortspiele die Wirklichkeit des All­mäch­tigen wie­der­geben können? Haben wir überhaupt das Recht, Gott eine menschliche Regung zu unterstellen? Seite 195: „Es gibt im Leben nichts Köstlicheres als das Seltene und Eigentümliche, die Minute der Erwar­tung und des Vorgefühls...“ Das verstehe ich. Ist diese ängstlich-freudige Erwartung nicht das Fundament des Erkennens und der Wissenschaft? Unsere Theologie hingegen geht davon aus, dass alles Wichtige und Wesentliche bekannt ist; eine Weltsicht, in der für Erkennen und Wagen kein Platz ist. Seite 202: „Aber wer kann hoffen, den Pfarrer von Luzarnes (einen geschmeidigen, glatten, „gutgeordneten“, „untadeligen“ Priester) je zu fassen? Ernsthaft hat er nie an den Wahrheiten, die er lehrte gezwei­felt (der Glaube war ihm nie ein Problem), nur weil er nie an sich selbst gezweifelt hat, an der Un­fehl­barkeit seines Urteils...“ Diese Passage sollte man den zahlreichen „im Glauben festgewurzelten“ christlichen Amts­trä­gern ins Stammbuch schreiben. Seite 215: „Jedes schön verbrachte Leben, o Herr, legt Zeugnis ab für dich; aber das Zeugnis des Heiligen ist wie mit glühenden Zangen aus lebendigem Leib herausgerissen...“ Der Heilige tut sich Gewalt an. Wenn ich meine Kommentare überfliege, habe ich den Eindruck, dass ich mit diesen Überzeu­gun­gen oder Meinungen im Seminar keine großen Sprünge machen werde. Meine Ideen sind noch arg ver­worren, im Kloster wurde so etwas nie diskutiert, dort wurden wir mit absoluten Wahrheiten voll­ge­pumpt. Jetzt erst setzt die Verdauung bei mir ein! • Als ich vorher durch den drückend schwülen Wald marschierte, dachte ich wieder mal an die Kin­der, denen ich in meinem bisherigen Leben begegnet bin. Zuerst meine Geschwister. Aber ganz be­son­ders an die kleine Clarisse, ein bisschen atmendes Leben, das sich ruhig und vertrauensvoll wie ein kleiner Vogel in meine Hand gekuschelt hatte. Seltsam, da fällt die dicke Schicht von Grobheit, Kälte und Uninteressiertheit von mir ab; ich werde butter­weich. Deshalb verzweifele ich auch nicht (noch nicht?) an mir. Wer weiß, vielleicht – wahrscheinlich – wird die Zukunft des Kindes sehr schwer sein, wie gewohnt in Afrika. Was die runden, erstaunten Kinderaugen noch alles sehen werden! Wenn ein solches Kind an meinem Hals hängt, glaube ich die Zukunft der Welt auf den Armen zu tragen. • Am Sonntag waren hier mehrere Europäer am Strand, auch eine Familie mit vier Kindern. Den Eltern schaute das Glück aus den Augen. Ich musste ernstlich gegen ein aufkommendes Neidgefühl angehen. Es ist ja so schwer, sich am Glück der Andern zu freuen, wenn man selber noch seinen Platz im Leben sucht. Abend • Heute habe ich die zweite Giftschlange meines Lebens gesehen. Auch das gibt es hier. Kurz vor sechs Uhr machte ich einen kurzen Ausflug in die Umgebung: Wald, Strand, Meer. Eini­ge Fischer hockten auf einer Felszunge, ich unterhielt mich mit ihnen. Plötzlich entdeckte ich zwischen den Felsbrocken, die am Boden herumlagen, eine zusammengerollte Viper. Ei­nen Meter vor meinen Füßen machte sie sich aus dem Staub. Mir fuhr der Schreck in die Kno­chen, aber das Tier hatte anscheinend noch mehr Angst als ich. Um sicher zu gehen, haben wir ein Gegengift mitgebracht. Gestern brachte Jean-Louis eine Schlange mit nach Hause; er hatte sie mit fünf Schüssen aus seinem Revolver erledigt. Die Biester sind giftig. Dass Jean-Louis ein Schießeisen hatte, wuss­te ich nicht. • Ich sprach mit einem Pflanzer, einem alten Knaben zwischen 55 und 60 Jahre. Der Mann wirkte sehr würdevoll und freundlich. Das habe ich bei den Afrikanern schon oft festgestellt. Wir redeten von den Pflanzungen. Bananen rentieren sich, weil sie im Land selber verkauft wer­den können. Die Franzosen, sagte er, kümmerten

sich nur um Holz. Die vielen Kokos­plan­tagen sind praktisch für die Katz! Früher haben die Spanier die Nüsse hier an der Küste an­ge­kauft, heute kommen sie nicht mehr. Ich habe bisher gehört, der eigentliche Grund bestehe darin, dass die Gabuner in den Kokos­­pflanzungen nicht arbeiten wollen und lieber alles verfaulen lassen. Das klingt nach europä­ischem Vorurteil. Die Kokosnüsse von den Bäumen holen, ist sehr anstrengend – und sehr ge­fährlich. Euro­päer würden sich dafür sicher nicht hergeben. Ich sagte dem Papa, sie müssten, wie für den Fischfang, kleine Genossenschaften gründen. Diese könnten die Kokosnuss hier an Ort und Stelle ernten und verarbeiten, um die Produkte dann zu exportieren. Er hielt dagegen: die Franzosen zeigten an Kokos kein Interesse. An­de­re europäische Länder müssten Menschen zu ihnen schicken, die bei ihnen arbeiten wollen. Seltsam, diese Argument habe ich schon öfter gehört. „Na ja,“ sagte ich, „ihr seid jetzt selb­ständig, jetzt müsst ihr selbst mit euren Problemen fertig werden, euch organisieren. Erwar­tet nicht, dass andere das für euch tun. Eure Kinder gehen ja in die Schule, um das zu lernen. Mit Revolutionen erreicht ihr auch nichts, ihr müsst produktiv arbeiten.“ Der Gabun hatte kurz vor meiner Ankunft seine erste Palastrevolution durchlebt. Die französischen Paras ha­ben mit Waffen Ordnung in das Durcheinan­der gebracht; soweit ich weiß, gab es einen To­ten. Das ist allen Gabunern bewusst. Er hielt dagegen. Die politische Lage, sagte er, sei ja augenblicklich etwas verworren (sehr diploma­tisch ausgedrückt, finde ich). Aber es sei absolut sicher, dass alles ruhig bleiben wer­de! Diese opti­mistische Ansicht ehrt den Afrikaner, überzeugt mich aber keineswegs. Die Zu­kunft des Gabun wird nicht rosig sein, denke ich. Wir sind alle müde. Dies ist schon der dritte Abend am Meer. Wir sind eine verschworene Gruppe geworden. Am Nachmittag hat es geregnet, wir saßen zusammen, erzählten uns alles Mögliche, san­gen einige Lieder, auch deutsche. • Die Nacht ist undurchdringlich schwarz, Meer und Wald brausen von den Aktivitäten der Elemente (Tiere inclusive). Ich bin wacher denn je. Die Sinne sind gespannt, die Muskeln bereit zu Abwehr und Flucht. Der Mensch kann das Dunkel nicht durchdringen, er ist ihm ausgeliefert. Ich denke nicht, dass ich Angst habe. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich existiere. Die Kreatur in mir will überleben, durchhalten, weiterleben. Diesen Prickel habe ich bisher nur selten erlebt, das letzte Mal, als ich eine Winternacht allein im Wienerwald zubrachte; sie war heller als hier, Schnee allüberall. Die echte Natur führt uns zu uns zurück. Das ist Leben. Lhh024 19641230 Mittwoch Etwa 08:00 Ein herrlicher Morgen. Uns gehen die Nahrungsmittel aus: kein Brot mehr und der Fischfang bringt uns nicht genügend ein. Von Kokosnüssen können wir auch nicht ewig leben. Wir würden in der Tropennatur wahrscheinlich verhungern, wenn wir nicht die Annehmlichkeiten unserer Tech­no-Gesellschaft hätten. Und wir erlauben uns, auf die „Wilden“ herab zu sehen, die sich seit zigtau­send Jahren in der Wildnis etabliert und darin ihre Existenzgrundlage organisiert haben. Ich bin ein wenig aufgeregt, da ich Tino nach Libreville begleiten werde, wo er die nötigen Lebens­mittel besorgt. Bei dieser Gelegenheit hoffe ich Briefe (im Plural!) vorzufinden, auf die ich seit mehr als einer Woche verzichten musste! Mir geht es gut. Auch in der JTS-Bande fühle ich mich wohl. Fehlt eben Milènes Brief, oder mehrere! 20:30 Draußen fällt ein Tropenregen vom Himmel. Überall sprüht Regen. Die Betten sind nass und auch dieses Blatt Papier ist feucht geworden. Das ist der Charme eines Lebens in der Natur! Nun gute Nacht! Morgen haben wir Rendezvous mit der Sonne. · Lhh025

19641230 Mittwoch 20:30 Draußen fällt ein Tropenregen vom Himmel. Überall sprüht Regen. Die Betten sind nass und auch dieses Blatt Papier ist feucht geworden. Das ist der Charme eines Lebens in der Natur! Nun gute Nacht! Morgen haben wir Rendezvous mit der Sonne. 19641231 Donnerstag Etwa 09:00 Der letzte Tag des Jahres ist angebrochen. Wir haben unser Frühstück eingenommen, wie immer sehr einfach und primitiv: Brot und Sardinen. Dann ist Hausputz ange­sagt. Ich kümmere mich um das Geschirr von gestern Abend und heute Morgen. Zur Feier des Tages rasiere ich mich; das gehört vielleicht zum Ritus des letzten Jahrestages. • Mit Claude, einem der zwei Lehrer, habe ich mich soeben über die Bedeutung des Akzents auf den spanischen Wörtern gestritten. Er hat einen Spanisch-Assimil und ist schon ziemlich weit fortge­schrit­ten. Claude betont systematisch auf der vorletzten Silbe, auch wenn der Ak­zent auf der letzten steht. Schließlich hat er die Regeln nachgelesen – und etwas hinzu­ge­lernt. Er erinnert mich an einen französischen Schüler, der einige Tage bei uns in St. Wendel die Schulbank drückte. Sein Latein war „horribile“, für uns kaum verständlich. Als guter Fran­zose war er überzeugt, daß er uns beibringen musste, wie man das Latei­nische aus­spricht, nämlich den Akzent systematisch auf die letzte Silbe setzen, à la française!. Unver­ständ­lich. Sein Griechisch war eine Lachnummer. Ich glaube, der Junge ist frustriert von uns weg gegangen. Philippe, der Schweizer, hat ein paar Fotos geschossen: wir hocken am Strand, diskutieren und schau­en den Wellen nach. Nur Jean-Claude (Dols) tollt in der Brandung umher, auf Suche nach Seeigeln, die er mit Wonne aufschneidet und verspeist. Zurück zu meinen Briefen, die Zeit ist dazu günstig. Später Nachmittag. Vor einigen Stunden haben die „drei Mädchen“ von der „Immaculée Conception“ bei uns eine Stipp­visite gemacht. Bombenstimmung. Gegen Abend, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, sind sie wieder nach Hause gefahren. • Ich habe mich noch nicht in einen reinen Geist aufgelöst, trotz der Briefe. Zum Beispiel ha­be ich einen Mordshunger, und Durst kommt auch hinzu. Zunächst führe ich mir eine oder zwei Kokos­nüsse zu Gemüte, das ist gut gegen den Durst und gegen den Hunger. Da wir kein Trinkwasser mehr haben, haben wir den Saft von etwa dreißig Kokosnüssen in Fla­schen abgefüllt; das wird unser Sil­vester- und Neujahrsgetränk sein! Wenn man bedenkt, dass die zahlreichen Kokospalmen, die hier und an der gabunischen Atlantikküste stehen, aus Asien kommen und hier angepflanzt wor­den sind, hat man eine Idee, daß der Baum damals eine wichtige wirtschaftliche Rolle spielte. Heute liegen die Nüsse herrenlos in der Landschaft herum oder treiben im Meerwasser. Da die Sonne sich schickt, unterzugehen, überfallen mich hehre und tiefe Gedanken: Was wird das kommende Jahr uns bringen? Ich sage „uns“, da Milène sicher eine wichtige Rolle spielen wird. Ich würde sie gern vom alten ins neue Jahr hinübertragen, aber das macht sie sicher selber. Und auf ihre Manier. • Nun mein frommer Wunsch an Milène: Bleibe die „Naive“, die Du bist. Das passt zu Dir. Behal­te das „Vorurteil“, dass kein Mensch von Grund auf schlecht ist. Das ist die Essenz jeder Religion. Ich habe immer bewundert (und werde es wohl immer tun), wie Du zu jedem Kontakt findest und ihm eine Schwester bist. Daher Deine Popularität in der Poudrière, in Deinem Freundes­kreis und, glaube ich, in der Schule. Was mich betrifft, bin ich eher davon überzeugt, daß mein Mitmensch ein Gauner ist, und das spürt er. Natürlich hält mein Gegen­über mich seinerseits für einen Halunken. So tanzen wir manchmal um uns herum und fin­den die Tür nicht, die wir zum andern aufstoßen könnten. Bei Dir fliegen sämtliche Türe weit auf, jeder ist willkommen. • Hier fällt mir eine kleine Begebenheit aus dem Noviziat ein. Sie passt zum Thema. Mit meinem Novizenmeister, P. Much, verstand ich mich sehr gut – und ich verehrte ihn ehrlich, trotz meiner oft harschen Kritik. Wir hatten ohne Unterlass Meinungs­verschiedenheiten auszu­fechten, und das konnte Stunden dauern. Es kam sogar vor, daß wir einer Meinung waren. Trotz unserer begei­sterten

„Feindschaft“ schätzte ich sein Urteil sehr hoch ein, und er wusste das. Er hatte einen schar­fen und wachen Verstand und eine reiche Erfahrung. Eines Tages waren wir mal wieder hart aneinander geraten. Seine Analysen und Ur­teile schienen mir richtig zu sein, aber nicht seine Schlussfolgerungen. Plötzlich, mitten in der Diskussion, wurde er ganz weich, - ich erinnere mich noch sehr genau - er sah mich mit etwas Stolz und Wohlwollen an und sagte unvermittelt: „Hören Sie, Frater Heini, Sie könnten ein Mädchen glücklich machen!“ Na, so was! Ich witterte sofort Verrat und fragte ihn, ob das heißen solle, dass ich das Noviziat ver­las­sen und heiraten solle. - Er verneinte. - Ich fragte ihn, weshalb er dies denn gesagt habe, schließ­lich sei ich doch nicht ins Kloster eingetreten, um Mädchen glücklich zu machen. Dann wandten wir uns einem andern Thema zu. Das war das erste Mal in meinem kurzen Leben, dass mir jemand bescheinigte, daß ich zum Heira­ten wohl nicht ungeeignet sei. Deshalb blieb diese kleine Begebenheit in meinem Gedächtnis hängen. Im Grunde bin ich Pater Much dafür dankbar. Im Internat und im Kloster hatte ich nie die Gelegenheit, mit Mädchen – außer mei­nen vier Schwestern – Kontakt aufzunehmen. Im Gegenteil, meine Klostererzie­hung war eindeutig anti­sexuell. Alles was irgendwie wie ein Mädchen aussah, auch die Kusinen, egal, alles wurde als Gefahr für meine Priesterberufung ausgemalt. Diese Kontakte fehlten mir. Man ist am Ende tatsächlich davon überzeugt, dass man nicht fähig ist, mit einer Frau durchs Leben zu gehen, eine Familie zu gründen, eine Soli­dargemeinschaft zu bilden. • Glücklicherweise hatte ich einen gewissen Bauernsinn, wohl vom Vater ererbt. Ich erlaubte mir, regelmäßig aus dem Käfig auszubrechen. In St. Wendel waren das Fuß­mär­sche bis nach Glan- Münchweiler (Pfalz, Mamas Heimatort), verbotene Spazier­gänge mit Martin (Fisch) und Besuche auf dem Hof, wo ich mich viel mit den Pfer­den abgab. In St. Gabriel war es der regelmäßige Kon­takt mit der Familie Dorner, mit der Kinderdorffamilie (Frau Willigshofer) und zahlreiche Radtou­ren und Fuß­märsche. All dies war nicht erlaubt. Aber ich brauchte diesen Freiraum. Als ich mich in der Poudrière einnistete, tat es mir sehr gut, dass Annie (De Spiegeleer) mich in die Gesellschaft einführte. Sie behandelte mich grob und liebe­voll wie einen ihrer Brüder. Doch sehr bald merkte ich, dass ich in ihr zwar eine gute Kameradin gefunden hatte, der ich meinen Respekt nicht versagen konnte, aber eine Gesprächspartnerin war sie nicht. Sie lebte in ihrer Welt, der Malkunst und war der Poudrière verbunden. Ich ging sie alle der Reihe nach durch: Mimi, Denise, usw. usw. Keine hatte einen ausgeglichenen Charakter. Am besten passte mir Anne-Marie (Debouverie). Sie war zierlich und hübsch. Über­dies hatte sie einen Charakter aus Stahl (Germaine, die Mutter?) und einen wachen Verstand (Jules, der Vater?). Ihren Willen konnte niemand beugen, denke ich. Aller­dings steckte Anne-Marie noch in ihren Teenagerpro­blemen. Immerhin hatte ich mit ihr und Jules abgemacht, dass sie während der Ferien vier Wochen in der Schokola­defabrik in Fraulautern arbeiten und bei meiner Familie wohnen würde. Ich hatte na­tür­lich meine Hintergedanken: ich hoffte, daß sie meine Eltern und Geschwister für die Poudrière interessieren oder gar begeistern könne. Ich bin eben ständig damit beschäftigt, einen Plan, ein System auszutüfteln. Auch für diesen Plan habe ich lange und hartnäckig gekämpft, musste aber schließlich aufge­ben, weil es für meine Eltern nicht möglich war, Anne-Marie bei sich aufzunehmen. Ob das wohl so stimmt? - Wie dem auch sei, heute frage ich mich, ob Anne-Marie durchgehalten hätte; sie war noch sehr naiv, und Deutsch konnte sie auch nicht. • Dann kam plötzlich Milène in mein Leben hineingeschneit. Kein Gedanke, daß die Mittelschul­lehrerin Wilhelm sich ernsthaft in einen kleinen Studentenlümmel ver­knal­len würde, - soweit reichte meine Vorstellungskraft nicht. Eben diese Milène hat mit ihrer Mutter meine Eltern endgül­tig für die Poudrière erobert. Kapitulation am 1. November 1964. Nach Einbruch der Nacht mache ich einen kurzen Spaziergang am Strand entlang. Die Sterne sind hell am Himmel, die Luft fächelt mein Gesicht warm und weich. Der Sternenhimmel ist übrigens deutlich ver­schie­den von dem, den wir in den nördlichen Breiten kennen. Ein angenehmer Moment. Es dürfte nun 23 Uhr sein. Die Andern liegen in ihren Betten, und dies schon seit einer Stunde. Hoch lebe 1965, das in weniger als einer Stunde beginnen wird. Gute Nacht! 19650101 Freitag Etwa 08:00

Prost Neujahr! Das Baby 1965 liegt noch frisch in seiner Wickel. Mal gespannt, was aus dem Klei­nen wird. Einen Schmatzer für Milène, für das ganze lange neue Jahr. • In der Nacht war im nahen Dorf einiges los. Um 23 Uhr begann die Fete. Gesang, Männlein und Weiblein. Es waren seltsame, litaneiartige Wechselgesänge, über die ein Europäer la­chen möchte. Morgens um 5 begannen die Mannskerle zu schreien. Sie gröhlten drauf los, mit aller Gewalt, ohne Scheu. Gegen 7 Uhr hörte das auf. Zunächst kommt einem das blöd vor. Aber die Menschen haben unmittelbare Reaktionen wie Kinder oder Halbstarke: wenn sie sich freuen, schreien sie vor Freude, wenn sie trauern, tun sie es exzessiv. Sie sind natürlicher als wir, sie wagen es. Unsere Jodler sind ja nichts anderes, nur etwas raffinierter, kodierter, „kultivierter“. Trotz Technik und Zivilisation (na ja, die europäische, unsere!) leben die Afrikaner ihr eigenes Leben, das für uns nur schwer zugänglich und verständlich ist. Eben ist eine Frau aus dem Dorf hier vorbeigekommen. Sie sang laut und ohne Scheu, hielt kurz inne, um uns einen guten Tag und ein glückliches neues Jahr zu wünschen. Dann ging sie singend weiter. Sie war eindeutig nicht betrunken oder übermüdet. • Der Fischer, mit dem ich vor einigen Tagen gesprochen habe, ist ein interessanter Mann. Als der Abbé Honnet im Herbst (ich war noch nicht nach Lambarene umgezogen) in Libreville war, feierten wir die Messe hier am Kap. Dazu hatten wir die Leute aus der Umgebung eingeladen. Auch der Fischer kam. Vor einer Woche sahen wir ihn zum erstenmal wieder. Jean-Louis hatte irgendwo von einem Bana­nenbaum „Saubananen“ geholt, ohne zu wissen, daß es eine Plantage war, in der er nichts zu suchen hatte. Der Mann protestierte unmittelbar, aber die Sache war schnell geregelt. Er sagte uns, wenn wir nor­male Europäer wären, müssten wir die Bananen bezahlen. Da wir aber zur Mission gehörten und da­mals hier die Messe gefeiert hatten, überließ er sie uns kostenlos. Gestern Abend ist der Fischer bei uns vorbei gekommen. Ein Neffe hatte ihm im Nachbar­dorf eine Flasche „pinard“, billigen Wein gegeben, um Neujahr zu feiern. Er ist der Chef seiner Großfamilie (Clan), 72 Jahre alt, ein gesegnetes Alter. Er hat uns die Erlaubnis ge­geben, in seinem Distrikt zu machen, wozu wir Lust hatten. Er deckt uns. Nett von ihm. Er gehört zu einem Stamm („race“), der im Gabun selten ist; der Großteil lebt in Spanisch-Guinea. Er geht mit seinem Segelboot auf Fischfang. Augenblicklich ist das Schiffchen bei den Verwandten in Spanisch-Guinea. Bei gutem Wind braucht man etwa acht Stunden bis dorthin. Er sagte uns, wir bräuchten keine Angst zu haben. In Libreville hingegen sei über die Fei­ertage Mord und Totschlag. Er warnte uns besonders vor einem Stamm, der aus dem Inneren des Landes komme und aus lauter Mördern bestehe! Sein Stamm hingegen sei anständig und tue niemandem etwas zuleide. Stammesfehden sind also weiterhin programmiert. Der Fischer sagte uns auch, er kenne den Bischof Adams von Libreville. Beide seien gute Freunde. Er selbst sei zwar kein 100-prozentiger Christ, könne aber von sich sagen, daß er Katholik sei. - Da kenne sich einer aus! Was ist er denn? Wie alle Afrikaner ist er ein gebo­rener Diplomat; er will es mit niemandem verderben. Eines steht fest, der alte Herr macht einen vornehmen und gebildeten Eindruck; es ist angenehm, sich mit ihm zu unterhalten. Seit einer halben Stunde ist in einem Dorf das Singen und Schreien in voller Lautstärke im Gange. Man hört besonders die Frauen heraus. Einfach toll, wie die ihre Gefühle äußern; sie können stun­denlang schreien und singen, - einfach sich freuen. Jetzt gehe ich schwimmen. Es ist Ebbe. Der Tag scheint schön zu werden. · Lhh025 19641231 Donnerstag Etwa 09:00 Der letzte Tag des Jahres ist angebrochen. Wir haben unser Frühstück eingenommen, wie immer sehr einfach und primitiv: Brot und Sardinen. Dann ist Hausputz ange­sagt. Ich kümmere mich um das Geschirr von gestern Abend und heute Morgen. Zur Feier des Tages rasiere ich mich; das gehört vielleicht zum Ritus des letzten Jahrestages.

• Mit Claude, einem der zwei Lehrer, habe ich mich soeben über die Bedeutung des Akzents auf den spanischen Wörtern gestritten. Er hat einen Spanisch-Assimil und ist schon ziemlich weit fortge­schrit­ten. Claude betont systematisch auf der vorletzten Silbe, auch wenn der Ak­zent auf der letzten steht. Schließlich hat er die Regeln nachgelesen – und etwas hinzu­ge­lernt. Er erinnert mich an einen französischen Schüler, der einige Tage bei uns in St. Wendel die Schulbank drückte. Sein Latein war „horribile“, für uns kaum verständlich. Als guter Fran­zose war er überzeugt, daß er uns beibringen musste, wie man das Latei­nische aus­spricht, nämlich den Akzent systematisch auf die letzte Silbe setzen, à la française!. Unver­ständ­lich. Sein Griechisch war eine Lachnummer. Ich glaube, der Junge ist frustriert von uns weg gegangen. Philippe, der Schweizer, hat ein paar Fotos geschossen: wir hocken am Strand, diskutieren und schau­en den Wellen nach. Nur Jean-Claude (Dols) tollt in der Brandung umher, auf Suche nach Seeigeln, die er mit Wonne aufschneidet und verspeist. Zurück zu meinen Briefen, die Zeit ist dazu günstig. Später Nachmittag. Vor einigen Stunden haben die „drei Mädchen“ von der „Immaculée Conception“ bei uns eine Stipp­visite gemacht. Bombenstimmung. Gegen Abend, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, sind sie wieder nach Hause gefahren. • Ich habe mich noch nicht in einen reinen Geist aufgelöst, trotz der Briefe. Zum Beispiel ha­be ich einen Mordshunger, und Durst kommt auch hinzu. Zunächst führe ich mir eine oder zwei Kokos­nüsse zu Gemüte, das ist gut gegen den Durst und gegen den Hunger. Da wir kein Trinkwasser mehr haben, haben wir den Saft von etwa dreißig Kokosnüssen in Fla­schen abgefüllt; das wird unser Sil­vester- und Neujahrsgetränk sein! Wenn man bedenkt, dass die zahlreichen Kokospalmen, die hier und an der gabunischen Atlantikküste stehen, aus Asien kommen und hier angepflanzt wor­den sind, hat man eine Idee, daß der Baum damals eine wichtige wirtschaftliche Rolle spielte. Heute liegen die Nüsse herrenlos in der Landschaft herum oder treiben im Meerwasser. Da die Sonne sich schickt, unterzugehen, überfallen mich hehre und tiefe Gedanken: Was wird das kommende Jahr uns bringen? Ich sage „uns“, da Milène sicher eine wichtige Rolle spielen wird. Ich würde sie gern vom alten ins neue Jahr hinübertragen, aber das macht sie sicher selber. Und auf ihre Manier. • Mir fällt eine kleine Begebenheit aus dem Noviziat ein. Sie passt zum Thema. Mit meinem Novizenmeister, P. Much, verstand ich mich sehr gut – und ich verehrte ihn ehrlich, trotz meiner oft harschen Kritik. Wir hatten ohne Unterlass Meinungs­ver­schie­denheiten auszu­fechten, und das konnte Stunden dauern. Es kam sogar vor, dass wir einer Meinung waren. Trotz unserer begei­sterten „Feindschaft“ schätzte ich sein Urteil sehr hoch ein, und er wusste das. Er hatte einen schar­fen und wachen Verstand und eine reiche Erfahrung. Eines Tages waren wir mal wieder hart aneinander geraten. Seine Analysen und Ur­teile schienen mir richtig zu sein, aber nicht seine Schlussfolgerungen. Plötzlich, mit­ten in der Diskussion, wurde er ganz weich, - ich erinnere mich noch sehr genau - er sah mich mit etwas Stolz und Wohlwollen an und sagte unvermittelt: „Hören Sie, Fra­ter Heini, Sie könnten ein Mädchen glücklich machen!“ Na, so was! Ich witterte sofort Verrat und fragte ihn, ob das heißen solle, dass ich das Noviziat ver­las­sen und heiraten solle. - Er verneinte. - Ich fragte ihn, weshalb er dies denn gesagt habe, schließ­lich sei ich doch nicht ins Kloster eingetreten, um Mädchen glücklich zu machen. Dann wandten wir uns einem andern Thema zu. Das war das erste Mal in meinem kurzen Leben, dass mir jemand bescheinigte, dass ich zum Heira­ten wohl nicht ungeeignet sei. Deshalb blieb diese kleine Begebenheit in meinem Gedächtnis hängen. Im Grunde bin ich Pater Much dafür dankbar. Im Internat und im Kloster hatte ich nie die Gelegenheit, mit Mädchen – außer mei­nen vier Schwestern – Kontakt aufzunehmen. Im Gegenteil, meine Klostererzie­hung war eindeutig anti­sexuell. Alles was irgendwie wie ein Mädchen aussah, auch die Kusinen, egal, alles wurde als Gefahr für meine Priesterberufung ausgemalt. Diese Kontakte fehlten mir. Man ist am Ende tatsächlich davon überzeugt, dass man nicht fähig ist, mit einer Frau durchs Leben zu gehen, eine Familie zu gründen, eine Soli­dargemeinschaft zu bilden. • Glücklicherweise hatte ich einen gewissen Bauernsinn, wohl vom Vater ererbt. Ich erlaubte mir, regelmäßig aus dem Käfig auszubrechen. In St. Wendel waren das Fuß­mär­sche bis nach Glan- Münchweiler (Pfalz, Mamas Heimatort), verbotene Spazier­gänge mit Martin (Fisch) und Besuche auf dem Hof, wo ich mich viel mit den Pfer­den abgab. In St. Gabriel war es der regelmäßige Kon­takt mit der Familie Dorner, mit der Kinderdorffamilie (Frau Willigshofer) und zahlreiche Radtou­ren und Fuß­märsche. All dies war nicht erlaubt. Aber ich brauchte diesen Freiraum.

Unter den zahlreichen Mädchen gab es in der Poudrière Anne-Marie (Debouverie). Sie war zierlich und hübsch. Über­dies hatte sie einen Charakter aus Stahl (Germaine, die Mutter?) und einen wachen Verstand (Jules, der Vater?). Ihren Willen konnte niemand beugen, denke ich. Aller­dings steckte Anne-Marie noch in ihren Teenagerpro­blemen. • Dann kam plötzlich Milène in mein Leben hineingeschneit. Kein Gedanke, daß die Mittelschul­lehrerin Wilhelm sich ernsthaft in einen kleinen Studentenlümmel ver­knal­len würde, - soweit reichte meine Vorstellungskraft nicht. Eben diese Milène hat mit ihrer Mutter meine Eltern endgül­tig für die Poudrière erobert. Kapitulation am 1. November 1964. Nach Einbruch der Nacht mache ich einen kurzen Spaziergang am Strand entlang. Die Sterne sind hell am Himmel, die Luft fächelt mein Gesicht warm und weich. Der Sternenhimmel ist übrigens deutlich ver­schie­den von dem, den wir in den nördlichen Breiten kennen. Ein angenehmer Moment. Es dürfte nun 23 Uhr sein. Die andern liegen in ihren Betten, und dies schon seit einer Stunde. Hoch lebe 1965, das in weniger als einer Stunde beginnen wird.


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