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Lettres_1964

Published by danielsoares, 2021-09-17 17:38:51

Description: Lettres_1964

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· Lhh002 19640921 www.cartograf.fr In 20 Minuten (um 18:22) fährt mein Zug nach Troyes. Nach der Impfung strolchte ich um den Eiffelturm herum, lief mich müde bis zum Triumphbogen und fuhr von dort schnellstens zum Ost­bahnhof, um heißhungrig meine zwei Dop­pelschnitten zu verzehren. Nun fühle ich mich wieder als Mensch. • Eine Weltstadt wie Paris ist etwas Mörderisches: Welche Fassaden, welch ein Protz! (Der Eiffelturm gefällt mir nicht viel besser als der Brüsseler Justizpalast.) Und doch gibt es Poe­sie in dieser Steinwüste: neben der raffinierten Technik findet man überall einen leichten Hauch von Nachlässigkeit. Es ist interessant zu beobachten, wie die Bewohner sich in ihrer Stadt (im „Mittelpunkt der Welt“) bewegen. Leider fehlte mir die Zeit, um noch länger zu bleiben. Vielleicht später; ich habe den Eindruck, ich muss einige Vorurteile ablegen.

lynetravels.blogspot.com · Lhh001 19640921 Montag Der Flug nach Afrika ist beschlossen Augenblicklich hocke ich im Restaurant des Trierer Bahnhofs. Ich komme von Brüssel-Luxem­burg und warte auf den Zug nach Saarlouis - Saarbrücken. Es ist 12:30 Uhr, noch eine Stunde War­te­zeit. In der Stadt habe ich Fritten gegessen und daraufhin einen teutonischen Durst bekommen; dem ist nur mit einem Glas Bier abzuhelfen. • Mit dieser Fahrt beginnt ein Abenteuer, dessen Ausgang ich nicht vorhersagen kann: In wenigen Tagen fliege ich für ein Jahr (oder mehr?) nach Afrika, genauer, nach Libreville, Gabun. Das habe ich dem Umstand zu verdanken, dass mir Milène begegnet ist. Plötzlich stellte ich mir die Frage, ob ich in mein Kloster zurückgehen sollte. Gab es für mich eine Existenz außer der religiö­sen Gemeinschaft der SVD- Missionare (Steyler)? Wenn ja,bin ich unfähig eine definitive Entschei­dung zu treffen. Seit 1953, als dreizehnjähriger Junge, lebte ich im Kloster und war überzeugt, dass dort meine Zukunft lag. Heute habe ich Zweifel daran. Deshalb beschloss ich kurz und bündig, räum­lichen und zeitlichen Abstand zu nehmen, um mich selbst zu finden. Milène wird mich von weitem begleiten und mir helfen, wenn es brenzlig wird. • Ich wage nicht, noch nicht, an Liebe und Heirat zu denken. Ich weiß, dass Milène in der gleichen Situation steckt. In den den letzten Tagen ist allerhand auf mich eingestürzt. Die vergangene Nacht war kurz, nur drei Stunden Schlaf, - da kann man ja nicht mehr normal bleiben, so man es vorher war.

• ZWischen Milène und mir gab es in den letzten Wochen einen regen schriftlichen Austausch. Was wir uns mündlich zu sagen scheuten, vertrauten wir uns schriftlich an. Ihre Briefe stecken in meiner Jackentasche, ich habe sie gelesen, sehr aufmerksam sogar. Ich habe eine Gewissenserforschung angestellt, ob ich in den letz­ten Wochen richtig ent­schie­den und gehandelt habe. Milène bleibt in Brüssel und ich büxe aus nach Äqua­torialafrika, in ein Land, dessen Existenz ich vor ein paar Tagen noch nicht kannte. Das Ziel ist uns nicht klar: der Weg ist das Wichtige! • Ich bin glücklich mit meinem Los, zufrieden mit der Arbeit in Troyes (Copainville, Fabrik) und vor allem dass ich der Poudrière in Brüssel mit ihren zahlreichen Menschen begegnen konnte. Die Kellnerin läuft an meinem Tisch vorbei und nimmt mein Glas mit! Ich hatte doch einen kleinen Rest drin gelassen, um auf unsere Gesundheit zu trinken! Jetzt ist es 13:30 Im Zug sinniere ich weiter über die Ereignisse der letzten Tage. Hier der Rückblick. Nach dem Beschluss, dass ich ein Jahr nach Libreville fliegen sollte, purzelten die Gefühle in Kopf und Herz durcheinander. • Am Sonntagmorgen gab Milène mir das Tagebuch mit ihren „Bekenntnissen“. Wir stellten fest, dass es zwischen uns gefunkt hat, das ist mehr als eine Freundschaft. Nachmittags bei Simone (Arzt, Zuflucht aller, die Hilfe nötig haben) und ihren Eltern. Köstlich! Die sonst so heitere und lustige Milène machte einen gedämpften Eindruck; sie schien Schleier vor den Augen zu haben. Dass Papa Van Haerlem immer wieder von Heiraten sprach, war für sie sicher nicht leicht zu ertragen. Auch für mich waren es Keulenschäge, die ich mit Ironie und „Heiterkeit“ abzuwehren trachtete. Kaffee bei Milène und ihrer Mutter. Man spürte bei ihnen eine seltene Harmonie. Ich halte Madame Wilhelm für eine fabelhafte Frau. Bei ihr fühlte ich mich wirklich zu Hause. Ebenso bei Simone und ihren Eltern. Jener Nachmittag wird mir unvergesslich bleiben. In Simones Wagen heim zur Poudrière: Lachen unter Tränen. Es würgte mich manchmal im Hals, als ich daran dachte, dass ich nun wegfahren müsse; dann trat ich auf den Gashebel – ich fungierte als Schofför – oder gab irgend einen faulen Witz von mir. Nun, da ich von der Poudrière Abschied nahm, entdeckte ich sie erst recht. In dieser großen Familie habe ich erfahren, was es heißt, zu leben. Nach der Abendmesse Abschied von vielen Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind. Endlich standen wir wir beide allein in der Rue de la Poudrière, auf dem Bürgersteig. Soviel hätte ich noch sagen wollen – ich bin redselig - , aber in diesem Moment fehlten mir die Worte. Man weiß den Andern in seiner Nähe, man spürt eine Harmonie, eine innere Einheit. Worte sind hier überflüssig. Ähnlich ergeht es mir, wenn mich das Schweigen des Waldes oder eines Berggipfels anrührt. Dann bringe ich kein Wort mehr hervor. Ich kann nicht einmal ausrufen: „Wie schön!“. Ich stehe erst am Anfang einer neuen Etappe. Milène wird mich weiter begleiten müssen – und, ich glaube: wollen. Und da stellt sie sich die Frage, ob ihr Leben einen wirklichen Sinn hat! Wie viel Men­schen hat sie schon in ihrer Trostlosigkeit schon geholfen!? Sie weiß es nicht, wird es wahrscheinlich nie erfahren. • Die „Réunion de l'équipe“, die wöchentliche Versammlung der Mitglieder der Poudrière ist hart gewesen. Wenn ich hier ein Neuling wäre, wäre ich tief enttäuscht. Alles lief durchein­ander. Ein Chaos. So ist das eben: man muss ehrlich, manchmal auch hart sein, vor allem sich selbst gegenüber. Sich so sehen, wie man ist. Es tat mir weh, dass ich die Gemeinschaft verlassen sollte, denn der Père Léon und andere hatten gehofft, dass ich noch länger bleiben werde, um nach Kräften mitzuhelfen. Aber die Poudrière wird meine Heimat blei­ben. Übri­gens habe ich eine Ersatzperson gefunden: Henri geht – Milène kommt. • Anschließend, es war gegen Mitternacht, pilgerten wir zu Milou (Madame Meuter), um mei­nen Abschied zu begießen. Simone war ebenfalls von der Partie und viele andere. Man muss von etwas Abschied nehmen, um

seinen Wert zu erkennen. Wie sie alle da saßen und ange­regt diskutierten! Die verschiedensten Charaktere, Anschauungen, Temperamente! Im Alltag wird man sich dessen nicht so bewusst, aber bei außerordentlichen Gelegenheiten wie dieser spürt man es faustdick: der bunt durcheinander gewürfelte Haufen formt eine Familie. Dieser Moment gehört zu den Sternstunden in einem Menschenleben. Beim Abschied war Milou (Meuter) gerührt; sie knallte mir drei Küsse auf die Backe und schluchzte leise. Sie ist sehr leicht gerührt. Ich gab ihr ein paar zurück und war ebenfalls gerührt. Simone darf ich nicht vergessen: ein herzlicher und gefasster Abschied; ich weiß, dass ich auf sie bauen kann. Milou nahm die Gelegenheit wahr, mich noch einmal abzuschmatzen. • Auf dem Heimweg ein kurzes und inhaltsreiches Gespräch mit dem Père Léon. Er ist das Herz der Gemeinschaft. Es war eine Unterhaltung zwischen zwei Brüdern. Er bedauert ehrlich, dass ich wegfahre, ist aber vollkommen einverstanden; er hat ja auch keine andere Wahl! Zum erstenmal sprach er mir von den Plänen, die er mit mir hatte: Theologie in Mecheln (Belgien) und nach der Priesterweihe mit einer Gruppe der Poudrière nach Süd­amerika. Ich finde das gar nicht übel, hatte selbst schon mal ähnliche Vorstellungen. Aller­dings hätte Père Léon das nicht so lange in petto behalten sollen, - ich will da mitreden. Außerdem sagte er mir, dass ich den FN (alten Militärlastwagen) bekommen hätte, wenn ich geblieben wäre – als Schofför. Ich gebe zu, dass ich ein wenig stolz auf diese Ehre bin. Ich habe mich nie um etwas beworben, hielt mich immer bewusst im Hintergrund. Das ist keine Tugend, sondern eine recht effiziente Strategie! Wenn Léon der Ansicht ist, dass ich die nö­ti­gen Fähigkeiten habe, bin ich hoch erfreut. • Léon bedauerte, dass wir uns am Vorabend nicht noch länger mit Dir und Jules (Rechts­an­walt, Vater Annemaries) hatten unterhalten können. Es klang wie eine Entschuldigung. Er sagte mir wörtlich: „Milène est une chic fille!“ Milène ist also ein prima Mädchen. Da sind wir einer Meinung. Er stellte noch einige sehr gut gezielte Fragen und ich merkte, dass er etwas ganz Bestimmtes wissen wollte. • Ich sagte ihm, weshalb ich nach Afrika gehen wolle: weil ich danach ins Seminar zurück will. Ich fühle mich jedoch noch nicht in der Lage, diese Entscheidung zu treffen. - Und wie es zu dieser Entschluss gekommen sei? Ich verriet ihm, dass wir beide, Milène und Henri, die gleichen Fragen hatten – und die gleichen Antworten gefunden haben. Ich versicherte ihm, dass dieser Schritt keine Flucht sei, im Gegenteil. Père Léon zweifelt nicht an meiner Version; das beruhigt mich. Dennoch trat ein tiefes Schweigen ein. Jeder hing seinen Gedan­ken nach. Ich bat ihn um seinen Rasierapparat. Die Kehle war mir zugeschnürt, ich wollte noch soviel sagen, fand aber die Worte nicht. Wir verstanden uns – auch ohne Worte. Meine Frage: „Was sollen wir uns denn noch erzählen? Wir gehen in der selben Richtung. Also, viel Mut und auf Wiedersehen.“ Ich rasierte mich oberflächlich und gab ihm seinen Rasierapparat zurück. • Milou (Van Achter), die treue Seele, hatte schon den Kaffee vorbereitet. Um 6 Uhr morgens war er zu uns auf den Speicher gestiegen, um sich zu vergewissern, dass ich auch wach sei. - Nach dem Morgen­kaffee fuhr er mich zum Bahnhof. Dienstag Ich bin in Fraulautern, zu Hause. Der Abbé Honnet, Gründer und Leiter der Jungengruppe, die eine Art Laienapostolat führen will (JTS, Jeunes Travailleurs en Service), hat soeben lefoniert. • Morgen, Mittwoch, muss ich spätestens 14 Uhr im Institut Pasteur in Paris sein: Impfung und medizinische Kontrolle. Mein Statut: Missionnaire laïc, Laienmissionar. Das gefällt mir gar nicht. Ich möchte nicht als Missionar verkleidet in Afrika leben.

• In der Nacht vom Freitag auf Samstag, 1:00 Uhr, fliege ich dann, zusammen mit Jean-Claude Dols in einem Sonderflugzeug nach Libreville. Ankunft dort um 11 Uhr. Morgen werde ich um 8 Uhr von Saarbrücken abfahren. Ich kann mich also noch ein wenig zu Hause ausruhen. Vergiss nicht, ein Glas Wein auf eine gute Landung des Flugzeugs zu trinken. Einverstanden? DU WIRST MANCHMAL DAS ÜBERSTARKE BEDÜRFNIS HABEN, DICH BEI EINEM MENSCHEN AUSZUSPRECHEN, AUSERHALB DEN BRIEFEN, DIE DU AUF MICH LOSLÄST. TU ES BEI DEINER BESTEN FREUNDIN, DEINER MUTTER, WENN DU IHREN RAT UND IHRE HILFE NÖTIG HAST. SIE VERSTEHT DICH, DARAUF WETTE ICH. - AUCH SIMONE WIRD FÜR DICH DA SEIN. DA DU NEUGIERIG BIST, WILL ICH DIR VERRATEN, WAS MICH AUF DICH AUFMERKSAM GEMACHT HATTE: DIE KIND­LICHE LIEBE UND DANKBARKEIT, MIT DER DU AN DEINER MUTTER HÄNGST, OHNE DABEI DEINE SELB­STÄN­DIGKEIT ZU VERLIEREN; DIE EINE RESPEKTIERT DIE ANDERE. DIE UNGEKÜNSTELTE FREUDE ÜBER DEN BRIEF, DEN DU IN JUGOSLAWIEN VON DEINER MUTTER ERHIELTST. UND DIE ZUNEIGUNG FÜR DEI­NEN VERSTORBENEN VATER, WENN DU VON IHM ERZÄHLST; DAS IST MIR VOR ALLEM IN JUGOSLAWIEN AUFGEFALLEN. ABER AUCH DIE ZAHLREICHEN KLEINEN UND SCHEINBAR NEBENSÄCHLICHEN BEMERKUNGEN, IN DENEN DU DEINEN CHARAKTER ZEIGTEST. DASS DU MIR MATERIELL BEISTEHEN WILLST, FINDE ICH LIEB VON DIR – UND SELBSTVERSTÄNDLICH. IM ERNSTFALL WERDE ICH VON DIESEM ANGEBOT GEBRAUCH MACHEN, VERSPROCHEN! AUGENBLICKLICH FEHLT MIR WIRKLICH NICHTS. BELASSEN WIR ES ALSO BEI KLEINEN GESCHENKEN ZU WEIHNACHTEN ODER ANDEREN ANLÄSSEN. SCHICKE MIR, WAS DIR GEFÄLLT, EIN BUCH ETWA, VORAUSGESETZT, DASS ES NICHT ZU TEUER IST. MEINERSEITS KANN ICH DIR NICHTS BESONDERES VERSPRECHEN, AUSER DASS ICH DIR REGELMÄSIG SCHREIBEN WERDE. SCHON WEIL ES FÜR MICH EINE NOTWENDIGKEIT IST, DIES ZU TUN. EINE BITTE: DIE ZWEI KISTEN, DIE ICH BEI EUCH ABGESTELLT HABE, STEHEN OHNE DIE GERINGSTE EINSCHRÄN­KUNG ZU DEINER VERFÜGUNG. JA, ICH MÖCHTE DICH SOGAR DARUM BITTEN, DIE BRIEFE ZU LESEN. SO WIRST DU EINIGE ASPEKTE MEINER WELT KENNENLERNEN. SIE SIND NICHT AUSGEWÄHLT, - ALLE POST, DIE ICH IN BRÜSSEL ERHALTEN HABE. ALSO, WIE DU LUST UND INTERESSE HAST! DIE LEUTE DER POUDRIÈRE BAUEN AUF DICH. LION ET SA FEMME PONEY FÜHLEN SICH OFT ALLEINGELASSEN, SCHEINT MIR. IHNEN KANNST DU DURCH DEINE ANWESENHEIT WEITERHELFEN. AUCH DIE JTS HABEN DEINE HILFE NÖTIG. ICH HABE AM VORABEND MEINER ABFAHRT VON BRÜSSEL BIS DREI UHR NACHTS MIT IHNEN DISKUTIERT. ANNA, DIE ALTE JUGOSLAWIN HABE ICH AM MORGEN MEINER HEIMFAHRT GETROFFEN. WIR SIND MIT IHR UND MIO, IHREM MANN, FREUNDE GEWORDEN. SIE HAT SICH NOCH EINMAL ENTSCHUL­DIGT, DASS IHR MIO BETRUNKEN GEWESEN WAR, ALS WIR SIE BESUCHTEN. SIE HOFFT, DASS DU AB UND ZU BEI IHNEN VORBEISCHAUST. SIE IST ALLEIN UND HAT FREUNDE NÖTIG. DA GIBT ES NOCH EINIGE NEBENSÄCHLICHKEITEN, DIE ICH ERWÄHNEN WOLLTE, ABER JETZT IST FEIERABEND! SO BALD WIRST DU EINEN SOLCHEN BRIEF NICHT MEHR ERHALTEN. MEINE UNMITTELBARE ZUKUNFT WIRD ZIEMLICH BEWEGT BIS CHAOTISCH SEIN. Viele Grüße an alle: die ganze Poudrière, besonders Monique und Maurice, die wunderbare Zuflucht in Chaumont (besonders Monique) Simone, die letzte Zuflucht aller die Probleme haben, Mme Henriette, die alte Nachbarin, Lion und Poney, die einzige Famile im Herzen der Gemeinschaft, die JTS, die sich als Jungarbeiter aus Copainville auf eine Aktivität in der Welt (Afrika?) vorbereiten, Deine Mutter, … und viele mehr

· Lhh004 19640925 Freitag Hier sitze ich irgendwo in Paris, im Auto des Abbés; er macht Einkäufe und gibt Bestellungen auf. • Unsere Fahrt von Troyes nach Paris werde ich nie vergessen! Es war eine Aussprache zwischen zwei Freunden. Mir wird klar, dass wir durch unser schlich­tes Da-Sein und So-Sein vielen Menschen Mut geben können! Diese Erkenntnis gibt mir die Kraft, das Afrika-Abenteuer zu wagen. Ich muss gestehen, dass mir etwas bange ist. Nicht vor den Gabunern, sondern vor mir selbst. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es mir an Fähigkeiten und praktischer Erfahrung mangelt; ich fürchte, dass ich meinen Platz nicht ausfülle, wie man das von mir er­war­tet. Überhaupt, was erwartet man denn von mir? Wer hat mich denn in Afrika nötig? Bleibt zu hoffen, dass der Abbé Honnet die Gabunaktion gründlich vorbereitet hat. Wo wer­de ich im Gabun arbeiten? Für wen? Und was? Ich bin ein wenig müde, aber in guter Stimmung, absolut nicht aufgeregt. 16:45. Der Abbé wird mich bei der Notre-Dame-Kathedrale absetzen. Ich will nicht nur Kunstschätze be­sich­tigen, sondern die Kathedrale auf mich einwirken lassen. Das hört sich vielleicht dumm an, aber wenn ich die Westfassade des Bauwerks betrachte oder in die Kirche eintrete, spüre ich physisch, wie die Architektur und die Farbenpracht der Fenster mich überwältigen. 18:30 • Ich bin eine Stunde durch die Innenstadt gelatscht und wollte dann nach Notre-Dame, um dort et­was Ruhe zu finden. Aber man sagt mir, dass die Kathedrale ab 18 Uhr geschlossen sei. Nichts zu machen, ich muss draußen bleiben. Nun sitze ich hinter der Apsis und ver­su­che mit meinen Gedan­ken fertig zu werden. • Um mich wimmelt es von Leben, überall toben Kinder herum. Das versöhnt mich mit der Stadt Paris, die mir manchmal so mörderisch und unmenschlich erscheint. Vor meinen Au­gen Notre-Dame, ruhig, majestätisch und graziös. Wie ein großes Schiff. Gerade tippelt eine Bande Kinder an mir vorbei, Mädchen und Jungen von 5 bis 8 Jahren. Das schreit und zap­pelt, juchzt und lacht, dass einem das Herz warm wird. Neben mir sitzen zwei alte Damen. Sie unterhalten sich gerade über ihr Alter; eine ist 80 alt. Sie erzählen sich alle möglichen Geschichten: Z.B. dass Lausanne eine sehr schöne Stadt ist; und wie schlecht es den Juden unter der deutschen Besetzung ergangen ist; dass sie heute Abend noch in die Kirche gehen wollen. Die Bank rechts neben mir ist bevölkert von jungen Leuten: ein Mädchen mit Kinderwagen und vier Burschen, die ihr imponieren wollen. Eine Göre von zwei Jahren steht vor mir und zeigt mit ihren schmutzigen Händchen in den Abendhimmel, um mich auf einen Hubschrau­ber aufmerksam zu machen, der da oben herumschwirrt. Schließlich fällt die Kleine auf den Popo; sie wartet geduldig, bis Mutti sie aufhebt. Hinter mir, auf der anderen Straßenseite, ganz auf der Spitze der Seineinsel, steht das Mahnmal für die Franzosen, die in Kzs umgekommen sind; welche Gräuel wurden da nicht verübt! Und in wes­sen Namen!? Der Himmel steht ruhig über all diesem Leben und die Kathedrale schwimmt wie ein starkes Schiff in seinem Strom. Langsam verliert der Himmel seine Helle, und die Kathedrale schmilzt ihre reinen Linien zu großen, wuchtigen Konturen ein.

Um 19 Uhr komplimentiert uns ein Wächter zum Park hinaus. Neben der Seinebrücke, auf der Kaimauer, schreibe ich ein wenig weiter. Schließlich möchte ich mich mit Milène noch ein wenig unterhalten. Sie will wissen, wo ich mich herumtreibe! • Ein brausendes Leben fließt an mir vorbei. Ich erzähle ganz banal, was ich sehe. Denn viel überle­gen kann ich jetzt nicht, die Eindrücke von außen sind zu stark. Verliebte Pärchen schlendern vorbei, Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, allein und in Gruppen. Die Seine beginnt unruhige Wellen zu schlagen: ein Rundfahrtboot (bateau-mouche) rauscht leise vorbei; es ist fast leer, nur zwei Personen stehen auf dem Deck. Ein Hund steht am Brückengeländer und schaut philosophisch in die Wellen. Sein Herrchen, ein Mann, dem ein Arm fehlt, kommt ihn holen und geht mit ihm nach Hause. Ein Betrun­kener redet eindringlich auf einen eingebildeten Gesprächspartner ein, hat aber noch genü­gend Geistesgegen­wart, um beim Überqueren der Straße einem Auto auszuweichen. • Der Straßenverkehr geht unvermindert weiter. Während ich diese Zeilen schreibe, fahren Hunderte von Wagen über die Brücke; viele Menschen überqueren sie, um auf die andere Flussseite zu gelan­gen. Im Mittelalter hat das Stunden gedauert. Manche gehen rasch auf ein Ziel zu, andere schlen­dern leicht dahin, als suchten sie etwas. Oder sie bleiben stehen, allein oder zu zweit, schauen in die glitzernden Wellen, auf die leuchtende Kathedrale und in die dunklen Brückenbögen. Wie viel tau­send Menschen wohl schon über diese Brücke gegan­gen sind!? • Um 19:45 muss ich den Abbé am Hauptportal der Kathedrale erwarten. Er wird mich bei Jean-Claude Dols und Familie absetzen. Bei ihnen werde ich den Abend verbringen und mit ihnen zum Flugplatz fahren.

· Lhh005 19640926 Samstag • War das ein lustiger Abend bei der Familie Dols! Der Großteil der zahlreichen Familie war anwe­send, dazu noch mehrere Freunde und Freundinnen. Die kleine Mietwohnung reichte nur knapp aus für die Menge der anwesenden Leute. Die Eltern Dols sind sehr nette Leute, einfach und kultiviert. Sie sind „pieds noirs“ (Schwarzfüße), kommen also als Rückwan­derer aus Algerien (oder Marokko?) nach Frankreich. „Zurückgewandert“ ist nur bedingt richtig, denn die Vorfahren waren spanische Colons. Die Kinder, vor allem die beiden Mäd­chen, sind ebenso schlecht erzogen wie meine Schwestern. Das heißt wir veräppelten und hänselten uns am laufenden Band; mit anderen Worten: wir verstanden uns sehr gut. • Christian, JTS wie wir beide, war ebenfalls da. Er ist augenblicklich in der Poudrière zu Hau­se. Eine halbe Stunde vor dem Abflug gab ich ihm den Brief an Milène mit, den ich kurz vorher am Seineufer geschrieben hatte. Da er morgen nach Brüssel zurückfahren sollte, konn­te er Milène dieses Schrieben aushändigen. Wir haben ein viertelstündiges persönliches Gespräch geführt, für das ich ihm sehr dankbar bin. Er hat ein wenig Angst vor der Verant­wortung für die JTS-Gruppe in der Poudrière, besonders für Adel. Ich habe ihm meine Kritik erläutert, nach bestem Wissen und Können; er wird mir als JTS-Verantwortlicher in der Poudrière nachfolgen. Die Verbindung mit ihm darf ich nicht abbre­chen lassen. Was Adel betrifft, sagte ich ihm, dass dieser in Milène eine neue Freundin ge­funden habe und dass der Kontakt zwischen den beiden für ihn nur hilfreich sein könne. Christian war einverstanden und erleichtert. Er sagte mir, dass er mit ihr bisher nur wenig gesprochen habe, aber dennoch von ihr begeistert sei. Ich glaube, Milène ist für ihn wie für manch ande­ren ein Vorbild! Sie wird in der Gruppe (équipe) mehr und mehr unentbehrlich. Herzlichen Glückwunsch! 03:10 Marseille, Flughafen, Zwischenlandung. Ich sehe nicht viel vom Flughafen. Es ist noch stock­dun­kel. Ein paar Lampen, etwas Personal, das hin und her läuft und das Gepäck im Flugzeug verstaut. Vor einer Stunde sind wir in Paris, Le Bourget, abgeflogen. Eine Düsenmaschine. Flug ruhig, keine unliebsamen Überraschungen, eigentlich ein wenig langweilig. Die Fluggäste schlafen fast alle. Jean-Claude (Dols) sitzt hinter mir; ihm ist nicht ganz wohl: er ist müde, hat kaum geschlafen, hin­zu kommt der Abschied von seiner Verlobten, - ich kann mir vorstellen, wie ihm zumute ist. Ver­mut­lich setzt ihm auch der Flug zu: Ohrensausen, der Magen wird zum rasenden Fahrstuhl, vor allem beim Landen und beim Abheben. Jean-Claude hat einen sehr nervösen Charakter. • „Attachez votre ceinture, s'il vous plaît. Prochaine escale à Douala dans 5 heures.„ Es ist 3:50 Uhr, die Maschine rollt auf die Piste. Es rüttelt und schaukelt. Die Motoren laufen auf vollen Touren und brüllen in den Nachthimmel hinein. Plötzlich, mit einem Satz, hebt die Maschine ab. Wieder Fahrstuhl im Bauch. Mir gefällt die Fliegerei. Ob die Menschen, die in der Nähe des Flughafens wohnen, wohl zu ihrer Nachtruhe kommen? Es ist 4 Uhr. Am Boden klebt Nachtnebel. Vor zwei Stunden hätte ich Paris gern von oben fotogra­fieren mögen. Eine Spielzeugwelt, eine Modellanlage. Nun werde ich mir ein wenig Schlaf gönnen, bin müde, aber nicht kaputt. In einigen Stunden fängt ein aufregender Tag an. Jetzt sind wir über den Wolken. Schade, dass ich von der alten Provincia Narbonensis und vom Mittelmeer nichts zu sehen kriege. Die Wolkendecke war zu dicht. 08:15. In der Toilette habe ich mich ein wenig frisch gemacht, auch rasiert. Die Stewardess serviert das Frühstück: zwei Hörnchen, zwei dicke Scheiben Butter; eine Tasse Kaffee, Tee oder Milch; ein Glas Fruchtsaft, zwei Schälchen gepresster Früchte (zwei exotische Arten, schmecken sehr gut); und das nötige Besteck. Alles sauber und einladend; die Mädchen haben ihre Arbeit im Flugzeug. Mehr als 100 Personen fliegen mit.

• Während des Frühstücks schweben wir ruhig und sicher über den Wolken. Sie liegen unter uns wie ein übergroßer zerrissener Teppich. Mal in größeren Flächen, mal in der Form von Ackerfurchen, dann wie kleine Gebirge. Darüber blauer Himmel mit einem grau/braunen Dunststreifen. Dunkelblauer, wolkenloser Himmel. Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass der Himmel in Wirklichkeit schwarz ist, man erschreckt dabei. Ab und zu gibt die zerrissene Wolkendecke den Blick frei zur Erde: ich konnte vorher einige Hügel und Wege erkennen. Wir überfliegen jetzt eine bewaldete Landschaft; anscheinend haben wir die Sahara schon hinter uns gelassen. • 08:30. Wir setzen zur Landung an. Das muss Douala sein. Soeben haben wir die Wolken durchsto­ßen. Ich erkenne die Küste. Wald, Wald, Wald. Darin breite, gewundene Silber­bänder: Flüsse. Ich bin hingerissen! Wir sinken weiter und drehen einige schwungvolle Kurven. Wieder in eine Wol­ken­wand hinein. Wie kann sich der Pilot bloß zurechtfinden?! Da steckt viel Technik drin. Die Stewardess teilt Bonbons aus. Die sollen uns zum Schlucken anregen, wegen der Luft­druck­veränderung. Aus dem Lautsprecher kommt leise Musik. Hier wird alles getan, um den Passagier zu beruhigen. Na, für Heini braucht ihr euch keine Mühe zu machen, der ist voll­kommen ruhig und damit beschäftigt, die Anflug- und Landeszene in sich aufzunehmen.Und schon haben wir auf der Piste aufgesetzt! Schade, dass es vorbei ist. Die Stewardess bereitet uns darauf vor, dass draußen eine Temperatur von – nur! - 24 Grad Celsius herrscht. Das Flugzeug steht still. • Man merkt unmittelbar, dass man in einem anderen Erdteil angekommen ist. Hier bestehen die Gebäude des Flugplatzes aus einstöckigen Baracken, alles hat einen Hauch von Provi­sorium und Armut. Weniger motorisiert als in Paris, langsamer. Ich spüre keine Eile um mich herum. Draußen muss es sehr feucht sein: die Bullaugen (hublots) beschlagen sich mit Dunst. Auch zu uns kommt die Schwüle herein. Jean-Claude hat die Reise bisher lebend überstanden; ich weiß nicht, ob er die Tüte benutzen musste; aber er hat sichtlich gelitten. Im Flugplatzgebäude herrscht buntes Treiben. Händler haben sich unter die Reisenden ge­mischt, um ihnen irgendwelche Andenken zu verkaufen. Das Personal an der Bar hat alle Hände zu tun, um die Kundschaft zufrieden zu stellen. Ich nehme eine Limonade zu mir und mache die nette Bekanntschaft eines Jungen von etwa 18 Jahren. Sein Bruder studiert in Deutschland; auch er möchte einmal dorthin. Er studiert im Collège de la Salle in Douala, das ich natürlich nicht kenne. Ein angenehmes Gespräch. Trotz einer gewissen Herzlichkeit bleiben wir für ihn Monsieur Jean-Claude und Monsieur Henri. 10:10 Wir heben in Douala ab. In 40 Minuten werden wir in Libreville sein.. Wieder der Fahrstuhl im Magen. Unter uns breite Flüsse, - oder ist es das Meer? Wir steigen auf 10.000 Meter; das überrascht mich, denn für einen so kurzen Flug braucht man doch nicht in die Stratosphäre abzuheben! Wir stecken mitten in einem Wolkenpaket. Also, nur noch eine halbe Stunde – und ich werde mitten im großen Abenteuer landen.

· Lhh006 19640927 Sonntag Libreville, Centre d‘Apprentissage Sainte-Marie. Im Reich des Père Pinus. Wir sind angekommen, Jean-Claude und ich. Eine Gruppe Jungarbeiter (JTS, Jeunes Travailleurs en Service) aus Copain­ville (Troyes, Frankreich) ist schon vor Ort. Wir sind augenblicklich zehn oder mehr JTS, die darauf warten, dass der Abbé Honnet jedem seinen endgültigen Wirkungsort zuweist, soweit der Ausdruck „endgültig“ sich auf den JTS-Betrieb anwenden lässt. • Als wir aus dem Flugzeug stiegen, wähnte ich mich in einer Wolke. Lauwarmer Regen nie­selte auf uns herunter. Das soll zu dieser Jahreszeit normal sein, habe ich erfahren; morgens wird die Feuchtigkeit, die vom Atlantik ankommt, hier an der Küste abgeladen. • An der Zollstation hätte ich beinahe seriöse Probleme gekriegt. Ich stellte fest, dass ich nur eine französische Aufenthaltsgenehmigung als Ausweis hatte, kein Visa oder sonstiges Schrift­stück. Dieses Dokument wurde mir von der Französischen Verwaltung ausgehändigt, als ich in Troyes arbeitete; es war nur sechs Monate gültig! Auf solche „Nebensächlich­kei­ten“ hat der Abbé nicht geachtet. Ich auch nicht. Ein paar junge Zollbeamten walteten mit viel Seriosität ihres Amtes. Der Gabun ist vor etwa drei Jahren selbständig geworden, die Administration des Landes liegt jetzt in den Händen der gabunischen Bevölkerung. Wie konnte ich mich an den Beamten vorbeistehlen, ohne an­gehalten zu werden? Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich bewusst den arroganten Weißen gemimt habe. Ich stolzierte ohne anzuhalten an dem Zöllner vorbei, zeigte ihm non­chalant den Ausweis, den ich aber fest in der Hand behielt, schaute an ihm vorbei und ging energisch weiter. Der Junge war perplex, muckte auf, wollte mich anhalten, - ließ es aber dann bleiben. Ich war gerettet. Ich hatte ihn überrumpelt, und wahrscheinlich wollte er keine Probleme mit den Europäern kriegen. Noch ein Reflex aus der Kolonialzeit? • Vor dem Zentralgebäude des Flughafens, einem langgestreckten ebenerdigen Gebäude, er­war­tete mich Henri Milési. Henri war der Verantwortliche der hiesigen JTS-Gruppe und hier auf Durch­reise. Also der „Missus Dominicus“ seines Meisters Honnet. Er sollte hier nur ei­ni­ge Tage bleiben und dann weiter pilgern. Der Empfang war eine echte kalte Dusche. „Was sollen wir denn mit dir hier anstellen?“, meckerte er und fügte hinzu, dass der Abbé mal wie­der Mist gemacht habe. Honnet sollte in einigen Tagen herkommen und die JTS auf ihre Wirkungsstellen verteilen. Ich habe nicht viel geantwortet, habe mir aber einiges gedacht. Heute ist ein wirklicher Sonntag! Nach der Messe (11:30) erhielt ich Milènes ersten Brief. Wir saßen beim Mittagessen, anschließend hockten eine Viertelstunde alle zusammen in einer Sitzecke zum Plausch. • Danach las ich ihren Brief andächtig und aufmerksam durch. Ich finde es gut, dass wir beide die­selben Eindrücke, Empfindungen und Vorstellungen haben. Mir kam es schon oft so vor, als kenn­te ich Milène seit Jahren. Wir haben die letzten Wochen und Monate sehr intensiv er­lebt. Gemeinsam sind wir auf eine höhere Stufe geklettert; es war anstrengend,. Es ist nor­mal, dass wir nun ein wenig verschnaufen müssen, bevor wir die nächste Stufe in Angriff nehmen. Umso dank­barer bin ich Milène, dass sie dennoch schreibt. Ich glaube, diesen schriftlichen Kontakt haben wir beide nötig. 20:15 Um etwa 16 Uhr kam Heinz (Wertz, Eupen) hereinspaziert und bot mir an, mit ihm ein wenig „bum­meln“ zu • gehen. Er hatte (und hat) Heimweh, und wohl ein wenig Liebeskummer. Außerdem spricht er lieber Deutsch als Französisch. Ich begleitete ihn zum Strand; dort trafen wir sechs andere JTS (im ganzen sind wir 12). Bei Heinz zu Hause ist heute Kirmes, das stimmt ihn noch wehmüti­ger. Er möchte gern ein Bier trinken. Wird nicht so einfach sein wie in den Ostkantonen. Allez, hopp! Wir schlenderten in eine der wenigen Kneipen, alle unsagbar primitiv. Jeder trank ein Kro­nen­bourg oder Limonade.

Wir hielten an einer Art Bretterbude an, die Limonade und Bier verkaufte. Zwei Kinder hatten sich mit uns angefreundet; sie begleiteten uns: ein Junge mit seiner kleinen Schwester, etwa 8 und 7 Jahre alt; wir spendierten ihnen eine Limonade. Man machte uns eigens einen kleinen Raum hinter dem „Gastzimmer“ frei: ein Bretterverschlag, ein Tisch, ein Schrank, ein Bett. Wohl das Wohn- und Schlafzimmer des Wirtes. Wie gesagt, alles war – nach unseren Begriffen – sehr primitiv und arm. • Überraschend, ja sogar überwältigend war das freundliche Hallo der Afrikaner, die an der „Theke“ (Bretterverschlag) standen und uns mit Handschlag begrüßten. Noch mehr beein­druckte mich die „Chefin“: eine Frau von etwa 50 Jahren, freundlich, resolut. In ihrem Ge­habe machte sie einen vornehmen und rassi­gen Eindruck. Ihrem Gesicht sah man an, dass sie manches Schwere erlebt hat. Der Mensch bleibt doch immer Mensch, ob schwarz oder weiß, ob in Luxusappartements oder in einer arm­seligen Baracke. Übrigens war die Baracke sauber und aufgeräumt. • Nach unserm Ausflug in die Wirtschaft bin ich für 10 Minuten in die Kirche ent­wischt (Ste-Marie), die am Wege liegt; sie war früher die Hauptkirche der Stadt. Ein paar Meter wei­ter ist die neue Kathedrale errichtet worden, die noch nicht eingeweiht ist. Hier fand ich die nö­tige Ruhe, um zu überdenken, was sich in der letzten Woche ereignet hat. Ja, viel Abschied. Den­noch meine ich, dass diese Trennung für Milène und mich ein Segen sein wird. Glück­licher­weise hat keiner von uns die Idee gehabt, dem andern einen Heiratsantrag zu machen (ist doch eine Denk­möglichkeit, oder nicht?). Wir hätten uns in eine beinahe aussichtslose Situation hinein manövriert. Das Thema wäre zu früh angeschnitten worden; wir hätten eine Entscheidung treffen müssen, für die wir nicht reif waren. Noch nicht. Auch jetzt nicht! Als wir zum Centre de Formation zurückkamen, waren zwei Jungen damit beschäftigt, über mei­nem Bett ein Moskitonetz anzubringen. Letzte Nacht, meine erste in Afrika, musste ich ohne Netz schlafen und machte nähere Bekanntschaft mit diesem elenden Viehzeug: Moskitos! Kurzer Lagebericht. 1) Centre de Formation (professionnelle et technique) Sainte-Marie (Kirche und Pfarrei). Ein Ausbildungszentrum für junge Leute. Soweit ich bisher sehe, gibt es folgende Abteilungen: Automechanik, Schreinerei, Elektrizität, Mechanik, Garten- und Ackerbau. Einige Baracken haben die notwendigste Ausrüstung. Klassenräume sind hergerichtet für den theoretischen Unterricht. 2) Wohnung: gefällt mir sehr. Großer Innenraum (Diele) mit Küche und Arbeitsraum des ver­antwort­lichen Priesters, der zugleich der Direktor der Einstellung ist (Père Pinus); zwischen Esstisch und Büros die Aufenthaltsecke; in der Mitte eine Treppe, die zum 1. Stock führt. Oben liegt ein Dutzend Zimmerchen, rund um den Treppenraum, jedes mit einem Fenster; im Hintergrund das WC und zwei Duschen. Diese Fenster haben übrigens keine Glasschei­ben, sondern Luken mit Holzblenden, die horizontal orientiert werden können; die Luft kann zirkulieren, die Sonne bleibt draußen. Alles ist sehr luftig, erfrischender Durchzug. Sehr europäisch das Essen, das von Georges, einem Gabuner, gekocht wird. 3) Die Stadt Libreville. Wo sie anfängt oder aufhört, kann ich nicht feststellen.Viel, viel freier Platz. Häuser einfach oder primitiv und ärmlich. Eine neue Kathedrale und mehrere Kir­chen, zum Teil verwahrloster Eindruck (Feuchtigkeit!). Geschäfte europäisch, und anschei­nend vor allem von Europäern besucht. Alles sieht provisorisch aus, mehr noch als in Jugo­slawien. So ähnlich stelle ich mir die Städte im Wilden Westen zur Pionierzeit vor. 4) Landschaft und Klima. Direkt am Meer, eine weite Bucht. Schiffe ankern (und löschen) 500 bis 1000 Meter vom Strand. Außer zwei Molen gibt es noch keine Hafenanlagen. Klima: Regen, Regen, Regen, - mal schwächer, mal stärker. Treibhausluft, nichts wird trocken. Ich muss hinzufügen, dass ich in der „kleinen Regenzeit“ hier angekommen bin. Es gibt auch eine Trockenperiode, die sich sehr kalt anfühlen soll, wohl wegen der Trockenheit. Das wer­de ich ja noch erleben. Als ich im Centre ankam, hat man mir angeraten, meine besten Klei­der anzuziehen und mich ausgiebig zu duschen. Das habe ich getan; es scheint die beste Methode zu sein, um dem Schimmel zuvor zu kommen. In Short und Unterhemd (ohne Schuhe, Strümpfe und sonstigen Luxus) fühle ich mich recht wohl. Ab 8 Uhr abends kann man kaum noch am Schreibtisch sitzen bleiben, die Moskitos werden zu aufdringlich. Ab 19 Uhr ist es zappenduster; die Sonne geht sehr schnell unter (und auf). Wir sind am Äquator!

5) Meine Arbeit. Die große Unbekannte; steht noch nicht fest. Wir warten den Abbé ab, der sich für Donnerstag angesagt hat. Vermutlich werde ich mich für Mouila entscheiden, eine der größeren Städte im Süden des Gabun: südlich des Äquators, ein Handelsplatz und In­dustriestandort, der für den Gabon wichtig ist. Bis Donnerstag werde ich hier in den Werk­stätten mithelfen; die Ferien sind noch nicht beendet. Inzwischen habe ich mit jedem JTS-Kollegen schon eine Diskus­sion gehabt und bin ziemlich gut über alles unterrichtet, was sich bei ihnen abgespielt hat. Ich habe versucht, nach besten Kräften auszugleichen und zu hel­fen. Es bleibt die bange Frage: Henri, wozu bist du denn hier in Afrika? Mir ist nicht sehr wohl, ich möchte nicht der Diözese, die die Trägerin dieses Ausbildungszentrums ist, auf das Portmonnee fallen. 22:15 Jetzt muss ich Schluss machen. Ich kriege keine Ruhe vor den Moskitos. Unterm Moskito­netz werde ich noch einmal Milènes Brief lesen, der heute angekommen ist.

19640928 Montag 16:20 Mit zwei Afri­ka­nern habe ich Schulbänke montiert; sie werden in der Schreinerwerkstatt hergestellt. Einer der Jungen ist ungefähr 18 Jahre alt, der andere älter. Sie sind o.k. Wir haben viel gelacht und trotzdem gearbeitet; hoffentlich geht es im gleichen Stil weiter! Heute war Schulanfang. Die Schulbaracke war bevölkert mit kleinem Schülern. Dinge, die mir auffielen. • Für die Afrikaner bin ich nicht „Henri“, sondern „Monsieur Henri“, - auch wenn wir die dick­sten Freunde sind. Das hat mich anfangs ein wenig traurig gestimmt, aber man muss es nehmen, wie es ist. Ich muss ihnen beweisen, dass wir alle Glieder der gleichen Familie sind. Ob sie mich dann mit „Monsieur“ oder „Sire“ anreden, ist schnuppe. Vorläufig will ich nicht darauf drängen, dass sie mich duzen. • Nach dem Mittagessen, um 13 Uhr, kam ich in die Schreinerei. Zwei Burschen diskutierten miteinander, die andern standen darum herum. Sofort riefen sie mich als Schiedsrichter an. Es handelte sich um Glauben und Sehen (bzw. Wissen) in der Religion. Der eine sagte, man müsse zuerst sehen, dann erst könne man glauben. Der andere war dagegen. Die grundle­gen­de Frage war: Ist Gott wirklich ein liebender Vater? Ich habe keinen Beweis dafür. Mich freute, dass sie so offen und selbstver­ständ­lich über religiöse Dinge diskutierten. Ich hoffe, dass wir noch manche Unterhal­tung über ähnliche Themen haben werden. Einer heißt Michel. Als wir uns einander vorstellten, sagte ich zu ihm: „Dann hast Du ja mor­gen Namenstag.“ Er war glücklich darüber; ich erzählte ein wenig von meiner Familie. Zum Beispiel, dass ich einen Bruder habe, der Michael heißt. - Mit einem andern unterhielt ich mich bei der Arbeit über seinen Namenspatron, Franz von Assisi. Er fragte mich, ob ich Laienkatechet sei, was ich verneinte. Ich versuche nur, als Christ mit jedem zusammen zu leben und zu arbeiten wie sein Namenspatron das getan hatte. - Das waren kleine, unvorher­gesehen Zwischenspiele, wie sie sich so ergeben. Auf die tägliche Messe muss ich augenblicklich verzichten; es gibt noch keine praktische Möglichkeit. Außerdem möchte ich nicht als „Calotin“, als Klerikaler, ver­schrien werden; ich bin hier in einem französischen Milieu, dessen Mentalität ich inzwischen von Copainville her ziemlich gut kenne. Nun muss ich meine JTS-Wochenblätter in Ordnung bringen. Und mindestens ein Brief muss ge­schrieben werden. Es ist 18:30, heute hat es (noch) nicht geregnet. Das ist seltsam zu dieser Jahreszeit, ist mir gesagt worden. In einer halben Stunde ist stockschwarze Nacht. • Vor dem Abendessen machte ich einen kurzen Spaziergang in die nähere Umgebung. Heinz saß mit einigen andern vor der Tür; ihm sitzt immer noch die Schwermut in den Knochen. Er bat mich, im Pfarrhaus (Mission, ein größeres Gebäude, in dem mehrere Missio­nare wohnen) neben der Kathedrale mal nachzusehen, ob für ihn keine Post da sei. Welche „Post“ er erwartet, kann man sich ausmalen. Ihm zuliebe tat ich es, obwohl es eher aussichtslos schien. Und war! - Kein Brief für Heinz! Als ich zurück war, fragte ich ihn, ob er etwas dagegen habe, wenn ich einige Lieder auf der Mun­dharmonika spielte. Ich spielte auf den beiden Mundharmonikas ein buntes Potpourri: vor allem Lie­bes­lieder! „Horch, was kommt von draussen rein“, „Jetzt gang i ans Brünnele“, „Das Lieben bringt groß Freud“ usw. usw. Dann wurde es sentimentaler: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, „Am Brunnen vor dem Tore“, „Wenn ich ein Vöglein wär“ (ist ja auch ein Liebeslied), „Schön ist die Jugend“. Zum Schluss einige Abend- und Abschieds­lieder. Heinz, der arme Hund, ist ein wenig durchgedreht. Es fehlt ihm an Arbeit, mit der Freizeit weiß er nichts anzufangen. Schwer für ihn. Es fällt ihm nicht leicht, sich an das fremde Lebensmilieu anzupassen.

· Lhh006 19640929 Dienstag 7:35 Ich habe mich geduscht und angezogen, sitze für 5 Minuten am Schreibtisch. Die Jungen warten schon draußen. Die Arbeit beginnt um 8 Uhr. Ich gehe noch schnell Kaffee trinken. 16:00 Nach der Arbeit. Der Himmel ist zugezogen; es hat einige Male geregnet. Es ist, als stecke man in einer Wolke. Alles ist feucht. Die Nässe, die vom Atlantik hergeschoben wird, schlägt sich hier nie­der; ein wenig davon steigt dann auf das afrikanische Plateau. Im Norden des Gabun soll es trocke­ner und weniger warm sein, ist mir gesagt worden. Hier an der Küste ist die Luft mehr als gesättigt mit Feuchtigkeit. Ähnlich muss es im Amazonasbecken aussehen. Für Moskitos ist hier das Gelobte Land. Mit meinen zwei afrikanischen Arbeitskameraden verstehe ich mich sehr gut; dabei schaue ich aber immer darauf, dass gearbeitet wird. Denn den Hanswurst will ich mit mir nicht machen lassen. Nach der Arbeit stürzte ich zwei Gläser gefilterten Wassers hinunter, im Kühlschrank klaute ich eine Banane. Das tut gut und erfrischt. Von gestern klebt mir ein gelinder Sonnenstich auf der Haut. 17:10 Milène habe ich einen Brief geschrieben, in dem ich auf ihre Bemerkungen antworte. Sie stellt sich zu viel Fragen, hat sie Minderwertigkeitskomplexe? Natürlich, wenn man alles 100-prozentig gut machen will…! Ich versuche sie davon zu überzeugen, dass sie in der Poudrière unersetzlich ist. Schluss mit Süßholzraspeln! Ich gehe mich duschen und spaziere dann zur Kirche, um nach­zu­se­hen, um wie viel Uhr die Messen sind. • Während des Abendessens geht die Parole um: „Après, on ira chez les filles!“ Aha, wir ma­chen also Damenbesuch! - Hoppla! Quelles filles? Welche Mädchen sind das denn? Einige der Burschen waren außer Rand und Band. Ich wollte mit Jean-Claude zunächst im Haus blei­ben, der Gruppe zuliebe gingen wir schließlich mit. Neben den Gebäuden der Mäd­chen­schule („Immaculée Conception“) und der Ordensschwe­stern liegt eines, das eini­ge Mäd­chen beherbergt. Von zweien wußte ich schon, dass sie dort wohnten und Lehrerinnen sind; eine ist JOC-Führerin. Die drei an­dern – das stellte sich erst nachher heraus – sind erst seit Sonntag hier und werden diese Woche noch als Lehrerinnen („Aides familiales“, eine französische Organisation) in den Norden des Lan­des ge­hen. • Resumee des Abends: Ich war zutiefst enttäuscht über die Geistlosigkeit und Unreife einiger JTS-Knaben, was ihr Benehmen den Mädchen gegenüber betraf. Einige übertreffen sich in Macho­gehaben und glauben, sie können den Mädchen damit imponieren. Nach einer länge­ren Diskussion machten wir alle, Mädchen inclusive, einen kleinen Bum­mel am Strand ent­lang; die Luft hatte ein wenig aufgefrischt. Welche Kindsköpfe! Sie führten ein Affentheater vor, machten Radau, um auf sich aufmerk­sam zu machen. Das Interssanteste an dem Schmierentheater war, dass sie die Gegenwart der Mädchen kaum wahrnahmen; sie ließen die Damen einfach links liegen. Ich glaube, sie haben Angst vor dem weiblichen Geschlecht. Ab und zu erlaubte sich der eine oder andere etwas, was „Scherz“ genannt wurde; für mich waren es Ungezogenheiten. Schließlich wurde es mir zu dumm. Zusammen mit Heinz flan­kier­ten wir die zwei Neuen (die dritte war daheim geblieben) und brannten mit ihnen durch. Wir spazierten zur Hafenmole und unterhielten uns sehr angenehm über unsere Arbeit und unsere Pläne.

Für mich war der Abend aufschlußreich; es gäbe mehr darüber zu berichten, aber ich will mich nicht in Einzelhei­ten verlieren. Ich musste mit ansehen, dass die meisten anwesen­den JTS in der Hinsicht „Mädchen und Frau“ im Flegelalter stecken und bis auf weiteres unfähig sind, sich mit einer jungen Frau über etwas zu unterhalten. • Morgen früh werde ich einigen persönlich meine Meinung mitteilen, - vermutlich werde ich es auch bei der nächsten „réunion“ zur Sprache bringen, obwohl ich genau weiß, dass ich dann aus­gepfiffen werde. Aber das ist mir egal, - was ich zu sagen habe, sage ich! Ob sie es anneh­men, ist ihre Sache. Jeden­falls war dies der letzte „Mädchenbesuch“, den ich mit einer sol­chen Bande gemacht habe. Es ist möglich, dass man für Franzosen etwas andere Maßstäbe anlegen muss; schon in der Poudrière habe ich Unterschiede festgestellt. 23:30 Uff! Endlich habe ich meine JTS-Wochenreports (Plural!) erledigt. Das geht mir manchmal auf den Keks. Jeden Tag muss man etwas Erbauliches hinklecksen, damit die Kollegen in Copainville und sonstwo sich daran ergötzen können. Das ist so ähnlich wie im Kloster, wo es üblich war, einmal in der Woche beichten zu gehen. Wo sollte ich all die Sünden herholen?!

· Lhh006 19640930 Mittwoch 07:45 Kurze Aussprache mit einigen JTS-Kameraden über den gestrigen Besuch bei den Mädchen. Sie sind zwar nicht mit mir einverstanden, gehen aber jeder Diskussion aus dem Weg. 19:00 Ich werde sentimental. Ich habe soeben Teile unseres gemeinsamen Tagebuchs gelesen, besonders die letzten Seiten. Die Erinnerung stürmte wieder auf mich ein. Die zwei letzten Tage in der Pou­drière wurden lebendig. · Lhh007 19641003 Samstag 10:20 Jetzt wird es Ernst! Bis Mittag muss ich mich entschieden haben, wo ich hingehen will: nach Libre­ville oder nach Mouila. Beides hat Vor- und Nachteile. Was ist für mich das Bessere? Wo kann ich mehr leisten? Und warum diese hektische Eile? Über Mouila weiß ich nichts. Was soll ich dort tun? Für wen? Der Abbé Honnet drückt auf die Tube! In Libreville, wo ich in einer mir nun bekannten Umwelt leben und bei erfahrenen Leuten Rat und Hilfe finden kann (wichtig für den Anfang)? Oder in Mouila, in weit primitiveren Verhältnissen, weniger Kontakt, viel mehr auf mich allein gestellt, zu­sam­men mit ei­nem oder zwei JTS? Würde ich in Mouila nicht zuviele Dummheiten machen, weil es mir an Erfah­rung mangelt? Andererseits hätte ich dort bessere Kontakte mit den Bewohnern, während hier in Libreville das Leben städtisch ist. Vielleicht bin ich mal wieder zu skeptisch, kritisch, perfektionis­tisch, - verliere mich in Einzelhei­ten. http://www.ba4.be/gabon.html Heute bin ich zerschlagen. In der vergangenen Woche habe ich gearbeitet wie ein Pferd, nach gut deutscher Art, wenn dem so ist! Der Tagesdurchschnitt lag zwischen 26 und 30 Schulbänken, frü­her 10. Stachanow lässt grüßen! Hinzu kommt die Qual der Wahl, das peinigende Gefühl, meinen Platz noch nicht gefunden zu ha­ben. Bin ich ein Sensibelchen? · Lhh007 19641004

Sonntag 11:30 • Die Sonntagsmesse. Eine große Kirche, gefüllt mit Afrikanern. Ich habe mehr auf die Kinder geschaut als auf den Altar. War das ein Leben in der Kirche! Das krähte, schrie, lach­te, träl­lerte in allen Tonarten. Die Muttis hatten ihre liebe Not mit den Bambini. Dem Herrgott muss dieses Hochamt Freude gemacht haben! Übrigens sang das Volk vorbildlich grego­riani­schen Choral! • Der Abbé Honnet ist eingeflogen. Jetzt geht‘s rund! Die Entscheidung ist gefallen. Gestern sprach ich einige Minuten mit Jean-Claude, der mit mir nach Mouila gehen möchte. Nun heißt es, sich in den wenigen Tagen, die wir noch hier verbringen wer­den (bis 14/10) die Vorbereitungen treffen: Führerschein beantragen, Arbeit in der Mechanikerwerk­statt, Kontakte mit Katechisten usw. Am Nachmittag habe ich einige Stunden gepennt, - das tut gut! Um halb sechs, am Abend, begann die wöchentliche „Réunion (Zusammenkunft der Gruppe) JTS“. Sie wird heute und in den nächsten Tagen fortgesetzt. Diese endlosen Versammlungen sind eine Spezialität der JTS und ihres Häupt­lings Honnet • Nach dem Abendessen machte ich mich dünn. Ich hatte Heimweh nach der Poudrière, die für mich eine Familie geworden ist. Der berüchtigte Heimwehkoller! Die alte Kirche war geschlossen, ich setzte mich auf die abgewetzten Stufen, hinter den Grabsteinen der ersten Missionare und Bischöfe. Neben mir rauschten die Blätter der Kokosbäume. In der Stadt brannten einige Lichter, unten, auf den Boulevard, der das Zentrum mit dem Flugplatz verbindet, fuhren einige Autos vorbei, dahinter das Meer. Afrikanische Nacht. Ab und zu waren einige Sterne zu sehen. Ich war im Geist in der Poudrière. All die Gesichter und Schicksale, die Samstag abends die kleine Kapelle füllen, standen vor mir. Nach der Messe der gemeinsame und fröhliche Kaffee im Speisesaal; sämtliche verschlissenen Kanapees, Sessel und Stühle voll belegt. Rufe, Unterhaltun­gen, Schweigen, Bewegungen. Und in dem Gewimmel Milène, umgeben von ihren Bewun­derern! • So saß ich da bis 21:30. Ich war wie betäubt, brauchte Stille und Einsamkeit. Als ich zum Centre zurückkam, war das Haus leer und abgesperrt. Sämtliche JTS waren mit dem Abbé ausgegangen: zum Strand, auf der andern Seite der Straße. Durch ein Fenster stieg ich ein und legte mich ins Bett. Seltsam, diese Gefühlsschaukel! Morgen wird man mir – zu Recht – vorwer­fen, dass ich mich von der Gruppe absondere und mein Eigenleben pflege! Als die andern spät abends zurück kamen, brachten sie mir einen Brief von Simone mit. Wunder­bar! Ihre Zeilen machten mir Mut. An­schei­nend halten Simone und Milène gut zusammen! 16:45 Am Strand. JTS und Abbé Honnet. Gute zwei Stunden haben wir uns im Wasser herumgetrieben. Alle fünf Minuten murmelte ich ver­zückt vor mich hin: „Splendide!“ Alles erinnerte mich an Jugoslawien, nur ist das Meer hier beweg­ter, die Wellen des Atlantik sind höher und stärker. • Trotz all der Schönheit und des Frohsinns mache ich eine bestürzende Feststellung: ich bin noch nicht in Libreville angekommen! Ich lebe nicht in der JTS-Gemeinschaft! Ursache ist nicht Heimweh, sondern mein fieser Charakter. Koketterie? Oder fehlt der Jungengruppe eine Dimension, die mir wichtig ist? Auch in der Poudrière hatte ich manchmal das gleiche Erlebnis. Ich merkte, dass ich mich abson­derte, wortkarg wurde, mich in die Stille und Einsamkeit zurückzog; ich beobachtete ohne aktiv mit zu tun. Hier, unter jungen Burschen (ich bin schon alt für sie!), erwartet man von mir etwas mehr Jugendlichkeit. Tja, da kann ich nicht (mehr) folgen. Ich kann mich nicht so naiv für neue Schlager, Filmstars, Moden und Mädchen begeistern. Ich habe ge­lernt, lange zu zu schau­en, ohne etwas zu sagen; aber wenn ich etwas anpacke, möchte ich es gründlich zu Ende führen. • Augenblicklich sitze ich am Strand, schreibe diese Zeilen; irgendwie hatte ich das Bedürfnis ge­fühlt, mein klitzekleines Notizblöckchen mitzunehmen. Ich habe mindestens zwei Stun­den im Wasser zugebracht. Die andern tollen umher wie junge Affen. Nur ich sitze abseits, schreibe lyri­sche Selbstbetrachtungen und zerfleische mich.

Sollte es wahr sein, dass ich innerlich mit irgendetwas so sehr und ausschließlich beschäftigt bin, dass ich von der Umwelt kaum Notiz nehme? Das muss anders werden! 21:15 Morgen fährt der Abbé nach Lambaréné (250 Kilometer). Dort werden dringend Leute gebraucht, scheint es, - sagt der Abbé. Die Missionare sind prima, wird uns gesagt. Auf jeden Fall wird eine JTS-Gruppe sich einmal dort ansiedeln, vielleicht jetzt schon. 21:50 • Diskussion mit einigen Gruppe JTS. Der Regen hat urplötz­lich aufgehört. • Stundenlange Diskussion über Zweck, Ziel, Mittel, Ideal der JTS. Diesmal war ich, glaube ich, am rechten Platz, vor allem in der Gruppe der Älteren. Welch ein Kapital hat man doch von der Poudri­ère mitbekommen! Einige Burschen haben sich noch nie Gedanken darüber gemacht, für was sie le­ben. Für sie eine seltsame Frage. Jean-Claude ist o.k. Der Abbé ist nach Lambarene gefahren; welch ein Vergnügen, mit einem 2CV auf verschlammten Urwaldwegen, und das mehr als 200 Kilometer! Man darf gespannt sein, mit welchen Nachrichten er nach Libreville zurück kommt. · Lhh007 19641006 Dienstag 7:30 Das Bett mit Moskitonetz ist ein seltsamer Ort, um einen Brief zu schreiben. Aber ich habe den Grundsatz, vor 6:45 den Fuß nicht vor das Bett zu setzen, auch wenn ich hellwach bin. Man muss halt darauf achten, dass man sein Minimum Ruhe hat. 6:45 Aufstehen! Dusche! Zur Messe! Tschüs, bis nachher. 16:20 Ein sehr schöner Arbeitstag. Wir haben bei der Arbeit wieder viel gelacht. Die afrikanischen Jungens können durchaus sorgsam und schnell arbeiten. 22:15 Stundenlange Diskussion über Zweck, Ziel, Mittel, Ideal der JTS. Diesmal war ich, glaube ich, am rechten Platz, vor allem in der Gruppe der Älteren. Welch ein Kapital hat man doch von der Poudri­ère mitbekommen! Einige Burschen haben sich noch nie Gedanken darüber gemacht, für was sie leben. Für sie eine seltsame Frage. Jean-Claude ist o.k. Dies ist alles, was ich heute zu vermelden habe. Der Abbé ist nach Lambarene gefahren; welch ein Vergnügen, mit einem 2CV auf verschlammten Urwaldwegen, und das mehr als 200 Kilometer! Man darf gespannt sein, mit welchen Nachrichten er nach Libreville zurück kommt. · Lhh007 19641007 Mittwoch 17:30 Heute war ein arbeitsreicher Tag!

Augenblicklich bin ich in der alten Kirche (die neue Kathedrale, wenige Meter weiter, ist im Roh­bau fertig gestellt), habe kurze Rückschau gehalten. Mir wird allmählich klar, wie dumm es von mir war, mich nicht „an meinem Platz“ zu glauben. Mein Platz ist dort, wo ich mich gerade befinde. Basta! • Ein kleines Erlebnis macht mich darauf aufmerksam. In der Schreinerei arbeitet ein älterer Mann. Er erinnert mich in seiner Art an meinen ehemaligen „contre-maître“ (Vorarbeiter) in Troyes, Monsieur Estié­venart: schweigsam, nie nervös, freundlich – und wieder schweig­sam. Immerhin ist es mir schon einige Male gelungen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Als ich mich vorher in der Werkstatt verabschiedete, wie jeden Tag, gab er mir die Hand und sagte: „Au revoir, fils.“ - „Auf Wiedersehen, mein Sohn.“ Möglich, dass dies eine Floskel seiner Muttersprache (Fang) ist, die er ins Französische übersetzt hat. Immerhin hat er nicht gesagt: „Au revoir, Monsieur“! - Das gab und gibt mir zu denken. Kann ich da noch behaupten, dass ich nicht an der richtigen Stelle sei?! Das Verhältnis zu den übrigen afrikanischen Kameraden ist tadellos, sehr freundschaftlich. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie mich als ihren Hampelmann betrachten! Immer deutlicher spüre ich, dass eigentlich ICH es bin, der beschenkt wird. 18:00 Die Sonne geht nun rasch unter. Ihre glühenden, tiefen Farben geben der afrikanischen Landschaft einen einzigartigen Reiz. Die Sonnenuntergänge erinnern mich an die Malerei von Georges Rouault, mit starken Pinselstrichen und breiten Konturen. Es ist die gleiche Sonne, die jetzt auch über den Dächern Brüssels versinkt! Ich gebe ihr meine Grüße mit: an die gesamte Poudrière. 22:45 Der Abbé ist von Lambaréné zurück. Drei JTS sollen sich dort einrichten, heißt es. Morgen werden wir die Einzelheiten besprechen. Der Abbé ist mal wieder enthusiastisch wie ein Primaner. Alles bestens in Butter: tout va très, très, très, très, très bien (sieben Mal, ich habe gezählt!) Und was ist nun mit Mouila? Schon abgeschrieben? Ich denke an die anstehenden Wahlen in Belgien. · Lhh008 19641011 Sonntag 00:20 Von Milène habe ich einen langen Brief erhalten, in dem sie mir erzählt, wie das tägliche Leben der JTS in der Poudrière abläuft. Ihr Brief muss gründlich und schnell beantwortet werden. Ich schreibe nun sofort, die Nacht ist ruhig, ich sitze auf dem Bett, unter dem Moskitonetz, die Stechbiester sol­len draußen bleiben! 1:30 Jetzt wird Schluss gemacht. 15:00 Immer noch Sonntag. Herrliches Wetter, auch wenn wir heute Morgen bei der Herfahrt zweimal gründlich nass geworden sind. Wir sind am Kap, etwa 40 Kilometer von Libreville ent­fernt. Die Piste war eine Rutschbahn, aufgeweichter, roter Schlamm. Einmal sind wir auch im Graben gelandet (mit dem Landrover). Die letzten 3 Kilometer müssen wir zu Fuß zurücklegen. Urwald.

Die Messe feierten wir um 13 Uhr am Kap, P. Pinus ist hergekommen. Hier steht eine kleine Stein­baracke, mit 3 winzigen Zimmerchen und einigen Bettgestellen. Eine Veranda mit einem halb zer­fallenen Holzaltar. Die Hütte gehört der Mission. Wir haben zwei benachbarte Dörfchen benachrichtigt. Drei Leute tauchten auf, um an der Messe teilzunehmen; für sie ist dies eine Seltenheit. Die Bewohner, nur sehr wenige, sind hier ganz im Busch verloren; sie leben von Fischfang. Soeben kommen Jean-Louis und Gégène vom Strand zurück und sticheln, weil ich wieder mal am schreiben bin. Jean-Louis bemerkt: „Tu es amoureux!“ Der Kerl hat nicht ganz Unrecht. Um ihn abzulenken, antworte ich: „Stimmt, verliebt in mich selbst!“ Ist ja auch nicht gelogen. Wirklich ein schöner Tag, heute. In den vergangenen zwei Wochen haben wir uns gegenseitig besser kennengelernt. - Der Abbé saust in der Gegend herum, um Fotos zu schießen. Überall Bewegung, nur Heini hockt friedlich an einem wackligen Tisch und versucht, seine Gedanken zusammen zu halten, um seine Erlebnisse zu schildern. 22:30 • Von Milène habe ich einen langen Brief bekommen, in dem sie mir von ihren Problemen erzählt, vor allem von einem (deutschen) Verehrer, der sie nicht loslassen will. Der Mann weiß, was er will. Milène wird reinen Tisch machen müssen und die Verhältnisse klären. Ich versuche ihr das in einer Antwort zu klar zu legen. Ich möchte noch so viel erzählen und weiß nicht, wo ich anfangen soll, finde nicht die Zeit dazu. Es ist Mitternacht vorbei. Während ich die obigen Zeilen schrieb, habe ich etwa 10 Moskitos gemeu­chelt; die andern habe ich nicht erwischt! Sie haben mir ihre Visitenkarte hinterlassen. So ist das Leben! · Lhh009 19641013 Dienstag 23:00 In einem langen Brief an Milène schwelge ich in Erinnerungen an unsere gemeinsame jüngste Vergangenheit. Es ist eine Wohltat, wenn man weiß, dass jemand, auf den man große Stücke hâlt, zuhört. 24:00 Heute war ich den ganzen Tag müde. Mangel an Schlaf, unsolide Lebensführung. Ist ja kein Wun­der: die Serie der „Réunions“ mit dem Abbé reißt nicht ab. Morgen fliegt er mit vier Mann nach Pointe Noire, Im äußersten Süden des des Kongo-Brazzaville (ehemalig Französisch Kongo), nicht eit entfernt von der gabunischen Südgrenze.

https://woliegt.net/wo-liegt-pointe-noire-wo-ist-pointe-noire-in-welchem-land-liegt-pointe-noire/ Dann zieht bei uns ein wenig Ruhe ein! Ich frage mich allerdings, woher Honnet die Moneten hat, um die Ausgaben zu begleichen. · Lhh009 19641014 Mittwoch 18:00 Soeben komme ich vom Polizeikommissariat, wo ich wegen meiner Aufenthaltsgenehmigung hin musste. Das muss man gesehen haben, dieses Leben! Die Amtsräume sind Baracken, - alles noch primi­tiv. Für die Beamten und Beamtinnen (Polizistinnen) scheint der ganze Papierkram nicht viel mehr als ein munterer Zeitvertreib zu sein, den sie nicht besonders ernst nehmen. Haben sie Unrecht? Ich hoffe, die Gabuner werden nicht auf die Linie des normalen deutschen Büro­hengstes einschwenken, der in der Bürokratie seinen Lebensinhalt findet. Einiges über Lambarene. Ende dieses Monats werden Daniel Jeannot (vorher Bamako), Jean-Claud Dols und ich dorthin fahren. Die Entscheidung ist gefallen. Lambarene ist die Drehscheibe des Gabun. Sämtliche übernationalen Straßen und die Haupt­ver­bindungen des Landes kreuzen sich dort. Verkehrstechnisch ist Lambarene wichtiger als Libreville, wurde uns erklärt. Die eigentliche Stadt ist übrigens eine Insel im Fluss. Es existieren dort eine protestantische und eine katholische Mission. Beide arbeiten gut miteinander. Daneben besteht auch das Hospital Albert Schweitzers. Vom Staat ist ein neues Verwaltungs- und Siedlungszentrum auf der anderen Flussseite (oder einer anderen Insel?) geplant; die katholische Mission hat in der Nähe eine Kirche mit Schule. Da etwa 300 Familien neu zugezogen sind, wird es dort sehr eng, die Siedlung platzt aus den Nähten. Ganz nahe bei dem vorgesehenen Zentrum wollen die katholischen Missionare Schule, Internat, Kran­ken­haus und Kirche bauen. Außerdem, weiter weg, eine Lehrwerkstätte, ein „Centre d'App­ren­tissage“, in dem handwerkliche Fähigkeiten vermittelt werden sollen, wie das in Libreville der Fall ist. Jean-Claude und Daniel als Mechaniker werden dort beginnen mit je vier, fünf Jungen. In 2 Jahren könnten die Werkstätten so weit sein wie hier in Libreville. Wenn alles so läuft wie vorgese­hen!

An Ostern soll ich mit einem der Patres in das künftige Zentrum ziehen, das nun begonnen wird. Büro und Verwaltung, aber auch Religions­un­terricht und Familienbesuche fallen dann in meine Verantwortung. Also pastoral, soweit es einem Laien möglich ist. Außerdem müsste ich etwas Ver­bin­dung halten mit dem protestantischen Pastor und zwei, drei Plätze für neue JTS vorbereiten. Diese Vision wurde uns vom Abbé serviert. Klingt sehr strategisch und businessmäßig! Ich frage mich, woher das Geld kommen soll. Außerdem stelle ich mir einige Fragen: • Warum soll die katholische Mission ein Hospital bauen? Weil die Protestanten das Ihre haben (Schweitzer)? • Sind Krankenhaus und Handwerksschule mit der Regierung abgesprochen? Ich habe einige Zweifel. Ein selbständiger Staat wird wohl kaum einverstanden sein, dass die ehemaligen Kolonisatoren schalten und walten, wie es ihnen passt. • Die Kirchlichen Instanzen werden wohl umdenken müssen. Vielleicht macht sich der Abbé etwas vor. Hat er mit den dortigen Patres das Projekt ausgiebig durchgerechnet? Die drei Patres vor Ort sind, wie der Abbé nach seiner Stippvisite bezeugt, sehr offen, lebendig und optimistisch; ich werde viel von ihnen lernen können. Wenn dem so ist, ziehe ich eine Tätigkeit in Lambarene einer ausschließlichen Lehrstelle in Mouila vor. • Eine andere Frage kommt auf mich zu: Um so weitgespannte Pläne zu verwirklichen, wird ein Jährchen ausreichen? Besonders da die eigentliche Arbeit erst an Ostern beginnen soll!? Anfänglich wollte ich ja (nur) ein Jahr in Afrika bleiben. Jean-Claude hat mit Freude und Überzeugung sein Einverständnis gegeben, seinen Aufenthalt um ein Jahr zu verlängern. Was mich betrifft, wäre das Einverständnis Milènes eine Notwendigkeit. Die Ent­schei­dung muss von uns beiden getragen wer­den. Ich denke daran, was P. Léon mir am letzten Abend gesagt hat: er habe damit gerechnet, dass ich Theo­logie weiter studiere und nach der Priesterweihe mit einer Gruppe der Poudrière in Südamerika neu beginnen solle. - Hier, in Lambarene, kann ich viele praktische Erfahrungen sammeln und innerlich meiner Berufung näher kommen. In den letzten Tagen habe ich häu­figer denn je an Südamerika gedacht und an die Gruppe, die dorthin gehen soll. Ich habe Milène in Brüssel gelassen, um sie hier im Gabun um so besser kennen zu lernen. Dieses Bewusstsein hilft mir, die Trennung zu „verdauen“, sie ohne Drama wegzustecken. Auch wenn ich das verrückte Verlangen in mir verspüre, sie an meiner Seite zu haben, mit ihr die Meeresbran­dung und den Sonnenuntergang zu betrachten. Ohne viel Worte, einfach so, nur spüren, dass sie neben mir steht. 21:00 Feierabend. Morgen will ich um halb sieben Uhr zur Messe gehen; der Abbé ist nicht mehr hier. Für heute habe ich genug erzählt. Das Briefchen, das ich von Milènes Mutter erhalten habe, hat mich ganz besonders gefreut. Sie schreibt wirklich wie eine Mutti, ein bisschen salbungsvoll, aber mit warmem Herzen. Es würde mich freuen, wenn sie Milène nach Saarlouis begleiten könnte. Die beiden würden dort meine Familie entdecken, vor allem mei­ne (größeren) Geschwister: Maria, Mechthild und Johannes. Elisabeth ist nicht mehr im Eltern­haus. Hildegard und Michael sind noch ziemlich klein und jung. Ich glaube, auf meine Eltern (und auf uns alle) kommen umwälzende Entscheidungen zu. Wir werden sehen. · Lhh010 19641015 Donnerstag 22:30 Heute Abend bleibt keine Zeit zu langen Erzählungen. Fragen, Ideen und Eindrücke schreibe ich in Stichworten hin, um mich später daran erinnern zu können. Der Tag war mit Arbeit angefüllt.

· Lhh010 19641016 Freitag 16:45 Feierabend. Bei bester Laune. Um es also kurz zu fassen: Die Beziehung zwischen Milène und mir ist prima; so kann und darf es weiter gehen. Das erhebende Neuheitserlebnis wird mit Sicherheit abklingen. Vielleicht wer­den die Briefe seltener und kürzer werden, denn schließlich soll ich hier arbeiten und nicht träumen! Unsere wechselseitige Beziehung wird ruhiger, fester, erwachsener sein. Und nicht so klerikal wie jetzt; denn ich stelle fest, dass ich mit einem ganzen Sack voller Bilder und Vorurteile „in die Welt“ gegangen bin. Das Kloster habe ich noch nicht abgeschüttelt. Meine Lektüre ist augenblicklich gleich null. Viel Zeit bleibt mir nicht dafür, und viel Lust auch nicht. 22:00 Unterm Moskitonetz. Ich habe den Brief begonnen, den Milène am 1. November mit nach Fraulau­tern nehmen wird, um ihn dort zu öffnen und vorzulesen. An Allerheiligen werde ich also ein wenig Heimweh haben! · Lhh010 19641017 Samstag 07:15 Ich habe nicht das Gefühl, dass heute Samstag ist. Gibt es das überhaupt, ein „Sams­tagsgefühl“? 12:15 Wir erwarten das Mittagessen, das George, unser Koch, vorbereitet hat. Wieder stelle ich fest, dass ich herumeiere, träume, Sprüche klopfe! Ich brauche eben jemand, der mich zur Ordnung ruft: „Jetzt langt's, Heini, halt mal die Klappe!“ Oder: „Du spinnst mal wieder!“ Oder: „Das sagst Du gut, - schlecht!“ Oder „Dies hast Du vergessen, das stimmt nicht!“ Usw. usw. Mitternacht Wir kommen vom Kino, dem einzigen in Libreville. „Cherchez l'idole“. Wir haben ausgiebig ge­lacht, ein bewegter (wenn auch nicht bewegender) Unterhaltungsfilm. Ein wenig Klamauk. Der Saal war gerammelt voll; ich schätze etwa 300 Plätze. Über die Hälfte Europäer. (Ich schreibe unter dem Moskitonetz.) • Überrascht hat mich meine eigene Reaktion. Ähnlich wie in Copainville spüre ich am Ende der Woche eine Art Erlebnishunger. Die Gleichförmigkeit der Arbeit, aber auch (und vor allem) die zivilisatorischen und kulturellen „Entbehrungen“ wollen kompensiert werden. Wir leben hier in einer inneren Isolation; es gibt Dinge, über die ich hier bislang mit nie­mand diskutieren kann. Auch nicht mit den Europäern, die mir über den Weg laufen. Ohne ein Minimum an innerer Disziplin ist man hier geliefert! • Jean-Claude saß neben mir und erzählte mir zum x-ten Mal, dass er in dieser Woche keine Post bekommen habe; er ist unruhig und macht sich Sorgen. Ich versuchte ihm zu versi­chern, dass seine Danielle garantiert geschrieben hat. Bisher schrieb sie zweimal in der Woche. Der Brief ist viel­leicht irgendwo hängen geblieben. Ich habe ihn auf morgen ver­tröstet. Ich selbst lebe seit Tagen in der Erwartung des Freitagsbriefes von Milène; morgen Abend müsste er ankommen. Und wenn er es nicht tut? Dann muss ich getröstet werden. · Lhh010

19641018 Sonntag 10:15 Ein friedlicher Sonntagmorgen. Es ist – wie gewöhnlich – schon ein wenig schwül. Schwere Wol­ken hängen über uns, sie kommen vom Atlantik und fragen sich, ob sie sich nicht lieber sofort an der Küste ausweinen sollen, statt mühsam ins Landesinnere zu ziehen. Wer glaubt, dass hier am Äquator die Sonne den lieben langen Tag auf uns niederbrennt, der täuscht sich. Die meiste Zeit, jedenfalls in der jetzigen Jahreszeit, versteckt sie sich hinter schweren Wolken. Um 07:45 war nicht mehr an schlafen zu denken. Wieder mal ging die Gefühlsschaukel hoch und runter. Ich dachte an Milène, hatte etwas Heimweh, war zugleich freudig gestimmt, etwas Wehmut. Es war also besser, aus dem Bett zu kriechen und etwas zu unternehmen, statt meinen Gedanken und Gefühlen anzuhängen. Also zur Sonntagsmesse um 08:15. Hier fand ich mein Gleichgewicht wieder. Als ich all die Men­schen sah: Männer und Frauen, Kinder, Greise, Afrikaner, Europäer, merkte ich, dass ich sie ein wenig lieb gewonnen habe. • Ich kann mir vorstellen, dass der Abschied vom Gabun mir schwer­fallen wird. Das Leben ist ein ständiges Abschiednehmen. Das stimmt nicht ganz, denn man nimmt eini­ges mit, man wird reicher. Die Menschen, denen wir begegnet sind, begleiten uns in unsere weitere Zukunft. So kann mich nichts von meinen Eltern und Geschwistern trennen, sie gehören zu meiner Gegenwart und gehen mit in meine Zukunft. Kein Wunder, wenn dasselbe auch für Milène und die Poudrière gilt. Was auch immer geschehen möge, sie gehören zu meinem Leben! Heute noch erinnere ich mich an Menschen, die mir in meiner frühesten Kindheit, während des Krie­ges, begegnet sind. Sie haben in mir Spuren hinterlassen, positive oder negative; manche habe ich kaum gekannt, nur flüchtig gesehen. Und doch haben sie mich mitbedingt und an mir herumgeformt. Sie wissen es nicht. Wenn ich mal viel Zeit und Muße habe, brin­ge ich meine ersten Kindheitserinnerungen zu Papier; ich glaube, es ist eine ganze Menge. Da ist, zum Beispiel, der amerikanische Soldat, - der erste Schwarze, den ich gesehen habe. 1945 war es. Während der Durchfahrt der amerikanischen Armee wurde er eine Nacht bei uns einquar­tiert. Wir waren in Neckargerach evakuiert. Meine Mutter hatte natürlich Angst. Der Mann saß auf einem Stuhl, in der Diele des Hauses, in dem wir untergebracht waren. Ich kletterte ihm auf den Schoß und versuchte, ihm die Schwärze aus dem Gesicht zu reiben. Er lachte von einem Ohr zum andern. Wir verstanden ihn nicht. Er schlief im Hauseingang (Diele). Am nächsten Morgen war er verschwunden. Auf dem Küchentisch hatte er eine Menge uns unbekannter Köstlichkeiten zurückgelassen: Konserven, Schokolade. Ähnliche Begebenheiten könnte ich haufenweise erzählen. Sie sind in mein Gehirn einge­brannt und werden mich ständig begleiten. Das Leben ist eine Entdeckungsfahrt: der Mensch ist das Objekt. Und da gibt es noch jede Menge zu entdecken. Jedenfalls für mich! 21:30 Heute habe ich einen Brief an Simone zusammengebastelt, auch Milène ist auf ihre Rechnung ge­kommen. An Teresa in Florenz werde ich morgen oder übermorgen schreiben. Ich denke oft an das Gespräch zurück, das wir, Teresa und ich, auf der Heim­fahrt von Chaumont im Lastwagen hatten. Es hat uns beiden geholfen, unsere Herzen zu erleichtern. So, jetzt langt es! Meine sämtlichen Schreibutensilien sind übers ganze Bett hin verstreut: Blätter, Briefumschläge, Briefe, Lexikon, eine Postkarte, meine Uhr, ein Dauerschreiber, eine Rotzfahne (Taschentuch); vielleicht liege ich auf etwas und weiß es nicht. Jetzt muss ich den ganzen Klimbim wieder einsammeln und verstauen. Ich werde mir noch überlegen, was ich Teresa schreiben werde. Dann Nachtruhe. · Lhh010 19641019 Montag 22:45

Unter dem Moskitonetz. Vorher hatten wir eine Zusammenkunft (Réunion) JTS der Gruppe, die nach Lambarene fahren soll. Dies ist vielleicht unsere letzte Woche in Libreville. Für heute muss es reichen! Ich bin ziemlich müde; es war und ist sehr schwül. · Lhh010 19641020 Dienstag 07:15 Heute muss ich auf der Hut sein: ich bin müde und etwas zerschlagen. Ich wollte sogar im Bett liegen bleiben. Aber irgendetwas hat mich hinausgejagt. • An dem „Centre“ vorbei führt ein Weg zur Hauptstraße, die ins Stadtinnere führt. Ab 7 Uhr ist er bevölkert von Leuten, die aus ihren Dörfern kommen. Auch zahlreiche Kinder, die zur Schule ge­hen. Es ist ein buntes Treiben. Grüppchen von Arbeitern stehen herum und warten ihre Stunde ab; man hat den Eindruck, dass sie unheimlich viel Zeit haben. Eine alte Frau, Stock in der Hand, Pfeife im Mund. Eine Rotte Kinder, die Mangofrüchte sammeln, die „Äpfel“ des Gabun. Ein junges Ehepaar: er vorneweg, sie hinterher, wie das hier gebräuch­lich ist; sie ein Bündel auf dem Rücken, daraus schaut etwas Struppig-haariges heraus: ein Baby. Ein paar Burschen gehen zur Arbeit; wie­der im Gänsemarsch; sie unterhalten sich da­bei sehr laut und angeregt, ohne den Kopf umzu­wen­den. Man beginnt sich zu kennen. Wir grüßen uns, einige sind ausgesprochen freundlich. • Heute traf ich nach der Messe Jean II, der gemächlich (er hat noch eine Stunde Zeit) zur Schrei­nerei schlenderte. Er fragte mich, ob ich in der Messe gewesen sei. - Ich bejahte und sagte, ich habe das nötig. - Er erwiderte, es gebe Leute, die sagten, die Messe sei nicht not­wen­dig. - Na ja, antworte ich, die haben sie halt nicht nötig, sie müssen ja nicht hin­ge­hen! „Aber, schau mal, ich bin sicher, dass Gott existiert. Wenn ich also die Möglichkeit habe, ihm guten Tag zu sagen, so tue ich das!“ Jean dürfte etwa 19 Jahre alt sein, gilt also als Erwachsener. Er hat sich schon öfter für sol­che Fragen interessiert, hat aber anscheinend selber noch keine Meinung; man fühlt deutlich, dass er tastet und sucht. Danach unterhielten wir uns über seine Arbeit, sein CAP (Certificat d'Aptitude Professio­nelle, glaube ich, Diplom beim Lehrabschluß). Er klagte, es gebe so viel Staub in der Schrei­nerei. Ich erzählte ihm von der Sandstrahlkammer bei Lebocey (Troyes), wo die Arbeiter nach 5 Jahren garantiert Silikose haben, - und von den Kohlegruben bei uns zu Hause: die engen Stollen (ich war einmal unten), der Lärm, die Hitze, der Staub und die unzähligen Gefahren. Jetzt, um 07:45 sitzt er mit einigen Kameraden unweit meinem Fenster und hält ein Schwätz­chen. Er ist übrigens ein guter Schüler und Arbeiter. 12:05 Bis jetzt läuft alles wie geschmiert. Sehr gute Stimmung. Ich bin, wie jeden Tag, am Singen, Summen, Pfeifen, Trällern. Heute morgen standen beson­ders Mozart und Haydn auf dem Pro­gramm. Manchmal geht es bunt durcheinander: Choral, Sauf­lieder, Kirchenlieder, Liebeslieder, Trauermarsch, Militär- oder Hochzeitsmarsch. Habe ich etwas vergessen? Lortzing, Verdi, Mozart, Haydn, Sheila (!), Duval etc. Sogar Wagner. - Unten? In der Küche, klappert das Geschirr. Guten Appetit! 16:30 • Den ganzen Tag über war ich mit meinen Gedanken schon beim „Familienfest“ am 1. Novem­ber, in Fraulautern. Es macht mich toll vor Freude, dass Milène mit ihrer Mutter dort hinfährt. Den Brief, den ich hier beilege, wird sie schön brav erst am ersten Abend in Fraulautern öffnen, wenn alle zusammen im Wohnzimmer sitzen. Irgendeiner soll ihn dann vorlesen. Ich versuche, Milène bei der neuen Rolle, die sie im Hufferschen Familienverband spielen soll, zu helfen.

Ich zweifle nicht daran, dass Milènes Anwesenheit günstig auf Maria und Mechthild wirken wird; wohl auch auf meine Mutter, die ja doch im Großen und Ganzen im Bilde ist. Damals, als ich ihr alles erzählte (im September), hat sie vor Rührung ein paar Tränen vergossen. Allerdings ist sie jederzeit fähig, die Fronten zu wechseln! Maria möchte einmal ein halbes Jahr aussetzen und ins Ausland gehen. Warum nicht nach Brüssel?! Milènes Anwesenheit wird sie darin bestärken und wird ihr helfen, die Mutter zu überzeugen. In der Nacht- und Nebelaktion steckt einige Berechnung, jedenfalls was mich betrifft. Es wird ein voller Erfolg werden, garantiert! Milène soll mal in den Büchern, Alben und Pro­spekten herumschnuppern. Oben, im „Bubenzimmer“. Was ihr gefällt, soll sie mitneh­men. Da ist zum Beispiel ein großer, prachtvoller Band über die Religionen; er liegt ziemlich ver­steckt unter einem Stapel Büchern. „Wilhelm Busch“ gehört auch dazu. Und jetzt sei es mir gnädig erlaubt, mich für eine Stunde in den „Code de la route“ zu vertiefen. Am Samstag möchte ich die Führerscheinprüfung bestehen. Der wäre für Lambarene sicher nützlich. 22:00 • Irgendwo habe ich die Schnapsidee eingefangen, Spanisch zu lernen. Wahrscheinlich weil der Père Léon (Poudrière) eine Gruppe nach Südamerika schicken will und dabei auch an mich gedacht hat. Ich habe hier ein kleines Buch von Langenscheidt: „30 Stunden Spa­nisch“. 30 Lektionen, gut aufgebaut, mit Grammatik, Übungen und sonstigem Tingeltangel. Wenn ich jede Woche nur eine Lektion lernen würde...? Und wenn Milène mittut, wird das noch spannender! Könnte ja sein, dass Spanisch einmal wichtig sein wird. Dennoch muss ich mich hüten, mir zu viel vorzunehmen. Hier im Gabun werden x Sprachen gesprochen, Französisch sowieso; eine der hiesigen Sprachen lernen, wäre kein Luxus. Mist, was sehe ich da?! Ein paar dicke Striche und Kleckse des Dauerschreibers auf dem Leintuch. Das kommt davon, wenn man schlechte Gewohnheiten hat! Schon das siebente Blatt, das ich nun beginne! 14 dicht beschriebene Seiten! Ich quatsche zu viel! Vielleicht wird das in der nächsten Woche aufhören, - teilweise! Es ist 22:30. Ich kriege die Maulsperre vor Gähnen und die Augen fallen mir zu. Es ist immer noch ziemlich schwül. Trotzdem bin ich in bester Verfassung. Und um es zu bleiben, lege ich jetzt mei­nen Griffel nieder. Ist das nicht schön gesagt?! Bis morgen also, um halb sieben. · Lhh010 19641021 Mittwoch 07:15 Eine halbe Stunde, die mir niemand stehlen kann! • Interessant, was man alles auf dem kurzen Stück Weges von der Kirche zum „Centre“ sieht. Unter anderem ein junges Ehepaar auf Fahrrad. Er lenkt, sie hockt auf der Fahrradstange; dabei muss er ganz vorsichtig und langsam fahren, um den Schlaglöchern ausweichen zu können (der Weg ist nicht geteert). Madame macht einen sehr zufriedenen Eindruck. Die beiden unterhalten sich angeregt. Sie sind sauber gekleidet, wenn auch einfach. • Gestern Mittag hatte ich eine kurze Unterhaltung mit dem „Senior“ der Werkstatt, er wird „le vieux“ genannt, ist etwa 40 Jahre alt. Er fragt mich, ob ich für immer hier im Gabun bleiben wolle. Zwei Sätze überraschten mich. „Welches Elend mit dem Gabun! Wir werden nie damit fertig werden!“ Es gibt blasierte Eu­ropäer, die behaupten, die Afrikaner seien glücklich und zufrieden ohne die Zivilisation; sie hätten sich so sehr an ihre Lage gewöhnt, dass sie das Elend gar nicht empfinden. - Ich er­zähl­te dem Mann, dass wir nach dem Weltkrieg noch elender dran waren als die

Gabuner heute: Menschen­massen, Flüchtlinge, Tote und Verletzte überall. Keine Kokos- und Bana­nenbäume. Ich habe ihm allerdings nicht gesagt, dass wir einige entscheidende Vorteile hat­ten, über die der Gabun (noch) nicht verfügt: Fachleute, Material, um mit einem systema­tischen Aufbau be­gin­nen zu können – und die USA, die massiv in Germany investierten. - Wenn wir damals mit unserer Situation fertig geworden sind, werden die Gabuner es auch können. Al­ler­dings mit Hilfe von außen. Das wäre doch ein lohnendes Ziel führ die Länder Europas! Am Ende sagte er: „Dieu contrôle tout!“. Das scheint ihm den Mut zur Arbeit zu geben. Sei­ner Meinung nach soll jeder Afrikaner so viel und so gut wie möglich arbeiten. Gott wird dann den Rest hinzugeben! Hat er schön gesagt; hoffentlich stimmt es! Man kann manchmal seine Zweifel haben.Ich würde da eher für eine starke Gewerkschaft optieren. Der Mann arbeitet sehr sorgfältig, wenn auch nicht sehr schnell. • Da habe ich einen Punkt angesprochen, der dazu angetan ist, mich auf die Palme zu bringen, - oder doch beinahe! Die Langsamkeit und Bedächtigkeit, mit der die Jungen meist arbeiten! Ich versuche dann, gerecht zu bleiben: Wir Europäer essen dreimal soviel und zehnmal bes­ser als sie; da ist es normal, dass wir mehr Spannkraft haben. Wir wohnen bedeutend beque­mer und gesünder. Überdies hat unsere Zivilisation uns ein Arbeitsethos eingetrichtert, das unsere Vorväter noch nicht kannten. Den Afrikanern stehen keine Jahrhunderte zur Verfü­gung, um mit uns aufzuschließen. Die müssen das innerhalb von zwei Generationen hinkrie­gen, wofür wir beinahe Jahrtausende nötig hatten. 12:10 • Hier noch eine dumme Sache bei uns zu Hause, die ich Milène erklären muss. Meine Mutter will nichts mit der zweiten Frau meines Onkels Heini zu tun haben. Gründe (blöde, finde ich) findet man immer. Bei meinem letzten Heimataufenthalt bin ich bei ihnen gewesen; schließlich habe ich ja nichts gegen sie, und mein Onkel ist auch mein Pate. Wir haben das Vergangene nicht erwähnt und uns bestens unterhalten. Die Geschwister versuchen schüch­tern, den Kontakt wieder herzustellen; sie sollten mal kräftig Rabatz machen, damit unsere Mutter zur Einsicht kommt! Eine solche Situation ist ein Skandal. Wir spielen die Vorzeigechristen, tun betont religiös – und auf der Straße kennen wir uns nicht mehr. Da tu ich nicht mit! Die Gründe sind faden­scheinig bis total ungerecht. Ich hoffe, dass Mama jetzt so weit ist, dass sie von ihrer starren Haltung abgeht. Ich hatte schon manchmal Krach mit ihr, weil ich mich nie um die Streite­rei­en der beiden Familien kümmerte und es meiner Mutter zu erklären versuchte. Versuchte! · Lhh011 19641022 Donnerstag 07:05 Die tägliche Messe gibt mir die Gelegenheit, Ge­danken, Gefühle, Stimmungen und Launen neu zu ordnen, - mich auf mein Ziel auszurichten. Jeder hat eben so seine Methode, um sein Gleichgewicht zu finden. Eine sehr große Hilfe für mich ist das Gespräch mit Milène. Ich fühle mich für sie ver­ant­wortlich, - und das gibt mir Flügel! Aber ich hänge auch von ihr ab! Wenn sie pleite geht, halte ich es hier keine zwei Wochen aus. • Draußen geht ein solider Tropenregen nieder. Ich kam pudelnass von der Messe zurück, auch wenn es nur 200 Meter (oder weniger) weit ist. Die Luft ist 100-prozentig mit Feuch­tigkeit gesättigt. Was da an Wasser herunterkommt, ist mehr als ein kleiner Regen! Im­mer­hin frischt er ein wenig auf, und das tut gut! 16:30 (ungefähr) Meine Armbanduhr ist futsch; anscheinend nur der Sekundenzeiger, der klemmt. Ich muss sie wohl nach Hause schicken. • Als ich vorhin von der Arbeit zurückkam, hat mich ein ähnliches Gefühl überfallen, wie ich es frü­her, - im Noviziat, in Troyes, auch in der Poudrière – so oft hatte: Einsamkeit, Leere. Viel­leicht liegt es an einer gewissen Übermüdung.

Meine Eltern und Geschwister habe ich immer geliebt, - aber es gab Dinge, die ich ihnen nicht mit­teilen konnte, und die sie nicht verstanden. Seit meinem 17. Lebensjahr habe ich von einem Men­schen geträumt, mit dem ich in vollkommenem Gleichklang stehen konnte, dem ich alles sagen und zeigen durfte, der auf alle Fragen antworten würde. Vielleicht liegt hier ein (oder DER?) Grund, weshalb der Mensch Gott sucht. Oder glaubt, Gott zu suchen. Und glaubt, ihn gefunden zu haben. Möglicherweise ist Gott für uns die Ant­wort auf unsere inneren und äußeren Nöte! Der Mensch hätte also Gott nach seinem Ebenbild geschaf­fen! Nietzsche und andere lassen grüßen. Was mich betrifft, wird dieses Thema mich sicher noch näher beschäftigen, und, ich wette, sehr lange. Ich gestehe, dass ich seit etwa 5 Jahren die „Schwesterseele“ suche. Eine ständige innere Un­ruhe, die in mir bohrte. Das Seminar mit seinen spitzfindigen Sicherheiten und Doktrinen hat mir am al­lerwenigsten geholfen. „Wahrheiten“ einfach übernehmen, bloß weil sie ir­gend­jemand formuliert hat, war nie mein Ding, auch heute nicht. Ich muss überzeugt wer­den. Auch wenn die verkündete Wahrheit richtig ist! Ich muss sie nachvollziehen können. Fehlt mir also die „Gnade des Glaubens“? Kann sein. Ich bin möglicherweise ein geborener Protest­ant. Vielleicht sind die Nichtchristen die besten Chri­sten! • Zurück zum Seminar und zumm Kloster. Ich war voll und ganz einverstanden mit meinem Berufsziel. Mit 16 oder 17 Jahren habe ich an Pater Puhl (SVD, Japan) einen langen Brief geschrieben, den ich heute nicht mehr so verfassen würde. Ich erinnere mich sehr gut, es war spät abends, während der Heimatferien, ich saß am Wohnzimmertisch (erster Stock), meine Mutter war in der Nähe. Und diesem Missionar habe ich versichert, dass ich die Berufung zum Priestertum in mir höre. Sollte ich davon abkommen, sei es meine eigene Schuld. Und seinen Beruf verlieren sei eine schwerwiegende Sache vor Gott und der Kirche. Einverstanden mit dem Ziel. Aber der Weg dorthin passte mir nicht. Mir fehlte das echte, ge­lebte Leben! Im Kloster fand ich es nicht. Also suchte ich es außerhalb der Klostermauern. Ich liebte es, Menschen zu begegnen, fremde Leute kennen zu lernen (vor allem in Wien und Umge­bung). Meine Oberen (durch deren Mund sich ja bekanntlich der Wille Gottes äußert) trauten mir kaum etwas zu, das war auch nicht ihr Job. In Wirklichkeit war ich bedeutend vorsichtiger und be­wusster, als sie dach­ten, habe mich nie in eine Situation hineinziehen lassen, die ich nicht verant­worten und meistern konnte. Und wie steht es heute mit Milène? Sie ist für mich mehr als nur eine nette Freundin! Wir steuern beide auf eine Entscheidung zu, die unser Leben grundlegend verändern kann. Wir müssen uns eben die Zeit lassen, um in die neue, noch unbekannte Existenz hinein zu wachsen. Wenn es Gott gibt, versteckt er sich irgendwo am Rande des Weges, den wir gehen. Wird er uns tatsächlich einen deutlichen Fingerzeig geben?

19641024 Samstag Früh am Morgen. Die gestrige Diskussion mit drei Afrikanern der Schreinerei war sehr interessant, sogar dramatisch. Es war eine der Situationen, in denen sich alles entscheiden kann. Mein Gerede war nur ein arm­se­liges Gestammel, das fühlte ich deutlich. Denn mit reinen Vernunftargumenten sind die Jungen nicht zu überzeugen; sind meine Argumente wirklich „vernünftig“ und dazu geeignet, Religion zu „beweisen“? Für sie ist das christliche Glaubensgefüge nicht viel mehr als äußerer Verputz; - es fehlen ihnen die Fundamente und die Mauern! Die jungen Leute haben einen starken Sinn für übernatürliche Kräfte, das ist ihr afrikanischer Fundus. Diese Kräfte flößen ihnen Furcht ein. Das ist nur allzu verständlich, wenn man in Betracht zieht, in welcher Umwelt die Afrikaner überleben mussten. Übrigens war es für unsere Vorfahren nicht viel anders. Sie stellen Fragen, suchen. Ein wohlbedachtes Wort kann da helfen, - und vor allem unser gelebtes Beispiel. Den Rest muss Gott eben selbst erledigen, wenn es ihn gibt – und wenn er will! Die Theologen nennen das Gnade. • „Gott existiert nicht“, sagt einer. Ich bin nicht sicher, ob oder dass er das glaubt. „Man kann ihn ja nicht sehen!“ - „Siehst du denn die Luft? Sie existiert doch. Wenn es sie nicht gäbe, wä­ren wir alle mausetot!“ So ähnlich; dies ist nur eine kurze Zusammenfassung. • „Aber wie kann man denn wissen, dass er da ist?“ Und so weiter. Ausgangspunkt ist, dass die Welt, die Dinge, die Lebewesen so unglaublich komplex sind, dass es irgendeinen Schöpfer geben muss; den nennen wir „Gott“ oder sonst wie. Dieser Schluß entspricht unserm gesunden Menschenverstand. Menschenverstand! Gesund! • Irgendwie glitten wir dann auf die Frage nach dem Ursprung des Lebens. „Das Leben hat sich entwickelt“, sagt einer. Ganz am Anfang gab es kein Leben, dann plötzlich war es da. muss es nicht vorher schon etwas Lebendiges gegeben haben? • Sehr tiefgründig, Mensch! Wahrscheinlich ist uns der Zugang zu solchen Dimensionen sowieso unmöglich. Unser Gehirn kann das nicht erfassen. Etwa 15:30 • Führerschein ist daneben gegangen. Im Rückwärtsgang musste ich – mit einem fremden Wagen! - zwischen vier Tonnen durch; eine habe ich dabei berührt. Durchgerasselt. A la prochaine! In Lambarene werde ich es wieder versuchen müssen. Ich habe gelacht wie bescheuert, als ich merkte, dass es aus war. Eine nervöse Reaktion. In den feierlichsten wie den traurigsten Augenblicken lache ich; das passt nicht immer zur Situation. • Das Heftchen „Amour et Joie“ ist angekommen. Im Großen und Ganzen kommt mir die Thematik etwas künstlich und verkrampft vor. Vielleicht bin ich auch zu trocken und gewöhnlich; mir riecht das nach Sektierertum. Diese meine Reaktionsweise hat mir schon einige Schwierigkeiten eingebracht. Zum Beispiel in St. Wendel, wo mancher Erzieher meinen trockenen und kritischen Witz nicht einordnen konnte; für sie hatte ich, als Geiger, ein gefühlsseliger Romantiker zu sein. Ich bin jedoch einverstanden mit den Stellen, die Du angestrichen hast. - Der aufgebauschte Rednerstil des P. Sixte scheint mir typisch zu sein: „A notre époque atomique (drôle de terme!), en nos temps modernes (les temps ont toujours été modernes!) torturés et agités...“ Am Ende: „Rien ne trouble la paix de Dieu.“ Nichts kann also den Frieden Gottes stören. Von mir aus! Worin besteht denn dieser Friede Gottes? In einer Friedhofsruhe?! Mein grobes Bauerngemüt kann mit einer solchen Prosa nichts anfangen; vielleicht ist mir auch dieser Gott suspekt?! 19641025 Sonntag Weiter im alten Text! Sonntagmorgen 07:30.

Gestern war ich zum Umfallen müde. Seit dem Mittag regnet es ohne Unterbrechung. Ich habe sehr gut geschlafen. Heute möchte ich einige Briefe schreiben. Im Grunde glauben die jungen Afrikaner an einen Gott, können ihn sich aber nicht vorstellen. Sie suchen ihn. Das ist vielleicht ehrlicher als meine Einstellung: ich glaube ihn gefunden zu haben! Ich versuche, den Wust ein wenig geordnet wiederzugeben. • Einem versuchte ich zu erklären, daß wir mehr seien als reine Materie, - dass Gott uns ge­schaffen hat. Wir können lieben und hassen, anderen Menschen helfen, sogar unentgeltlich für sie und mit ihnen arbeiten und leben (Beispiel JTS); wir haben doch alle das Bedürfnis, jemanden zu finden, der uns versteht und liebt (wie bin ich wohl auf diese Idee gekom­men?!). So sind wir „konstruiert“. • Das ist das Großartige: Jeder ist eine einmalige Konstruktion, fûr eine ganz bestimmte und spezialisierte Aufgabe geschaffen (klingt deterministisch, und ist es auch!). Jeder ist unersetzlich. Dieser letzte Satz bereitet mir Unbehagen: stimmt das denn wirklich, was ich da von mir gebe? Ist es nicht eher ein frommer Wunsch? Ich bin mir meiner Wahrheiten nicht sehr sicher. • Wie aber wissen, wo unsere Aufgabe ist? - Wir müssen auf die Stimme Gottes lauschen. - „Ich höre ihn ja nicht“, wird mir geantwortet. - Da Gott alles geschaffen hat, spricht er zu uns durch seine Schöpfung (zu der wir selbst gehören). Die Dinge, die Ereignisse, die Men­schen, alles ist ein Widerschein Gottes. Wenn dort oben im Straßengraben einer halb­ver­hun­gert liegt und du gehst an ihm vorbei, hast du Gott nicht hören wollen, der in diesem Augen­blick zu Dir spricht. Vielleicht verstehen wir nicht sofort das Warum, viel­leicht geht uns das erst in 20 oder 50 Jahren auf. • Wenn es im Gabun so viel Elend und Armut gibt und du hast die Chance gehabt, einen nütz­li­chen Beruf zu erlernen, musst du diesen dazu benutzen, um deinen Mitmenschen zu helfen. • Wir landeten beim Thema: Freiheit des Menschen. Die Jungen denken, dass der Mensch von Gott gezwungen wird, einen bestimmten Weg zu gehen. Der Gott der Furcht! Ich versuchte, Gegenargumente vorzubringen: Gott hat mich in den Gabun gerufen. Ich hätte ebenso gut „Nein“ antworten können, um nach meiner Fasson mein Leben einzurichten. Gott respektiert unsere Entschei­dung. Er rät uns nur. Dort nebenan, in der Mechanikerwerkstatt, steht ein 2CV-Motor. Ich sage zu ihm: „Du kannst wählen, in welches Fahrzeug du eingebaut werden willst: in einen Mercedes (es ist gerade einer hier zur Reparatur), in ein Flugzeug, in einen Omnibus, oder in einen Panzer. Du kannst dich auch für einen 2CV entscheiden. - Der Motor wäre blöd, wenn er antworten würde: „Ich möchte in den Panzer eingebaut werden.“ Der Panzer käme keine zwei Meter vorwärts. Dieser Hammer (ich hatte einen in der Hand): Er ist für eine bestimmte Funktion geschaffen: Nägel einklopfen. Ich kann dir aber auch damit in die Fresse hauen (casser la gueule), mir auf die Pfoten klopfen (was ich unfreiwilligerweise getan habe), Kartoffelpüree damit zubereiten. Schulbänke zusammennageln entspräche wohl am meisten seiner ureigenen Funktion. Die andern Beispiele sind sinnlos und sogar gefährlich! Ich habe einen weiten Weg vor mir. Um ans Ziel zu kommen, muss ich durch das Dorf A gehen. An einer Wegkreuzung stehen Wegweiser, einer gibt den Weg nach A an. Da sage ich mir: „Henri, jetzt beweist Du mal, dass Du ein freier Mann bist, du wählst den Weg nach XYZ und läßt dir den nach A nicht aufzwingen! Niemand hin­dert mich daran, den falschen Weg einzuschlagen. Wenn ich nicht ans Ziel komme, habe ich mir das ganz allein zuzuschreiben! Zu Gott laufen und mich beschweren, hat keinen Sinn. Oder ich bin zum ersten Mal im Hochgebirge (wieder mal!). Ich will einen Gipfel besteigen und habe mir in den Kopf gesetzt, den schmalen Pfad abzukürzen und die Felswand hoch zu klettern. Ein Einheimischer, der sich sehr gut auskennt, rät mir dringend ab, denn es gibt Felsspalten dort oben, die man von unten nicht sieht. Er empfiehlt mir den sicheren, wenn auch längeren Bergpfad. Niemand kann mich daran hindern, doch die Felswand hoch zu klimmen. Ich brauche mich also nicht zu wundern, wenn ich mir in einer Spalte das Genick breche. • Einer stellte sich Fragen über die Hölle. Sie erscheint ihm grausam und ungerecht. Ich sagte ihm, die Hölle sei nichts anderes als der wissentlich gewählte falsche Weg nach XYZ.

• Sie sagten mir auch: „Die Priester – die katholischen! - haben unsere alte Religion zerstört. Wir opferten Schafe und anderes und glaubten an höhere Kräfte. All das wurde vernichtet und verboten. Die katholische Kirche ist uns unverständlich und fremd.“ Dieser Einwand hat mich am meisten berührt, da er stimmt! Wir haben den Afrikanern eine europäische Kirche aufgezwungen und ihnen damit den Zugang zu ihren eigenen Werten verwehrt. Einer fügte hinzu: „Man sollte die Priester aus dem Land jagen!“ Um das zu sagen, braucht es viel Mut, denn die christliche Kirche ist hier noch allmächtig und allgegenwärtig. Er fürch­tet sich also nicht vor dem Europäer, der ich bin. Übrigens habe ich hier erfahren, dass es im Landesinneren der Republik einen Polizeiprä­fekten gibt, der Priester ist! Machtmißbrauch? Jedenfalls kein Vorbild für die christliche Lehre. Ich kann nicht anders als den Jungen Recht geben. Die europäische Priesterkaste, die die Kolonialarmeen zu den wilden Heiden begleitete, hat tatsächlich unsäglich viel zerstört. „Aber schaut euch mal das Konzil an. Der afrikanische Bischof von Tanganjyka hat der lateinischen Kirche in aller Offenheit imperialistische Methoden vorgeworfen – und die Kirchenversammlung gibt es zu! Kann es nicht sein, dass die Missionare dennoch Größeres an die Stelle des Alten gesetzt haben? Euren Vorfahren flößten die Naturgottheiten Furcht und Schrecken ein. Mit allen möglichen Opfern und Riten musste man sie beschwichtigen. Ich erwähnte unsere germanischen Vorfahren, die ebenfalls vor ihrem Gott einen Mords­bammel hatten und die alles opferten, um den schrecklichen Herrn zu beruhigen. Erst die christlichen Priester führten einen Gott ein, der nicht willkürlich und grausam son­dern liebend war. Einen Vater. Für die Germanen der damaligen Zeit eine unbekannte Vor­stel­lung. Die Idee, die ihr früher von Gott hattet, war nicht verkehrt. Das liegt wohl daran, dass der Mensch die göttliche Dimension nicht ergründen kann. Es war unge­recht von den Europäern, dass sie eure Religion mit Stumpf und Stiel ausrotten wollten. Sie hätten auf den bestehenden Stock den christlichen Zweig aufpfropfen sollen. Glücklicher­weise sieht man das heute ein und bemüht sich, eure afrikanische Art zu erhalten und weiter zu entwickeln. Whishfull Thinking! Ist Gott Christ? Ist Jesus Katholik? Praktizieren die christlichen Kirchen wirklich den liebenden Gott, wie sie es behaupten? Ich habe so meine Zweifel. Es gab noch so viel, über das wir diskutiert haben, manchmal leidenschaftlich, dass man sich fragen kann, ob wir überhaupt gearbeitet haben! Ich entdeckte ein Stück Afrika, seine Seele, seine Kämpfe, seine Vorurteile und Schwächen. Und seine Stärken. Eines ist mir jetzt klar, die Jungen verfügen über einen erstaunlichen inneren Reichtum, und der wurde ihnen nicht von der katholischen Kirche übergeben. Es ist immer noch Sonntagmorgen, um 11:30 gehe ich zur Messe. Heute will ich unbedingt schreiben an: Firma Huffer, Poudrière, Familie Dols, Abbé Honnet. Also bis später! Ich denke ständig an Milènes Brief, der heute Abend wahrscheinlich ankommen wird. Ich hoffe, dass mein letzter, vom 22/10, inzwischen bei ihr gelandet ist. Hier regnet es noch immer. Abends, ca. 22:00. Pech gehabt! kein Brief für mich! Ruhig Blut! Ich lebe noch, bin sogar ziemlich ruhig. Ich habe den Brief für die Poudrière begonnen: allgemeines Blabla; ich kann halt der Ge­mein­schaft nicht das schreiben, was ich Milène anvertraue. Es hat mir trotzdem Spaß gemacht, mal wieder Gift zu spritzen. Mit einem Wort, ich bin ein Ekel! In wenigen Minuten verkrieche ich mich unters Moskitonetz; dort werde ich noch Eltern und Ges­chwistern schreiben.

19641026 Montag Die Diskussion mit meinen afrikanischen Kameraden geht mir nicht aus dem Kopf. Ich habe sie deshalb so eingehend beschrieben (aber dennoch bruchstückhaft), damit Milène das eine oder andere kom­mentieren oder berichtigen kannst. Ich bin mir zum Beispiel gar nicht sicher, ob ich die Frei­heit des Menschen richtig erklärt habe. Überhaupt, gibt es sie tatsächlich? Meine Beispiele stinken irgendwie: nach ihnen wäre Freiheit nicht (viel) mehr als Einsicht in die Notwendigkeit Sachzwang! Wie dem auch sei, ich werde einiges aufzuarbeiten haben! Die Jungen hatten noch viele kleinere und kleinliche Punkte: Kennt Gott die Ehe? Priesterheirat Warum ist Christus (Gott) Europäer (was ja nicht stimmt!)? Warum stellt man den Teufel schwarz dar? Gibt es den überhaupt? Wenn wir Brevier lesen wollen, werden wir vom Bischof verhaftet! (Wo haben die das her? Nachher werde ich ein französisches Brevier mit in die Werkstatt nehmen) Ich gab so gut Auskunft, wie ich konnte, versuchte dabei möglichst anschaulich zu bleiben. Manche Frage war so gestellt, dass ich keine vernünftige Antwort parat hatte. Meine letzte Antwort war, eine halbe Stunde länger zu arbeiten, um die in der Diskussion verlorene Zeit (teilweise) nachzuholen. Irgendwie liegt auf den Afrikanern hier eine Melancholie, - ich habe es schon öfter feststellen kön­nen. Am Samstag fragte Jean I (Chef der Schreinerei, sehr jung und intelligent, - und sympathisch), wann ich nach Lambarene fahren werde. - In der nächsten Woche, vermutlich. - Daraufhin sagte er: „Sie werden uns ja doch keinen Brief schreiben, sondern nur an die andern (=JTS)!“ Er schien ein wenig traurig und resigniert zu sein. Ich wusste keine andere Antwort, als ihn auszulachen, vor den Bauch zu boxen und zu versichern, dass ich schreiben werde. Er glaubt es mir nicht eher, als bis er den ersten Brief von mir erhalten hat. - Ich werde ihm schreiben, das habe ich mir vorgenommen. Jean I wird an Weihnachten wahrscheinlich in Lambarene sein und will mich dort besuchen. Das freut mich, wirklich! Es gibt dort so etwas wie eine Verlobte, scheint mir. Kurz vor dem Mittagessen. NOCH KEIN BRIEF VON DIR, MILÈNE! ICH KANN MIR NOCH SO VIEL MÜHE GEBEN, UM MICH ZU KONTROLLIEREN, ICH BIN INNERLICH DOCH UNRUHIG UND AUFGEREGT. SOLLTE ICH ETWA ETWAS DUMMES GESCHRIEBEN HABEN IN MEINER LETZTEN EPISTEL? ABER DU WÜRDEST ES MIR JA DANN SAGEN. - WARTEN WIR ALSO NOCH EIN WEILCHEN. GEDULD KANN MIR NICHT SCHADEN! ICH PREDIGE SIE ANDERN, NUN MUSS ICH SIE MAL ZUERST SELBST ÜBEN. DASS DU AM FREITAG EINEN BRIEF WEGGESCHICKT HAST, STEHT FÜR MICH AUSER ZWEIFEL. VIELLEICHT FINDE ICH IHN NACH DER ARBEIT. Etwa 16:00 Uhr. Feierabend. Jetzt gehe ich rüber zur Mission (neben der alten Kirche, hinter der neuen Kathedrale), vielleicht ist Post dort angekommen. Einige Minuten werde ich wohl in der (alten) Kirche an­halten, um die Nerven ins Gleichgewicht zu bringen. - Und jetzt, tief Luft holen – und hinein ins Gewühl! HURRA!

Gerade stand ich vom Tisch auf, legte dieses Blatt zur Seite, um loszudampfen. Da war Daniel schon da mit Milènes Brief! Er (der Brief) liegt noch ungeöffnet vor mir. Sorry, dieses Blatt lege ich also wieder mal zur Seite. Was schreibt sie denn, die ferne und so nahe Milène? … … … MILÈNECHEN, ICH BIN WEICH WIE EINE FAULE TOMATE! JETZT WIRD NIX GESCHRIEBEN! DER BESTE ORT, UM DEINEN BRIEF ZU LESEN, IST IN DER ALTEN „CASE“ DES CHEFS (THE BIG MASTER ON THE TOP, WIE DIE PAPUAS SEINE FUNKTION AUSDRÜCKEN: PIDGINENGLISH). ALSO LOS ZUR KIRCHE, DIE ALTE, DIE MIR DIE GEEIGNETE AMBIENTE LIEFERT. ICH MUSS MIR LUFT MACHEN! DU GEHST DOCH MIT? 23:30 Heute Abend will ich nicht mehr viel schreiben. Es ist schon so spät! Und mir fehlen mal wieder die Worte. Dein Brief hat mich erkennen lassen, wieweit Du mir schon voraus bist. Ich platze vor Freu­de und Dankbarkeit. Ich habe einen Brief nach Hause begonnen; der andere, für die Poudrière, wird ebenfalls wohl mor­gen fertig werden. 19641027 Dienstag WÄHREND DER MESSE HABE ICH AN DICH GEDACHT, WIE KONNTE ES AUCH ANDERS SEIN. HIER VERSUCHE ICH, MEINE GEDANKEN IN EIN RUHIGES FAHRWASSER ZU LEITEN. MILÈNE, LAS MIR BITTE DIE ZEIT, UM IN RUHE DEINEN BRIEF ZU BEANTWORTEN; GESTERN ABEND, VOR DEM EINSCHLAFEN, HABE ICH DEN NOCH ZWEIMAL DURCHGELESEN. IN WENIGEN TAGEN WIRST DU IN FRAULAUTERN SEIN. ERZÄHLE BITTE DAHEIM EIN WENIG VON MEINEM LEBEN. ICH HOFFE, DASS MAMA SICH NICHT ZURÜCKGESETZT FÜHLT, WEIL ICH SO WENIG GESCHRIEBEN HABE. Was kannst Du in Trier treiben? Vom Bahnhof schnurstracks zur Porta Nigra; von dort durch die belebte Simeonstraße zum Haupt­markt: wie alles in Trier römischen Ursprungs. Das mittelalterliche Marktkreuz erinnert daran, dass hier Markt abgehalten werden durfte. Um den Platz herum stehen mehrere alte und interessante Ge­bäu­de, gotisch, barock, rokoko, romanisch unterlegt. Am „Roten Haus“ eine lateinische Inschrift, die Dir erzählt, dass Trier schon vor Rom bestanden hat. Links, durch eine enge Gasse (ein paar Devotionalienläden) geht es zum Dom und zur Liebfrauen­kirche. Den Kern erkennt man noch heute: eine römische Doppelbasilika, ein Kaiserpalast (Basilika = Kaiserhaus). Die Christen haben die imposante kaiserliche Architektur abgekupfert, oder vielmehr solche öffentlichen Gebäuden umfunktioniert in Gotteshäuser, in Basiliken. Schau Dir also den Dom an. Von außen ist er einfacher und interessanter als von innen. Vielleicht sollte ich sagen, dass die Außenarchitektur noch mit einer Stimme spricht, während sich im Innern eine Vielfalt an Dekorationen und sakralem Mobiliar angehäuft hat, dort fehlt der einheitliche Guss. Obwohl man mit einiger Geduld im Innern viele ursprüngliche Elemente aus der Kaiserzeit (Kon­stantin) erkennen kann.

Die Liebfrauenkirche, rechts neben dem Dom, gehörte zum Gebäudekomplex; in ihr residierte Kon­stantins Mutter, Helena. Außer Elementen des Grundrisses ist von der römischen Architektur kaum etwas übrig geblieben. Alles wurde gotisch „modernisiert“. Von dort zum ehemaligen Bischofspalast, heute Finanzamt. Rokoko, französischer Einfluss. Der kaiser­liche Prunkpalast wurde glücklicherweise renoviert; er diente den Bischöfen als Steinbruch, um ihren eigenen Palast zu bauen! Wenn Dir noch die nötige Zeit bleibt, mach auf dem Rückweg zum Bahnhof einen kleinen Um­weg über Sankt Paulin. Eine klassische Barockkirche, Architekt Baltasar Neumann. Sehr sehens­wert und einzig in unserer Gegend. Selbst Simone hat eingeräumt, dass der Barockstil vielleicht doch nicht so scheußlich („affreux“) ist, wie sie immer glaubte. Sie kann Dich ja beraten. Wenn Deine Mutter Dich begleitet, ist sie sicher körperlich fähig, den kleinen Spaziergang durch Trier zu absolvieren. Und jetzt kommt gut in Saarlouis an! Grüßt alle und jeden. · Lhh011 19641023 Freitag • Sehr interessante Diskussion mit drei Afrikanern der Schreinerei. Es war eine der Situatio­nen, in denen sich alles entscheiden kann. Mir ist bewusst, dass mein Gerede nur ein hilflo­ses Gestammel war. Denn mit reinen Vernunftargumenten sind die Jungen nicht zu überzeu­gen; sind meine Argumente wirklich „vernünftig“ und dazu geeignet, Religion zu „bewei­sen“? Für sie ist das christliche Glaubensgefüge nicht viel mehr als äußerer Verputz; - es fehlen ihnen die Fundamente und die Mauern! Und mir auch! Die jungen Leute haben einen starken Sinn für übernatürliche Kräfte, das ist ihr afrikani­scher Fundus. Diese Kräfte flößen ihnen Furcht ein. Das ist nur allzu verständlich, wenn man in Betracht zieht, in welcher Umwelt die Afrikaner überleben mussten. Übrigens war es für unsere Vorfahren nicht viel anders. Sie stellen Fragen, suchen eine Antwort. Ein wohl­bedachtes Wort kann da helfen, - vor allem aber unser gelebtes Beispiel. Den Rest muss Gott eben selbst erledigen, wenn es ihn gibt – und wenn er will! Die Theologen nennen das Gna­de. „Gott existiert nicht“, sagt einer. Ich bin nicht sicher, ob oder dass er das glaubt. „Man kann ihn ja nicht sehen!“ - „Siehst du denn die Luft? Sie existiert doch. Wenn es sie nicht gäbe, wä­ren wir alle mausetot!“ So ähnlich; dies ist nur eine kurze Zusammenfassung. „Aber wie kann man denn wissen, dass er da ist?“ Die Welt, die Dinge, die Lebewesen sind für uns unglaublich komplex und undurchdringlich, dass wir notwendigerweise auf einen Schöpfer schließen müssen. Den nennen wir „Gott“ oder sonst wie. Dieser Schluss ent­spricht unserm gesunden Menschenverstand. Menschenverstand! Gesund! Irgendwie glitten wir dann auf die Frage nach dem Ursprung des Lebens. „Das Leben hat sich entwickelt“, sagt einer. Ganz am Anfang gab es kein Leben, dann plötzlich war es da. muss es nicht vorher schon etwas Lebendiges gegeben haben? Der Zugang zu solchen Dimensionen ist uns verwehrt, unser Gehirn kann das nicht erfassen. • Im Grunde glauben die jungen Afrikaner an einen Gott, können ihn sich aber nicht vorstel­len. Sie suchen ihn. Das ist vielleicht ehrlicher als meine Einstellung: ich glaube ihn gefun­den zu haben! • Einem Jungen versuchte ich zu erklären, dass wir mehr seien als reine Materie, - dass Gott uns ge­schaffen hat. Wir können lieben und hassen, anderen Menschen helfen, sogar unentgeltlich für sie und mit ihnen arbeiten und leben; wir haben doch alle das Bedürfnis, jemanden zu finden, der uns versteht und liebt (wie bin ich wohl auf diese Idee gekom­men?!). So sind wir „konstruiert“. Das ist das Großartige: Jeder ist eine einmalige Konstruktion, für eine ganz bestimmte und spezialisierte Aufgabe geschaffen (klingt deterministisch und ist es auch!). Jeder ist uner­setzlich. Dieser letzte Satz bereitet mir Unbehagen: stimmt das denn wirklich, was ich da von mir gebe? Ist es nicht eher ein frommer Wunsch? Ich bin mir meiner Wahrheiten nicht sehr sicher.

Wie aber wissen, wo unsere Aufgabe ist? - Wir müssen auf die Stimme Gottes lauschen. - „Ich höre ihn ja nicht“, wird mir geantwortet. - Da Gott alles geschaffen hat, spricht er zu uns durch seine Schöpfung (zu der wir selbst gehören). Die Dinge, die Ereignisse, die Men­schen, alles ist ein Widerschein Gottes. Wenn dort oben im Straßengraben einer halb­ver­hun­gert liegt und du gehst an ihm vorbei, hast du Gott nicht hören wollen, der in diesem Augen­blick zu Dir spricht. Vielleicht verstehen wir nicht sofort das Warum, viel­leicht geht uns das erst in 20 oder 50 Jahren auf. Wenn es im Gabun so viel Elend und Armut gibt und du hast die Chance gehabt, einen nütz­li­chen Beruf zu erlernen, musst du diesen dazu benutzen, um deinen Mitmenschen zu helfen. • Wir landeten beim Thema: Freiheit des Menschen. Die Jungen denken, dass der Mensch von Gott gezwungen wird, einen bestimmten Weg zu gehen. Der Gott der Furcht! Ich versuchte, Gegenargumente vorzubringen. Gott hat mich in den Gabun gerufen. Ich hätte ebenso gut „Nein“ antworten können, um nach meiner Fasson mein Leben einzurichten. Gott respektiert unsere Entschei­dung. Er rät uns nur. Dort nebenan, in der Mechanikerwerkstatt, steht ein 2CV-Motor. Ich sage zu ihm: „Du kannst wählen, in welches Fahrzeug du eingebaut werden willst: in einen Mercedes (es ist gerade einer hier zur Reparatur), in ein Flugzeug, in einen Omnibus, oder in einen Panzer. Du kannst dich auch für einen 2CV entscheiden. - Der Motor wäre blöd, wenn er antworten würde: „Ich möchte in den Panzer eingebaut werden.“ Der Panzer käme keine zwei Meter vorwärts. Dieser Hammer (ich hatte einen in der Hand): Er ist für eine bestimmte Funktion geschaffen: Nägel einklopfen. Ich kann dir aber auch damit in die Fresse hauen (casser la gueule), mir auf die Pfoten klopfen (was ich unfreiwilligerweise getan habe), Kartoffelpüree damit zubereiten. Schulbänke zusammennageln entspräche wohl am meisten seiner ureigenen Funktion. Die andern Beispiele sind sinnlos und sogar gefährlich! Ich habe einen weiten Weg vor mir. Um ans Ziel zu kommen, muss ich durch das Dorf A gehen. An einer Wegkreuzung stehen Wegweiser, einer gibt den Weg nach A an. Da sage ich mir: „Henri, jetzt beweist Du mal, dass Du ein freier Mann bist, du wählst den Weg nach XYZ und lässt dir den nach A nicht aufzwingen! Niemand hin­dert mich daran, den falschen Weg einzuschlagen. Wenn ich nicht ans Ziel komme, habe ich mir das ganz allein zuzuschreiben! Zu Gott laufen und mich beschweren, hat keinen Sinn. Oder ich bin zum ersten Mal im Hochgebirge (wieder mal!). Ich will einen Gipfel besteigen und habe mir in den Kopf gesetzt, den schmalen Pfad abzukürzen und die Felswand hoch zu klettern. Ein Einheimischer, der sich sehr gut auskennt, rät mir dringend ab, denn es gibt Felsspalten dort oben, die man von unten nicht sieht. Er empfiehlt mir den sicheren, wenn auch längeren Bergpfad. Niemand kann mich dar­an hindern, doch die Felswand hoch zu klimmen. Ich brauche mich also nicht zu wundern, wenn ich mir in einer Spalte das Genick breche. • Einer stellte sich Fragen über die Hölle. Sie erscheint ihm grausam und ungerecht. Ich sagte ihm, die Hölle sei nichts anderes als der wissentlich gewählte falsche Weg nach XYZ. • Sie sagten mir auch: „Die Priester – die katholischen! - haben unsere alte Religion zerstört. Wir opferten Schafe und anderes und glaubten an höhere Kräfte. All das wurde vernichtet und verboten. Die katholische Kirche ist uns unverständlich und fremd.“ Dieser Einwand hat mich sehr berührt, da er stimmt! Wir haben den Afrikanern eine euro­päische Kirche aufgezwungen und ihnen damit den Zugang zu ihren eigenen Werten ver­wehrt. Einer fügte hinzu: „Man sollte die Priester aus dem Land jagen!“ Um das zu sagen, braucht es viel Mut, denn die christliche Kirche ist hier noch allmächtig und allgegenwärtig. Er fürch­tet sich also nicht vor dem Europäer, der ich bin. Übrigens habe ich erfahren, dass es im Landesinneren der Republik einen Polizeiprä­fekten gibt, der Priester ist! Machtmissbrauch? Jedenfalls kein Vorbild für die christliche Lehre. Ich kann nicht anders als den Jungen Recht geben. Die europäische Priesterkaste, die die Kolonialarmeen zu den „wilden Heiden“ begleitete, hat tatsächlich unsäglich viel zerstört.

„Aber schaut euch mal das Konzil an. Der afrikanische Bischof von Tanganjyka hat der lateinischen Kirche in aller Offenheit imperialistische Methoden vorgeworfen – und die Kirchenversammlung gibt es zu! • Kann es nicht sein, dass die Missionare dennoch Größeres an die Stelle des Alten gesetzt haben? Euren Vorfahren flößten die Naturgottheiten Furcht und Schrecken ein. Mit allen möglichen Opfern und Riten musste man sie beschwichtigen. Ich erwähnte meine germa­nischen Vorfahren, die ebenfalls vor ihrem Gott einen Mords­bammel hatten und die alles opferten, um den schrecklichen Herrn zu beruhigen. Erst die christlichen Priester führten einen Gott ein, der nicht willkürlich und grausam son­dern liebend war. Einen Vater. Für die Germanen der damaligen Zeit eine unbekannte Vor­stel­lung. Die Idee, die ihr früher von Gott hattet, war nicht verkehrt. Das liegt wohl daran, dass der Mensch die göttliche Dimension nicht ergründen kann. Es war unge­recht von den Europä­ern, dass sie eure Religion mit Stumpf und Stiel ausrotten wollten. Sie hätten auf den be­stehenden Stock den christlichen Zweig aufpfropfen sollen. Glücklicher­weise sieht man das heute ein und bemüht sich, eure afrikanische Art zu erhalten und weiter zu entwickeln. • Whishfull Thinking! Ist Gott Christ? Ist Jesus Katholik? Praktizieren die christlichen Kirchen wirklich den liebenden Gott, wie sie es behaupten? Ich habe so meine Zweifel. • Die Jungen hatten noch viele kleinere Punkte: Kennt Gott die Ehe? Priesterheirat Warum ist Christus (Gott) Europäer (was ja nicht stimmt!)? Warum stellt man den Teufel schwarz dar? Gibt es den überhaupt? Wenn wir Brevier lesen wollen, werden wir vom Bischof verhaftet! Wo haben die das her? Nachher werde ich ein französisches Brevier mit in die Werkstatt nehmen. Ich gab so gut Auskunft, wie ich konnte, versuchte dabei möglichst anschaulich zu bleiben. Manche Frage war so gestellt, dass ich keine vernünftige Antwort parat hatte. • Meine letzte Antwort war, eine halbe Stunde länger zu arbeiten, um die in der Diskussion verlorene Zeit (teilweise) nachzuholen. Die Diskussion verlief manchmal leidenschaftlich! Ich entdeckte ein Stück Afrika, seine Seele, seine Kämpfe, seine Vorurteile und Schwächen. Und seine Stärken. Eines ist mir jetzt klar, die Jungen verfügen über einen erstaunlichen inneren Reichtum, und der wurde ihnen nicht von der katholischen Kirche übergeben. Nach dem Abendessen (Zur Erinnerung: Uhr ist futsch!). Da ist Milènes Brief, Nummer 5 und 6, vom 13/10/64, heute angekommen, und zwar ohne Brief­marken. Auf Verzögerungen der Postzustellung muss man gefasst sein. Einige Punkte, die sie mir mitteilt: • Der Ankauf des Anwesens neben der Kapelle der Poudrière ist mir nicht unbekannt. Die Kapelle wird dann nach links vergrößert werden können: Mauer durchbrochen und mit einem starken Eisenträ­ger abgestützt. • War Milène immer so musikalisch? Mir war das bisher nicht bewusst. Noch eine überraschende Qualität, die ich an ihr entdecke! Sie erwähnt ein Bratschenkonzert (Viola alta), dirigiert von Rudolf Baumgartner. Von Wien ist mir sein Name bekannt. Er hat die Qualitäten Karajans, nur weniger Skandale und Publicity-Rummel. Für mich ist die Musik eine Art Medizin, vielleicht noch mehr als das. Beethoven hat Recht, wenn er sagt, dass Mu­sik eine der höchsten Offenbarungen Gottes ist.

• Nur mal sachte! „Terrible nature“, „furchterregende Natur“ schreit sie und meint den Gabun. Sie soll mir die Gegend hier nicht schlecht machen! Wenn sie auch nur ein­mal einen Sonnenuntergang hier erlebt hätte, würde sie sich nicht mehr so aus­drücken! Immer­hin, die Moskitos sind „terribles“! • Bumm! Das hat gesessen! Was Milène mir über mein Verhalten zu den JTS schreibt, ist ekel­haft richtig. Genau das ist es, was ich nicht genug beachte: dass sie jung sind, oft keine Nest­wär­me gekannt haben, - und dass ich zu ungeduldig bin und immer mit dem Kopf durch die Wand will. Ich kann Milène nur raten, noch öfter auf den Busch zu hauen, damit ich es nicht vergesse. Ich werde mir eben Mühe geben, mich zu bes­sern. Es ist inzwischen spät gewor­den, glücklicherweise weiß ich nicht, wie viel Uhr es ist. Jetzt muss ich noch den Wecker aus der Küche klauen, irgendwie muss ich morgen wach werden. · Lhh010 19641024 Samstag Etwa 15:30 • Führerscheinprüfung ist daneben gegangen. Im Rückwärtsgang musste ich – mit einem frem­den Wagen! - zwischen vier Tonnen durch; eine habe ich dabei berührt. Durchgerasselt. A la prochaine! In Lambarene werde ich es wieder versuchen müssen. Ich habe gelacht wie bescheuert, als ich merkte, dass es aus war. Eine nervöse Reaktion. In den feierlichsten wie den traurigsten Augenblicken lache ich; das passt nicht immer zur Situation. • Das Heftchen „Amour et Joie“ ist angekommen. Im Großen und Ganzen kommt mir die Thematik etwas künstlich und verkrampft vor. Vielleicht bin ich auch zu trocken und gewöhnlich; mir riecht das nach Sektierertum. Diese meine Reaktionsweise hat mir schon einige Schwierigkeiten eingebracht. Zum Bei­spiel in St. Wendel, wo mancher Erzieher meinen trockenen und kritischen Witz nicht ein­ordnen konnte; für sie hatte ich, als Geiger, ein gefühlsseliger Romantiker zu sein. Der aufgebauschte Rednerstil des P. Sixte scheint mir typisch zu sein: „A notre époque atomique (drôle de terme!), en nos temps modernes (les temps ont toujours été modernes!) torturés et agités...“ Am Ende: „Rien ne trouble la paix de Dieu.“ Nichts kann also den Frieden Gottes stören. Von mir aus! Worin besteht denn dieser Friede Gottes? In einer

Friedhofsruhe?! Mein grobes Bauerngemüt kann mit einer solchen Prosa nichts anfangen; vielleicht ist mir auch dieser Gott suspekt?! Karte in Paris gekauft, ich hatte vergessen, sie Milène zuzuschicken. Milène, die gute Seele, frankiert ihre Briefe mit Sondermarken, um mir eine Freude zu berei­ten. Natürlich machen Sondermarken Freude, vor allem dem Postbeamten, der sie ablöst und in seine Tasche steckt! Das dürfte eine Lücke in Milènes Briefen erklären. Und Simones Brief vom 11. Oktober ist auch nicht angekommen. Also lieber hundsgemeine Briefmarken benutzen, wenn der Brief ankommen soll! Lhh011 19641025 Sonntag 07:30. Gestern war ich zum Umfallen müde. Seit dem Mittag regnet es ohne Unterbrechung. Ich habe sehr gut geschlafen. Heute möchte ich einige Briefe schreiben. Es ist immer noch Sonntagmorgen, um 11:30 gehe ich zur Messe. Heute will ich unbedingt schreiben an: Firma Huffer, Poudrière, Familie Dols, Abbé Honnet. Abends, ca. 22:00. Pech gehabt! Für mich ist kein Brief angekommen! Ruhig Blut! Ich lebe noch, bin sogar ziemlich ruhig. Ich habe den Brief für die Poudrière begonnen: allgemeines Blabla; ich kann halt der Ge­mein­schaft nicht das schreiben, was ich Milène anvertraue. In wenigen Minuten verkrieche ich mich unters Moskitonetz; dort werde ich noch den Eltern und Ges­chwistern schreiben. Lhh011 19641026 Montag • Die Diskussion mit meinen afrikanischen Kameraden geht mir nicht aus dem Kopf. Ich habe sie deshalb so eingehend beschrieben (aber dennoch bruchstückhaft), um meine eigene Situation aus­zuloten. Ich bin mir zum Beispiel gar nicht sicher, ob ich die Frei­heit des Menschen richtig erklärt habe. Überhaupt, gibt es sie tatsächlich? Meine Beispiele stinken irgendwie: nach ihnen wäre Frei­heit nicht (viel) mehr als Einsicht in die Notwendigkeit. Sachzwang! Wie dem auch sei, ich werde einiges aufzuarbeiten haben! • Irgendwie liegt auf den Afrikanern hier eine Melancholie, - ich habe es schon öfter feststel­len kön­nen. Am Samstag fragte Jean I (Chef der Schreinerei, sehr jung und intelligent, - und sympathisch), wann ich nach Lambarene fahren werde. - In der nächsten Woche, vermutlich. - Daraufhin sagte er: „Sie werden uns ja doch keinen Brief schreiben, sondern nur an die andern (=JTS)!“ Er schien ein wenig traurig und resigniert zu sein. Ich wusste keine andere Antwort, als ihn auszulachen, vor den Bauch zu boxen und zu versichern, dass ich schreiben werde. Er glaubt es mir nicht eher, als bis er den ersten Brief von mir erhalten hat. - Ich wer­de ihm schreiben, das habe ich mir vorgenommen.

Jean I wird an Weihnachten wahrscheinlich in Lambarene sein und will mich dort besuchen. Das freut mich, wirklich! Es gibt dort so etwas wie eine Verlobte, scheint mir. Kurz vor dem Mittagessen. Noch kein Brief von Milène! Ich kann mir noch so viel Mühe geben, um mich zu kontrollieren, ich bin innerlich doch unruhig und aufgeregt. Sollte ich etwa etwas Dummes geschrieben haben in meiner letzten Epistel? Sie würde es mir dann sagen. - Warten wir also noch ein Weilchen. Geduld kann mir nicht schaden! Ich predige sie andern, nun muss ich sie mal zuerst selbst üben. Dass Du am Freitag einen Brief weggeschickt hast, steht für mich außer Zweifel. Vielleicht finde ich ihn nach der Arbeit. Etwa 16:00 Uhr. Feierabend. Jetzt gehe ich rüber zur Mission (neben der alten Kirche, hinter der neuen Kathedrale), vielleicht ist dort Post angekommen. Einige Minuten werde ich wohl in der (alten) Kirche an­halten, um die Nerven ins Gleichgewicht zu bringen. - Und jetzt, tief Luft holen – und hinein ins Gewühl! HURRA! Gerade stand ich vom Tisch auf, um loszudampfen. Da war Daniel schon da mit Milènes Brief! Er (der Brief) liegt noch ungeöffnet vor mir. Was schreibt sie denn, die ferne und so nahe Milène? 23:30 Heute Abend will ich nicht mehr viel schreiben. Es ist schon so spät! Und mir fehlen mal wieder die Worte. Milènes Brief hat mich erkennen lassen, wieweit sie mir schon voraus ist. Ich platze vor Freu­de und Dankbarkeit. Ich habe einen Brief nach Hause begonnen; der andere, für die Poudrière, wird ebenfalls wohl mor­gen fertig werden. Lhh011 19641027 Dienstag Während der Messe habe ich an Milène gedacht, wie konnte es auch anders sein. Hier versuche ich, meine Gedanken in ein ruhiges Fahrwasser zu leiten. Ich brauche die nötige Zeit, um in Ruhe ihren Brief zu beantworten. In wenigen Tagen wird sie in Fraulautern sein. Dort kann sie ein wenig von meinem Leben in Libreville erzählen. Ich hoffe, dass Mama sich nicht zurückgesetzt fühlt, weil ich so wenig geschrieben habe. Was kann man in Trier treiben? Da Milène einen Zwischenaufenthalt in Trier hat, kann sie die alte Stadt entdecken. Vom Bahnhof schnurstracks zur Porta Nigra; von dort durch die belebte Simeonstraße zum Haupt­markt: wie alles in Trier römischen Ursprungs. Das mittelalterliche Marktkreuz erinnert daran, dass hier Markt abgehalten werden durfte. Um den Platz herum stehen mehrere alte und interessante Ge­bäu­de, gotisch, barock, rokoko, romanisch unterlegt. Am „Roten Haus“ eine lateinische Inschrift, die darauf hinweist, dass Trier schon vor Rom bestanden hat. Links, durch eine enge Gasse (ein paar Devotionalienläden) geht es zum Dom und zur Liebfrauen­kirche. Den Kern erkennt man noch heute: eine römische Doppelbasilika, ein Kaiserpalast (Basilika = Kaiserhaus). Die Christen haben die imposante kaiserliche Architektur abgekupfert, oder vielmehr solche öffentlichen Gebäuden umfunktioniert in Gotteshäuser, in Basiliken, mit Sitz eines Bischofs.

Der Dom ist sehenswert. Von außen ist er einfacher und interessanter als von innen. Vielleicht sollte ich sagen, dass die Außenarchitektur noch mit einer Stimme spricht, während sich im Innern eine Vielfalt an Dekorationen und sakralem Mobiliar angehäuft hat, dort fehlt der einheitliche Guss. Obwohl man mit einiger Geduld im Innern viele ursprüngliche Elemente aus der Kaiserzeit (Kon­stantin) erkennen kann. Die Liebfrauenkirche, rechts neben dem Dom, gehörte zum Gebäudekomplex; in ihr residierte Kon­stantins Mutter Helena. Außer Elementen des Grundrisses ist von der römischen Architektur kaum etwas übrig geblieben. Alles wurde gotisch „modernisiert“. Von dort zum ehemaligen Bischofspalast, heute Finanzamt. Rokoko, französischer Einfluss. Der kaiser­liche Prunkpalast wurde glücklicherweise renoviert und zu einem protestantischen Gotteshaus umfunktioniert; er diente den Bischöfen als Steinbruch, um ihren eigenen Palast zu bauen! Wenn noch die nötige Zeit bleibt, wäre ein Umweg über Sankt Paulin anzuraten. Eine klassische Barockkirche, Architekt Baltasar Neumann. Sehr sehens­wert und einzig in unserer Gegend. Selbst Simone hat eingeräumt, dass der Barockstil vielleicht doch nicht so scheußlich („affreux“) ist, wie sie immer glaubte. · Lhh012 19641028 Mittwoch Es regnet wieder mal. Thema Kinder. Milène schneidet es an. Sie versteht es, sich schlicht und einfach auszudrücken, was mich bewegt. Ich mache viel mehr pompöse Worte. Ihre Offenheit zwingt mich, einen Blick in mein Innenleben frei zu geben. Ich war (und bin) immer verrückt auf kleine Kinder (und Tiere jeder Art). Die Worte „Rein­heit“ und „Unschuld“ sind bei ihnen noch nicht angebracht. Wie soll ich das nennen? Etwa: In einem kleinen Stinker steckt Zukunft, Dynamismus, Wissenschaft. Ohne Vorurteile, neu­gie­rig, ernst und dennoch heiter. Keine Vergangenheit. Zukunft ist ihm fremd. Gegenwart in Reinkultur! Ein Kind ist nicht unschuldig, da es unfähig ist, Schuld auf sich zu nehmen. Es ist vielleicht unausstehlich, aber nicht böse. Und es möchte so werden wie wir: erwachsen. Ein kleines Kind ist eine Logikmaschine, vor der mir manchmal angst und bange ist. Gleich nach der Geburt hat es keine Idee von sich selber, kann sich von der Mutter noch nicht un­ter­scheiden. Die meisten Erwachsenen sehen in einem Baby einen interessanten Klumpen Mensch, der nur zum Schlafen, Trinken und Kacken dient. Irrtum! Das Gehirn des Kleinkin­des, soweit es sich schon her­ausgebildet hat, dreht auf vollen Touren. Wir dichten dem Kind eine Menge Qualitäten an, von denen wir nur träumen können. Wie wir dem Vogel das Zwitschern als charmanten Zeitvertreib zuschreiben, - was absolut nicht der Wirklichkeit entspricht. Was mich bei Kindern (und Tieren) umwirft, ist das Zutrauen, das sie zu mir an den Tag legen. Un­möglich, ein Kind zu betrügen, das dir grundsätzlich alles glaubt. Dies also und die Tatsache, dass in ihm die Zukunft schlummert, faszinieren mich. 13:00 Zum Beispiel in der Pou­drière. Die kleine Julischka, Bernadette oder Jean-Marie vergötterte ich, als gehörten sie mir. Das­selbe Gefühl, das mich oft im Kinderdorf (bei Mödling) über­kam. Wenn mich so etwas Kleines mit großen vertrauenden Augen anschaute, war es um mich geschehen. Wer mich kennt, weiß aber auch, dass ich nicht den Hanswurst mit mir machen lasse. Ein Kind muss lernen, dass es Grenzen gibt und wo sie liegen. Wenn Julischka weinend zu mir gelaufen kam und auf meinem Arm wieder ruhig und fröh­lich wurde, hatte ich die Vorstellung, die Welt vom Untergang gerettet zu haben. Dieses Kind, das in eine zerrissene Familie

hineingeboren wurde: der Vater (Ungar) auf und davon; die Mutter unfähig, mit ihrer Einsamkeit fertig zu werden. Da kann man doch nicht abseits stehen. Ich habe anscheinend Glück gehabt, dass meine Familie einigermaßen harmonisch zusammenlebte. Da stellt sich wieder die Frage nach Gott, der (angeblich) alle und jeden gleich liebt: Wes­halb kriegen so viele Eltern ihr eigenes Leben nicht in den Griff? Ihren Kindern entgehen wichtige Chancen für ihre Zukunft. Dieser Gott macht mir zu schaffen! Ich sagte mir oft, wenn ich ein Kind auf dem Arm hatte, dass mir eine eigene Familie nicht genug sein würde. Gibt es das überhaupt: meine eigene Familie? Kann eine Familie jeman­des Eigentum sein? Noch ein Gedanke, der mich beunruhigte, wenn ich ihn bis zu Ende sponn. Besonders glücklich war ich, wenn ich einen Tag mit den Jungen „meiner“ Kinderdorf­fa­milie einen Ausflug unternehmen konnte. Die „Mutter“, Frau Willixhofer, war entzückt dar­über. Ich war der ein­zige der 300 Fratres (Religiosen) meines Seminars, der diesen verbote­nen Kontakt mit der „Welt“ bis zum letzten Tag aufrecht hielt. Übrigens habe ich nie kapiert, weshalb die Oberste Hee­res­leitung der SVD in dieser Aktivität nicht ein positives Mittel sah, die jungen Se­mi­na­risten mit den Realitäten des Lebens in Kontakt zu bringen. Also: Die heilige Regel (vom Heiligen Geist eingegeben!) untersagte mir diese Aktivität, die mich (dennoch!) glücklich machte! Dann hat besagte Regel eben zurück zu stehen! Basta! Und sorry für den Heiligen Geist! 21:40 Unterm Moskitonetz. Der Brief an die Poudrière ist immer noch nicht fertig; er wird länger werden, als ich gedacht hatte. Ich quatsche gerne, mache viele Worte! Ein Schwätzer! Ein Sonntagsredner! Ein Volksprediger! Milènes Brief habe ich wieder mal durchgelesen. Mit Entzücken! Ich stelle fest, dass wir häufig die gleichen Seelenzustände durchleben. Es gibt da einen Gleichklang zwischen uns. Mehr will ich nicht hineindichten. · Lhh012 19641029 Donnerstag 07:20 Good morning. - Ich habe gut geschlafen, allerdings nur bis 4 Uhr. Draußen machte ein Schwarm Vögel einen Heidenlärm (Machen Heiden Lärm? - Und was ist ein Heide??). Ohne Pause, ohne Er­barmen. Die haben sich eine Menge mitzuteilen. Ein ähnliches Krächzen wie in un­sern Breiten die Dohlen. Der Schädel brummte, ich war müde, konnte aber nicht einschlafen. Sollte ich das Licht anknipsen? Briefpapier und Dauerschreiber waren griffbereit. Ich habe es dann doch bleiben lassen und zwang mich zur Ruhe, bis 6 Uhr. Die Ruhe war nur körperlich, im Kopf surrte die Gedankenmühle. Ich dachte an Milène und meine Eltern, fluchte leise auf die verdammten Vögel; ich freute mich, dass es zum 36sten mal wieder reg­nete, das lullte mich ein wenig ein und schien auch die „Rabenvögel“ draußen zu etwas mehr Stille und Diskretion zu nötigen. Die Frische, die nun durchs Fenster hereinkam, war mir will­kommen. • Milène erwähnt in ihrem Brief Jules und Germaine, die Eltern Anne-Maries. Das Töchter­chen von etwa 18 Jahren hat die Intelligenz des Vaters mitbekommen und den Ehrgeiz der Mutter. Sie hat einen Kopf aus Granit, will die andern nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Von einer einmal gefassten Idee wird sie sich so leicht nicht abbringen lassen. So sehe ich sie. Wobei ich hin­zufügen muss, dass Anne-Marie mir gut gefällt. Ich machte mir öfter den Spaß, einen noch här­teren Schädel als sie unter Beweis zu stellen. Ich tat einfach nicht, was sie mir auftrug. Einmal hat sie sogar geheult vor Wut. Sie wollte nicht akzeptieren, dass andere Leute anders denken konnten als sie. Es fällt ihr schwer, sachlich und ungeschminkt einen ihrer Fehler zuzugeben. Es kann sein, dass ich dabei ziemlich brutal und verletzend gewesen bin. Tut mir heute leid. ABER, Anne-Marie hat auch ihre Plusseite, und die wiegt schwerer. Sie hat den guten Willen, an sich zu arbeiten, sich in eine Gemeinschaft einzuordnen, für andere zu leben. Sie ist viel zu intel­ligent, um nicht zu bemerken, dass sie allein

nichts – oder nur sehr wenig – im Leben fertig­bringt, dass sie also andere nötig hat, in denen sie ihre Ergänzung findet. Es bleibt für sie ein heroischer Kampf, da es ihr schwer fällt, eine Autorität über sich anzu­er­ken­nen, sich an andere anzupassen. Sie hat einen ausgesprochenen Sinn für Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Ich glaube, sie weiß sehr gut, dass ihre Naturanlagen leicht exzessiv werden, bis zur Anarchie führen können. Aus diesem Stoff sind die Tyrannen gemacht. Und immer noch halte ich große Stücke auf Anne-Marie. Sie hat einen starken Charakter und wird, hoffe ich, mit dem Leben fertig werden. Auf ihre Weise! Sie leidet oft unter in­neren Spannungen, die sie nicht verbergen kann. Es hat keinen Zweck, ihr dann mit ein paar lieben Worten helfen zu wollen, das schadet ihr mehr als alles andere. Zum Beispiel muss man ihr ab und zu klar sagen, was in ihr faul ist. Selbst wenn sie dann ihren Schmoll­mund aufsetzt (der ihr sehr gut steht) und einem ein paar Tage lang aus dem Weg geht. Lass sie verdauen. Gib ihr die Zeit dazu! Ich bin kein Psychologe, mir scheint jedoch, dass Anne-Marie voll damit tätig ist, ihre inne­re Be­stands­aufnahme zu machen. Vor- und Nachteile auf eine Reihe zu bringen. Wenn sie sich so bejaht, wie sie ist, ist es geritzt! Die weiteren Stufen wird sie dann leicht und schnell nehmen. Milène soll ihr viele herzliche Grüße von mir mitteilen, und sie soll ihren Dickkopf auf das rechte Ziel hinlenken. Was sie macht, macht sie hundertprozentig. 23:35 Heute Abend waren wir Opfer einer Invasion von Insekten, eine Art geflügelter Ameisen, ein bis zwei Zentimeter lang. Die Wände sind von ihnen schwarz vollgekleistert, vor allem in der Nähe der Lampen. Sie sind in der Suppe, in allen Schüsseln; sie wimmeln in meinem Bett, es braucht eine Viertelstunde, um sie zu vertreiben. Sie umzubringen, hat keinen Sinn, denn für ein totes Biest kommen zehn andere zur Beerdigung. · Lhh012 19641030 Freitag 07:15 5½ Stunden Schlaf. Das ist zu wenig! Ich bin also noch müde. Wir haben Regenwetter, was nicht ausschließt, dass für eine oder zwei Stunden die Tropensonne auf uns herab brennen kann. Immer wieder stellen sich neue Wolken ein. Sie kommen vom Atlantik und sind wohl zu faul, um tiefer in den Kontinent einzudringen; dabei gäbe es Höhenunterschiede zu über­winden. Auf einen Schlag kann es wieder schütten, dass man beinahe im Regen ersäuft. Im Grunde bin ich froh, dass ich in Afrika bin. Sicher, Milènes Gegenwart fehlt mir oft, und die der Poudrière ebenfalls. Aber ich glaube, in Brüssel hätten wir uns nicht so intensiv finden können wie in der Trennung, die wir nun erleben. • Wie steht es augenblicklich um die JTS-Gruppe? Der Abbé Honnet ist schließlich nicht nach Ouagadougou geflogen. Er macht Libreville noch un­si­cher. Warum? Was hält ihn hier zurück? Meint er, wir können ohne ihn und seinen Aktivismus micht überleben? Jean-Louis ist prima, sehr ausgeglichen, freundlich, humorvoll,“débrouillard“. Ein tiefer und reicher Charakter. Henri Wertz hockt mit seiner Gruppe in Pointe Noire. Sie fangen dort wirk­lich bei Null an, haben kein leichtes Leben. Bis zum jetzigen Augenblick hat sich aus Lambarene niemand gemeldet. P. Pinus will mor­gen früh dort anrufen, um zu fragen, was los ist. Es ist zwar recht schön hier in Libreville, aber ich möchte allmählich auf meinen eigentlichen Arbeitsplatz übersiedeln. Heute habe ich festgestellt, dass ich ganz nett abgenommen habe. In der Hitze schmilzt das ranzige Fett weg. Ich bin aber gesund, wenn auch augenblicklich etwas müde, und habe mir eine braune Hautfarbe zugelegt. · Lhh012

19641031 Samstag Etwa 07:15 Uhr Auf dem Weg zur Messe blieb ich bei drei Jungen stehen, etwa 8 bis 12 Jahre alt, die eine Krabbe gefangen hatten. Sie erklärten mir, was man davon essen kann, wie man das Fleisch zubereitet usw. Die Leute, die vorbeikamen, grüßten, - ich auch. schließlich kennen wir uns ja. • Als ich 50 Meter weiter gegangen war, riefen die Jungen mich schüchtern zurück. Ich dachte zu­nächst, es sei ein fauler Witz, lief aber doch zu ihnen. Da stand Jean Bosco, unser Koch (in meinem Alter). Er sah verstört und durcheinander aus. Ich nahm an, dass er eine Rauferei gehabt habe. Von den abgerissenen Sätzen, die er an mich richtete, verstand ich schließlich: er möchte einen Wagen haben, um seine schwangere Frau zum Krankenhaus zu bringen. Ich sagte ihm, er solle schnell zu Tino gehen, der habe die Schlüssel und einen Führerschein. Ich wünschte ihm „bonne chance“. Zur Messe war ich in der Hauptkirche, nahe bei einer Seitentür. Bei der Opferung merkte ich, dass Jean-Bosco draußen stand. Ich ging sofort hinaus und fragte ihn, was los sei. Er warte auf den Père, sagte er, um die Erlaubnis für das Auto zu erbitten. Sofort nahm ich ihn ins Schlepptau. Wir gingen hinüber zur Brüderkapelle. Seltsam, von sich aus hätte Jean Bosco nichts unternommen; er hätte mit Zittern und Beben bis zum Jüng­sten Tag an der Kirchentür gewartet. Auch jetzt folgte er mir nur zaghaft und blieb schließ­lich 50 Meter hinter mir. Ich platzte den Brüdern in die Messe hinein, ging zum Altar und fragte P. Pinus, ob Jean-Bosco einen Wagen haben könne. Das Leben ist doch bunt! Auch eine Messe kann es in sich haben: große und kleine Sorgen, Eile und Ruhe, Tod und Geburt, Sammlung und Aktion. Ein Brennpunkt des Lebens, so wie es ist. Also einverstanden, Pinus kramte sofort den Autoschlüssel aus seinem Hosensack. Jean-Bosco kann einen 2CV haben. Erst jetzt begriff ich, was geschehen war: Seine Frau hatte eine Fehlgeburt (eventuell Frühgeburt?). Das Kind war tot. Für die junge Mutter war sicher jede Minute überle­benswichtig! Jean-Bosco war ganz durcheinander, wie von den Er­eig­nis­sen überfahren; am liebsten hätte er sich wohl ins Gras geworfen und nicht mehr von der Stelle gerührt. Ich versuchte ihn ein wenig zu ermutigen und auf Trab zu bringen. (Einschub vom 4. November: Seiner Frau geht es besser, sie ist noch im Krankenhaus.) 18:30 Die Glocken läuten den Sonntag ein an der afrikanischen Küste. Jetzt läuten sie auch in Fraulautern. Ich komme von der Kirche, war dort dreiviertel Stunde lang. Nur so, um Ruhe zu finden. • Heute fahren Milène und ihre Mutter nach Fraulautern. Bei den Huffers ist dann großer Bahnhof. Ich kann mir die Szene lebhaft ausmalen. Frau Huffer in Gala, alles arrangiert, neu gestrichen, ge­bohnert, gewichst. Blumen begossen, Dreckhaufen hinterm Haus (neben der „Garage“) gut getarnt mit Pappe oder ein paar Brettern. - Bitte, recht freundlich! - Vermutlich ist meine Mutter zu Tränen gerührt. Meine große Freundin aus Brüssel ist toll in Fahrt. Sie lacht und redet wie ein Was­ser­fall – und schnüffelt ab und zu verstohlen, denn auch sie ist erregt. Ihre Frau Mut­ter hingegen bleibt würdevoll, sie beherrscht die Situation. · Lhh012 19641101 Sonntagmittag, ca. 13:30 Wir sind hier zu dritt, die Gruppe für Lam­barene: Jean-Louis, Claude und ich. Wir wollen gerade ausgehen, vielleicht ein Bier trinken.

20:30 Ein sehr schöner Tag. 22:30 Heute Nachmittag ist Milènes Brief angekommen. Sie wagt es, sich oberflächlich, arm, überflüssig zu fühlen! In einem langen Brief beweise ich ihr das Gegenteil. • Man müsste das mal fotografieren. In Shorts sitze ich am Tisch, den Salzburger Strohhut auf dem Kopf. Daneben tickt der Wecker, den Pinus mir geliehen hat. Milènes Fotos liegen auf der Tischkante, ihre und andere Briefe links, Lexikon, von mir be­schrie­bene Briefbogen, das kleine Notizbuch, unser braunes Tagebuch, Neues Testament, zwei politische Bücher, ein Bleistift, die beiden farbenfrohen Kalender aus Frank­reich, die­ses Blatt unter meinen Händen. In all diesem Wirrwarr sitze ich glücklich und vergnügt, will noch nicht Schluss machen. Muss aber wohl, sei es auch nur wegen der Moskitos! · Lhh012 19641102 Montag 06:15 Es läutet schon den „Engel des Herrn“. Ich muss abhauen, wenn ich pünktlich zur Messe sein will. 07:30 Amüsant, wie Milène erzählt, dass sie meinen Brief mit ins Badezimmer nimmt, um ihn dort in Ru­he zu lesen. Alte Erinnerungen werden in mir wach. Ich hatte eine unheilbare Krankheit: ich konnte nie ohne irgendeinen Lesestoff auf die Toilette gehen oder mein Samstagsbad nehmen; das wäre uner­träglich langweilig gewesen. Demzufolge war ich als „Regimentsscheißer“ übel beleu­mundet, der Kerl, der ewig nicht fertig wird „da drin“, während der Klan Schlange stand und auch mal an die Reihe kommen wollte. Schwierig wurde es in meiner „Karl May-Periode“; die dicken Schmöker ins WC zu schmuggeln, war nicht einfach. Niemand durfte es bemerken. Also steckte ich das Buch un­ter den Gürtel und zog krampfhaft den Bauch ein. Es passierte mir mehr als einmal, dass das Buch unten zur Hose heraus rutschte, vor allem wenn ich die Lederhose trug. Das war ein Anlass zu neuen „Demütigungen“. Mittag. • In blendender Laune. Jean I, der Chef der Schreiner, hat mich in sein Haus eingeladen, es besteht aus einem einzigen Raum. Heute Nachmittag, nach der Arbeit, will ich ihn begleiten. Diese Einla­dung hat mir wirklich Freude gemacht. Er ist Senegalese, allein in Libreville, Tor­wart eines Fuß­ballclubs. Am Samstag hat seine Mannschaft gewonnen, 3:0. Danach hat Jean seinen Sieg gefeiert und sich einen angesoffen; wohl nicht ganz allein! Heute Morgen war er in trübseliger Montags­stimmung. 15:30 • Heute Nachmittag habe ich lange und angestrengt nachgedacht. Das kann auch mir passie­ren: nachdenken! Angenommen, der Abbé kommt am 5. November in die Poudrière: Milène kann ihn dann diskret interviewen, ausfragen. Es geht darum, dass ich meinen Auf­ent­halt im Gabun um ein Jahr verlängere. Wird sie es in sehr allgemeiner Form tun oder ihm sagen, dass ich meine endgültige Entscheidung von ihr abhängig gemacht habe? Ich habe ihm bisher nichts von uns gesagt. Résumé: Es geht darum, noch ein Jahr im Gabun anzuhängen. Ich bin einverstanden, warte aber zu­nächst die Antwort Milènes ab.

Ich war und bin sicher, dass sie mit den zwei Jahren einverstanden sein wird. Es wird sie ei­nen inneren Kampf kosten, was auch für mich gilt. Ich war gezwungen, mich innerhalb 24 Stunden zu entscheiden, diese Hast ist mir verdäch­tig, entspricht aber durchaus dem Naturell des Abbés. Für Milène mag dies ein harter Broc­ken sein. Nach dem Abendessen. Ich habe einen kleinen Schwips. • Mit einem Burschen, der im „Centre“ arbeitet, begleitete ich Jean I., den Chef der Schrei­ner­werkstatt auf dem Weg zu seiner Wohnung. Der Weg führt durch Kokos- und Maniok­pflan­zungen. Ich war darauf gefasst, dass die beiden mich besoffen machen wollten, weil ich heu­te Morgen wieder mal gestichelt hatte (wegen seiner „Siegesfeier“). Jeans Papa ist Polizist und wohnt in ei­ner Siedlung Librevilles, die für Polizisten und deren Familien reserviert ist. Das Regime hält ein Auge auf diese Leute. Die „Wohnblöcke“ sind einstöckig, etwa 20 Einheiten hinter einander. Das sieht nach lan­gen, unterteilten Baracken aus; aus Stein gebaut, sauber gekalkt, Elektrizitätsanschluss. Jede dieser Wohnungen besteht aus einem einzigen Raum, der mit 2 Meter hohen weiß gekalkten Steinwänden und Vorhängen in drei Zonen unterteilt ist. Es hat eine Stunde gedauert, bis wir dort ankamen. Das afrikanische „Marschtempo“ ist sehr entspannt, geht mir manchmal auf die Nerven. Welch ein Leben! Überall tummelten sich Kin­der, Mädchen und Frauen! Bei Jean war niemand zu Hause. Inneneinrichtung sehr ein­fach: ein Transistor, einige Bücher, eine Vitrine, ein Tisch und die nötigen Stühle. Das war die Ausstattung des Wohnraumes. Die Haustür gab direkten Zugang zum Wohnraum. Ein Fenster ließ Licht und Luft herein. Der Rest der Wohnung war mit Vorhängen und einigen Trennwänden in Zimmerchen ab­getrennt. Gleich rechts war ein kleiner Schlafraum (der Vorhang war offen) von vielleicht vier Qua­dratmetern Größe, gerade genug Platz für ein Bett und kleine Möbel. Jean schenkte einen kleinen Martini aus. Sehr bald lernte ich seine drei Brüder kennen: 12 und 6 Jahre; der Jüngste, 5 Monate, war auf Mamas Hüfte festgeklemmt und wurde danach auf ihren Rücken gebunden. Die Mutter sah noch sehr jung und frisch aus. Da ist noch eine Schwester, die verheiratet ist und eine kleine Tochter von 2 Jahren hat. Und da kommt auch noch ein Schwesterchen von 2 Jahren. Schade, dass ich meinen Fotoapparat nicht dabei ha­be; vielleicht ist es auch besser so! Die beiden Mädchen waren zum Auffressen: lieb, lustig, listig, lebendig und voller Ideen. Typische Afrikanerinnen. • Bald kamen Vater und Onkel hinzu, beide Polizisten. Wir tranken also noch einen Martini, sogar mehrere, oder einen Pernod, oder Whisky. Der Onkel war der Wortführer, vielleicht weil er der Ältere war. Er erklärte mir immer wieder, dass der Gabun Techniker nötig habe, die ihr Können in den Dienst des Landes stellen, die arbeiten und Berufsehre entwickeln. Schön gesagt! Natürlich war ich mit ihm einverstanden, gab aber zu bedenken, dass wir mehr nötig hatten als nur gute Techniker: die Menschen müssten wissen, für wen und welches Ziel sie arbei­ten. Zum Beispiel kann der Techniker an der Herstellung von Atombomben mitarbei­ten, um den Machthunger irgend eines Verrückten zu stillen. Man kann aber auch Geld und Reich­tum zurückstellen, um im Gabun Lehrer und Handwerker auszubilden. Sie waren einver­stan­den. Dann kam die Rede auf den Sinn des Lebens. Wie kann man die paar Lebensjahre am besten investieren? Welche Beschäftigung verschafft uns die größte Zufriedenheit? Dann begann ich zu schweben, denn außer Reden zu schwingen tranken wir ja! Whisky schmeckte mir besser als der süß-klebrige Martini. • Mein Besuch war für die Leute eine Ehre. Und als ich ihnen sagte, dass nicht ich sondern Jean der Chef der Schreinerei sei, zerflossen sie vor Ehrfurcht. Dass ein Europäer einem Afrikaner den Vortritt lässt, scheint für sie nicht selbstverständlich zu sein. Wir schieden als Freunde, in dem Bewusstsein, dass wir zusammenhalten und zusammenarbeiten müssen.

• Spät am Abend war die Wochenzusammenkunft der JTS („la réunion“). Ich habe noch einmal Bi­lanz gezogen. Das gehört zur Routine der JTS. Ergebnis: Die Kontakte mit den Afrikanern sind ausgezeichnet, mit der JTS-Gruppe hingegen mini­mal. Ich müsste mich mehr um sie kümmern, aber bin ich nach Afrika gekommen, um halb­starke Jünglinge zu erziehen? Oft geht mir ihr Machogetue auf den Wecker. Und da ist die­ses „Tagebuch“, das mich sehr in Anspruch nimmt. Da bleibt kaum noch Zeit für die Grup­pe. Dilemma! Das muss anders werden! Denn ich bin auch nicht nach Afrika gekommen, um ein dickes Tagebuch zu schreiben. Ich sollte mir an Milène ein Vorbild nehmen, die ihre zahlreichen Tätigkeiten systematisch und gewissenhaft abwickelt. So wie ich sie kenne, erfüllt sie zuerst ihre Pflichten: Schule, Haushalt, Poudrière. Die Zeit, die ihr dann noch bleibt (in der Straßenbahn, auf der Toilette und was weiß ich) benutzt sie, um Briefe zu schreiben. Wie sie das nur fertig bringt!? Ich muss mich konzentrieren können, bin für andere Dinge dann nicht mehr zu haben. Meine Aufzeichnungen werden wohl kürzer werden, aber wahrscheinlich wahrer und echter. Sie sollen ja nicht als Vorwand dienen, um mich vor den Pflichten zu verstecken. Allerdings ist in dem JTS-Kindergarten niemand, dem ich mein Herz öffnen kann (außer vielleicht Jean-Claude) • Vielleicht bin ich nicht sehr „sociable“, umgänglich mit meinen Kollegen; oder ist es ein Mangel an Geduld, der bei meiner normalen Umwelt schlecht ankommt? Seltsam ist, dass ich mit den Afrika­nern dieses Problem nicht habe! · Lhh012 19641103 Dienstag 22:40 Ein recht schöner Tag. Mehr Kontakt mit den JTS. Von Lambarene noch keine Nachricht. Heute habe ich einen Brief von meiner Mutter erhalten. Wenn es im Kongo donnert, hat sie Angst, dass bei uns der Blitz einschlägt. Sie ist davon überzeugt, dass ganz Afrika ein gefährlicher Unruhe­herd ist; außerdem dieses tödliche Klima, schreckliche Krankheiten usw. Ist ja schon schön, dass sie jetzt in etwa weiß, wo der Kongo liegt! Ich habe ihr sofort mit einer Karte geantwortet. Auch Teresa erhielt heute von mir eine Karte. Sie wird sich freuen; wir sympathisieren miteinander. Die ersten zwei Blätter des JTS-Wochenberichts habe ich an Armin geschickt („feuilles JTS“). Ein Briefchen ging an den Abbé, um ihm für sein Vertrauen zu danken. Ich sagte ihm, dass ich gera­de in diesen Tagen sein Vertrauen nötig habe. Es fehlt mir also nicht an Beschäftigung nach der Arbeit. Milène ist beim Briefeschreiben diesmal zu kurz gekommen. Es ging nicht anders. · Lhh012 19641104 Mittwoch Früh am Morgen. • Ich sinniere mal wieder über mein Vorzugsobjekt: über mich selber! Ab und zu bin ich ver­sucht, an mir selbst zu verzweifeln; das ist die schwerste „Sünde“, die ich begehen könnte: mich selbst aufzu­geben! Ich sehe allzu

deutlich meine Fehler und Unvollkommen­heiten, mei­ne Schwächen und Un­zu­länglichkeiten, meine lächerliche Winzigkeit. - Es ist so! Be­schönigen hilft nicht. Es gibt Momen­te und Gelegenheiten, wo ich mir einen Tritt in den Hintern geben möchte. Warum mich diese Gedanken und Gefühle nun überfallen, weiß ich nicht. Vielleicht steckt darin auch eine Dosis Egozentrismus: ich möchte mich interessant machen. Möchte, dass man sich inten­siv mit mir beschäftigt. Vielleicht bin ich nun in der Phase gelandet, wo man sich fragt, was man überhaupt hier tut, wozu es nütze ist. Übrigens habe ich ausreichend und gut geschlafen, bin gesundheitlich in Form, Nerven in Ruhezu­stand. Alles paletti! Keine echte Depression, eher realistische Einsichten, die für ein Ego wie das meine unangenehm sind. Seit sich Milène mir an die Fersen geheftet hat, fühle ich mich noch kleiner und kleinlicher. Wohl Angst, ihren hehren Erwartungen nicht zu entsprechen. Was erwartet sie denn von mir? ca. 16 Uhr • „Monsieur Henri, vous dormez?“ - „Hein? … Non, je réfléchis.“ François hat mich mit sei­ner Frage in die Wirklichkeit zurückgeholt. Zwei oder drei Minuten muss ich an der Hobel­bank gestanden ha­ben, den Kopf in die Hände vergraben. Ich schlief nicht, ich dachte aber auch nicht nach. Ich war einfach sonstwo, abgehoben in eine ande­re Wirklichkeit. Ich erlebte etwas: Milène stand fast greifbar vor mir. Es waren die Bilder des letz­ten Tages unserer Jugoslawienfahrt mit der Poudrière. Mir geht halt manchmal der Gaul durch, - die Fantasie reißt mich aus der Wirklichkeit. Ich beginne dann zu spinnen. Es dauert einige Zeit, bis ich wieder in die Realität zu­rückfinde. Heute Mittag hatte ich das Herz dick voll, - wie am letzten Abend in Villach, auf der Rückfahrt von Jugoslawien, als Milène die Gruppe verließ, um einen Koffer von Mio und Ana nach Kroatien zu bringen.. Ich nahm den Hobel in die Hand und arbeitete weiter. Jetzt habe ich meine Ruhe wieder gefunden und bin zuversichtlicher. 22:20 Ich wollte noch mindestens ein Blatt mehr schreiben, um alle Fragen Milènes zu be­antworten. Das wird auf den nächsten Brief verschoben. Heute Abend bin ich mit den JTS spazieren gegangen. Ich habe mir vorgenommen, von nun an um 22 Uhr ins Bett zu kriechen. Es fehlt also nicht an guten Absichten. Die Tage sind heiß und anstrengend. Lhh013 19641105 Donnerstag 7:20 Ich habe den Eindruck, je länger meine Briefe werden, desto blöder werden sie: viele große Worte, viel Blech. Milène, die alles liest, sollte mal ein bisschen kritisch sein und mir ihre Meinung mittei­len.. • Einige Punkte, die Milène in ihrem Brief auflistet: ▪ Sie wusste nicht, was sie in der Kirche beten solltet. Wer sagt denn, dass man in der Kirche immer beten muss!? Den Herrgott mit einem Wortschwall eindecken?! Die Tatsache, dass man versucht, mit Gott in Kontakt zu kommen (deshalb ist man doch in der Kirche, oder?), ist schon Gebet genug! Da werden die Worte nebensächlich, es sei denn, man hat das Bedürfnis, sich sprachlich auszutoben.

▪ „Udine – Villach“. Es scheint, dass unsere eigentliche Entscheidung an diesem letzten ge­mein­samen Abend der Jugoslawienfahrt gefallen ist. Als ich zu Milène sagte, ich wolle Theologie studieren, war dies ein Hilferuf; wie der Ihre in Chau­mont: „Die Leute sollen mich doch in Ruhe lassen mit dem Heiraten!“ - Ich war in dem Moment überfordert, bin es auch heute noch. Nehmen wir uns also die nötige Zeit, um die richtige Entscheidung zu treffen! 19:00 Heute waren wir nach der Arbeit bei Georges, unserm Küchenchef. • Georges ist einer unserer zwei Köche, der „Alte“. Jean-Bosco sekundiert in der Küche. Denn wir ha­ben, bitteschön, Koch und Boy und Whisky und Haus, wie es Leuten geziemt, die die evange­lische Armut unters Volk bringen wollen! Die beiden wohnen nicht weit auseinander. Jean-Boscos Frau ist krank: Sumpffieber! Was­ser, Hy­giene, Nivaquine und andere Annehmlichkeiten, die für „uns“ normal sind, sind für die normalen Leute sehr teuer, oft zu teuer. Die JTS haben ihm eine Hütte (case) gebaut, die noch zu vollenden ist: eine kleine Holzbaracke, in vier Räumchen aufgeteilt, Sandboden. Außen ist jetzt alles fertig, die Innenwände fehlen noch. In der Nachbarschaft hätte ich gern ein paar Fotos aufgenommen, vor allem von den zahlrei­chen Kindern, die überall herum tollten: nackt, rundes Bäuchlein, meist pfiffige Gesich­ter. Sie ärger­ten einen Hund; einige fielen immer wieder zu Boden, Laufen will eben gelernt sein. Den Fotoap­pa­rat hatte ich nicht mitgenommen; das dürfte so besser sein, da die Leute hier fürchten, dass man ihnen die Seele raubt, wenn man von ihnen ein Bild macht. Vorhin bin ich in der Küche gewesen, um ein Glas (gefiltertes) Wasser zu trinken. Dabei un­terhielt ich mich mit Georges und Jean-Bosco. Ich glaube, ich bin der Einzige, der sie mor­gens, wenn sie zur Arbeit kommen, mit Handschlag grüßt. Die andern (JTS) haben sich schon oft über diese meine „Unsitte“ lustig gemacht, aber ich bleibe dabei. Es ist nicht un­möglich, dass die Burschen kleine Arschlöcher sind, verkappte Rassisten. Natürlich frage ich Jean-Bosco, wie es seiner Frau geht; sie scheint wieder ein wenig munter geworden zu sein; Jean-Bosco hängt an ihr, das ist mir klar! Ihm tut mein Interesse gut, er duzt mich jetzt und sagte mir vorhin, er wolle mir nach Lambarene schrei­ben. Das rührt mich. • Übrigens hat mich heute Jean I geduzt, - den ganzen Nachmittag über. Schluss mit dem „Mon­sieur“! Gefällt mir. Ich werde es ihm nicht verbieten. In der Schreinerei werden wir eine richtige verschwo­rene Bande: wir arbeiten und faulenzen zusammen, erzählen uns Ge­schichten, sticheln sehr viel, singen und pfeifen, lachen uns gegenseitig aus – und brüllen ein­ander auch schon mal an. Wir leben zusammen, ist doch prima. Heute erlebte ich wieder mal eine köstliche Szene, - aber davon später! • Was das Sticheln betrifft, sind die Afrikaner Meister. Ich denke, das beweist ihre Intelligenz. Sie lieben das. Allerdings muss ich aufpassen, dass nicht alle auf einem – und immer dem selben – armen Teufel herum hacken, - was sie ja gern tun. Also jedem sein Teil! Auch mir! 22:30 Meine Lebensführung wird unerträglich solide und vorbildlich. So früh am Abend – und schon im Bett! Lhh013 19641106 Freitag 07:15 Nach dem Frühstück erlaube ich mir einen kleinen Spaziergang: hinüber zur Mission. Denn dort stranden alle Briefe, die uns bestimmt sind. Möglicherweise finde ich dort einen für mich. In Lam­barene liegen sicher schon einige, oder nicht? Ca 17:30

In der Kirche. Verschnaufpause für Körper und Geist. • Heute Nachmittag hatte ich mal wieder meinen Moralischen: Heimweh. Nach wem oder was? Wie schon so oft, schien mir das Leben ein einziges grausames Abschiednehmen zu sein. Was wird das wohl werden, wenn ich mal richtig alt werde!? - Aber heute war es an­ders als vor noch drei Mona­ten: Im Innersten fühle und weiß ich, dass ich die Poudrière und meine Familie nicht echt verlassen habe; ich schleppe alle mit mir in der afrikanischen Land­schaft herum, auch Milène. • Heute war es sehr heiß, die Stimmung demzufolge etwas müde und gedrückt. Wir arbeiteten schweig­sam und verbissen. Von Zeit zu Zeit ein paar Sätze, die in die Runde geworfen wurden. Ich hielt mich mit Liedern über Wasser. Egal welcher Gassenhauer oder welcher religiöse Ohrwurm, alles war gut: „Ach Egon, Egon, Egon, Eeeeegon! Ich hab je nur aus Liebe zu dir, aus lauter Liebe zu dir, ein Glas zuviel getrunken......“ Kenne ich aus der Zeit kurz nach dem Krieg. Kirmes vor der Haustür. Der erste Vers steigt im Ton bei jedem Egon um eine halbe Stufe; nicht so einfach zu singen. Beim letzten „Eeeeegon!“ brüllte die versammelte Mannschaft vor Lachen los. Die Melodie war für sie seltsam und der komische Namen Egon sorgte 20 Minuten lang für Heiterkeit im Laden. Ich war überrascht und lachte mit. Alle trällerten schließlich „Egon, Egon ….“ und versuchten dabei die richtigen Intervalle zu erwischen. Mir hat's Spaß gemacht, genau wie ihnen. Ich versuchte, ihnen den Text zu über­setzen. Keine umwerfende Lyrik! Morgen werde ich in der Werkstatt nur noch „Egon...“ zu hören kriegen. 18:00 Unter den Briefen, die ich soeben in der Mission vorgefunden habe, ist auch einer an P. Pinus, ge­schrieben von einem der Patres aus Lambarene. Also noch ein Stündchen Geduld, bis P. Pinus zu­rück ist und ihn hat lesen können! Wir warten auf präzisere Nachrichten. 19:15 ENDLICH! Sie werden morgen, Samstag, kommen. Sie: die Mitbrüder aus Lambarene. Die Abfahrt ist für den 10/11/64 vorgesehen. Dienstag Abend können wir also in Lambarene sein. Voraussichtlich! Die Adres­se ist bekannt. Morgen gehe ich zum deutschen Botschafter, um mich vorzustellen. · Lhh014 19641107 Samstag 07:15 Heute erwarten wir also das Auto von Lambarene. Es wird uns zu Beginn der nächsten Woche zu unserm Bestimmungsort bringen. Ich erwarte mehr als das: einen oder zwei Briefe, die sicher von Fraulautern nach Lambarene geschickt worden sind. Ich bin gespannt. Gestern war für mich „großer Waschtag“. Als ich Anorak und lange Hose aus dem Spind heraus­nahm, stellte ich fest, dass die Kleider verschimmelt waren. Desgleichen der Pullover. Dagegen gibt es ein probates Rezept: alles unter die Dusche und kräftig einweichen! Das habe ich also besorgt. Um 9 Uhr fahren P. Pinus und ich zum deutschen Botschafter. Ich bin gespannt. - Inzwischen ist das Rendezvous auf Montagmorgen 11 Uhr verschoben worden. • Gestern traf ich einen Burschen vom amerikanischen „Peace Corps“. Es gibt deren mehrere Grup­pen im Gabun, Jungen und Mädchen. Anscheinend auch in Lambarene. Weshalb sprechen die nicht besser Französisch, mit meinem Englisch komme ich nicht weit! Englisch werde ich mir wohl noch unter den Nagel reißen müssen! 22:00

Vor einer Viertelstunde habe ich meine tägliche Dusche genommen. Zu Beginn fühlte ich mich hundemüde, jetzt bin ich wieder munter und entspannt. Die Unterwäsche der vergangenen Woche habe ich eingeweicht und zum Trocknen aufgehängt. Der emanzipierte Mann! Als Schreibunterlage dient mir eine Nummer von „Tintin“. Da staunste! Von Zeit zu Zeit ist man für konzentrierte und seriöse Dinge nicht mehr zugänglich. Da tut ein „Tintin“ oder ein humoristisches Buch (Anekdoten etwa) recht gut. Viel Literatur dieser Gattung finde ich im „Centre Culturel Français“ nicht. Dieses Kulturzentrum besuche ich ab und zu; dort kann ich alle möglichen Zei­tungen, Zeitschriften und Bücher finden. • Heute habe ich mit P. Pinus in der Kathedrale gearbeitet, bis 16:30. Lautsprecher eingebaut. Das Gebäude ist neu, noch nicht ganz eingerichtet. Libreville ist ein Bischofssitz, historisch sogar die Metropole ganz West- Schwarzafrikas, bis nach Südafrika. Die alte, ursprünglich Kirche, ist zu klein geworden und ein wenig herunter gekommen; sie müsste als Denkmal geschützt werden. Bei der Arbeit entfuhr dem Priester des Herrn ein deftiges „Merde! - Scheisse!“ Als gut ge­schulter Seminarist antwortete ich darauf „et cum spiritu tuo!“. Danach wurde P. Pinus aber wieder brav und fromm und sang: „Victoire, tu regneras, o croix, tu nous sauveras.“ Ein Ohrwurm, den ich von der Sams­tagsmesse in der Poudrière kenne. Die Arbeit war anstren­gend; obwohl keine Sonne schien, schwitzten wir unmäßig. Aber wann schwitzt man schon mäßig am Äquator?! Die Hitze wäre noch auszuhalten, wenn nicht die 100%-ige Feuchtig­keit wäre! Als wir ins „Centre de Formation“ zurück kamen, stellte sich uns ein Pater von Lambarene vor; er war mit einem kleinen Hanomag-Laster angekommen. Was er transportierte, weiß ich nicht. An einer Fähre hat er zwei Stunden warten müssen. Ein quicklebendiger, lustiger Kerl; ein sehr guter Franzose, das heißt: frivol. Jedenfalls tat er so. De Langavant heißt er. Bis heute morgen sind in Lambarene noch keine Briefe für mich angekommen, sagt er. Sie bleiben häufig tagelang in Libreville liegen, bevor sie weiter verschickt werden. Wir sind eben in Afrika!Am Dienstag Abend werden wir ja sehen. Der Pater aus Lambarene versicherte mir: „Du wirst Schweitzers Liebling sein, da du deutsch sprichst.“ Man darf gespannt sein. Übrigens habe ich bei der Gelegenheit erfahren, dass Schweitzer ein „colon“ der alten Schule ist, jedenfalls im Ton. Und dass er gern ein Bier trinkt: Kronenbourg, aus Straßburg. Nun ist es schon über 23:00 Uhr. Die Augen fallen mir zu. · Lhh014 19641108 Sonntag 21:30 • Sonntagabend. Die Messe in der Poudrière ist beendet. Es ist kalt in Brüssel. Winter. Die Leute überschwemmen den Saal. Mlle Latour (la germanophile, MPW) sitzt auf dem Sofa und liest vielleicht den Brief, den ich an die Poudrière geschrieben habe. Vielleicht ist auch die kleine Julischka mit ihrer etwas verhärmten Mama noch da; die Kleine ist ein wenig gewachsen. Sie ziehen alle an meinem inneren Auge vorbei. Pärchen und solche, die es werden möchten; andere, die es bleiben möchten. Jean am Klavier, wenn er Zuhörer hat. Und so weiter... Ich beobachte ein Fräulein, das überall herumflitzt, um den vielen Samstagsgästen das nö­tige „Futter“ zu besorgen: Brot und Marmelade. Der Kaffee wird in der kleinen Küche ge­kocht; alle erwarten ihn. Milène saust im Saal herum wie ein Wiesel, führt ihre vorwit­zigen Augen von Platz zu Platz spazieren. Wenn jeder das Seine hat, hockt sie mit Simone, Jules und Anne-Marie an dem kleinen Tisch; sie balgt sich mit den „Yé-Yé“ herum, mit der Bande junger Kerle, die regelmäßig in die Poudrière kommen. Heute ist mein Kopf leer. Das ist mir schon oft geschehen. Es gibt eben Tage, wo die Zeit stehen bleibt; nichts tut sich mehr, das Leben hält den Atem an. Keine Ideen und Gedanken mehr. Schon­zeit. Ich denke, man kann das aus meinen nichtssagenden Zeilen herauslesen. Und jetzt ab unter die Dusche! Welch ein Luxus! Ich möchte mal wissen, welcher Afrikaner sich ihn leisten kann!


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