22:30 Säuberungskampagne erfolgreich beendet! Jetzt bin ich ein sauberer Drecksack! Themawechsel! • Einer der Hauptpunkte, die mir in den vergangenen Wochen besonders aufgefallen sind, ist die Stellung der Frau. Stellung in der Gesellschaft. Vor allem aber in der katholischen Kirche! In meinem bisherigen Leben habe ich viele Eindrücke mitgekriegt, die ich noch nicht verarbeitet habe. Das kommt noch, mit Sicherheit! Ich halte weiterhin die Augen offen. Im Gabun gibt es, wie überall, Frauen! Noch nicht verheiratete Mädchen. Bisher hatte ich noch keinen Kontakt mit dieser Kategorie. Berichten zufolge sind sie toll auf Europäer und sehen es als eine Ehre an, für ihre Eltern oder den Klan ein Mestizenbaby auf die Welt zu bringen. Ansonsten scheinen die Mädchen nicht darauf zu brennen, unter die Haube zu kommen; die Schulausbildung hat ihnen wohl ein Gefühl für ihre individuelle Freiheit gegeben. Verheiratete Frauen. Jean-Pierre, ein Afrikaner, sagte mir, er sei mit zwei Frauen verheiratet. Das ist häufig der Fall. Jedenfalls finden er und seine Frauen diesen Zustand für normal und sogar wünschenswert. Dafür gibt es sicher handfeste Gründe, wahrscheinlich wirtschaftliche. Jean-Pierre ist ein prima Kerl. Ich stelle mir die Frage, welche Rolle die Frau in der schwarzafrikanischen Gesellschaft zu spielen hat. Gibt es so was, was wir „Ehe“ nennen würden? Oder sind wir hoffnungslos unfähig, die gelebte Wirklichkeit in Afrika einzuschätzen? Die Mutter von Jean I, mit dem ich einmal nach Hause gegangen bin. Sie sah noch jung, faltenlos und ausgesprochen hübsch aus. Mehrmals versuchte ich - wir waren nur wir drei im Raum – mit ihr ein Gespräch anzuknüpfen. Nichts zu machen, kein Kontakt! Sie war nicht unfreundlich, gab aber kein Wort von sich. Als Jeans Vater und Onkel angekommen waren, gab es mit ihnen eine lebhafte Diskussion. Madame hockte in einer Ecke des Zimmerchens, wickelte das Baby vom Rücken, gab ihm die Flasche usw. Sie schien überhaupt nicht anwesend zu sein. Als ich aber von einem Autounglück in Libreville erzählte, entwischten ihr ein paar Schreckensrufe; anscheinend hatte sie gut die Ohren gespitzt! Niemand nahm Notiz von der Frau. Als sie den Kleinen zu Bett gebracht hatte, zündete sie sich eine Pfeife an und verließ die Wohnung, um sich draußen neben dem Eingang in eine dunkle Ecke zu setzen, wo sie mit einer anderen Frau schwatzen konnte. So was schafft bei uns Vorurteile. Ich bin sicher, dass Mann und Kinder diese Frau liebten. Halt auf ihre Art. Die ungeschriebenen Regeln wollen wohl, dass sie bei einer Männerdiskussion nichts zu melden hat. - Und diese Familie war schon eine „bessere“ in der afrikanischen Gesellschaft! Wie war das noch zur Zeit meiner Urgroßeltern aus der Ulanenstraße? Am Sonntag, nach dem Hochamt, versammelte sich die männliche Gesellschaft um den Urgroßvater. Die Frauen hatten genügend Arbeit in Küche und Garten, um die Enkel in Schach zu halten und das Mittagessen vor zu bereiten. Die Kerle saßen um den Kamin herum, in der guten Stube (in da gudd Stuff), beschlossen, welches Stück Land gekauft oder verkauft werden sollte, welches Haus, und wo, gebaut werden sollte usw. Dabei schickten sie ausgiebig Kautabak und spuckten ihn in den Topf, der eigens zu diesem Zweck neben dem Kamin stand. Übrigens, mein Vater spuckt sehr zielgenau; das hat er wohl dort gelernt. Dennoch ist es mir unvorstellbar, dass meine Mutter oder Milène sich einem solchen Regime unterordnen sollten! Eine stumme Dienerin wäre für mich unerträglich! Aber soweit ich beide Damen (und manche andere) kenne, werden die sich so etwas nicht gefallen lassen! Es gibt zahlreiche andere Anhaltspunkte, die mir Tag für Tag deutlicher illustrieren, dass die Emanzipation der Frau ein echtes Anliegen ist, eines, das für die gesamte Gesellschaft von größter Bedeutung ist. Warum soll die Frau vom Wirtschaftsleben ausgeschlossen bleiben? Die Zukunft hängt großenteils von den Mädchen und Frauen ab. Inwiefern man bei diesem Anliegen auf die katholische Amtskirche rechnen kann, weiß ich nicht; das wird sich zeigen. Ich habe Zweifel! • Emanzipation bedeutet nicht Uniformierung der sozialen Rollen Frau/Mann. Sie soll kein Mann werden sondern die gleichen Rechte haben wie er. Was mich betrifft, bin ich sicher, dass die Frau mehr aushalten kann als der Mann. Während die Männer sich in ihren dummen Kriegen gegenseitig den Schädel einschlagen, müssen die Frauen mit den Kindern und den Kriegsfolgen fertig werden. Ich denke an meine Mutter während des Krieges. Kein Mann wäre fähig, solche Situationen zu meistern, mit denen ihre Frauen täglich fertig werden müssen. -
Ich behaupte sogar, dass der Mann im Grunde seines Herzens vor der Frau Angst hat, was wohl einige Zustände erklären kann. Vor einigen Tagen habe ich in dem täglichen Konzilsbericht von „La Croix“ den Appell afrikanischer Bischöfe lesen können: Emanzipation der Frau, Verurteilung der Polygamie, die Würde der Frau promoten... Das hat mich gefreut. Aus dieser Ecke kommt endlich mal ein frischer Luftzug. Es ist kein Zufall, dass er in Afrika seinen Ursprung hat. Inwiefern haben katholische Amtsträger das Recht, für die Frauen die Emanzipation einzufordern? Sollen sie doch mal in ihrem eigenen Laden anfangen! · Lhh014 19641109 Montag 07:20 Der letzte Tag in Libreville. Die achtwöchige Einarbeitung war eine Art „Noviziat“; sie hat mir gut getan. Ich konnte ein wenig in das Leben der Afrikaner hineinschnuppern, mich an die neue Umgebung gewöhnen. Die nächsten Wochen werden spannend werden: wieder eine neue Umgebung, andere Leute. Der Seminarist, der jahrelang im selben Rhythmus gelebt hat, wird hier tüchtig durchgerüttelt. Aber seit einem Jahr sind die Umstellungen für mich banal geworden. Oder doch ein wenig! Aber, wie im Seminar oder in der Poudrière, besteht die Gefahr, dass ich nach einer gewissen Zeit in den seelenlosen Trott der Routine verfalle, in Flachheit und Automatismus. Milène wird mich auf Trab halten müssen. • In Rom tut sich etwas. Das Konzil! Sollte es den Heiligen Geist doch geben? Oder ist es nur die Unmöglichkeit, so weiter zu wurschteln und das Schiff der Weltkirche den Strömungen des Moments auszuliefern? In der frommen Umgebung des „Centre“ kann ich täglich die katholische Zeitung „La Croix“ lesen. Ein katholisch motiviertes Medium, das kritisch und intelligent versucht, Welt und Kirche zu vereinen. Das Konzil ist für Afrika von größter Aktualität: Hunger, Armut, Ausbeutung. Die Katholen sowie alle Christen, die im großen ganzen die reichste Bevölkerungskategorie der Menschheit formen, sollten endlich begreifen, dass sie ALLEN Menschen helfen müssen, die Hilfe nötig haben. Ich schätze die Orientierung des Kardinals Frings von Köln, der reichsten Diözese der Kirche. Aber unsere Hilfe darf sich nicht in Sonntagsreden und wohltönenden Deklarationen erschöpfen, - konkret und bedingungslos muss sie sein! Die Kirche soll endlich davon ablassen, alles zu verurteilen, was ihr nicht einsichtig ist oder nicht in den Kram passt. Vor kurzem wurden die Sozialisten verteufelt und von den Sakramenten ausgeschlossen, die Protestanten, die Juden, die „Häretiker“, Schriftsteller usw. usw. Augenblicklich wird auf den „gottlosen Kommunismus“ eingedroschen; Karlchen Marx wird zum Unmenschen gestempelt… Dabei war der Mann ein Wissenschaftler, einer der bedeutendsten des 19. Jahrhunderts. Heraus aus der Sakristei! Hinein ins Leben! Schema XIII. Wird dieses Vaticanum tatsächlich die Weichen neu stellen? Zweifel sind erlaubt. 11:45 • Zurück von der deutschen Botschaft. Ich könnte mir vorstellen, dass ich im Botschafter einen Freund gefunden habe. Er schätzt sehr die Arbeit der Missionare, - und hat dies auch schon öfter durch die Tat bewiesen, wie ich erfahre. Von Copainville und der Poudrière habe ich ihm erzählt; er schien ehrlich interessiert zu sein, nicht nur diplomatisch und schmallippig! Allem Anschein nach ist er praktizierender Katholik; jedenfalls ist er über das Konzil bestens informiert. Er spezialisiert sich hauptsächlich auf technische Hilfe. Kulturarbeit ist gering entwickelt und bleibt das Spezialgebiet der Franzosen. Er hat die Absicht, mir einigen Lesestoff nach Lambarene zu schicken, Zeitungen und ähnliches. Prima. Es lohnt sich, mit ihm in Kontakt zu bleiben. Seinen Namen habe ich vergessen.
08:15 Nach dem Kaffee. Jetzt muss ich zunächst meine Koffer packen und den „Stall ausmisten“. Kofferpacken war immer meine Spezialität, weil ich es nie gern tat, - und wenn, dann in der der allerletzten Minute! Wenn ich nach St. Wendel, St. Augustin oder Wien (Mödling) fuhr, gab es regelmäßig eine Katastrophe, weil ich erst in der letzten Viertelstunde meinen Krimskrams zusammensuchte. Von wegen Disziplin und ähnlichem! Ich glaube, ich habe einen eher anarchischen Charakter. Ist das schlimm? - Aber ich hatte ja die Mutti und die Schwestern, die sich meiner Koffer annahmen und alles vorbereiteten. Maria machte das sehr gut. Und schnell! Schwestern sind manchmal recht praktische Möbel. Außerdem schreiben sie einem ab und zu einen Brief! • Nach der Siesta hat es mich aus dem Haus getrieben. Ich musste an die Luft! Zunächst machte ich einige Minuten Halt in der Kirche. Dann marschierte ich in flottem Schritt zwei Stunden lang kreuz und quer durch die Stadt. Weshalb? - Ich wollte Menschen sehen, vor allem Kinder! Das Leben im „Centre“ ist mir zu isoliert, zu eintönig, zu europäisch. Ich traf mehrere Schulbuben, mit denen ich mich unterhalten konnte. Dann besuchte ich einen großen Basar. Die Händler sind Haussa: ich würde sagen, ihre Gesichter sind feiner geformt als die der Bantus; sie stecken in langen, reich gefalteten Gewändern. Die Frauen sitzen auf den Verkaufsständen, meist umgeben von einer Bande halbnackter oder total nackter Kinder. Ich beobachtete eine junge Mutter. Auf dem Rücken hatte sie ein Baby angebunden, auf dem Schoß einen kleinen Jungen, ein liebes Kerlchen, splitternackt. Sie hatte anscheinend ihre Ware vergessen und spielte hingebend mit dem Kleinen, gab ihm mal einen Kuß ins Gesicht oder tätschelte ihm den Hintern. Die Gesten sind doch überall die gleichen! Ein Rudel Jungen hieb mit Pappröhrchen aufeinander ein. Als ich eine Stunde später wider vorbeikam, beendeten sie gerade ihren frischfröhlichen Krieg. Die Frauen hatten inzwischen ihre Waren eingepackt und trugen sie auf dem Kopf nach Hause, die Kinder folgten ihnen. - Mir fiel auf, dass Frauen und Männer durchgehend schöne Menschen sind, schlank, stolz. Überall wimmelte es von Schulkindern, die in Horden durch die Straßen zogen. Manche waren noch so klein, dass sie kaum die Schultasche schleppen konnten. Wieder ein wunderschöner Sonnenuntergang! Mein letzter in Libreville. Die Sonne geht hier, am Äquator, bedeutend schneller unter als am 50. Breitengrad (Brüssel). Der Übergang von Tag zu Nacht (und umgekehrt) ist kurz und mit mir bisher unbekannten Lichteffekten begleitet. Der Himmel glühte in allen Farben. Auf der Horizontlinie standen unbeweglich zwei Hochseefrachter. Eine Mole, die ins Meer hinausgeht, dient als Hafen. Dieser Spaziergang hat mir zweierlei gezeigt: 1) Wie in Copainville oder in Mödling suche ich auch hier menschlichen Kontakt mit den Leuten. In einer Gegend leben ohne die Menschen kennen zu lernen, interessiert mich nicht; das Wichtigste fehlt dabei. Arbeit, JTS, Briefe reichen nicht, auf die Dauer fühle ich mich isoliert, von der Welt abgeschnitten. Ich denke, in Lambarene werde ich in dieser Hinsicht mehr als bedient sein. 2) Die Wander- und Reiselust steckt – trotz fortgeschrittenen Alters und ernster Lebensführung – immer noch in mir. Ich hoffe, es bleibt so bin an mein Lebensende. Das ewige Autofahren wird mir zu viel, - ich brauche körperliche Bewegung. Vielleicht werde ich in Lambarene auf dem Fluss paddeln können. • Am Abend war ich mit Jean-Claude (Dols) bei einer jungen Lehrerin, (Mädchenschule „Immaculée Conception“, unten an der Straße) um mich zu verabschieden. Sie heißt Annie, ist etwa 20 Jahre alt und wohnt zusammen mit einer JOC-und einer JEC-Führerin; die beiden letzten sind für zwei Wochen nach Lambarene gereist. Ich gab vor, mich für eine Schallplatte zu interessieren: „Carmen“, von Bizet. Jean-Claude wollte nur ganz kurz bleiben, weil er einen Brief an seine Danielle zu Ende schreiben musste. Schließlich rückte die junge Dame, die übrigens sehr lustig sein kann, mit einer Flasche Whisky aus der gemeinsamen Hausbar heraus. Sie selbst war nicht auf diese Idee gekommen, wir mussten schon ein wenig nachhelfen! Nach einigem Zögern machte Jean-Claude mit. Bei Carmenklängen und Whisky disputierten wir, an Streitthemen fehlte es nicht. Ich muss zugeben, dass die Mädchen nicht reizlos sind, aber ihr Getue geht mir an die Nieren. Sehr französisch, katholisch, kleinbürgerlich. Gute Manieren, keine groben Worte. Und so weiter. Annie ist recht lieb, aber unglaublich kurzsichtig, oberflächlich und verwöhnt. Eigentlich weiß sie gar nicht, weshalb sie hier in Äquatorialafrika ist. Misserfolg und Enttäuschung kann sie nicht verdauen. Oder noch nicht?! Statt einer durchdachten Überzeugung (politisch, sozial, geschichtlich) hat sie eine Unmenge kleiner Ansichten, Eindrücke,
Vorurteile. Vor Schwierigkeiten und Komplikationen schreckt sie zurück. Sowas kommt nach Afrika – und will zwei Jahre bleiben! Sie ist im September hergekommen. Es kann sein, dass ich mal wieder zu streng und absolut urteile. Nach all dem Bösen, das ich hier über das Mädchen ausgebreitet habe, muss ich doch hinzufügen, dass wir uns bestens unterhalten haben, sehr angeregt, auch sehr laut. Glücklicherweise war sie über meine kritischen Bemerkungen nicht beleidigt; bleibt zu hoffen, dass etwas davon hängen geblieben ist. Heute habe ich die JTS-Blätter fertig kopiert: 5 Blätter. Ein gutes Stück Arbeit ist erledigt. Manchmal frage ich mich, ob der JTS-Rummel die Mühe wert ist. Um „La Croix“ zu glauben, schneit es in mehreren Ecken Frankreichs, vielleicht auch in Brüssel. Jedenfalls ist es sicher sehr kalt. Ich liege hier in Turnhose, habe seit acht Wochen keine Wolldecke mehr gesehen. Was uns noch eint, ist vielleicht der Regen; immerhin regnet es in Brüssel ja nicht wenig. Mitternacht. Gespensterstunde. Statt an Gespenster denke ich an Milène und viele andere Leute. · Lhh014 19641110 Dienstag etwa 07:15 Ich bin glücklich und in Form! Und ein wenig aufgeregt. In ein paar Stunden geht die Reise los! Den Leuten hier in Libreville bleibe ich sehr zu Dank verpflichtet, aber mein Platz ist wohl sonst wo. • Gestern Abend war ich mit Jean-Claude (Dols) bei einer jungen Lehrerin, (Mädchenschule „Immaculée Conception“, unten an der Straße) um mich zu verabschieden. Sie heißt Annie, ist etwa 20 Jahre alt und wohnt zusammen mit einer JOC-und einer JEC-Führerin; die beiden letzten sind für zwei Wochen nach Lambarene gereist. Ich gab vor, mich für eine Schallplatte zu interessieren: „Carmen“, von Bizet. Jean-Claude wollte nur ganz kurz bleiben, weil er einen Brief an seine Danielle zu Ende schreiben musste. Schließlich rückte die junge Dame, die übrigens sehr lustig sein kann, mit einer Flasche Whisky aus der gemeinsamen Hausbar heraus. Sie selbst war nicht auf diese Idee gekommen, wir mussten schon ein wenig nachhelfen! Nach einigem Zögern machte Jean-Claude mit. Bei Carmenklängen und Whisky disputierten wir, an Streitthemen fehlte es nicht. Ich muss zugeben, dass die Mädchen nicht reizlos sind, aber ihr Getue geht mir an die Nieren. Sehr französisch, katholisch, kleinbürgerlich. Gute Manieren, keine groben Worte. Und so weiter. Annie ist recht lieb, aber unglaublich kurzsichtig, oberflächlich und verwöhnt. Eigentlich weiß sie gar nicht, weshalb sie hier in Äquatorialafrika ist. Misserfolg und Enttäuschung kann sie nicht verdauen. Oder noch nicht?! Statt einer durchdachten Überzeugung (politisch, sozial, geschichtlich) hat sie eine Unmenge kleiner Ansichten, Eindrücke, Vorurteile. Vor Schwierigkeiten und Komplikationen schreckt sie zurück. Sowas kommt nach Afrika – und will zwei Jahre bleiben! Sie ist im September hergekommen. Es kann sein, dass ich mal wieder zu streng und absolut urteile. Nach all dem Bösen, das ich hier über das Mädchen ausgebreitet habe, muss ich doch hinzufügen, dass wir uns bestens unterhalten haben, sehr angeregt, auch sehr laut. Glücklicherweise war sie über meine kritischen Bemerkungen nicht beleidigt; bleibt zu hoffen, dass etwas davon hängen geblieben ist. 08:15 Nach dem Kaffee. Jetzt muss ich zunächst meine Koffer packen und den „Stall ausmisten“. Kofferpacken war immer meine Spezialität, weil ich es nie gern tat, - und wenn, dann in der der allerletzten Minute! Wenn ich nach St. Wendel, St. Augustin oder Wien (Mödling) fuhr, gab es regelmäßig eine Katastrophe, weil ich erst in der letzten Viertelstunde meinen Krimskrams zusammensuchte. Von wegen Disziplin und ähnlichem! Ich glaube, ich habe einen eher anarchischen Charakter. Ist das schlimm? - Aber ich hatte ja die Mutti und die Schwestern, die sich meiner Koffer annahmen und alles vorbereiteten. Maria machte das sehr gut. Und schnell! Schwestern sind manchmal recht praktische Möbel. Außerdem schreiben sie einem ab und zu einen Brief!
Kurze Beschreibung der Fahrt nach Lambaréné Abfahrt 10:00 Uhr, Ankunft etwa 16:30. • Vehikel: ein kleiner Hanomag-Kurier, fünf Personen: der Pater (de Langavant, Europäer), ein afrikanischer Katechist und wir drei (JTS: Jean-Claude, Daniel und ich). In der Kabine waren drei Plätze; hinten alles vollgeladen. Auf den ersten zwei Dritteln der Reise war ich mit dem Katechist im Laderaum eingekeilt. • Straße: Bis km 39 hinter Libreville Asphalt, bei jedem Wetter befahrbar. Anschließend, bis Lambarene Sandpiste. Mehr Sand als Piste! Natürlich gerieten wir dreimal in einen schamlosen Regen hinein. Regenzeit am Äquator! Links und rechts mächtige Bäume, Lianen, Pflanzungen (Bananen und Maniok), ab und zu ein kleines Dorf oder ein paar Hütten. In der Mitte des Weges gerieten wir zweimal ganz erbärmlich ins Schlittern; beinah wären wir im Unterholz gelandet. • Landschaft: wellig, auf und ab, roter Sand – oder roter Schlamm, je nach Zeit und Lage. Die Bäume versperren uns die Sicht auf die Urwaldlandschaft. Hier kann man sagen, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. • Äquator: Irgendwo haben wir ihn überquert. Vielleicht ist er ein Wulst, über den unser Autochen hopste; aber das ist ja so oft geschehen! Was mich betrifft, habe ich keinen Äquator erblicken können. Südlich des Äquators geht es bergab; wir kamen also schneller voran. Oder etwa nicht? Und je weiter wir nach Süden fuhren, desto wärmer wurde es; das versteht ja jedes Kind! Wer damit nicht einverstanden ist, ist ein Stümper! • Welch romantisches Gemüt hat zum ersten Mal Afrika den „schwarzen Kontinent“ genannt? Ist nicht wahr! Afrika ist rot! Die Straße, das Auto, die Gesichter, die Koffer (innen und außen). Der Staub ist rot. Afrika scheint nur aus Staub, Bäumen und Wasser zu bestehen! Der Staub ist röter als rot! Überhaupt, er ist das „Röteste“, das ich kenne. Ein Philosoph würde sagen: er ist die Röte an sich! - Aber Philosophen fahren nicht von Libreville nach Lambarene; was sollen sie dort tun?! • Häuser und Dörfer. Sie sind klein und „primitiv“, - aber blitzsauber; ob dies so bleibt, vor allem in den zukünftigen Ballungsgebieten (Libreville), bleibt abzuwarten. Es ist zu bedenken, dass der Gabun das am dünnsten besiedelte Land Schwarzafrikas ist (Der Sklavenexport hat hier geblüht). Im Wald ist man auf sich allein gestellt, besser: auf die kleine Gemeinschaft, in der man lebt. Anders ist an Überleben nicht zu denken. In der Gegend von Libreville sind die Hütten (les cases) meist was kunstlos, oft armselig zusammengebosselt. Dort benutzt man, aus einem in die Hände fällt. Bretter waagrecht festgenagelt, Dach Stroh oder Wellblech. Hier ein schönes, ein „besseres“ Haus. Hundert Kilometer weiter präsentierten sich zwei weitere Haustypen: 1) Bambuswände; halbe Bambusstengel, senkrecht nebeneinander stehend, bilden eine Außenwand. Ist sehr haltbar und sieht sauber aus. 2) Pfahlhaus, besonders in Flussgegenden. Schutz vor Überschwemmung und Sumpf. Je weiter wir ins Landesinnere kamen, Die desto mehr Schmuck war zu sehen. Türrahmen und Fenster hatten die typisch afrikanischen Ornamente, Bambusmatten, in unterschiedlichen Farben gemustert. 23:00 Ich schwimme in Wonne, Glück und Freude! Wir sind in Lambarene heil angekommen.
Da es spät ist und ich innerlich den Tag noch nicht verdaut habe, verschiebe ich meinen Reisebericht auf morgen. Vielen Dank für die Post, die mich in Lambarene erwartete. · Lhh014 19641111 Mittwoch 11:50 Feiertag. Nix neue Karnevalsaison, die heute in Köln losgetreten wird! - Waffenstillstand an der Westfront, 1918. Schluss mit Kaisers und Weltmachtpolitik. Aber, wie wir inzwischen erfahren haben, ist der deutsche Großmachtstraum damit noch nicht zu Ende gegangen. Zu unser aller Leidwesesen! • Die Franzosen feiern diesen Tag immer noch, und mit Hingebung. Das kann ich ihnen nachfühlen. Als Saarländer weiß man, wie das ist, wenn man von der einen zur andern Seite gerissen wird. Die Bevölkerung wird ja eh nicht gefragt! So ist es uns häufig passiert, dass wir befreit worden sind, und niemand hat uns gesagt, warum und von wem wir von nun an befreit waren. Und wie lange der „Befreier“ im Land bleiben wird, weiß auch niemand. Und wenn dann die Einwohner des Saargebietes oder des Saarlandes heim ins Reich, zurück in die BRD kommen, werden sie taktvoll als „Saarfranzosen“ empfangen, denen man nicht trauen kann, - oder denen man alles zutrauen kann! Wie ist das übrigens in Belgien mit der Angliederung von Eupen-Malmédy gelaufen? Darüber muss ich mich mal schlau machen. • Ein kurzer Besuch im Tropenhospital Schweitzers. Soeben komme ich vom Tropenhospital Schweitzers zurück. • Um halb zehn begleitete ich P. Leterrier im Boot zum Hospital Schweitzers, auf die andere Flussseite. Eine junge Frau begleitete uns mit ihrem sechswöchigen Baby; sie wollte sich untersuchen lassen. Sie und ihr europäischer Mann arbeiten für die Mission; er ist Schreiner. Während wir auf sie warteten, konnte ich das Gelände in Augenschein nehmen. Ich bin überrascht, erstaunt und beeindruckt. Wenn man dorthin geht, um ein Krankenhaus zu besichtigen, fällt einem der Unterkiefer herunter: ein tolles Gewusel und Durcheinander; von wegen klinischer Hygiene! Aber der Kranke aus dem Busch ist nicht allein: Frauen, Kinder begleiten ihn, sogar ein paar Hühner sind von der Partie. Im Familienverband wird das Essen von den Frauen vorbereitet. Die Leute bleiben im gewohnten Rahmen. Die Kranken, denen ich begegnet bin, hausen in armen Holzhütten. Ich sah einige „Wohnungen“: eine Baracke, mit Maschendraht in Zellen aufgeteilt, nicht sehr angenehm; äußerst arm. Wir besuchten viele Kranke, die „Schäfchen“ des Priesters: Alte und Junge, ein Kunterbunt von Elend und Jammer, Hoffnung und Verzweiflung. In diesem Milieu stellte sich mir die Frage: „Was ist eigentlich der Mensch?“. Sicher nicht viel. Ich habe keine schlüssige Antwort. Mehrere Holzbaracken stehen eng nebeneinander. Die Kranken liegen in zweistöckigen Betten. Es mangelt eindeutig an Platz in und um die Baracken, - und an Hygiene. Das zur Verfügung stehende Gelände wäre ausreichend groß, um unbegrenzt viele Baracken zu errichten. • Die Grundidee scheint mir sehr gut zu sein: Die Kranken kommen mit ihrer Familie, wohnen in dem „Dorf“, werden kostenlos behandelt. Sie werden also nicht aus ihrer gewohnten afrikanischen Umgebung gerissen und in ein modernes europäisches Krankenhaus verpflanzt! Sie bleiben in Kontakt mit ihrer Welt. P. Leterrier war etwas kritischer als ich. Er sagte mir, dass die Dörfer der Kranken bedeutend sauberer seien als die „Ställe“ der Tropenklinik. Allerdings sei die Behandlung vorbildlich und gewissenhaft. Für das weiße Personal, etwa 60 Ärzte und Krankenbetreuer aus Europa und Amerika, gehöre eine große Portion Heroismus dazu, um unter diesen Umständen in Lambarene durch zu halten. Sie seien in jeder Hinsicht vorbildlich, sagt P. Leterrier. Den Dr. Schweitzer habe ich nur flüchtig in einem Labor erspäht. Der Betrieb scheint noch auf der altbekannten Schiene zu laufen, also kolonial. Ich werde mich hüten, das zu verdammen, da mir klar ist, dass die Afrikaner das
vielleicht so erwarten. Es kann auch sein, dass der Ton rau ist, dass sich dahinter aber eine tatsächliche Hilfsbereitschaft versteckt. Und für so was, scheint mir, haben die Leute hier ein Gespür. • Was meine Arbeit betrifft, sehe ich ein wenig klarer: ein wenig von allem – vor allem Katechismusunterricht. (Mit Schreibmaschine geschrieben:) • „Weiter im Text! Ich muss mich auf die französische Tastatur umstellen; dass dies nicht ohne Fehler abgeht, ist eine Tatsache. Ich werde also noch tüchtig üben müssen 5 ( Zut! Ausrufezeichen und Klammer sind beinahe nicht zu finden!)“ • „Eine Störung (das wird jetzt öfters vorkommen!); ich muss sofort einen Text über die Märtyrer von Uganda abschreiben und vervielfältigen! “ (Ende des Schreibmaschinentextes) Abends. Keine Ahnung, wie spät es ist! Glücklicherweise weiß ich es nicht. Die andern sind im Bett. Es ist ruhig – würde man sagen, wenn nicht das Gezirpe der Grillen und das Gesumme der Moskitos wären! Ein paar der letztgenannten Stechteufel haben sich ins Haus verirrt und schwirren um die Lampe herum. Das Dorf (Fahrt von Libreville nach Lambarene) • In jedem Dorf gibt es eine Art Gemeindehaus; ein auf Pfähle gesetztes Dach, nach allen Seiten offen. Die Dörfchen sind unvorstellbar verloren in ihrer grünen Hölle. Wer dort wohnt, kennt nur Bäume und arme Hütten. Keine Abwechslung im Alltag; nichts was den Geist anregt, aus der Routine auszubrechen. Keine Bücher, kein Fernsehen, keine Arbeit. Die Schulen sind ebenfalls oft weit weg; die Eltern versuchen, ihre Kinder bei Verwandten unter zu bringen, die in der Nähe einer Schule wohnen. Vielleicht sehe ich das Leben hier durch eine verzerrende, europäische Brille. Sind die Leute im Wald tatsächlich so hilflos verloren? Sie sehen und erleben Dinge, für die ich blind bin. Vielleicht bin ich zu bedauern. Vielleicht fehlt mir die Kultur!? Entlang dieses Hauptverbindungsweges ist für einige Abwechslung gesorgt. Ob die Afrikaner noch das Tamtam benutzen, müsste ich nachfragen. Es fehlt nicht an Fremden (wie mir), die etwas Erfrischung kaufen wollen oder irgendwo übernachten müssen. Denen wird geholfen. • Männlein und Weiblein. Die meisten Männer scheinen irgendeiner Arbeit nach zu gehen. Stehen sie damit unter Arbeitsvertrag? Immerhin habe ich viele junge Leute (Männer) gesehen, die phlegmatisch vor der Hütte hocken oder schleppenden Schrittes (was mich unsäglich nervös macht!) am Straßenrand entlang schlurfen. Machen die einen Spaziergang? Die Frauen hingegen haben alle ihre Arbeit. Sie haben ja ihren Mann! Viele, scheint mir, sind in den Pflanzungen beschäftigt, mit oder ohne Kinder. Eine große Hotte hängt in ihrem Rücken, an der Stirn mit einem Band befestigt. Die Hotte ist übervoll: Bananen, Brennholz, Maniok oder Zuckerrohr. Diese Lasten schleppen sie manchmal kilometerweit; auch alte, verhutzelte Frauchen (wie alt sind die überhaupt?). Ich sah zwei jüngere Frauen im strömenden, kalten Regen: sie waren hochschwanger, jede schleppte einen schweren Korb auf dem Rücken. • Kinder
gehen meistens zur Schule. Ich habe mir sagen lassen, dass die Grundschule beinahe zu 100% besucht wird. Dies dürfte für die Mädchen der Königsweg zu ihrer Emanzipierung sein. An einigen Schulen sind wir vorbei gefahren. Oft werden sie von der (katholischen) Kirche geführt. Ob das für die so junge selbständige Republik eine gute Sache ist, bleibe dahingestellt. In Europa (BRD) gibt es ja heute noch katholische und öffentliche Mathematik usw.! • „Kapellen“ oder „Kirchen“. Ich bin versucht, sie „arm“ zu nennen. Die Hauptsache ist ein schützendes Dach und ein Tisch, der als Altar dienen kann; hinzu kommen ein paar Hocker. Braucht es mehr? Es ist wahr, manche Privathütten der Einwohner sind reicher ausgestattet als die Kapelle. • Regenschirm. Seltsames Thema. Aber da es den lieben langen Tag regnet (Regenzeit), fällt mir auf, dass die Anwohner der Straße ein Bananenblatt als Regenschirm benutzen. Praktisch, gratis, dieser Wegwerfregenschirm. • Ziegen Taschenausgabe, kleine Tierchen mit kurzen Beinen. Hörner kaum zu erkennen. Farbe: meist schwarz-weiß, einige braun-weiß. Sie vermehren sich kräftig und werden nur des Fleisches willen gehalten; Milch, Käse usw müssten mal vermarktet werden. Eine interessante Szene. Wir fuhren an einer toten Ziege vorbei, sie lag an der rechten Straßenseite. Auf der linken Straßenseite, also gegenüber, stand ein Trupp Ziegen, wahrscheinlich die Familie der Toten. Die Vierbeiner marschierten unruhig die Straße auf und ab, wagten aber nicht sie zu überqueren. Sie sahen aus wie würdige Stadtväter in schwarzem Frack (siehe Pinguine). Sie wollten sichtlich auf die andere Seite, wo die arme tote Geiß lag. Schließlich schickten sie eine aus ihren Reihen als Delegierte (chargée d'affaire!) los. Die Zicke guckte ängstlich nach links und rechts, bevor sie gemessen auf die andere Straßenseite stelzte, wo sie die Tote in Augenschein nahm. Dies spielte sich innerhalb einer Minute ab und erschien mir wie eine köstliche Karikatur des Menschen. Im Grunde, warum „Karikatur“? Würdig, ernst, aufgeregt (nochmals wie die Pinguine), mit gravitätischer Betriebsamkeit. • In einem Dorf stand, dicht an der „Piste“, ein Fetischhaus, gekennzeichnet durch einen liegenden Halbmond auf dem Giebel. Mit Barnabé, dem Katechisten, etwa 55 bis 60 Jahre als, saß ich bei Pater Langavant (oder so ähnlich) in der Führerkabine. Der Père schlug vor: „Hier halten wir, um in dem Haus zu beten.“ Barnabé ereiferte sich sofort: „Die beten einen andern Gott an, einen verkehrten!“ Wir: „Es gibt doch nur einen Gott; wenn sie zu dem beten, so ist das auch der unsere!“ - Nichts zu machen, Barnabé hatte seine Prinzipien, und er blieb dabei: „Die beten den Teufel an, sie sind Satansdiener!“ Ein dicker Brocken Unduldsamkeit und Ideologie kam da zum Vorschein. Solche Zeloten können gefährlich werden! • Lambarene Wiedersehen mit guten Bekannten: die Moskitos erwarteten mich, das war eindeutig. Und sie waren so neugierig auf den Ankömmling, dass sie sich in doppelter Anzahl einfanden. Es stimmt, sie sind nicht dieselben Moskitos wie in Libreville, aber dieselbe Familie! • Das ist nicht so schlimm, da es von zwei Punkten ausgewogen wird: 1) Die herrliche Landschaft, am (für mich) unermesslich großen Fluß, dem Ogooué. Skizze: Blick durch mein Fenster. Der Betrachter muss schon eine gute Dosis Vorstellungskraft mitbringen!
2) Eine sehr gute Diskothek. Außer Wagner ist alles vorhanden. Ich habe immer noch keine Ahnung, wie spät es ist, will es auch nicht wissen. Was ich hier nicht zu Papier bringen konnte, muss ich eben auf später verschieben. · Lhh015 19641112 Donnerstag 14:00 Mein Tagewerk: • Heute morgen Messe und Kaffee. Um 8 Uhr schrieb und vervielfältigte ich 3 Formulare (2 x 300 Stück, 1 x 40 Stück). Augenblicklich habe ich gerade eine Matrize in die Maschine eingespannt; sie ist zu beschreiben und nachher zu vervielfältigen (3000 Stück). Es sind Formulare für die Landesverwaltung, - das bringt der Mission etwas Geld ein (wie Salatanbau und Ananaspflanzung). Heute morgen begann ich die Kartei der Arbeiter neu aufzustellen. • Um 12 Uhr habe ich P. Leterrier zu einer Schule begleitet, um mir den Katechismusunterricht anzuhören. In Zukunft soll ich den Pater vertreten, weil er weit verstreuten Pfarreien zu betreuen hat. Er ist gerade unten am Anlegeplatz; in wenigen Minuten wird er mit seinem Nachen abbrausen, flussaufwärts, vier Stunden, immer allein, bei glühender Sonne (denn zwischen den Regengüssen kommt die Tropensonne zum Vorschein!). ca. 21:30 Kaputt! Ich bin gerädert! Das kommt davon, wenn man arbeitet statt zu schwadronieren! Ich lege mich jetzt sofort in die Klappe. Wahrscheinlich hat diese Müdigkeit normale Ursachen: Umstellung, Lebensrhythmus, vielleicht auch das Klima. Es ist ja wahr, dass ich gestern erst spät ins Bett gekrochen bin! Ein Beginn von Sumpffieber ist auch nicht aus zu schließen. Es ist eine allgegenwärtige Plage, unangenehm, störend. Morgen werden wir sehen. · Lhh015 19641113 Freitag
09:00 Kurze Pause. Ich habe am Vervielfältigungsapparat gearbeitet, Papierabfälle verbrannt, mit P. François, dem jüngsten der drei Patres, ein wenig über den Katechismus diskutiert. Am nächsten Dienstag muss ich meine erste Stunde geben; Themen: Die Heiligkeit, unsere Schutzpatrone, die Gnade. Katechismus von F. Derkenne, Paris 1958. Meine Klasse zählt 40 bis 50 Kinder, Mädchen und Jungen, alle getauft, zwischen 8 und 15 Jahre. • Das Thema über die Schutzpatrone könnte den Kinder, gefallen. In ihrer afrikanischen Welt schwirren die Naturgeister, gute und schlechte, überall herum. Im Neuen Testament ist von „Patronen“ keine Rede; im Alten kann man höchstens die Engel finden, aber deren Funktion war, zu tun und zu sagen, was der Große Boss ihnen aufgetragen hatte. Heilige und Schutzpatrone sind „Heidentum“ in Reinkultur. Es sei denn, mir macht einer einsichtig, dass der allmächtige Gott seinen Job nicht auf die Reihe bringt und deshalb „Spezialisten“ in Sonderdisziplinen nötig hat: gegen Zahnschmerzen, bei allen möglichen Krankheiten, um etwas wieder zu finden usw. Ach ja, die Schutzengel gibt‘s ja auch noch! Wozu ist eigentlich der Alte dann noch gut? Im Büro: Arbeiterkartei. 11:45 Pause. Draußen leichter Regen; es ist schwül geworden. Schnell einige Punkte aus Milènes Briefen herausgreifen! • Ist doch klar. Zweifel sind nicht erlaubt: Als Heini klein war (er war das mal!), war er ein lieber, netter, freundlicher, vorbildlicher, guterzogener Junge. Das weiß doch jeder! War es zu erwarten, dass Mama Huffer etwas Anderes verkaufen werde als diese Version der Story? Ich erinnere mich recht gut, dass ich der größte Hosenscheißer der Familie war, - sowohl im wortwörtlichen als im übertragenen Sinn. Heute versuche ich die Ursachen zu ergründen: Krieg, Familie, Charakter. Frau Mutter, die viel auf „Kultur“ und „Großstadt“ hielt (ohne sie recht zu kennen), wollte mir mit allen Mitteln (und das will was heißen!) Hochdeutsch eintrichtern. Da hat sie auf Granit gebissen. Ich habe mich in meinem „Lautrer Platt“ wohl gefühlt und stellte mich stur. Was nicht heißt, dass mir Hochdeutsch fremd gewesen sei. Im Gegenteil, sämtliche Bücher unserer Buchhandlung gingen durch meine Hände, wurden gelesen. Und alle Zeitungen und Zeitschriften ebenso. Deutsch war mir durchaus geläufig. Aber warum soll ich in Fraulautern einen andern Dialekt reden als das Lautrer Platt!? Inzwischen habe ich gelernt, dass das heutige Hochdeutsch keine Volkssprache ist, sondern eine vom genialen Luther geschaffene Kunstsprache. Und die brauchen wir nicht zu verstecken! Besonders unmöglich benahm ich mich, wenn Gäste anwesend waren. Die schaute ich nicht an, gab ihnen nicht die Hand, ging ihnen aus dem Weg. Aber beobachtet habe ich sie sehr wohl. Was wurde da nicht alles geschnattert, aufgebauscht, in Szene gesetzt; meine Mutter war unschlagbar in dieser Sorte Theateraufführung. Mir war das instinktiv zuwider. Da tat ich nicht mit. Hingegen war ich mit zwölf Jahren ein Schwätzer erster Güte. Ich konnte die Leute überzeugen, sie zum Lachen bringen. Und darum ging es mir, wenn wir als Messdiener in der Karwoche Eier einsammelten (auch Geld). Anscheinend wurde ich von den Leuten nicht als unangenehm empfunden. Das blieb so, auch im Seminar. Und, ehrlich gesagt, ich will der teutsche Michel bleiben bis ans Ende. Hochdeutsch auch nur, wenn es sein muss, und sofern es sein muss, um die Unterhaltung warm zu halten. Noch eine meiner Spezialitäten, vor allem im Kindesalter: mein Innenleben äußerte sich viel und heftig. Will sagen, ich furzte viel, was mit Gestank verbunden war. Dann wurde ich vor die Tür geschickt, in die Dunkelheit. Oder in den Keller. Ich fand das ungerecht, aber mit meinem Vater brauchte ich darüber nicht zu diskutieren; der rümpfte die Nase, machte eine Handbewegung – und ich verschwand einen Moment. Es war die Zeit unmittelbar nach dem Krieg, die Küche war der einzige bewohnbare und beheizte Raum der Hausruine. Wir verbrachten also die Abenden alle zusammen in dem kleinen Raum. Unser Vater war nie mit Geschichten aus dem Dorf verlegen. Er war übrigens unfähig, einen einzigen Satz auf Hochdeutsch auszusprechen: Subjekt, Prädikat, Objekt, Punkt! Ein typisches Kind aus dem Dorf.
„Der Henri war doch ein lieber Junge“, säuselt die Milène. Woher die das wohl hat?. • Die „rosa Engelchen“ in St. Paulin, DER Barockkirche in Trier. Man soll eben nicht ein Detail betrachten und glauben, man hat das komplexe Ganze verstanden! Barock ist mehr als dieser Putto (Wo haben die Christen den wohl aufgegabelt, denn selbst erfunden haben sie ihn mit Sicherheit nicht!). Die Farbkomposition im Raum, ihre Themen und deren Gestaltung; die architektonische Struktur bezieht Natur und Umwelt mit in das Gebäude ein: Bäume, Wiesen, Tiere, Erde, Wolken, Himmel. Alles wird mit hinein genommen in ein Komplettoeuvre. Eine Barockkirche inmitten von Fabrikschloten steht am verkehrten Platz. Genauer: die Schlote haben in der Natur nichts zu suchen! Ob der Barockstil zu unserer Zeit passt, weiß ich nicht. Mir gefällt er; vielleicht passt er zu meinem Charakter (und umgekehrt). 15:45 Eintragungen im Taufbuch. Ich habe den Salzburger Hut auf und sehe so aus, wie ich bin: doof! 17:30 Ein neuer Dauerschreiber. Verrückt, wieviel Zeit die Patres im Büro vergeuden müssen, wenn sie keinen Laien als Helfer haben! Viel zeitraubende und mühselige Verwaltungsarbeit. Diese seltsamen Namen, - für uns seltsam! Aber es muss sein, ist notwendig. Wenn ich meinen Job ordentlich schmeiße, können die Patres ihrer eigentlichen Seelenarbeit nachgehen. Obwohl mir aus dem Evangelium nicht ersichtlich ist, warum es einen Stand geben muss, der sich ausschließlich mit der Bekehrung und „Reparierung“ der Seelen befasst. „Ihr seid das Salz der Erde...“, damit sind doch ALLE gemeint, oder? 22:15 • Die Welt ist rund und das Leben bunt! Heute Abend hatten wir ein gemütliches Plauderstündchen, einen Lagebericht, auf Band aufgenommen; wird auf schnellstem Wege dem Abbé Honnet (JTS) zugeschickt. Es geht darum: Ein „Centre de Formation Professionnelle“ kann aus finanziellen und personellen Gründen hier von der Mission nicht aus dem Boden gestampft werden. Es geht um Schul- und Werkstatträume, Einrichtung, Werkzeuge, Maschinen usw. usw. Kurz: eine komplexe Infrastruktur ist vonnöten. Die Patres glaubten, die JTS würden ausschließlich für den Bedarf der katholischen Missionsstation arbeiten; Reparaturen und so. Die beiden Mechaniker sind jedoch nach Lambarene gekommen, um ein „Centre“ anzukurbeln. Mit was sollen sie es denn tun, die Jungen? Da ist dem Abbé mal wieder der Gaul durchgegangen, als er seine Stippvisite in Lambarene absolvierte. Er war, wie er eben ist, von seinen eigenen Phantastereien so begeistert, dass er die Einzelheiten mit den Patres nicht wirklich abgehakt hat. So hatte ich ihn schon einige Male erlebt. Er glaubte, die „Vorsehung“ führe ihn. Die jungen JTS müssen die von ihm eingebrockte Suppe nun auslöffeln. Ein religiös-romantischer Tagträumer! • Hier liegen Missverständnisse vor, die hätten vermieden werden können! Für die Mechaniker heißt das: Kehrt, marsch, marsch! Zurück nach Libreville. Für mich liegt die Sache ein wenig anders. Solange es den Patres passt, bestehe ich darauf, zu bleiben, um sie mit einer nützlichen Arbeit zu unterstützen. Und wenn es sein müsste, würde ich mit den JTS brechen, falls sie mich nach Libreville zurückpfeifen möchten. Ich lasse mich nicht wie eine Schachfigur hin- und herschieben. Die Patres sind mit mir vollkommen einverstanden. Also bleibe ich. Prost, l'Abbé! · Lhh015 19641114 Samstag 06:20
Das leichte Fieber, das ich gestern hatte, macht sich auch heute bemerkbar. Ich bin immer noch fiebrig und habe Schlingerbewegungen im Magen. Das sieht nach Sumpffieber aus. Zur Vorsicht mal eine Pille Nivaquine, ein Klassiker. Der Himmel ist mit Wolken verhängt, es ist angenehm frisch. Regenzeit. Überdies sind wir nicht mehr an der Atlantikküste. Spät abends. Was habe ich heute geleistet? Morgens am Taufregister gearbeitet und mit P. François zu einem Schullehrer und Katecheten gefahren. Am Nachmittag durfte ich mir einen Spaziergang durch das Dorf erlauben; die katholische Mission liegt ein wenig außerhalb. Ein Gemeinschaftsbrief der Poudrière vom 1. November ist eingetrudelt. Vielen, vielen Dank an alle! Heute Abend waren wir gemeinsam im „Klub der Europäer“, wo ein Film gezeigt wurde: „Le Baron de l'ecluse“, mit Jean Gabin. Jetzt stelle ich erstaunt fest, dass ich müde bin. Morgen will ich mehr schreiben. · Lhh015 19641115 Sonntag 10:15 Heute Morgen hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Ich dachte, der Himmel stürze über mich ein! • P. Langavand ist ein unverwüstlicher, drahtiger, kleiner Mann. Er kann die verdorbensten Witze und frivolsten Bemerkungen von sich geben. Er kloppt sich mit den Arbeitern herum, züchtet Salat, fährt den Hanomag durch dick und dünn. 36 mal am Tage flucht er: „Merde! Merde, alors!“. Er ist ein prima Kamerad (vielleicht wird er mal ein Freund). Heute stellt sich der Kerl in der Kirche hin, in vollem Sonntagsornat und erzählt den Leuten Geschichten vom „Reich Gottes“. Die Afrikaner, gläubig oder nicht, stehen auf Geschichten, sie folgen wie gebannt dem Erzähler; ob sie das alles für wahr und echt halten, steht auf einem andern Blatt! Mir war, als stecke ich in einer andern Haut: ich war ein Nichtchrist, der von dieser Religion noch nie etwas gehört hat; hier erlebe ich zum ersten Mal diese Religion. Ich nehme häufig von mir und meiner Vergangenheit Abstand, abstrahiere, stülpe mir eine neue Existenz über. Ich hörte Langavand also mit den Ohren eines Nichtchristen. Für mich war das alles ein Theater, vielleicht sogar ein Schmierentheater! Was er erzählte, konnte man unmöglich für wahr halten. Ich dachte an Daniel und Jean-Claude, die in ihren Betten lagen und nicht zur Messe gekommen waren. Eigentlich konnte ich nur bedauernd die Achseln zucken, dass ein so vernünftiger Mann sich in seltsamen Kleidern an den Altartisch stellt, alle möglichen Verrenkungen macht und vom „lieben Gott“ erzählt! Es kann doch nicht wahr sein, dass er selber daran glaubt! Oder etwa doch? Schließlich kam ich zur Überzeugung: der glaubt tatsächlich daran! Trotz seiner Intelligenz! Ist das das „Geheimnis des Glaubens“? Den Verstand lässt man in der Sakristei liegen und erzählt den Leuten Fabeln! Was vorher wie ein Kindertheater (Kasper) auf mich wirkte, schlug um in ein Ärgernis. Wie kann Religion den Menschen so verbilden und einschläfern!? Dann doch lieber Opium (wenn es nicht so teuer wäre)! Ein Mensch stellt sein Leben, seine Intelligenz, seine Person, alles und total in den Dienst selbsterfundener „höherer Mächte“! Das ist für mich ein Frevel am Leben und an der Freiheit, zu der der Mensch berufen ist! So etwas darf man nicht als gottgegeben hinnehmen! Toleranz, ja, wenn die Religion der Gesellschaft einen gewissen Moralkodex gibt, um das soziale Leben zu organisieren. Aber es geht zu weit, wenn diese Religion, die die Freiheit der Kinder Gottes predigt, verlangt, dass der Mensch sich bedingungslos unterwirft.
Als Mitmenschen, als Zivilpersonen, als Kameraden sind die Patres vorbildlich, man kann ihnen nur Achtung entgegenbringen. dass aber gerade sie „höhere Mächte“ über sich dulden, ist ein unergründliches Geheimnis der menschlichen Dummheit und seiner intellektuellen Faulheit. Sie könnten die freiesten Menschen der Welt sein, wenn sie die Fesseln der offiziellen Religion abstreifen würden, - aber sie tun es nicht! Sie verurteilen sich selbst: sie sind nicht lebensfähig, können nicht selbständig existieren und müssen deshalb bekehrt oder beseitigt werden! Sie stellen wahnsinnige Forderungen an die Menschen, beladen sie mit imaginären Ur- und Todsünden, verdammen sie eventuell in eine ewige Hölle. Blutsauger sind sie! Schreck, lass nach! Der Heini ist gottlos geworden. Oder so ähnlich! • Was mich betrifft, bin ich selber überrascht. Echt, ich hatte noch nie so brutal und absolut die Kirche und ihre Träger kritisiert wie hier. Mit gemischten Gefühlen lese ich aus meinen eigenen Zeilen eine Toleranzlosigkeit heraus, die sich nur mit der Absolutheit der Aussagen vergleichen lässt, die ich gerade kritisiere. Ich denke, dass es nicht um einen Ausrutscher geht. Meine Stellungnahme ist langsam gewachsen; ich muss mal in meiner Vergangenheit herumstochern. Auf alle Fälle werde ich in der Zukunft Entscheidungen zu treffen haben, die mein religiöses und weltanschauliches Engagement definieren. • Heute Morgen bin ich also im Vorraum der Hölle angekommen. Der Teufel weiß (so kann man's wohl sagen), wo die Reise hingeht. Was ist denn mein Leben? Ein hingeworfener Stofffetzen, der auf dem Misthaufen der Weltgeschichte langsam verfault. „Das Leben ist ein Bluff!“ sagte mir einmal Guy (Poudrière). Der Junge hat mich am letzten Tag, den ich in der Poudrière zubrachte, in einem Wutausbruch angegriffen; vielleicht liegt hier der Grund! Ich komme aus dem Nichts und gehe in das Nichts. Leben und Tod, Sein und Nichtsein: zwei Seiten derselben Medaille. Das Leben besteht darin, dass es sich selbst vernichtet, es tendiert zum Tod. Vielleicht ist das die Hölle: die Verneinung des Lebens. • Aber habe ich das Recht, solche Aussagen zu machen? Ist es nicht so, dass ein großer Teil des Seins (vielleicht der weitaus größte) von mir überhaupt nicht wahrgenommen werden kann! Ganz von Gott zu schweigen, der die Summe alles Seienden ist. Der Glaube bestünde darin, dass ich meine Beschränkung akzeptiere (weil ich ja eh nicht anders kann) in der Hoffnung, dass es außer dem von mir wahrgenommenen Lebensraum ein unendliches Sein gibt, in dem weder Tod noch Hölle einen Platz haben. Ein Universum ohne Anfang und Ende. • Wie ist das mit dem Geheimnis der Gnade, auf die die Protestanten so sehr hoffen. Gutes tun hilft nicht, Glück, sprich „die Gnade“, muss man haben! Schon möglich. Ist eben auch eine Hypothese. Beweise sind in der Religion Teufelswerk! - Gott hätte uns also dazu berufen, Kanäle seiner Gnade für die Mitmenschen zu sein. Damit bekäme unser Leben einen Sinn. Wenn der Kanal verstopft ist, kann die Gnade nicht weiterfließen. Wie ich feststelle, bastele ich mir hier meine höchsteigene Religion zusammen. Warum auch nicht, sie ist ebensoviel wert wie die offiziell verkündete. Man beweise mir das Gegenteil! Vielleicht, - mit Sicherheit! - drücke ich mich kraus und unverständlich aus. Da gibt es für mich eine Menge zu verdauen. In dem Buch „Mittsommernacht“ habe ich ähnliche Fragen gefunden (v. a. Hendrik und der Dichter (dessen Namen ich vergessen habe)). 14:30 Natürlich ist unser Zeugnis wirkungslos und verkehrt, wenn wir auf unsere eigene Kraft vertrauen, und nur auf • sie! Hier in Afrika wird mir jeden Tag klarer, dass wir aus eigenen Stücken keinen Menschen zum Glück führen können. Demut ist nicht mehr als Realismus: seine Unzulänglichkeit anzuerkennen und dennoch nicht • daran zu verzweifeln. Dann passt meine Ohnmacht zur Allmacht Gottes. Die Beiden werden es schon schaffen! Milène ist in das Zentrum meines Lebens gerückt. Ich verstehe, dass wir als Kleriker zur Ehelosigkeit („Gnade der Jungfräulichkeit“) verpflichtet sind. Jedem absolutistischen und autoritären System ist das Verhältnis zwischen den Geschlechtern suspekt. Die Zweisamkeit öffnet Tür und Fenster für die Anarchie der Freiheit, das ist unannehmbar für die Machtträger! Ich muss mich darauf vorbereiten, dass auch der Abbé mich schief ansieht, sobald er spitz kriegt, dass da etwas läuft zwischen mir und Milène.
Denn da läuft etwas! In der ersten Woche in Libreville sagte ich mir: „Das kann nicht wahr sein! Alles nur ein Traum; das bittere Erwachen wird nicht auf sich warten lassen!“ Bisher ist das Gegenteil der Fall: wir sind uns näher gekommen. Oft habe ich mich gefragt: „Was findet die an mir so interessant? Keine Schönheit, ein großes Maul, oft melancholisch, dann todernst und lehrerhaft wie ein Novizenmeister. Mit einem Wort: unerträglich und ordinär!“ Warum hat also die Milène gerade an mir den Narren gefressen? Keine Ahnung. Ich wäre nicht hier in Lambarene, vielleicht würde ich wieder brav mein Theologiestudium weiterführen, heilig und Märtyrer werden; oder eben nur Beichtvater, der ein paar Nonnen in ihrem Kloster abstaubt. • Besuch der Damen aus Brüssel in Fraulautern. Die Unterhaltung, die Milene mit meiner Mutter hatte, stand auf dem Programm. Für Mama war der Besuch aus Brüssel (Mutter und Tochter) eine große Hilfe, und dafür danke ich der Tochter und ihrer Mutter herzlich. Vermutlich haben sie einiges Süßholz geraspelt, sich mit kleinen Geschichtchen über Heini zu Tränen gerührt, ihn zu einem neuen Weltwunder gemacht. Na ja, der Mensch lebt von seinen Illusionen! Ich vermute, dass es den Besucherinnen nicht entgangen ist, dass bei den Huffers ein Klima der Spannung herrscht. Eingeladene Gäste kriegen nur die Sonnenseite zu sehen, aber unter der Decke brodelt es. Später mehr davon. Den ganzen Nachmittag über sitze ich hier im Eß- und Aufenthaltsraum, schreibe und höre serienweise klassische Stücke: Mozart, Händel, Bach, Brahms, Albinoni, Strauß... SPÄTER ABEND. Alles schläft. Heute Abend habe ich einen Brief für nach Hause begonnen, an meiner Katechismusstunde gearbeitet und einige Seiten von „Pacem in Terris“ gelesen. Diese Enzyklika mag ein Ereignis sein, mir erscheint das alles sehr von der Wirklichkeit abgehoben. · Lhh015 19641116 Montag 06:30 Soeben hat es den Engel des Herrn geläutet. Auch das gibt es hier. In wenigen Minuten beginnt die Messe. 12:00 Taufregister. Hoppla! Die erste Marie-Hélène, die mir unter die Augen kommt. Für mich ein ganz besonderer Name! ABEND Vorher kam der Brief der Mutter Milènes an. Ich werde ihr irgendwo, irgendwann, irgendwie ein Briefchen zurückschicken. Sie schreibt mir, sie sei eine alte Frau und so, - mit solchen Bemerkungen braucht sie nicht mehr bei mir aufzukreuzen. Sie hat einen erstaunlich jungen Geist! Unten am Fluss grunzen die Flusspferde, man hört sie bis hierher. In Brüssel brummen noch ein paar Autos vorbei, von ferne quietscht die Straßenbahn. Das wird uns nicht davon abhalten, gut zu schlafen. Hier sitze ich im Aufenthaltsraum, über mir beginnt jemand zu schnarchen; Flußpferd ist mir lieber. Jean-Claude liegt in der Bibliothek, er kommt noch nicht zur Ruhe; ist es wegen Danielle? Er wälzt sich andauernd im Bett herum oder geht in dem engen Raum spazieren. Kann auch sein, dass ihn die Fetische und Masken (darunter auch Totenköpfe), die dort aufbewahrt sind, nicht schlafen lassen. · Lhh015
19641117 Dienstag 07:30 Heute morgen gehen wir wieder zum Hospital Schweitzers hinüber; deshalb jetzt sofort an die Arbeit, um wenigstens etwas getan zu haben. P. Langavand wird die Katechismusstunde halten; - ist mir lieber, ich bin noch zu „neu“ und möchte zunächst beobachten. • Der zweite Besuch im Tropenhospital Schweitzers. Mit uns fuhr ein Herr, französischer Offizier oder ähnliches, dessen Bruder vom Doktor behandelt worden ist; kurz darauf ist er dann doch gestorben (was für Schweitzer nicht gerade eine Empfehlung ist!). Wir warteten darauf, von einer kleinen Barke (pirogue) über den Ogoué zum Hospital übergesetzt zu werden. Ein junges afrikanisches Ehepaar gesellte sich zu uns. Die Frau trug einen Säugling auf dem Arm. Die Eltern waren einfach und sauber gekleidet. Beide unterhielten sich recht angeregt; die Mutter gab dem Kleinen die Brust. Trotz Krankheit (ich weiß nicht, wer von ihnen zum Arzt musste) strahlte das Bild einen inneren Frieden aus, den man nicht in Worten ausdrücken kann. Man spürte, dass die Frau nicht die Sklavin ihres Mannes war. Die Beiden waren auf gleicher Augenhöhe. Ich behaupte, dass sie sich liebten. Eine kurze Unterhaltung zwischen dem Mann und mir; er war sehr freundlich. Die Frau hörte aufmerksam zu und lächelte über ihr breites Mädchengesicht; sie schwieg jedoch und beschäftigte sich mit dem Kleinen. Solche Paare findet man hier selten. Die Harmonie war mit Händen zu greifen. Der Franzose hatte eine längere private Unterredung mit dem Doktor. Während dieser Zeit unterhielt ich mich mit einem Mann, der ein Netz flocht. Um ihn herum eine Gruppe Männer, teils Kranke, teils Besucher. Es machte mir sehr viel Spaß, dass wir wie alte Kameraden sprechen und lachen konnten: wenigstens einige, die nicht diesen weit verbreiteten Unterwürfigkeitskomplex haben! Da stand auch ein junger Mann. Er erklärte mir, wie man ein Fischnetz herstellt. Man muss seine Knoten kennen, es gehört Grips und Handfertigkeit dazu. Seine Frau gesellte sich mit einem kleinen Jungen zu uns. Welch ein schockierender Unterschied zwischen Mann und Frau! Er heiter, gesprächig, kultiviert, sie stumm, mit ödem, reglosen Gesicht, - wie ein wandelnder Leichnam. Sie schob ihrem Mann den kleinen schreienden Bengel zu (etwa 15 Monate); niemand nahm Notiz von ihr, niemand richtete ein Wort an sie. Stumm und schattenhaft, wie sie gekommen war, verschwand sie wieder. Auf Papas Arm beruhigte sich das Kind; der Junge hatte Benzin getrunken und wurde im Hospital wieder auf die Beine gebracht. Er hatte einen kräftigen Schnupfen, die Nase lief ihm; Papa hatte kein Taschentuch, also putzte ich ihm ein paarmal den Rotz weg. Für die Afrikaner war das etwas Neues und nie Gesehenes; sie guckten und staunten, ein Europäer putzte einem kleinen schwarzen Burschen die Nase! Als wir wieder bereit waren, um weg zu rudern, riefen wir uns von weitem einige Sätze zu. Der junge Vater kam mit dem Kleinen eigens zur Anlegestelle, um mir eine gute Fahrt zu wünschen. Ich war hocherfreut. Blieb die Frage: Was bedeutet die Mutter des Kindes für diesen Mann!? Hat er mehrere – Kinder, Frauen? • Diese beiden Randerlebnisse haben mich heute am meisten berührt. Ich werde sagen können, dass ich im berühmten Hospital von Lambaréné gewesen bin. Aber die Menschen, die ich zufällig getroffen habe, bedeuten mir sehr viel mehr. Das schließt nicht aus, dass auch die Unterhaltung mit Dr. Schweitzer bemerkenswert war. Nicht so sehr ihr Inhalt; wir redeten von diesem und jenem. Mir gefiel seine Art, mit den Besuchern umzugehen. Sein Stil den Afrikanern gegenüber ist etwas ruppig. Er ist alt (90 Jahre), gebrechlich, etwas taub und vergesslich. Aber welch eine Einfachheit und Schlichtheit! Für jeden seiner Gäste ist er da, begleitet sie überall hin, zeigt und erklärt ihnen alles (auch seinen Bierkeller, Kronenbourg!). Übrigens spricht er sehr gerne Deutsch. Ich war nicht zum letzten Mal bei ihm... 17:00 Ich habe eine halbe Stunde Arbeit vertrödelt. Übermüdet! Die Arbeit muß dennoch getan werden!Ich hocke mich also wieder über das Taufbuch. Sehr spät!
• Tino ist von Libreville hergekommen, um nach dem Rechten zu sehen; der arme Kerl ist ganz geknickt. In Lambarene laufen die Dinge nicht, wie der Abbé Honnet sich das vorgestellt hatte. Aua, Kinder, das wird noch interessant werden, kompliziert und sogar hart! Was mich betrifft, ich bleibe hier! Es sei denn, die Patres können mit mir nichts in Lambarene anfangen. Aber dann müssen sie es mir sagen, bitte sehr! Der Zirkus beginnt mir Spaß zu machen. Die JTS-Politik ist eine mehr als schwammige Angelegenheit, Pistenspiel für Pfadfinder und solche, die es werden wollen. Dem Abbé tut das nicht weh (es sei denn, sein Ego ist etwas lädiert), die Jungen müssen die Suppe auslöffeln, - und die Mission soll bezahlen. Aber die Patres wollen nicht blechen und fühlen sich vom Abbé überfahren. Die Nervosität steigt. Was mich betrifft, schalte ich auf stur. Die Kette der Ereignisse scheint noch nicht abzubrechen! Es ist erlaubt, sich auf neue Berichte gefasst zu machen. · Lhh015 19641118 Mittwoch 10:45 In der Frühe gab es einige Diskussionen, und anschließend machte ich mich an die Arbeit. Die Eintragungen ins Taufregister sind schon bis zum 3/3/64 gediehen. Es geht vorwärts. 11:30 Soeben haben Tino und Daniel sich verabschiedet; sie fahren nach Libreville. Dort werden sie am Samstag Henri Milesi treffen und mit ihm ihre Situation regeln, wie es der Abbé beschlossen hat. 16:00 PAUSE Krampf in den Fingern. Ich betrachte die beiden Fotos, die ich von Milène habe: das von Antwerpen (April 64) – und das von Chaumont (Oktober 64). Zweimal die selbe Milène: ein bezauberndes Lachen. Und doch Unterschiede. Wenn ich wählen müsste, nähme ich die Milène Ausgabe Oktober. Das ist sie: angriffslustig und einladend zugleich. Ich erkenne sie sofort wieder. Das andere Bild ist nett und lieb, aber das Gesicht kommt mir verschleiert, um nicht zu sagen, maskenhaft, vor. Meine Milène, so wie sie in meiner Erinnerung lebt, erkenne ich nur mit einiger Mühe. Und nun zurück zur Arbeit! 17:30 Eine zweite „Marie-Hélène“ hat sich im Taufregister vorgestellt. Ich habe den Namen unterstrichen; die Patres werden sich fragen, was das wohl bedeutet. Abend, vor dem Schlafengehen. Ich möchte noch allerhand erzählen, lauter nutzloses und überflüssiges Zeug. · Lhh016 19641119 Dienstag Ein arbeitsreicher Tag geht seinem Ende entgegen. Und der Brief an Armin ist immer noch nicht fertig!
• Hauptereignis des Tages: die Katechismusstunde um 12 Uhr. Ich hatte P. Langavand meinen Unterrichtsplan vorgelegt. Er war voll und ganz zufrieden, gab mir noch ein paar Ratschläge und sagte mir, ich solle den Unterricht mal alleine geben. Er begleitete mich und griff – glücklicherweise – ab und zu ein. Gut, dass ich den Plan fest im Kopf hatte, so gab es keine Stockungen und Verlegenheitspausen. Aber ich spürte sehr deutlich, dass mir beim Reden die Gelöstheit und Unbefangenheit fehlen. Französisch ist halt immer noch eine Fremdsprache für mich. Der Wortschatz und die Grammatikregeln müssen mir in Fleisch und Blut übergehen! Augenblicklich kaue ich – im Kopf – jeden Satz zwei oder dreimal, bevor ich ihn hinausspucke. Manchmal suche ich krampfhaft nach einem Wort, finde es nicht und muss dann meinen Satz umbauen, andere Ausdrücke benutzen. Vielleicht mache ich aus einer Mücke einen Elefanten. Ich darf nicht vergessen, dass auch die Kinder meist nur gebrochen französisch sprechen. • Am Nachmittag brütete ich über dem Taufbuch. Hitze, Müdigkeit und das Bewusstsein meiner Stümperhaftigkeit. Ich hatte die Schnauze voll! Und da waren noch Fotos und Briefe, die neben mir auf dem Tisch lagen. Die Welt um mich herum war dunkelschwarz eingefärbt; ein einziger heller Fleck: Brüssel – Poudrière und Milène! Am liebsten hätte ich mich dorthin verdrückt. Wie der kleine Junge, der mit seiner Situation nicht mehr fertig wird: wegrennen und sich an Mamas Rockzipfel hängen! Die letzte Viertelstunde vor dem Abendessen habe ich in der nachtdunklen alten Kirche zugebracht. Es ist dort kühl, ruhig, von Gott und den Fledermäusen bewohnt. Ich fand mein inneres Gleichgewicht wieder. Schließlich war ich so glücklich mit meinem Los, dass ich die Regung spürte, los zu heulen. Ich bin ja nicht allein! Tatsache ist, dass ich alles besaß: Elternhaus, Schulausbildung, Musik, Geschwister; finanziell war ich versorgt, jedenfalls bis auf weiteres; und ich hatte mir ein hohes Ziel gewählt (so dachte ich jedenfalls!). Dennoch war und bin ich bereit, auf diese Annehmlichkeiten zu verzichten, um Besseres zu suchen – und zu finden. Dafür werde ich wohl den Preis zahlen müssen. Es ist wahr, dass der Abgang aus dem Seminar und dem Orden, mit all den kleinen und großen Abenteuern, die folgten, manchmal schwer zu verkraften waren. Sentimentales Fieber? Dahinter verbirgt sich eine Wirklichkeit, für die mir augenblicklich das Vokabularium fehlt. • Ich sitze hier, bin müde, möchte bald ins Bett. Ich habe entdeckt, dass die großen Dinge des Lebens mit Worten nicht ausdrückbar sind, mit Bildern können wir versuchen, sie annähernd zu umschreiben. Sollte es sein, dass die Religion, so wie ich sie bisher gekannt habe, ein solches Bilderbuch ist, das versucht, uns Dinge mitzuteilen, für die es keine Ausdrücke gibt?! Diese Überlegungen hätte ich wahrscheinlich nicht in meiner Ordensgemeinschaft gehabt. Milène musste mir zuerst über den Weg laufen! Übrigens verstehe ich jetzt besser, dass Liebe und Hinneigung eine Sprengkraft in sich bergen, vor der man auf der Hut sein muss. Wenn ich jetzt noch weiter spintisiere, werde ich ein überzeugter Protestant. Vielleicht bin ich es schon seit einiger Zeit! Wer weiß schon, wer oder was er ist!? · Lhh016 19641120 Mittwoch 12:00 Uff! Noch 40 Namen, und das Taufbuch ist à jour! Ich bin nicht unzufrieden. Mal sehen, was dann getan werden muss! • Als „casse-crôute“, als Pausenkaffee, las ich die letzten Seiten aus unserm braunen Tagebuch! Milène drückte mir eines Abends in der Poudrière das braune Buch und zwei handschriftliche Heftseiten in die Hand. Ich saß neben dem Telefon im Sessel. Sie machte sich am Tisch zu schaffen, es war die Vorbereitung auf das Abendessen. Von Zeit zu Zeit riskierte sie einen halb ängstlichen, halb freudigen Blick in meine Richtung.
Von diesem Augenblick an war mir klar, dass wir auf Gedeih und Verderben zueinander gehörten. Nichts sollte uns mehr trennen können! Wie wir dieses Miteinander ausgestalten und organisieren würden, war mir noch schleierhaft, ist es auch heute noch! 21:30 • Tropennacht. Eine massive Invasion von Mücken, Schnaken, Motten und ähnlichem Viehzeug, das in der Luft herumflattert und surrt. Sie streben zum Licht, das von einer mickrigen elektrischen Birne ausgeht, die vor dem Eingang hängt. Man sieht die Lampe kaum, so sehr wird sie umschwirrt von Insekten. Da gibt es nur eines: unter das Moskitonetz flüchten und sehr aufmerksam nachprüfen, ob es nicht dem einen oder andern Quälgeist gelungen ist, unter das Netz zu geraten. Diese Insektenplage kannte ich nicht in Europa, hier kann ich ihr nicht mehr entweichen. Ich frage mich, ob die Erde nicht schon seit Millionen Jahren von den Insekten beherrscht wird. Sie sind die eigentlichen Herren unseres Planeten! Womit ich dem Pentateuch und seiner Anthropozentrie widerspreche! Ich entdecke unter dem Netz nicht das geringste Mückchen mehr. Jetzt kann ich noch einige Zeilen schreiben. • Eine Tropennacht kann zauberhaft sein. Dicke, fest gepackte Wolken liegen über dem breiten Fluss. Der Ogoué war mir absolut unbekannt, bis ich nach Libreville kam. Auch hier, in Lambarene, ist er breit wie in Libreville. Nachts kann ich das gegenüber liegende Ufer nicht von den Wolken unterscheiden. Ab und zu bricht das klares Licht des Mondes durch die Wolkendecke und überflutet den Fluss mit seinem Silber. Ein paar Kokosbäume schießen wie Pfeiler zum Himmel empor. Die Landschaft ist in mattes Licht getaucht: silbern, hellgrau, graublau. Und, wie jeden Abend, zirpen die Grillen. Auch die Moskitoschwärme bringen sich zu Gehör. Heute hat sich nichts Außergewöhnliches ereignet. Ich hatte viel Arbeit, jedenfalls empfinde ich das so. Endlich ist das Taufregister abgeschlossen! Die zweite Katechismusstunde ist, denke ich, zufriedenstellend verlaufen. Und den JTS-Wochenbericht muss ich noch ausfüllen. Manchmal fällt es mir schwer, ein Thema zu finden, das den jungen Lesern etwas bringt. Einigen Leuten muss ich unbedingt schreiben, es wird dringend: Milènes Mutter, Simone, Pierrot, Christian, Armin. Und meine Familie in Fraulautern erwartet ebenfalls einen Brief von mir! Am letzten Abend in der Poudrière, nach der Sonntagsmesse, habe ich Madame Jacqmin (?) kennen gelernt. Ich musste der Frau, versprechen, ihr aus Afrika einen Brief zu schreiben. Ich habe sie nicht vergessen. Ich kann ihr die Unterlagen meines Katechismusunterrichts schicken, da sie selber Katechetin ist; sie kann mir mit ihrer Erfahrung sicher helfen. · Lhh016 19641121 Donnerstag 07:10 Kurz vor dem Morgenkaffee. Die drei Patres sind begeisterte Musikliebhaber; jeden Morgen und Mittag werden eine oder mehrere Platten aufgelegt. Im Augenblick Mozart-Violinkonzert. • Die freudige Bewegung und die Frische der Musik passen zu dem Bild, das die Natur uns soeben bietet: Der Fluss ist seltsam aufgewühlt; wohl weil die Sonne noch sehr niedrig steht und das Relief der Wellen akzentuiert. Auf dem Wasser tanzt eine Unmenge gold-grüner Farbtupfer. Der weite Raum bis zu der am Horizont liegenden Hügelkette ist durch die Dunstschleier in drei hinter einander liegende Kulissen aufgeteilt. Sind das wirklich Hügelketten – oder schwere Wolken, die in der Ferne auf Fluss und Erde zu liegen scheinen? Wolken und Hügel verschmelzen ineinander. 08:30 Jean-Claude ist zur Post gefahren, um ein Paket abzuholen, das man ihm vor 14 Tagen geschickt hat. Kein Wunder, dass er nervös und ungeduldig darauf wartete. Dabei hat er noch Glück gehabt, dass die Sendung mit der Flugpost ankam und nicht per Schiff!
Die Arbeit erwartet mich. Ob sie nach mir schreit, bezweifle ich. Ich bereite den Katechismusunterricht für Dienstag vor. Milènes Foto liegt daneben und lacht mich an. Die hat gut lachen! Thema: Unser Advent mit Maria. Dichtung und Wahrheit, wer will's entschlüsseln?! Die Heftchen „Amen“ leisten gute Dienste. 20:45 Augenblicklich sitze ich auf meinem Bett, um zu schreiben. Der einzige Stuhl in meinem Zimmer ist von Père François besetzt, der einen Text mit der Maschine aufsetzt. In einer halben Stunde fahren wir zum „Club des Européens“, wo ein Film gezeigt wird. Unten (im Gemeinschaftsraum) sitzen zwei Gäste; ich darf mich nicht zu lange abseits halten. Heute Nachmittag erhielt ich einen Brief von meiner Schwester Maria. Sie ist eine treue Seele und schreibt mir als Einzige von der Familie regelmäßig. Sie hat drei Bilder beigefügt, von dem Besuch, den Milène und ihre Mutter am 1. November (Allerheiligen) in Fraulautern gemacht haben. Technisch sind die Fotos nicht besonders gelungen, das braucht aber niemand zu wissen. Milènes Gesicht erinnerte mich an den letzten Abend in der Poudrière und bei den Van Haerlems: aufmerksam, gespannt, ernst, anscheinend gerührt. Und frech! So ist sie und so habe ich sie gerne: nett, frisch, unmittelbar, natürlich. Und frech! · Lhh016 19641122 09:40 Die Messe war für mich ein machtvolles Erlebnis. Vielleicht spinne ich, aber mir scheint, in ihr kumuliert das Leben, wie die Lupe die Strahlen in einem Brennpunkt bündelt. Ich finde es wunderbar, dass ich mit meiner stümperhaften Arbeit den Mitmenschen helfen kann, Gott zu finden. Tu ich das auch wirklich? Alles im Leben übt einen Einfluss auf alles aus. Nichts ist folgenlos. Deshalb haben wir auch nicht das Recht, zu verzweifeln (wohl zu zweifeln!). Wir säen und haben kein Anrecht darauf, die Früchte zu ernten! • Nach der Messe, war ich glücklich, dass es einige Afrikaner gibt, vor allem Kinder, die mich ansprachen. Selbst Jean-Rémy, der Boy (ich hasse diesen Ausdruck) der Mission (und diese Bezeichnung hasse ich ebenfalls!), der sehr eingeschüchtert wirkt, beginnt aufzutauen. Er ist erst 14 Jahre alt. Ich half ihm am vergangenen und am heutigen Sonntag, die Schmutzwäsche einzusammeln und zum Schwesternhaus hinüberzubringen. Das kostet mich ein wenig Schweiß, aber ich gewinne das Vertrauen des Jungen, - und das lohnt die Mühe. Jean-Rémy fragte mich, weshalb Jean-Claude nicht in die Messe gehe. Ich gab eine ausweichende Antwort, die ihn auf die Dauer nicht befriedigen kann. Auch andern ist dies schon aufgefallen. Nichts zu machen, wer im Rahmen der Mission seinen Dienst ableistet, muss sich auch für die Religion engagieren, oder er ist ein Skandal für die einfachen Christen. 15:30 • Nach dem Mittagessen machten Jean-Claude und ich eine kurze Rundfahrt auf dem Fluss: jeder in einem Baumboot (pirogue). Die Dinger haben keinen Tiefgang und keinen Kiel und kippen verflixt leicht um. Seit gestern ist der Fluss sehr stark angeschwollen, die sonst schon starke Strömung ist reißend geworden. Jean- Claude blieb brav in der kleinen Bucht am Anlegeplatz und begnügte sich damit, mir zuzuschreien, ich solle bloß achtgeben, der Strom sei reißend usw. Er schreit immer so. Ich antwortete ihm, er solle das Moralisieren seiner Tante Eulalia (hat er eine solche?) überlassen, schließlich könne ich ja schwimmen. Meine Reaktion war nicht ganz ehrlich, denn es ist ein Unterschied, ob man im Main umkippt oder im Ogoué, der von Nilpferden und allem möglichen Getier bevölkert ist. Der Paddelausflug war prima. Gekentert sind wir nicht! • Um 10:30 erhielt ich überraschend Besuch. Ich saß im „Salon“, hatte eine Platte aufgelegt: Grieg und Mozart – und schrieb diesen Brief. Père Langavand schleppte ein Mädchen herein: Europäerin, schlimmer noch: Schweizerin. Seit 14 Tagen arbeitet sie in Schweitzers Hospital. Sie ist nett, lächelt leicht, ist freundlich. Und erzählen tut sie auch gern. Allerdings kann sie auch schweigen und zuhören. In ihrer hausbackenen, freundlichen Art erinnerte sie mich an meine Schwester Maria. Sie ist begeisterte Musikliebhaberin und blieb
bis 12 Uhr, um eine LP von Mozart anzuhören. Sie scheint eine gute Katholikin zu sein, deshalb kommt sie zur Messe auf die Mission. Die Unterhaltung war angenehm und heiter. Ich begleitete sie zum Anlegeplatz, von dem aus sie zum Hospital übersetzen wollte. Sie will 2 Jahre in Lambaréné bleiben. Mir schoss die Schnapsidee durchs Hirn: wenn die bei der Poudrière landen würde! Aber wir haben noch Zeit, ich werde ihr sicher von der Poudrière erzählen. • Anderes Thema: Josef, der Österreicher. Vor acht Tagen, am Samstagabend, habe ich ihn bei einer Filmvorführung getroffen. Er ist aus Graz, ist zu Fuß mit einem Freund durch fast alle Länder Europas und Afrikas getippelt. Ein moderner Vagabund, dem ich meine Hochachtung nicht verweigern kann. Er war ein Jahr auf Reisen und blieb schließlich bei Schweitzer hängen, bei dem er in der Schreinerei arbeitete. Dort ging es ein Jahr gut, sagte mir P. DeLangavand, der ihn kennt. Josef hatte Geschichten mit den Mädchen. Schweitzer hatte ihm ein Flugticket nach Europa kaufen wollen, Josef hat abgelehnt. Unsere erste Begegnung versetzte mir einen Schock: der Bursche ist raffiniert und dumm zugleich, vielleicht kann man von „instinktiver, unbewusster Intelligenz“ reden. Fahriges Benehmen, hastige und großtuerische Sprache. Eines der ersten Dinge, die er mir mitteilte: er habe eine schwarze „Puppe“, mit der er zusammenlebe. Jedes Pöttchen hat eben sein Deckelchen! • Gestern bin ich bei Josef gewesen. Er wohnt nicht weit von der Mission, im Haus eines staatlichen Holzprospektors. Für ihn arbeitet er, wird verpflegt und bewohnt ein eigenes Zimmer. Er zeigte mir stolz einen Teil seiner Sammlung: Elefantenstoßzähne, manche sehr gute Holzskulpturen, ein Tonbandgerät. Im großen ganzen ist er sehr arm. Ach ja, seine „Puppe“, die gerade krank im Bett lag. Seit einigen Wochen leidet sie unter Blutungen, hat gestern drei Spritzen bekommen. Ich erschrak ein wenig über dieses ältlich-verlebte Gesicht. Die Frau tat mir leid; für Josef ist sie wahrscheinlich gerade das, was er von Zeit zu Zeit im Bett braucht. Aber auch hier ist es möglich, dass ich mit meinen Eindrücken schief liege! Schließlich bezahlt er die Arztkosten. Überdies lebt er mit der Frau seit etwas mehr als einem Jahr zusammen. Eine Art Zuneigung wird wohl bestehen. Ich sprach ein wenig mit ihr. Eine wirkliche Unterhaltung zwischen den beiden wird wohl nicht zustande kommen: Josef spricht ein schauderhaft schlechtes Französisch, à la petit nègre. Er möchte wieder heim, nach Österreich; ich glaube, dort hat er Frau und Familie oder Ähnliches. Er hat dort einen vierjährigen Sohn. Für seine „Puppe“ ist in seinen Träumen kein Platz, die wird er einfach sitzen lassen. Ich glaube, Josef ist innerlich hohl und geistig nicht ganz zurechnungsfähig. Weshalb ich zu ihm gekommen bin (und wohl noch öfter kommen werde), ist die Familie, bei der er wohnt: Der Mann, sein Arbeitgeber, Franzose, mit der zweiten Afrikanerin verheiratet (erste vielleicht tot, ich weiß nicht). Von der ersten hat er eine Tochter, etwa 13 Jahre alt. Von seiner zweiten Frau, der jetzigen, hat er zwei Kinder, ein Söhnchen (Michel, 4 Jahre) und eine Tochter (Viviane, etwa 18 Monate). Er selbst ist bis Anfang Dezember im Norden des Landes zur Prospektion. Seine Frau sieht recht jung und hübsch aus; mich hat besonders gefreut, dass sie, nach einer anfänglichen Scheu, ungeniert mit mir plauderte. Ich spielte mit den beiden Kleinen, vor allem mit Michel, einem lieben, gut erzogenen Bengel. Viviane hielt sich ein wenig ängstlich und vorsichtig im Hintergrund. So werden täglich Bekanntschaften und Beziehungen geknüpft, angenehme und unangenehme. · Lhh016 19641123 07:10 Montagmorgen. Bei der Messe war ich seltsam zerstreut. Es geht hoch und runter, zick und zack. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht nicht genug geschlafen. Oder... Für die Katechismusstunde kriege ich keine vernünftigen Gedanken auf die Reihe. Gestern Abend waren Jean-Claude und ich bei der Familie Auger (Laienhelfer) eingeladen. Anwesend war noch ein anderer Laienhelfer aus Sindara, einer kleinen Stadt (Departement Tsamba-Magotsi in der Provinz Ngounié). Sehr lebendige Diskussion: hauptsächlich Politik. Das „feuille JTS“ wurde nicht mehr fertig.
Einschub: Die Departements des Gabun (2020) 08:00 Und nun an die Arbeit! Ich muss Katechismusskripten beschriften. Dabei bleibt mir Zeit zum Nachdenken. 16:50 Gähn, gähn! Pause. Und jetzt zurück zur Arbeit: Matrizen schreiben. • Der Haussa erklärte mir weitschweifig, dies sei eine dumme Methode. Als Verkäufer gibt er einen Preis vor und erwartet, dass der Käufer den seinen gegenhält. Der Preis ist für beide verschieden. Was ist die Ware für den Käufer wert? Und für welchen Betrag will (und kann) der Verkäufer sie abgeben? Diese System scheint mir tatsächlich besser zu sein. Der Verkäufer achtet natürlich darauf, dass er einen Minimalgewinn einfährt, und der Käufer drückt in seinem Preis die Wertschätzung aus, die er für die Ware hat. Diese Handelspraxis ist auch in Europa nicht ausgestorben. Zum Beispiel kam eines Tages ein Zigeuner nach St. Gabriel, um P. Graisy, dem Verantwortlichen der Sängerknaben und des gesamten Musikbetriebs, Instrumente zu verkaufen. Graisy tat so, als interessiere ihn das nicht, der Zigeuner war nicht auf den Kopf gefallen und ging mit dem Preis herunter. Schließlich einigten sich die beiden auf eine annehmbare Summe. - Ein anderes Beispiel wäre der Antiquitäten- und Kunstrummel. Die Objekte haben an und für sich keinen Preis; der ist großenteils fiktiv und wird verhandelt.
Ich versuchte, diese Zusammenhänge meinem Freund Josef zu erklären. Der wollte nicht kapieren, er ist ein wenig simpel gestrickt. Ich feilschte an seiner statt. Schließlich waren beide Seiten zufrieden, Josef bekam seine Andenken für einen annehmbaren Preis, und der Händler hatte einen kleinen Gewinn eingefahren. Als der Haussa erfuhr, dass ich Deutscher sei, erzählte er, daß er schon einige Male dort gewesen sei, um Teppiche und Kleinzeug zu verkaufen. Anscheinend lief das Geschäft zu seiner vollen Zufriedenheit. Auch nächstes Jahr wolle er nach Deutschland fliegen, sagte er. Wir wünschten ihm viel Glück und trollten uns. 18:00 • Da Josefs Französisch abscheulich und nur sehr schwer zu verstehen ist, hatte er mich gebeten, ihn zu einem ihm bekannten Händler zu begleiten. Für mich war es die Gelegenheit, ein paar kleine Objekte für Weihnachten zu begleiten. Der Händler war ein Haussa. Im Haussaviertel, nicht weit von der kleinen Holzmoschee entfernt, zeigte man uns das Haus Mahlams. Wir traten in eine Art Saal oder Diele. Der zentrale Teil des Hauses war Empfangsraum, Salon, Speiseraum, Diele. Rechts und links waren je zwei Zimmerchen, mit Vorhängen vom Zentralraum abgetrennt. Sehr praktische Raumaufteilung. Der Händler empfing uns wie Grandseigneurs. Morgen will er wegfahren, um in Zentralafrika einzukaufen. Sein Bruder und andere Männer waren ebenfalls anwesend, alle begrüßten uns weitscheifig. Die Männer steckten in langen Gewändern, einen Fez auf dem Kopf. Hier gerieten wir in eine arabische Atmosphäre; ich dachte an Jugoslawien. Wir ließen uns auf einen Bambusteppich nieder, in der Mitte eine Petroleumlampe. Nun ging das Geschacher los! Josef wollte einen Bogen mit Pfeilen und einen geschnitzten Holzkopf erstehen. Um ein Haar hätte der Haussa ihn aus der Hütte geworfen. Der Weiße wollte nicht handeln, wie es sich gehört. Josef erkundigte sich nach dem Preis, zog seinen Geldbeutel heraus und wollte die Scheine auf den niedrigen Tisch blättern. Der Verkäufer fand das schockierend, er fragte mich, ob mein europäischer Freund die Afrikaner hasst. Ich hatte einige Mühe, um ihm zu erklären, dass das so in Europa läuft: jedes Ding hat seinen Preis – und der wird bezahlt, wenn man den Gegenstand kaufen will. Der Haussa erklärte mir weitschweifig, dies sei eine dumme Methode. Als Verkäufer gibt er einen Preis vor und erwartet, dass der Käufer den seinen gegenhält. Der Preis ist für beide verschieden. Was ist die Ware für den Käufer wert? Und für welchen Betrag will (und kann) der Verkäufer sie abgeben? Josef gab schließlich klein bei und erstand einen Bogen zu einem ausgehandelten Preis. Der Händler, ein großer, stattlicher Mann, wandte sich nun an mich. Ich sagte ihm zu Beginn, dass ich nicht die Absicht habe, jetzt zu kaufen, mein Bruder interessiere sich für solche Sachen und ich wolle mir nur mal anschauen, was es so alles gebe. Das glaubte er mir wohl nicht. Recht hatte er! Der „Boss“ kramte in einem der Zimmerchen herum und brachte ein Stück nach dem andern heraus. Holzmasken hatte er leider keine, aber Elfenbeischnitzereien, Elefantenstöße und Antilopenhörner mit eingeschnitztem Relief. Einfach wunderbar! Aber welche Preise! Das konnte ich nicht bezahlen. Kleinere Dinge, schön und weniger schön (aber was ist „schön“?), kunstvolle Handarbeit und Serienfabrikation, alles durcheinander. Zinnlöffel aus Algerien, ein herrlicher Köcher vom Tschadsee (sehr teuer!); kupfergetriebene, winzige Teeservices aus dem Tschad und aus Nordkamerun; Steinskulpturen aus dem Gabun; Elfenbeinschnitzereien aus allen Ecken Afrikas; Geldbeutel und Handtaschen aus Krokodilleder... Usw. Herz, was begehrst Du?! Ich äußerte mich entzückt über einige Gegenstände, meckerte über andere und sagte, das müsse ich meinem Bruder mal schreiben. Ich erkundigte mich - natürlich ganz unverbindlich, aus purer Neugierde – nach den gängigen Preisen. Im Lauf der Diskussion „vergaß“ ich sie regelmäßig und die Leute mussten sie mir wieder angeben. Für einige Stücke, die mir gefielen und die für mein Budget erschwinglich waren, fragte ich mindestens sechs mal nach dem Preis, rechnete diesen umständlich in französische Franken um und dann in Deutsche Mark. Dann zeigte ich mich immer weniger interessiert. Die Kerle waren gewiefte Geschäftsleute. Die waren nicht blöd und ließen sich von mir Grünschnabel nicht an der Nase herum führen. Sie gaben stets denselben Preis an. Schließlich dankte ich für die Freundlichkeit; da ich noch zwei Jahre hier bleibe, eile es nicht; ich wolle nächste Woche wieder vorbei kommen, um mir die Neuerwerbungen
anzuschauen. Der Haussa war auf diesem Ohr taub. Dies, sagte er, sei die letzte Gelegenheit, morgen reise er weiter nach Mouila und nach Zentralafrika. Verflixt, dachte ich mir, das ist blöd! Er ist der einzige, der hier solche Gegenstände verkauft. Aber ich antwortete ungerührt: „Das ist kein Drama. Wenn Sie in drei Monaten zurückkommen, bin ich ja noch hier, und Sie haben dann vielleicht interessantere Neuheiten.“ Er fragte schon ein wenig ungeduldig, was ich denn endlich kaufen wolle. „Na, nichts.“, war meine Antwort, „denn ich habe keinen Franken bei mir.“ Der Mann tat beleidigt und begann seine Siebensachen einzupacken. Im Stillen hatte ich meine Wahl schon lange getroffen: ein paar Tierfigürchen und vielleicht Armbänder aus Elefantenhaar. Hängt vom Preis ab! Zum 36. Mal fragte ich nach dem Preis z. B. dieser Tierchen und Armbänder. Zum 36. Mal die gleiche Antwort: „20 FFrs“ - „Nee“, sagte ich, „zu teuer. Ich gebe nicht mehr als 17 FFrs!“ Die Männer steckten die Köpfe zusammen und hielten kurz Kriegsrat. Ergebnis: „Einverstanden.“ Nebenbei erkundigte ich mich nach dem Preis der kleinen Armbänder: 2 FFrs. Ich versprach dem Händler 20 FFrs, wenn er zu den Tierchen noch zwei Armbänder dazugebe. Wieder Debatte, Beratungen hin und her. Schließlich streifte mir der Mann die zwei Armbänder an den Arm und erklärte, er gebe sich mit den 20 Franken zufrieden. Somit war der offizielle Akt beendet und es kam zu einer fröhlichen und freundschaftlichen Unterhaltung. Ich bat den Händler, die Sachen bis morgen zu behalten, ich werde sie bei seinem Bruder abholen und bezahlen. Josef folgte dem Geschehen mit sichtlichem Unbehagen. Das Schachern passte ihm nicht. An den Gesprächen beteiligte er sich kaum. Der Haussa fragte mich nach meiner Nationalität. Als er erfuhr, dass ich Deutscher sei, geriet er außer sich vor Freude und Stolz. Auch er sei Deutscher, versicherte er mir hundert mal, in der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun geboren. Er lobte alles Deutsche. Ein anderer erklärte, er höre jeden Morgen um 07:45 Uhr das Haussaprogramm des Kölner Auslandssenders. Ich sagte dem Händler, er könne alle seine Waren in Deutschland teuer verkaufen. Er denke schon längere Zeit ernstlich daran, mit seinem Laden nach Köln zu fahren, sagte er. Dabei zählte er mit Präzision alle Formalitäten auf, die er dabei erfüllen müsse: Pass und sonstiges… Und da ich Deutscher sei, gebe er mir noch ein geschnitztes Tierchen als Geschenk mit. Ich gebe zu, dass ich ein wenig gerührt war. Wenn er in drei Monaten zurückkommt, will er mich besuchen, mit mir ein Bier trinken, mir seine Neueingänge zeigen und – vermute ich – ein kleines Geschäft machen. Wir behandelten uns wie Brüder derselben Familie; das gehört zu ihrer Kultur und ist sicher angenehmer und effizienter als unser steifer europäischer Formalismus. Es war ein prächtiger Abend. Mir gefallen diese Leute und die Art und Weise, wie sie mit anderen umgehen. Auch wenn es ein wenig nach Operette riecht! Wir haben also abgemacht, dass ich morgen früh, 8 Uhr, seinen Bruder treffe und ihm die 20 Französischen Franken aushändige. Selbstverständlich nahm ich an, dass er solange die Ware behalten werde. Aber er drückte mir das Päckchen in die Hand; ich solle es sofort mitnehmen. Der Mann kannte nicht meinen Namen, er gab mir die Sachen auf Treu und Glauben mit! Gibt es so was in Europa?! Ich habe dem Père Langavand davon erzählt; er war sehr überrascht und meinte, die Haussa seien dafür bekannt, dass sie nichts herausrücken, bis es bis zum letzten Heller bezahlt ist. Dieser Abend hat mich für vieles belohnt. Und selbst wenn es jetzt Mitternacht ist, muss ich es erzählen. · Lhh016 19641124 08:00 Jetzt muss ich den Katechismusunterricht vorbereiten. Abends (im Bett) WELCH EIN TAG! DAS Tagesereignis sind Milènes zwei Briefe, die angekommen sind. Zwei auf einen Schlag! Ich erfahre von ihr, dass zwei Briefe von mir nicht angekommen sind! Bisher jedenfalls! Ich habe lästerlich vor mich hin geflucht. So ein Mist!
Ich muss mich zusammennehmen, um bei den andern keinen Argwohn zu wecken. Nach außen war ich gesprächig und ironisch wie noch nie in Lambaréné. Es war wie vor zwei Monaten bei den Van Haerlems: man scherzt und wirft sich scharf gezielte Bälle zu – und möchte am liebsten heulen. Inzwischen habe ich mich etwas beruhigt. Ich hoffe, dass meine Briefe doch noch ankommen werden. · Lhh016 19641125 10:30 Ein Tag, der es wert ist, gelebt zu werden! Gibt es Tage, die es nicht wert sind? Liebesfreud – Liebesschmerz, ich glaube, ich stecke mitten drin. Die Messe hilft mir, zur Besinnung zu kommen und ein annehmbares Gleichgewicht zu finden. Jedenfalls für heute. Heute morgen machte mir P. Langavand sanfte Vorwürfe wegen meines „Nachtlebens“. Gestern Nacht wurde er durch einen Alptraum aus dem Schlaf katapultiert. Er wunderte sich über das ungewohnte Mondlicht. Der Père schläft im Zimmer neben dem meinen, und das Mondlicht war meine Lampe, die noch brannte. Uhrzeit: 00:30. Er versicherte mir, wenn ich so weiter mache, läge ich in vier Wochen in Schweitzers Hospital. Der Mann hat Recht, heute war ich wie gerädert. Nach dem Mittagessen erlaubte ich mir ein Schläfchen von einer Stunde, danach fühlte ich mich recht wohl. 19:00 • In Milènes Briefen finde ich, unter vielen andern Punkten, eine Bemerkung über Gott, der uns vielleicht eine große Freude vorbereitet. Mag ja sein, aber den alten Herrn da oben in unsere kleinen Affairen ein zu beziehen, ist so eine Sache! Sollte Milène etwas in petto haben, das sie mir bisher verheimlicht? Zuzutrauen wäre es ihr. Sollte sie im Gabun arbeiten wollen? Zugegeben, bei dieser Idee macht mein Herz einen Hoppser! Aber bleiben wir auf dem Boden! Also, an was hat sie gedacht, als sie diese Bemerkung niederschrieb? Was führt sie im Schilde? „Kloster, Heirat, Sicherung der alten Tage usw...“ Milène sollte sich durch das mehr oder weniger gut gemeinte Gerede der lieben Mitmenschen nicht aus der Fassung bringen. Diese Begriffe kommen zu früh; warten wir ab, wie es in (höchstens?) zwei Jahren für uns aussieht. Ich kann sie mir nicht als Klosterschwester vorstellen. Was das Alter betrifft, gibt es nur eine Sicherheit: dass man alt wird (vorausgesetzt dass...). In Luxemburg bekam Milène von ihrer Schwester zu hören: „Tu es amoureuse de ce Preiß!?“ - Bist du in diesen Preußen verknallt!? Wir sind (erst) 1815 Preußen zugeschlagen worden, wie das ganze Rheinland (Kölle alaaf!) und andere Landstriche auch. Auch Luxemburg wurde wirtschaftlich, politisch und militärisch von Preußen verwaltet! - dass Milènes Schwester im kleinen Großherzogtum diese Bemerkung macht, beweist, dass sie nicht hinterm Mond zuhause ist. Sie hat schnell herausgespürt, was mit ihrer kleinen Schwester los ist. · Lhh017 19641126 Donnerstag 19641126 Vor der Messe. „Carpe diem“ - Nutze die Zeit! Oder: Dalli! Dalli! Ein paar Lateinfetzen sind mir noch geläufig. In der Enzyklika (Pacem in Terris) hab ich in der vergangen Woche nichts gelesen. Den Stil finde ich fade. Und die Kirche humpelt der Wirklichkeit zig Jahre (oder Jahrhunderte?) hinterher; auch ihre Lösungsvorschläge erinnern mich mehr an das Mittelalter und seinen Ständestaat als an die erträumte Zukunft. Père François hat vor ein paar Tage über meine unmäßig dicken Briefe gemeckert: das Porto ist teuer, sagt er! Er meinte, diese Schreibsucht werde ich mit der Zeit verlieren. Das wage ich zu bezweifeln. Es sei denn, ich stecke so tief in der Arbeit, dass ich einfach nicht zum Schreiben komme!
• Es ist Abend. Mit Henri Milesi, Jean-Louis und Jean-Claude hatte ich eine Unterredung. Milesi ist wieder mal hier in seiner Funktion des Missus Dominicus. Die JTS in Lambaréné und sonstwo wissen nicht so recht, was sie hier eigentlich unternehmen sollen; der Abbé hat uns in ein gewagtes Abenteuer gestoßen. Auch für die Mission/Pfarrei ist nichts klar. Der Abbé wollte, dass Jean-Claude im Ort – also nicht in der Mission – eine Werkstatt für Autoreparaturen hochzieht. Anscheinend hat Père Langavand es nicht so verstanden; er dachte an den Unterhalt der Autos, die für die Mission herum kurven. So ähnliche Situationen habe ich schon öfter erlebt: Honnet glaubt, der Heilige Geist flüstert ihm etwas zu – und die Jungen müssen es ausbaden. Jean- Louis sollte aus dem Nichts eine Gärtnerei hin zaubern. Und wer soll die Unkosten tragen? Der Heilige Geist gibt sich mit solchen Fragen nicht ab, er hat sich dünn gemacht! – und die Patres der Station haben die Moneten nicht. Außerdem stehen sie dem Experiment skeptisch gegenüber. Was mich betrifft, sehe ich mich eher als Hilfskraft der Missionsstation: Katechismus, Unterricht, Büro. Was soll ich denn auch sonst tun? Ein wenig gut gemeinte Seelenmassage für die Schäfchen der Pfarrei. Henri Milesi weiß nicht, was er mit mir anfangen soll. Ist ja verständlich, die Situation ist auch ohne mich verkorkst. Außerdem ist er der Meinung, dass ich nicht genügend in der Gruppe (im Kollektiv, würden andere sagen) aufgehe, statt dessen Kontakte außerhalb der JTS-Gemeinschaft suche. Bin ich nach Lambaréné gekommen, um für die JTS da zu sein? Ich habe mich erfolgreich zur Wehr gesetzt. Ich will kein Sektenmitglied werden! Ich bin für die Afrikaner nach Afrika gekommen, nicht für ein paar europäische Muttersöhnchen! Draußen Regen, Blitz und Donnerwetter. Das ist für heute alles. Ich bin geschlaucht, kaputt, - diesmal aber gründlich. Zu wenig Schlaf – und die Aufregung wegen der verloren gegangenen Briefe. Geduld ist nicht meine starke Seite. Und jetzt ab ins Bett oder ich werde zum Selbstmörder! 19641127 Freitag Nach der Messe. Die ganze Nacht über hat es geregnet; es ist frisch geworden, nun ja, was man am Äquator „frisch“ nennt. Überdies habe ich wunderbar geschlafen. Noch ein oder zwei Tage, und ich werde wieder in Schwung sein. 09:00 Das Vaterland ist gerettet: Henri bleibt in Lambaréné! Ich zweifle nicht daran, dass Milène sich einverstanden erklären wird! Oder...? Jean-Louis und Jean-Claude (Gärtnerei und Automechanik) werden wohl nach Libreville zurückfahren. Die Patres wollen mich einweisen, haben aber finanzielle Probleme, um mich zu verköstigen. Wir werden sehen, wie das ausgehen wird. Ich habe das Bauchgefühl, dass auch ich nicht sehr lange hier bleiben werde. Der Direktor der von den Laienbrüdern geleiteten Schule (mit Internat) hat mich gebeten, Unterricht zu geben: Mathe, Geographie usw; alles was ich will. Gefällt mir. Ich finde das sogar toll, kann mich aber einer gewissen Skepsis nicht erwehren. Mir fehlt die professionelle Ausbildung. Ich möchte nicht, dass die Gabuner als Versuchskarnickel herhalten müssen, bloß weil die Mission keinen vollwertigen Lehrer bezahlen kann. Henri Milesi hat mit mir über die Zukunft der „Station JTS Lambaréné“ gesprochen. Ich bleibe für mindestens ein Jahr das einzige Mitglied der „Equipe JTS“. Das wird mir ab und zu schon mal sauer hochstoßen, besonders wenn der Père Langavand in vierzehn Tagen seinen sechsmonatigen Heimaturlaub antritt. Ich verstehe mich gut mit ihm. Aber ich versicherte Milesi, dass ich auf jeden Fall durchhalten werde. 14:30 Henri (Milési), Jean-Louis und Jean-Claude sind soeben weggefahren, Richtung Dibangwi, wo die beiden eventuell bleiben werden. Was sie dort tun sollen – und womit! - ist ihnen schleierhaft. Noch so eine Eingebung des Abbé Honnet. Für mich beginnt eine neue Etappe.
21:45 Heute habe ich ziemlich viel auf der Schreibmaschine gearbeitet; die französische Tastatur habe ich schon in den Fingerspitzen. Außerdem hat sich heute einiges ereignet. Schlaf ist angesagt. 19641128 Samstag 08:00 Arbeit: Matrizen schreiben, die dann kopiert werden. Au weia, die Tippfehler! 09:00 Da ich nie ohne Lesestoff zur Toilette gehe, habe ich es mir angewöhnt, einen Brief von Milène mit zu nehmen, den ich dann zum x-ten Mal durchlese. Das ist einer der Gründe, weshalb ich mich danach wohler fühle. Milèneist in meiner kleinen Existenz allgegenwärtig geworden. Vielleicht hilft mir das, um meine Arbeit besser abzuwickeln. Aber der Dauerschreiber gehört ebenfalls zu meinem kleinen Leben, - und der erinnert mich daran, dass noch viel zu tun ist. 14:30 Uff! - Ich lasse Luft ab: Pfffffffft!!! Milènes Brief kam 5 Minuten vor dem Mittagessen an. Welch eine Erleichterung! Ich habe ihn in Eile überflogen. 23:50 Bericht folgt morgen. Heute Abend waren wir drei (P. Leterrier ist auf einer Außenstation) im Kino. „Monsieur Taxi“, ein älterer, recht guter Film, Pariser Ambiente. Was ich jetzt nicht erzähle, muss ich auf später verschieben. Ich falle ins Bett. 19641129 Sonntagmorgen Ich habe sehr gut geschlafen. Die Sonntagsmesse ist abgewickelt. Jetzt sitze ich im „Salon“ der Patres; neben mir ein Stück Brot und eine Banane als Frühstück. Dazu ein Platte: Vivaldi. Die Patres sind Musikliebhaber, das habe ich ja schon erzählt. Der Ausblick auf den Fluss ist einmalig. Er ist breit wie ein Meer. Ab und zu kann man ein Nilpferd erblicken. Ruderboote gleiten im Dunst über das Wasser. Hinter dem Fluss türmen sich majestätisch hohe Wolkenmassen auf; auf den ersten Blick halte ich sie für eine Hochgebirgskette. • In ihrem letzten Brief schreibt mir Milène von dem Glück, dass wir uns begegnet sind. Ich fühle das so wie sie. Aber das ist so eine Sache mit dem Glück. Es hält nicht lange an, verflüchtigt sich, verdunstet. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir unfähig sind, ein Glückserlebnis für längere Zeit fest zu halten. Es handelt sich um flüchtige Momente, die dem Leben seine Würze geben und es lebenswerter machen. Unser Streben nach dem (unerreichbaren) Glück gibt unserm Leben die Spannung – wie der gespannte Bogen sein Ziel anvisiert. Ein Leben ohne Spannung ist tot, - ein Bogen mit zerrissener Sehne. Hier endet meine Sonntagspredigt. Irgendwie werden wir miteinander und mit der Welt fertig werden. Auch wir werden Glücksmomente erleben. Übrigens erleben wir sie ja jetzt schon! • 'Wir haben uns in uns selbst zurückgezogen' – sagt der Père Léon. Das passt mir nicht! Er redet gern in Zeichen und Bildern, gibt Sätze von sich, die auf drei Punkte enden. Léon hält sich vielleicht für ein Orakel. Er ist ein prima Kerl, aber: 1) er hat kein normales Familienleben gekannt; seine Mutter ist sehr früh gestorben... 2) er ist im Seminar groß geworden und hat dessen Ideologie und Kultur in sich aufgenommen.
Léon hat Probleme mit: Mädchen, Nichtkatholiken (Mohammedanern, z.B.), Autorität und linker Politik. Vielleicht hat er Recht und wir sind „renfermés, verschlossen“; aber dann ist er es ebenfalls, und zwar hochgradig. Nachdem ich nun den armen Père Léon zur Schnecke gemacht habe, will ich gern hinzufügen, dass ich mich bestens mit ihm verstehe. Der Mann ist das Gegenteil des Egoisten. Alles andere ist nicht so wichtig. Er hat eben seine Grenzen. Ich könnte mir vorstellen, dass es zwischen ihm und mir schon mal rasseln wird, wenn ich in der Poudrière zurück bin. Was Milène betrifft, ist sie alles andere als verschlossen. Sie hat ein reiches Innenleben, einen scharfen Blick für das Wesentliche, auch wenn sie es nicht in präzise Worte fassen kann (welches Wort gibt schon die Wirklichkeit 100%-ig wieder?). Man kann sie nicht mit einem Handstreich erobern. Sie möchte den Leuten nicht mit ihrem Innenleben auf die Nerven gehen. Und doch ist sie kommunikativ wie niemand sonst in der Poudrière. Milène ist eine Hauptperson in der Poudrière geworden. Keine Ideologie, keine festen Lehr(Leer-)sätze. Sie verstehst jeden in der Bande und versucht ihm zu helfen, wenn es nötig ist. · Lhh017 19641127 Freitag Nach der Messe. Die ganze Nacht über hat es geregnet; es ist frisch geworden, nun ja, was man am Äquator „frisch“ nennt. Überdies habe ich wunderbar geschlafen. Noch ein oder zwei Tage, und ich werde wieder in Schwung sein. 09:00 Das Vaterland ist gerettet: Henri bleibt in Lambaréné! Ich zweifle nicht daran, dass Milène sich einverstanden erklären wird! Oder...? Jean-Louis und Jean-Claude (Gärtnerei und Automechanik) werden wohl nach Libreville zurückfahren. Die Patres wollen mich einweisen, haben aber finanzielle Probleme, um mich zu verköstigen. Wir werden sehen, wie das ausgehen wird. Ich habe das Bauchgefühl, dass auch ich nicht sehr lange hier bleiben werde. Der Direktor der von den Laienbrüdern geleiteten Schule (mit Internat) hat mich gebeten, Unterricht zu geben: Mathe, Geographie usw; alles was ich will. Gefällt mir. Ich finde das sogar toll, kann mich aber einer gewissen Skepsis nicht erwehren. Mir fehlt die professionelle Ausbildung. Ich möchte nicht, dass die Gabuner als Versuchskarnickel herhalten müssen, bloß weil die Mission keinen vollwertigen Lehrer bezahlen kann. Henri Milesi hat mit mir über die Zukunft der „Station JTS Lambaréné“ gesprochen. Ich bleibe für mindestens ein Jahr das einzige Mitglied der „Equipe JTS“. Das wird mir ab und zu schon mal sauer hochstoßen, besonders wenn der Père Langavand in vierzehn Tagen seinen sechsmonatigen Heimaturlaub antritt. Ich verstehe mich gut mit ihm. Aber ich versicherte Milesi, dass ich auf jeden Fall durchhalten werde. 14:30 Henri (Milési), Jean-Louis und Jean-Claude sind soeben weggefahren, Richtung Dibangwi, wo die beiden eventuell bleiben werden. Was sie dort tun sollen – und womit! - ist ihnen schleierhaft. Noch so eine Eingebung des Abbé Honnet. Für mich beginnt eine neue Etappe. 21:45 Heute habe ich ziemlich viel auf der Schreibmaschine gearbeitet; die französische Tastatur habe ich schon in den Fingerspitzen. Außerdem hat sich einiges ereignet.
· Lhh017 19641128 Samstag 08:00 Arbeit: Matrizen schreiben, die dann kopiert werden. Au weia, die Tippfehler! 14:30 Pfffffffft!!! - Ich lasse Luft ab: Milènes Brief kam 5 Minuten vor dem Mittagessen an. Welch eine Erleichterung! Ich habe ihn in Eile überflogen. 23:50 Bericht folgt morgen. Heute Abend waren wir drei (P. Leterrier ist auf einer Außenstation) im Kino. „Monsieur Taxi“, ein älterer, recht guter Film, Pariser Ambiente. · Lhh017 19641129 Sonntagmorgen Ich habe sehr gut geschlafen. Die Sonntagsmesse ist abgewickelt. Jetzt sitze ich im „Salon“ der Patres; neben mir ein Stück Brot und eine Banane als Frühstück. Dazu ein Platte: Vivaldi. Die Patres sind Musikliebhaber, das habe ich ja schon erzählt. Der Ausblick auf den Fluss ist einmalig. Er ist breit wie ein Meer. Ab und zu kann man ein Nilpferd erblicken. Ruderboote gleiten im Dunst über das Wasser. Hinter dem Fluss türmen sich majestätisch hohe Wolkenmassen auf; auf den ersten Blick halte ich sie für eine Hochgebirgskette. • In ihrem letzten Brief schreibt mir Milène von dem Glück, dass wir uns begegnet sind. Ich fühle das so wie sie. Aber das ist so eine Sache mit dem Glück. Es hält nicht lange an, verflüchtigt sich, verdunstet. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir unfähig sind, ein Glückserlebnis für längere Zeit fest zu halten. Es handelt sich um flüchtige Momente, die dem Leben seine Würze geben und es lebenswerter machen. Unser Streben nach dem (unerreichbaren) Glück gibt unserm Leben die Spannung. Ein Leben ohne Spannung ist tot, - ein Bogen mit zerrissener Sehne. Hier endet meine Sonntagspredigt. Irgendwie werden wir miteinander und mit der Welt fertig werden. Auch wir werden Glücksmomente erleben. Übrigens erleben wir sie ja jetzt schon! • 'Wir haben uns in uns selbst zurückgezogen' – sagt der Père Léon. Das passt mir nicht! Er redet gern in Zeichen und Bildern, gibt Sätze von sich, die mit drei Punkten enden. Léon hält sich vielleicht für ein Orakel. Er ist ein prima Kerl, aber: 1) er hat kein normales Familienleben gekannt; seine Mutter ist sehr früh gestorben... 2) er ist im Seminar groß geworden und hat dessen Ideologie und Kultur in sich aufgenommen. Léon hat Probleme mit: Mädchen, Nichtkatholiken (Mohammedanern, z.B.), Autorität und linker Politik. Vielleicht hat er Recht und wir sind „renfermés, verschlossen“; aber dann ist er es ebenfalls, und zwar hochgradig. Nachdem ich nun den armen Père Léon zur Schnecke gemacht habe, will ich gern hinzufügen, dass ich mich bestens mit ihm verstehe. Der Mann ist das Gegenteil des Egoisten. Alles andere ist nicht so wichtig. Er hat eben seine Grenzen. Ich könnte mir vorstellen, dass es zwischen ihm und mir schon mal rasseln wird, wenn ich in der Poudrière zurück bin.
Was Milène betrifft, ist sie alles andere als verschlossen. Sie hat ein reiches Innenleben, einen scharfen Blick für das Wesentliche, auch wenn sie es nicht in präzise Worte fassen kann (welches Wort gibt schon die Wirklichkeit 100%-ig wieder?). Man kann sie nicht mit einem Handstreich erobern. Sie möchte den Leuten nicht mit ihrem Innenleben auf die Nerven gehen. Und doch ist sie kommunikativ wie niemand sonst in der Poudrière. Milène ist eine Hauptperson in der Poudrière geworden. Keine Ideologie, keine festen Lehr(Leer-)sätze. Sie versteht jeden in der Bande und versucht ihm zu helfen, wenn es nötig ist. • Der heutige Sonntag war ein geruhsamer Tag. Morgens, nach der Messe, bastelte ich an einem Brief für Milène herum (die „Predigt“). Dabei war ich von klassischer Musik begleitet. Die Patres Leterrier und Langavant haben eine ausgezeichnete Plattensammlung . Und ich wartete auf die Schweizerin (Mlle Schnee), der ich eine Platte von Mozart vorspielen wollte. Aber sie kam nicht. Père Langavant sagte mir, dass sie nur jeden zweiten Sonntag frei habe. (Morgen, Samstag, werde ich mit Père Leterrier zum Hospital fahren, ihr dabei Guten Tag sagen und sie für den jetzigen Sonntag einladen.) • Zum Mittagessen waren die Patres ausgeflogen. Ich war von einem jungen Ehepaar, Gaby und Jeanette, eingeladen. Dort blieb ich bis halb drei; die Mahlzeit war gut, die Unterhaltung angenehm. Zu Hause angekommen, legte ich mich eine halbe Stunde aufs Bett. Eine kurze Siesta tut gut bei der tropischen Hitze (30 Grad und mehr). Dann Unterricht vorbereiten, Briefe schreiben. Um halb sechs zu Josef, dem Österreicher, dem ich versprochen hatte, dass ich mit ihm, seiner „Puppe“ und der Frau des Hauses Karten spielen werde. Josef ist ein Abenteurer, hat einige Jahre Fremdenlegion auf dem Buckel und sich im Gabun eingenistet. Da ich an der Schwesternstation vorbeikam, ließ ich mir einen Sandflohstich (chique) „reparieren“. Josef fand ich am hochangeschwollenen Fluß. Er fischte, weil er, wie er sagte, sonst nicht genug in den Magen bekommt. Ich habe nicht den Eindruck, dass er ein starker Esser ist, denn er ist hager und nicht sehr groß. Aus dem Kartenspiel wurde nichts, da die Madame, bei der er wohnt, noch nicht zurückgekehrt war. Umso besser! Also zurück nach der Mission. Lhh018 19641203 Donnerstag 21:30 • Ein unerwarteter Besuch: Henri Milesi, Jean-Louis et Jean-Claude kommen von Dibwangui zurück, wo sie versucht hatten, einen Anlaufpunkt für die JTS ausfindig zu machen. Anscheinend erfolglos. Der Ort war mir bisher unbekannt, er muss in der Gegend von Mouila liegen, nicht weit von der Grenze zum Kongo Brazzaville, im Süden Lambarenes. Mouila ist eine Diözese. Dass sie jetzt hier in Lambarene sind, könnte bedeuten, dass Jean-Claude als Automechaniker die paar Wagen der Mission/Pfarrei in Schuss halten würde und der hiesigen Jugend die Grundlagen seines Berufs vermitteln würde. Zu Tisch wird darüber diskutiert. Ich habe den Eindruck, dass P. Langavant sich von der Initiative der JTS überfahren fühlt. Er sagt mir, dass Honnet bei seinem letzten Besuch äußerst vage und knapp gewesen sei. Die Mission müsste finanziell für ein solches Projekt geradestehen, scheint mir. Jean-Louis könnte/sollte/möchte einen kleinen Gartenbetrieb ankurbeln, dessen Produkte ein Gewinn für die Mission wären. Auch er könnte einen kleinen Lehrbetrieb für die hiesige Jugend organisieren, die Unkosten wären von der Mission zu bestreiten, von wem denn sonst? Um so etwas Materielles kümmert sich die „Vorsehung“ nicht. Honnet möchte hier wohl so etwas etablieren wie die Handwerksschule der Diözese in Sainte-Marie. Näheres später. • Um 12:00 Uhr Katechismus. Prima, es gefällt mir immer besser, auch die Kinder tun gut mit. Oder bin ich mit mir selber nicht kritisch genug?
Um 16:00 Uhr Erdkundeunterricht in der Schule der Brüder: Westeuropa und die Britischen Inseln. Europa ist hier immer noch der Nabel der Welt. Ich muss schneller vorgehen, wir sind fast nicht vom Fleck gekommen, weil ich zu viele Fragen stellte. Natürlich könnte ich ihnen den Lehrstoff vorkauen, sie bräuchten ihn dann nur auswendig zu lernen. So schafft man Halbwissen. Ich versuche sie zum persönlichen Nachdenken zu bewegen. „Was, meint ihr, wären die Folgen, wenn dies oder das unternommen würde?“ Oder so ähnlich. Das scheint den Schülern recht gut zu gefallen, sie beginnen zu diskutieren. In den nächsten Tagen werde ich Näheres erzählen können. Morgen Allgemeine Erdkunde: Die kalten Erdzonen. Auch hier mit Schwerpunkt Europa. Es wird mir jetzt zu dumm mit all dem Moskitozeug, das hier herumfliegt und mich von oben bis unten zersticht. Außerdem bin ich müde und verkrieche mich also unter mein Moskitonetz. Lhh018 19641204 Freitag Ungefähr 8:00 Uhr. Es gilt den Unterricht vor zu bereiten. Géographie 6e, François Pinardel, Géographie générale et Afrique. Les climats tempérés et les climats froids. Wenn es ums Mittelmeerklima geht, kommen mir Erinnerungen an Jugoslawien und einen bestimmten Wuschelkopf. Circa 15:00 Uhr. • Der Erdkundeunterricht heute morgen war besser und lebendiger als letztes Mal. Die Burschen - ach ja, keine Mädchen! - sind unheimlich diszipliniert, untertan. Das gefällt mir nicht. Immer noch das Verhältnis des weißen Colons und des schwarzen Colonisé. Die Brüder vom Heiligen Geist haben ihre Jungen in diesem Stil gedrillt. Das geht mir gegen den Strich. Nun noch die schriftlichen Antworten auf meine Fragen im gestrigen Katechismusunterricht. Ich bin gespannt. 21:30 • Mit dem Brief an Frau Wilhelm habe ich mir etwas eingebrockt! Ich möchte ihr so viel sagen, finde aber die Worte nicht. Das ist vielleicht besser so. Was kann ich der alten Dame schon Neues erzählen. Vielleicht geht es mir – bewusst oder nicht – nur darum, mich bei ihr einzuschmeicheln. An Hintergedanken fehlt es mir nicht. Der Brief meiner Schwester Maria, den ich heute erhalten habe, war typisch für sie: kurz, sehr sachlich; sie schreibt nicht oft. Selbst wenn sie nie schreiben würde, machte mich das nicht unruhig. Zwischen ihr und mir gab es immer einen unausgesprochenen Gleichklang. Sie berichtet über praktische Dinge und Ereignisse, fügt nie eigene Überlegungen hinzu. Und dennoch fühle ich mich seit Jahren von ihr am besten verstanden in der Familie. Deshalb bin ich neugierig, wie sie Den Besuch aus Brüssel in Fraulautern schildert. Maria schaut lange zu, sagt wenig, hat ein echtes und gesundes Gefühl. Und dann handelt sie. Manchmal spät, aber mit Überzeugung. Lhh018 19641205 Samstag Ungefähr 7:45 Uhr. Eine unruhige Nacht liegt hinter mir. Ich habe keine Ruhe gefunden und bin mit einem Kopf wie ein Butterfass erwacht. Im Halbschlaf erlebte ich etwas Tolles. Der Lastwagen der Poudrière ist von Chaumont kommend hier auf der Missionsstation angekommen. Die gesamte Mannschaft war drin, P. Léon an der Spitze. - Und, natürlich, Milène, seltsamerweise in einem scharz-weißen Wollpullover, Norwegermuster. Pullover am Äquator! Dann saßen wir alle an einem großen, hufeisenförmigen Tisch zum Essen. Ich sah natürlich nur Milène – und Monique sowie deren Maurice.
Schließlich bin ich wach geworden. Ich überlegte hin und her, weshalb ich gerade Monique und Maurice so „intensiv“ erlebt hatte; Milènes Fall ist ja noch verständlich. Sollte es ein Schuldgefühl sein, weil ich in Chaumont nicht Abschied genommen habe, Zeitmangel! 21:00 Uhr Heute habe ich mir bei der Arbeit kein Bein ausgerissen. Morgens bis 12 Uhr Arbeit an der Kopiermaschine. Ich bringe die Adressen und Archivdokumente der Mission auf Vordermann. Ich glaube, P. Langavant weiß nicht so recht, wie er mich beschäftigen soll. Bis zum Essen ist es nicht mehr lang, ich lege mich also kurz aufs Bett. Und nach dem Mittagessen noch einmal bis 15:00 Uhr. Schlafen kann ich nicht, aber die Nerven beruhigen sich ein wenig. • Gestern ist ein elsässischer Pater hergekommen, der sich bei den Schwestern behandeln lassen will. Mit ihm und Jean-Louis paddele ich zum Hospital hinüber. Gesund ist der Pater nicht, das merkt man sofort. Ihm scheint die Einsamkeit am meisten zuzusetzen, in der er auf seiner Buschstation leben muss. Er hat die Nase voll und scheut sich nicht, es zu sagen. Bei seinem Bischof will er sich beschweren wegen des „unmenschlichen Lebens“, das er seit langem führen muss. Er wird wohl recht haben. Mir gibt das zu denken, diesem Aspekt bin ich nur einmal, in St. Gabriel, begegnet (Brüder Philipp und Gerhard von St. Wendel). Diese sozio-kulturelle Einsamkeit dürfte viel schwerwiegender sein, als ich bisher angenommen habe. Unser Pater hat sichtlich das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Er redet mit uns wie ein Wasserfall, leider kann er einem damit auf die Nerven gehen. • Übrigens, hier am Äquator gibt es Schnee! Schnee heißt nämlich die Schweizerin, die ich im Hospital aufsuchen wollte. P. Langavant scheint sie zu kennen, er hat mir ihre Koordinaten gegeben mit dem Vorschlag, die junge Dame doch einmal im Hospital zu besuchen. Frl. Schnee arbeitet als Krankenschwester bei Schweitzer. Nach langem Herumfragen auf dem Hospitalgelände habe ich sie in einer Krankenbaracke ausfindig gemacht. Sie behandelte ein paar Kranke. An Arbeit fehlt es dem Hospitalspersonal nicht. Wir sprachen nur sehr kurz miteinander. Ich habe ihr vorgeschlagen, morgen nach dem Hochamt die zwei neuen Schallplatten von P. Leterrier anzuhören: Bolschoïorchester, Händelkonzerte. Sie freute sich ehrlich, glaube ich, über meinen Besuch – und ich freute mich, dass sie sich freute. Frl. Schnee ist noch jung, gleicht in etwa meiner Schwester Maria. In ihr steckt mehr, als sie nach außen preisgibt. Lhh018 19641206 Sonntag 15:00 Vor zwei Minuten habe ich den Brief an Milènes Mutter fertig gekriegt. Jetzt kommt die Tochter an die Reihe. Ich schwor mir heute Morgen, Milène nicht eher zu schreiben, bis der Brief an die Frau Mama erledigt sei. Das hat geholfen. Heute ist ein ruhiger, heißer Sonntag. Vor der Messe um 8:30 kümmerte ich mich um die Sakristei, ebenso nach der Messe. Prompt wurde ich dazu bestimmt, mich auch um die Messdiener zu kümmern. Daraufhin kurzes Frühstück, Brot und Käse. Mit Jean-Rémy, dem Boy der Mission, habe ich die Schmutzwäsche weggebracht. Die JTS sind mit P. Pinus, der gestern hierher gekommen ist, nach Libreville zurückgefahren. Das JTS-Projet in Lambarene ist somit endgültig ins Wasser gefallen. Besser früher denn später. • Nach dem Hochamt kreuzte die Schweizerin auf. Sie scheint sich bei uns recht wohl zu fühlen.Wir hockten da zu dritt und diskutierten: Schwyzerisch, Elsässisch, Preußisch; der elsässische Pater, Meyer heißt er, tat lebhaft mit. Schnee erzählte uns, dass sie mit 13 Jahren in ein Schwesterninternat verbracht wurde, wo sie zwei oder drei Jahre hauste. Dort sei sie das „Enfant terrible“ gewesen und habe versucht, das Internat zu verlassen. Ich kann sie gut verstehen. Irgendwie ist es ihr gelungen, aus dem frommen Lebens aus zu brechen. Sie vermisst sehr die Berge, den Schnee (es geht auf Weihnachten zu, aber bei 30 Grad Celsius); warum heißt sie denn Schnee?! Und, da lugt die Schweizerin aus der Wäsche, ihr fehlt es an Hygiene. Ich bin überzeugt, dass sie durchhalten wird, physisch und psychisch sieht sie robust aus.
• Wir hörten mit viel Genuß die neuen Platten, veräppelten P. Meyer, wenn er mal wieder dazwischenschnatterte, tranken Zitronensirup. Ein gelungener Sonntagmorgen. Dabei erzählte Frl. Schnee (seltsam, dass ich sie nicht nach ihrem Vornamen gefragt habe), dass sie Schwierigkeiten habe auf Französisch zu beichten; einer ihrer Professoren, ein Geistlicher, habe ihr einen französischen Beichtspiegel geschickt. Meine Frage: Ist ein französischer Beichtspiegel für eine schweizer Sünderin kompatibel, und das in Äquatorialafrika? Von ihrer Schwester habe sie 25 Fränkli bekommen „für ein Heidenkind“! Inzwischen habe sie zwei Sterbenden die Taufe gespendet; „bedingungsweise“, sagt sie. Heißt das, daß die Leute schon im Koma lagen und sich nicht wehren konnten? Einige Tote habe sie beerdigt. Es handelt sich um eine tiefe Grube. Die Leichen liegen übereinander. Sie fürchtet, dass die obersten jetzt in der Regenzeit herausgeschwemmt werden. Außerdem sei sie gestern von andern Krankenschwestern mächtig aufgezogen worden, weil schon nach fünf Wochen im Hospital ein junger Europäer sie gesucht habe. Das war ich. Und vielen Dank für den „jungen Europäer“. • Da ich gerade von Mädchen rede. Als ich letzten Sonntag bei den Schwestern war, um den Stich am kleinen Zeh behandeln zu lassen, unterhielt ich mich mit der Oberin, einer Spanierin. Sie sind zu dritt auf der Station. Ich machte ihr das Kompliment, dass sie in der Mädchenschule und dem Internat die Zukunft des Gabun heranziehe. Sie seufzte, es sei sehr schwer für sie. Die allermeisten Mädchen zwischen 12 und 14 Jahren hätten schon ihre Initiation hinter sich. Es gebe nur ganz seltene Ausnahmen von Kindern, die wirklich „sauber“ geblieben seien; dieser Ausdruck, „sauber“, störte mich. Ein Vorbild nach dem Herzen der Oberin ist Françoise. • Besagte Françoise lernte ich am nächsten Tag kennen. Ein Mädchen, schlank wie ein Reh, blendende Figur. Etwa 23 Jahre alt, Lehrerin bei den Schwestern, fast jeden Morgen in der Messe und an der Kommunionbank. Die Oberin spart nicht an Lob für diese Mitarbeiterin. Es stimmt, von jungen afrikanischen Frauen wie Françoise wird Heroisches verlangt. Möglich, dass sie nie einen Mann finden wird, denn für sie kommt nur eine rein christliche Ehe in Frage. Ob es wohl einen Mann gibt, der ihre Überzeugungen teilt und mit ihr zusammen leben will? Mit einer Heiligen zusammen leben dürfte nicht so einfach sein! Ich stelle mir vor, dass auch die heiligen Agnes, Barbara oder Cäcilia in einer ähnlichen Situation lebten: außerhalb ihres Stammes, herausgerissen aus ihrem Kulturkreis; Fremdkörper in der altehrwürdigen Ordnung. Ich fürchte, was wir den Leuten im Gabun als Christentum verkaufen, ist versteckter Kulturkolonialismus. • Der Konflikt der Kulturen ist unausweichlich. Nicht weil die afrikanische Lebensart verkehrt wäre, sondern weil sie in einer technisierten Umwelt ihren Sinn verloren hat. Es wird noch etliche zig oder hundert Jahre dauern, bis die Afrikaner begreifen, dass die Frau keine Sklavin oder Arbeitspferd ist. Hier kann nur die Schule helfen. Schule ist wichtiger als Kirche! Auf alle Fälle sind Mädchen wie Françoise, die ganz allein gegen jahrhundertealte Bräuche, Anschauungen und Regeln kämpfen, bewundernswert. • Heute morgen, als ich früh auf die Terrasse heraustrat, um den Fluß zu bewundern, sah ich etwas Unglaubliches. Ich wischte mir zweimal die Augen, Irrtum war ausgeschlossen. Ein Afrikaner trug eine ziemlich große Kiste auf dem Kopf. Vor ihm eine Afrikanerin, in einem einfachen Kleid nach europäischem Schnitt. So etwas sieht man hier selten. Mich würde interessieren, ob die zwei verbandelt sind oder nicht. Normalerweise müsste die Frau die Kiste tragen und der Mann tanzt vorne weg. • Nach der Frühmesse fragte ich vier Jungen, ob sie die Predigt verstanden haben; zwei sind bei mir im Katechismusunterricht. „Oui, Monsieur!“ Selbstverständlich! Was der Pater denn gesagt habe – und um wen oder was es gegangen sei? - Keine Antwort. Kein Dunst Ahnung! Da predigt ein Mann eine Viertelstunde über Johannes den Täufer, den wir im Unterricht lang und breit durchgenommen haben, - und die Burschen erinnern sich ein wenig später nicht daran! Woran liegt das? Geschichte zu abstrakt? Wortwahl unverständlich? Angst vor dem Fragesteller? 19:15 • Vor einer knappen Stunde sind ein Pater und ein Bruder aus Mouila hier eingetroffen. Im Kongo-Brazzaville rumort es, einen Schritt von Mouila entfernt. Soweit die Missionen dort noch bestehen, sind sie im Belagerungszustand. 24000 chinesische Einwandererfamilien sind offiziell angemeldet für die nächste Zeit. China macht sich in Afrika bemerkbar, auch im Gabun. Brazzaville ist stolz auf „seine“ Revolution, die es konsequent weiterführen will. Es heißt, dass die chinesischen Kommunisten mehr und mehr den Kongo- Leopoldville infiltrieren. Die Organisation soll von Brazza ausgehen.
Es ist noch nicht sehr lange her, dass Belgier und Franzosen sich Zentralafrika unter den Nagel gerissen haben. Natürlich nur, um die Eingeborenen zu beglücken, ihnen die Segnungen der Kultur und – nicht zu vergessen – den Segen der Mutter Kirche zu bringen. Wie soll man diesen Vorgang denn nennen? Wie kommt es, dass Weiße in Afrika Grundbesitzer und Großunternehmer geworden sind? Wem haben die das Land und die Bodenschätze geklaut? Und wer durfte für sie arbeiten und somit ihren Wohlstand vermehren? - Das Schweigen im Walde! Uns wird erzählt, dass Reisende von jugendlichen Banden angehalten, durchsucht und ausgeplündert werden. Einige Patres seien eingelocht und gefoltert worden, andere wurden ausgewiesen. Was soll das Gerede von der chinesisch- kommunistischen Infiltration? Die geschilderten Vorgänge bezeugen den inneren Zerfall einer Provinz oder eine Landes. Nun, da die Europäer sich nicht mehr als die politischen Herren aufspielen können, stellt man fest, dass sie nichts unternommen haben, um ihre Kolonien zu konsolidieren. Tatsache ist, dass Afrika vor die Hunde geht. Jedenfalls durchlebt der Kontinent eine längere Periode, in der er ein neues und tragfähiges Gemeinwesen erfinden muss. Und das soll in nur einigen Jahren geschehen? Nach dem Zerfall der römischen Kolonialmacht herrschten in Westeuropa jahrhundertelang Raub, Rechtlosigkeit, kulturelle Unterentwicklung. Können wir heute behaupten, dass das „dunkle Mittelalter“ hinter uns liegt? Keine Ahnung, den Beweis werden wir wohl noch liefern müssen. Unter den Europäern in Mouila bricht Unruhe aus. Die Patres scheinen sich auf allerhand gefasst zu machen. Eines steht fest: Wenn sich in Brazzaville ein radikal-kommunistisches System einnistet, bleibt es im Gabun nicht ruhig! Warten wir ab, wie sich die Dinge entwickeln werden. - Hier bei uns ist Ruhe. Bis auf weiteres. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir bei irgend einer „glorreichen, volksbefreienden Revolution“ kalt gemacht werden. • Noch eine kurze Anmerkung. Was soll ein kommunistisches System im Urwald? Die Doktrin der Herrschaft des Proletariats setzt eine proletarische Klasse voraus mit dem nötigen industriellen Unterbau. So wie Karl Marx das im 19. Jahrhundert in Manchester festgestellt hat. Schon die russische Große Revolution, die rote, war nicht echt. Es fehlte das nötige Proletariat, dem musste mit Gewalt nachgeholfen werden. Das Ding ist sehr schnell zu einem autoritären Staatskapitalismus verkommen. In China waren die Voraussetzungen noch schlechter, das Reich war eine Bauerngesellschaft. Das haben die Edelrevoluzzer rot eingefärbt. Rot ist eine schöne Farbe. Es ging, wie überall sonst, darum, die Macht an sich zu reißen. Und sie mit allen Mitteln zu erhalten! Ganz Südamerika wartet darauf, dass der Funke das Pulverfass zur Explosion bringt. 21:30 Nach dieser trüben Politikanalyse eines blutlosen Pessimisten (oder bin ich bloß Realist und die Realität ist beschissen?) wenden wir uns wieder der Gegenwart, unserer Gegenwart, zu. Tatsache ist, dass ich müde bin. Da ich kein Risiko eingehen will, geht es ab in die Heia. Lhh018 19641207 Montag 12:30 Mich pieksen Gewissensbisse: Ich nehme mir zu viel Zeit zum Schreiben, werde müde, arbeite nicht genug. Predigen und Beten kann kein Dauerzustand sein. Möglicherweise bin ich für manchen mehr Ballast als Hilfe. • Der „Schweizerin“ habe ich heute morgen vielleicht ein Freude machen können. Gestern hat sie mir gesagt, - ich erzählte ihr von dem Haussahändler, bei dem ich einige afrikanische Andenken erstanden hatte – dass sie gerne irgend etwas nach Hause schicken würde, aber nicht weiß, wo sie es kaufen kann. Zufällig ist der Ordensbruder, der hier vorbei kam, Schweizer und fliegt vor Weihnachen heim. Ich habe ihm 3 von meinen Tierchen für seine Landsmännin mitgegeben (eine Garnitur also, zwei habe ich noch, eine der vier habe ich Jean-Claude für seine Danielle gegeben). Da ich die Heimatadresse des Fräulein Schnee nicht kenne, ließ er mir seine Anschrift hier, damit ich ihm die Ihrige nachschicke. Ich denke, sie wird einverstanden sein.
• Heute morgen konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich ministriete an einem Seitenaltärchen dem Pater aus Mouila. Da keine kleine Hostie vorbereitet war, sagte er mir bei der Opferung, dass er ein Stück aus der großen brechen werde. Ich nickte und quetschte ein langgezogenes „Oooouuuu Keei“ zwischen den Zähnen hervor. Es war Milènes breites kanadisches O.K., das sie oft benützte, wenn sie uns Geschichten aus Kanada erzählte. Ihre englisch-französischen „Ansprachen“, die sie auf dem Lastwagen hielt, als wir auf der Fahrt nach Jugoslawien waren, bleiben mir unvergessen. Nicht nur ihr „O.K.“ sondern auch ihr breites Lachen, von einem Ohr bis zum andern. Seither benutze ich das kanadische OK, sogar im Katechismusunterricht. 14:00 • Es knistert in der Luft. Vorsicht, Hochspannung! Die Nerven sind gereizt. Die Patres sind verflixt empfindlich. Liegt es an der heiß-schwülen Luft, vielleicht an der einen oder anderen Enttäuschung? Ich merke an mir selber, dass mir das Wetter arg zusetzt. Als ich aber feststellte, dass auch die Patres der Mission ihren Koller kriegen, zwang ich mich zur Ruhe. Heute bin ich noch schweigsamer als gewöhnlich. Einer muss doch übrig bleiben, der die Nerven behält! 15:00 Noch eine halbe Stunde Vorbereitung für den Erdkundeunterricht: England. 17:30 • Erdkundestunde. Ist prima verlaufen. Zu Beginn ließ ich schriftlich zwei Wiederholungsfragen beantworten. 1) Ozeanisches Klima. 2) Die Namen der britischen Inseln. Bemerkenswert einige Antworten: Island, Vogesen, Hawaii! Dann musste ich den Knaben klar machen, dass im Unterricht nur Atlas und Schreibheft auf dem Pult liegen dürfen. Handbücher gehören nicht in den Unterricht, dafür ist der Lehrer da, sie dienen dem Privatstudium nach dem Unterricht. Im großen ganzen war die Stimmung ausgezeichnet. Mir liegt viel daran, dass die Schüler am Lehrstoff interessiert sind. Natürlich gab es ein allgemeines Stöhnen und Zähneknirschen, als ich ihnen mitteilte, dass wir bei jeder Lehrstunde zehn Minuten schriftliche Wiederholungsarbeit machen werden. Wie heute. Aber es gibt von Zeit zu Zeit auch ein großes kollektives Gelächter, oft für Kleinigkeiten. Die Jungen brauchen Szene und Operette. Das finde ich sehr gut für die psychische Hygiene. Wir sind heute gut vorangekommen: Oberflächengestaltung Großbritanniens. Und nun ran an die Vorbereitung des morgigen Katechismusunterrichts. Dann der tägliche JTS-Bericht. Ach ja, Spanisch sollte ich büffeln. Und Briefe... Woher soll ich denn die nötige Zeit nehmen? 21:30 Zum zweiten Mal für heute Abend höre ich eine Platte mit Adventstexten aus dem Alten Testament. Musik von Lucien Deiss (O.S.Sp, Spiritaner). Am Weihnachtsabend werde ich mir den Gesang wieder anhören: „Un enfant nous est né“. Er ist tief und packend wie eine Ektenie oder eine Präfation im russischen Ritus, so wie ich ihn in Wien an hohen Festtagen bei den Ukrainern gehört habe. Morgen werde ich möglicherweise keine Post erhalten. Die zwei Wege nach Lambarene sind überschwemmt; das Wasser steht mehr als einen Meter hoch, habe ich erfahren, mit einem normalen Auto gibt es da kein Durchkommen mehr. Und wie sieht's mit der Schifffahrt aus? Der Außenbord ist auf Tournee; die „pinasse“ will nicht mehr, da ist etwas in Stücke gegangen. Dieses Hochwasser kann noch Wochen dauern, wird geunkt! Lhh018 19641208 Dienstag 8:30
Korrektion der Katechismusarbeiten und Vorbereitung des Unterrichts. Nach einer guten Stunde bin ich damit fertig geworden. Sieht gut aus, könnte so passen. Am frühen Morgen war ich ein wenig bange, ob ich den Schülern bieten kann, was sie brauchen. 21:30 Am Abend habe ich einen Spaziergang gemacht, um mir die Beine zu vertreten. Ich bin nicht weit gekommen, etwa 200 Meter in einer Richtung, 100 Meter in der anderen. Die Piroge der Mission habe ich nicht finden können, sonst hätte ich mit ihr eine kleine Fahrt auf dem Fluss gemacht. Habe ich schon einmal Nivaquine erwähnt? Seit ich afrikanischen Boden betreten habe, nehme ich täglich diese Pille gegen das Sumpffieber, brav und diszipliniert. Ob's auf die Dauer hilft, werden wir sehen. Jeder tut das. Henri Wertz: Er ist in der katholischen Mission in Pointe Noire. Wenn es im Kongo (und vielleicht sonstwo) so weiter kriselt, werden die JTS, die dort sind, nicht lange bleiben können. Milènes Mutti hat mich in ihrem Fadenkreuz! Sie ist eine prima Frau. Was sie sagt von wegen Altersheim und so, würde ich ziemlich ernst nehmen. Sie fühlt sich wahrscheinlich überflüssig und vereinsamt. Milène sollte ihr ein wenig mehr Zeit widmen, selbst wenn das auf Kosten des Freundeskreises (Poudrière und andere) geht, mich mit eingeschlossen. Ich denke, Madame Wilhelm ist sich sehr klar, um was es geht. Vielleicht will sie gerade deshalb weg, um ihrer Tochter Platz zu machen. Sie würde jedes Opfer bringen, um sie zu unterstützen. Wenn Simone schreibt, dass Milène müde aussieht, steckt da etwas dahinter, denn Simone pflegt in solchen Dingen nicht zu übertreiben. Auch mit der besten Natur kann Milène ihr augenblickliches Tempo nicht durchhalten. Also herunterschalten! Mädchengemeinschaft in der Poudrière. Gibt es schon feste Pläne? Und wer würde mittun? Hier die paar Unterrichtsstunden, die mir vom „Juvénat“ (Jungenschule) der Ordensbrüder übertragen worden sind: Erdkunde Klasse 6 (30 Schüler, Allgemeine Erdkunde und Afrika) Mittwoch 11-12 Uhr Freitag 10-11 Uhr Klassen 4 und 5 (10 Schüler, Europa ohne Frankreich) Montag 16-17 Uhr Donnerstag 15-16 Uhr Katechismus Offizielle Schule Dienstag 12-12:40 Uhr Freitag 12-12:40 Uhr Lhh019 19641209 Mittwoch 14:30 Heute morgen ging der Brief für Milène weg. Ich hoffe, dass die Post bald die nötigen Briefmarken dafür hat. Denn sie hat keine mehr, wurde mir am Schalter gesagt. Deshalb muss der Brief zunächst mal warten. Irgendwann müssen die Briefmarken ja eintreffen! Die Schallplatte lasse ich durch P. Langavant bestellen; er ist um den 20. Dezember in Paris auf Heimaturlaub. Der heutige Erdkundeunterricht ist recht gut abgelaufen.
Ab und zu lege ich eine Pause ein, um mir die Füße zu vertreten und mich zu entspannen. Das dauert zehn Minuten, genug um mich an Szenen zu erinnern, die ich seit einem Jahr erlebt habe. Diesmal die Jugoslawienfahrt der Poudrière. 22:00 • Ich beende den Arbeitstag etwas später als normal. Immerhin habe ich noch eine Kopie der JTS-Blätter anfertigen können, ein Briefchen an die JTS in der Poudrière geschrieben und eine Karte an Pierrot. Heute Abend habe ich den zwei Patres mein „Geheimnis“ gelüftet. Wir unterhielten uns über die Postgebühren, als P. François mich fragte, welchem „Copain JTS“ ich so ausgiebig nach Brüssel schreibe. Ich sagte ihm, daß der „Copain“ eine „Copine“ sei, er hat es ja eh geahnt. Geografielehrerin („Bravo! Bravo!“), die Person, die meine Interessen in der Poudrière vertritt („Oulalaaa! Uiiii!“). Warum sollte ich es nicht sagen, schließlich bezahlt er ja die Briefmarken. Lhh019 19641210 Donnerstag 06:20 Die Glocke der nahen Kirche bimmelt den Engel des Herrn. Wer erledigt das, übrigens? Ich ziehe ein Paar Strümpfe an und gehe zur Messe. 08:00 Kaffee. Zimmer gekehrt, rasiert, Hemd ausgezogen; über Tag ist es mir im Hemd zu heiß. Den Arbeitstisch in Ordnung bringen – und das Bett machen. Die Arbeit kann beginnen. 18:00 Die Katechismusstunde war etwas unruhig. Möglicherweise bin ich zu professorenhaft. Die Aufmerksamkeit der Kinder war von einem Sturm gefesselt, der Massen von Staub ins Klassenzimmer hineinfegte. Glücklicherweise leben wir hier nicht in einer Wüste, - noch nicht! Nach der Katestunde gingen wir, P. François, etwa 20 Kinder und ich, im Ogoué (Ogowe) baden. Den Kindern gefiel das, und mir auch. Der Erdkundeunterricht verlief prima. Zu Beginn der Stunde müssen mir die Knaben drei Fragen schriftlich beantworten. So macht man sich verhasst. Die Burschen stöhnten, ich grinste. Jetzt muss ich unbedingt nach Hause schreiben. Gegen 22:00 Uhr. Drei Seiten an meine Mischpoche, eine an Simone. Auf der Post haben sie immer noch keine Briefmarken. Dann gute Nacht. Lhh019 19641211 Freitag Als ich gestern Abend zu Bett ging, hatte ich etwas Fieber. Sollte das eine gelinde Form von Sumpffieber sein? Trotz der täglichen Nivaquinetablette. Dem werde ich mich nicht entziehen können, es erwischt jeden. Ich habe mir sagen lassen, dass mit einer gewissen Hygiene das Fieber nicht ärger ist als eine Erkältung. • In der Nacht habe ich geträumt. Das geschieht oft. Dass aber Milène in meinen Träumen herumgeistert, das ist neu! Sie ist mit einem Flugzeug hergekommen, ich erlebte es sehr konkret und intensiv. Davon bin ich wach geworden und habe festgestellt, dass ich schweißgebadet war. Ein Fieberanfall.
Der Traum, ein Leben. Das Leben, ein Traum. Während des Träumens habe ich nie den Eindruck gehabt, dass es sich „nur“ um einen Traum handelte, um etwas Unwirkliches. Man erlebt tatsächlich Situationen, die man meist gleich nach dem Erwachen vergisst. Aber man hat etwas erlebt. Ein anderer bemerkenswerter Punkt des Traums ist die Kommunikation. Ich kann mich nicht besinnen, in welcher Sprache die Personen sich einander mitteilen. Und doch werden Dinge mitgeteilt. Vielleicht ohne akustische Sprache, von Gehirn zu Gehirn. Da tut sich eine Welt auf, die der wortlosen Kommunikation. Und wenn unser „konkretes“ Leben auch nur ein Traum wäre, aus dem wir eines Tages wachgerüttelt werden?! Man kann sich die Frage stellen, was Wirklichkeit eigentlich ist. Gibt es sie überhaupt, oder interpretiert unser Gehirn lediglich Impulse, die über die Nervenstränge eingeschleust werden? Gibt es eine absolute Wirklichkeit? Davon ausgehend stelle ich mir die Frage, woher unsere gelehrten Theologen und Philosophen ihr Wissen über die Natur Gottes und der Welt hatten. Natürlich war dieses Wissen von Gott geoffenbart, damit war jede Diskussion mit den Studenten überflüssig und des Teufels. So ist es: wer zweifelt, sündigt. Wenn Thomas von Aquin etwas Intelligentes sagt, dann ist das so, er ist ja ein Kirchenlehrer (oder Kirchenleerer?). Basta! Zurück zur „wirklichen“ Arbeit. Dazu gehört der Erdkundeunterricht. 21:00 • Vor dem Abendessen habe ich den Brief an Simone beendet, ein hartes Stück Arbeit, finde ich. Briefschreiben fällt mir nicht so leicht, wie es aussieht, ich muss mich konzentrieren können. Es gibt Momente, in denen ich mich nicht dazu aufraffen kann. Ich wage nicht, Simone eine Story zu erzählen, die nicht stimmt, denn sie erschnuppert das unmittelbar. Ich bin sicher, sie kennt unsere Verbindung besser als ich. Seltsam, ich habe ihr nie von uns beiden erzählt, habe ihren Sondierungsversuchen energisch widerstanden – und dennoch hatte ich seit Villach, seit der Rückkehr von Jugoslawien, den Eindruck, dass sie sich einen Reim auf unser Getue machte. Es gibt nur ganz wenig Menschen, denen ich mehr erzählen möchte, als nur, dass Milène Geografielehrerin ist. Meine Mutter gehört zu diesen Ausnahmen – und Simone. · Lhh020 19641212 (Samstag) • Vor einigen Wochen habe ich Milène ein rotes Baumblatt geschickt. Es gehört zum Bougainvillier, den ich hier im Gabun erst kennen gelernt habe. Der Strauch kommt von den Salomonischen Inseln, aus der Provinz Bougainville. Ein Herr Bougainville hat dieser Provinz und einer Stadt den Namen gegeben. Das weiß ich, weil ich in einem Nachschlagewerk wühlen musste. Bei dieser Gelegenheit habe ich mir die Frage gestellt, welche gängigen Obst-, Gemüse- und Baumsorten tatsächlich am Äquator heimisch sind. Bei Gelegenheit muss ich das nachprüfen. Einiges weiß ich heute schon: Maniok kommt aus Südamerika (wie unsere Kartoffel und Tomate). Die Kokosnuss, der Avokado, die Papaya kommen auch von auswärts. Ich glaube, auch die Palme ist Import. Mit einem Wort, die ehemaligen Afrikaner krepierten vor Hunger, wie unsere Ahnen. Ein Überleben ohne Maniok ist heute hier undenkbar, wie bei uns ohne Kartoffeln. • Dass die Afrikaner in ihrer natürlichen Umgebung dennoch überlebt haben, ist ein Beweis, daß sie an ihre Umwelt angepasst waren. Das nennt man „Kultur“. Auch wenn die blassen Langnasen aus Europa sie als Wilde behandelt haben. Ich habe mal gelesen, dass der Urwaldbewohner mindestens 1500 Pflanzen und ihre Eigenschaften gut gekannt hat. Hut ab! · Lhh020 19641213
Sonntag 9:30 Ein sonniger Sonntagmorgen. Nach der Messe habe ich mit Jean-Rémy, dem Boy der Station, die Wäsche weggebracht, etwas gegessen, die Ministranten in Schwung gebracht. Ich habe einen neuen Dauerschreiber, den dritten in Lambaréné. Vor mir liegen leere Papierblätter, die ich mit Sicherheit vollkritzeln werde. Violinkonzert von Mozart schallt aus dem Plattenspieler. Es passt zu diesem feierlich-heiteren Sonntagmorgen. • Milène schreibt, dass sie meine Freiheit nicht antasten will. Schön von ihr. Da schneidet sie eines der wichtigsten Themen der Menschheit an. Was ist Freiheit? Kann man wirklich total frei sein – und bleiben? Ich glaube, in meinem bisherigen Leben habe ich mich nie 100%-ig für eine Idee, eine Sache, eine Gemeinschaft engagiert. Innerlich blieb ich auf Abstand zu allem, auch zu den Idealen, zu denen ich mich ehrlich bekannte. Ich will frei bleiben und mein kritisches Denken nicht an der Garderobe abgeben. Im Seminar kam ich an dieser Erkenntnis nicht mehr vorbei: entweder sich selbst aufgeben und sich unterwerfen, oder eben nicht! Das erklärt, weshalb ich mir von Anfang an, auch schon im Missionshaus (St. Wendel), einen Freiraum reserviert habe. Fußmärsche, die nicht erlaubt waren, manche sogar in der Winternacht; Besichtigungen; musikalische Aktivitäten. Auch die Kontakte, die ich in Mödling mit Dorners hatte und, vor allem, mit Frau Willixhofers SOS-Familie bei Mödling. In der Bibliothek dokumentierte ich mich über die soziale Entwicklung der letzten 150 Jahre und stellte fest, daß die Soziallehre des Vatikans hoffnungslos mittelalterlich war (Ständestaat), sie kam 50 Jahre nach Marxens kommunistischem Manifest. Im anthropologischen Seminar profitierte ich von der großen Bibliothek, um mich über die Struktur anderer Kulturkreise zu informieren; das Ergebnis entsprach nicht den offiziellen Ansichten, die uns als hehre Prinzipien serviert wurden. Ich könnte noch einiges mehr nennen. Mit einem Wort, ich war mir nicht so sicher, dass und ob die Lehrmeinung der Kirche nicht eher dazu diente, ihre Macht zu erhalten und zu erweitern. Auch heute noch beobachte ich aufmerksam, was bei den Leuten und bei den Klerikern hier abläuft. Freiheit: frei von allem, ungebunden, ohne Verpflichtungen. Soll es das sein? Nein, denke ich, im Leben muss man Farbe bekennen. Also zunächst mal eine Farbe wählen. Dann wird die Freiheit „von“ eine Freiheit „zu“. Die Kräfte, die ich habe, muss ich für ein bestimmtes Ziel einsetzen, sie in einen Kanal lenken und sie auf eine Turbine leiten. Dieses Ziel will ich selbst wählen, ohne von irgend welchen Autoritäten dazu gedrängt und geschoben zu werden. Das ist der Konflikt, in dem ich mich bis auf weiteres eingerichtet habe. Ein Dauerzustand sollte er nicht bleiben. Aber dafür bin ich ja nach Afrika abgetaucht. Da fällt mir die Passage von Goethe ein, aus „Herrmann und Dorothea“: Freiheit ist der Zweck des Zwanges, Wie man eine Rebe bindet, Dass sie, statt im Staub zu kriechen, Froh sich in die Lüfte windet. Selbst an diesem poetischen Bild hätte ich Kritik vor zu bringen: In der Natur muss die Rebe aus eigener Kraft ein Mittel finden, um sich fest zu klammern und in die Höhe zu wachsen. Ohne menschliche Einmischung. Und die Traube dient nicht dazu, Wein herzustellen, sondern Tiere anzulocken, die sie verschlingen und so die Samenkörner in der weiteren Landschaft verbreiten. Wir Menschen erfinden so unsere ureigene Welt! • Am Mittag hatten wir ein festliches Abschiedsessen. Nach einer kurzen Siesta fuhr ich mit P. Langavant per Boot nach Lambaréné. Bevor er weg fliegt, will er ein schwerkrankes Mädchen und dessen Familie besuchen, um sich von ihnen zu verabschieden. Finde ich prima von ihm. Langavants Abschied stimmt mich etwas schwermütig. Ich verstehe mich gut mit ihm und glaube, daß er mich versteht. Um nicht in ein sentimentales Loch zu fallen, mache ich mich daran, Weihnachtsbriefe zu schreiben. 21:00 Zwei Briefe habe ich hingekriegt: nach St. Wendel, Missionshaus; an Pater Maas und Frater Michel Pesold. • Von Michel (Pesold) habe ich noch nicht erzählt. Ein Urbayer, Musiker, im Seminar St. Gabriel, 11/2 Jahr nach mir. Wir haben gemeinsam im Quartett und im Hausorchester gespielt. Ein sehr sympathischer Junge. Wir haben uns immer gut verstanden.
Als ich in meinen letzten Heimatferien in St. Wendel war, traf ich auch ihn. Nach der Philosophie setzen die meisten Fratres ein Jahr aus, um als Unterpräfekten und Lehrer in den Missionshäusern zu arbeiten. Ich richtete mich in seinem Zimmer ein; er erzählte mir Neuigkeiten von Wien und von der SVD. Ich berichtete ihm, was ich im vergangenen Jahr „in der Welt“ getrieben hatte. Dabei erwähnte ich auch unser Erlebnis in Chaumont, wo wir, Milène und ich, entschieden hatten, dass ich einige Zeit Abstand nehmen müsse, um mit mir selbst klar zu kommen. Nun packte auch er aus. Er hat eine gute Freundin, an der er hängt; sie will nicht von ihm lassen und möchte ihn unbedingt heiraten. Er liebt das Mädchen ebenfalls, fragt sich aber, was Gott von ihm erwartet. Das Ergebnis, jedenfalls vorläufig: Priestertum. Ihm sei das Herz zerrissen, erzälte er mir, als er dem Mädchen gegenüber hart bleiben musste, und er hoffte, dass sie eines Tage doch einmal Ja sagen werde zu seiner Entscheidung. Im Klartext heißt das wohl, dass die endgültige Entscheidung noch lange nicht gefallen ist. Weder für mich noch für Michel. Ich denke, er ahnt nicht, wie sehr er mir geholfen hat, indem er mir seine Geschichte erzählt hat. Er schien mich ein wenig zu beneiden, dass ich ein Mädchen gefunden hatte, das mich 100%-ig unterstützte. Ich versuche, ihm meinerseits zu helfen, wie ich kann. · Lhh020 19641214 Montag Nur ganz kurz. P. De Langavant braust heute Mittag ab. Habe zwei ganz kleine Päckchen hergerichtet. 1) Für Milène und ihre Mutter drei kleine Viecher; wie und wo ich sie gekauft habe, habe ich erzählt. Für Milène und Simone ein einfaches Armband aus Elefantenschwanzhaar (Welch ein Wort!). 2) Drei Tierchen für nach Hause. 3) P. De Lanvavant wird eine Schallplatte für Milène bestellen. Auf der Rückseite das Weihnachtslied: „Un enfant nous est né.“ Ein Kind ist uns geboren. Mir gefällt es sehr. 4) Für die Auslagen gebe ich dem Père 50 DM mit. Es sind die 50, die mir mein Freund Heinz Weisenstein beim Abschied gegeben hatte. Was übrig bleibt, kann er an Milène überweisen. 15:40 In zwei Minuten gehe zu den Brüdern: Erdkunde, England. Thema „Energiequellen“. Es gibt Energiequellen, die im Erdkundebuch nicht erwähnt sind... 18:40 1) De Langavant ist auf und davon. Der Abschied war leicht gerührt. Er ist wirklich „au poil“, prima! Ich hoffe sehr, daß Milène ihn im nächsten halben Jahr treffen wird. Unter anderem ließ er mir seinen Wecker zurück, so weiß ich jederzeit, was die Uhr geschlagen hat! 2) Erdkundeunterricht bei den „Großen“. Es gibt einige unter ihnen, die tatsächlich selbständig denken, - da macht der Unterricht Spaß. 3) Für die morgige Katestunde war mir ernstlich angst. Jetzt bin ich ein wenig zuversichtlicher. Wir werden ja sehen! Man darf nichts bei den Kindern voraussetzen. 4) Soeben sprach ich mit Doko, unserm Koch (ein sehr guter, übrigens!). Er hat fast geheult, als De Langavant wegfuhr. In seiner Familie scheint etwas nicht zu klappen. Er ist sehr arbeitsam, ruhig und solide, - aber er hat etwas auf dem Herzen. Jedenfalls war er glücklich, mir von seinen Kindern, seiner Arbeit usw. erzählen zu können. Wir werden P. De Langavant gemeinsam einen Brief schreiben.
5) Jetzt schreibe ich einen Brief nach St. Gabriel (Wien), nach 11/2 Jahren. Seither hat sich in meinem Leben einiges getan. 21:33 • Ich habe wieder mal einen gelinden Koller, ein Gefühl der Trauer, dass die Zeit, die Monate und Jahre, so schnell und unwiederbringlich verflossen sind. Das ganze Leben erscheint mir oft wie eine magere Handvoll Sand: im Nu ist es zerronnen. Und ich bin erst am Anfang! Oder ist die Frage verkehrt gestellt? Und man hängt an diesem Häufchen Leben, es ist so schön! Dennoch kann ein Hieb mit dem Buschmesser dem allen ein Ende setzen. Ich trage das Gefühl mit mir herum, dass Afrika in eine Epoche eintritt, in der es unheimlich viel bluten und leiden wird. Alles verliert seinen festen Platz und seine ursprüngliche Bedeutung, alles ist im Umbruch. Wir müssen viel für – und MIT – diesem Kontinent arbeiten. Der Brief nach St. Gabriel ist fertig: kurz, knapp, alles drin. · Lhh020 19641215 Dienstag 07:45 Ich hab es mal wieder mit der Angst zu tun. Dieses dumme Gefühl, das mich nur selten loslässt. Kommt das • von den Kriegserlebnissen? Könnte es sein, dass ich häufig eine Gefahr klarer und eher erkenne als andere? Alles, was mir neu und unbekannt ist, lässt mich zaudern, schickt mir Angstblitze durchs Gehirn. Vor allem der Gedanken an die Zukunft, die schwarz wie Tinte ist, jagt mir manchmal einen heimlichen Schreck ein. Auch hier in Afrika erwischt mich diese Regung, und jetzt ganz besonders. Andererseits sage ich mir, dass Angst eine Chance sein kann (wie das Heimweh); ich muss meine Schwachheit und mein Unvermögen erkennen und wegarbeiten (sofern möglich!). Ein Mensch, der keine Angst verspürt, ist nicht mutig, sondern nur unwissend – oder blöd! Ich habe den Roman „Begnadete Angst“ von Bernanos („Les Dialogues des Carmélites“) gelesen. Gertrud von Le Fort hat über dieses Thema einen Roman geschrieben: „Die Letzte am Schafott“. Zuhause steht es bei meinen Büchern, ein kleines Bändchen. Das Angstthema wird in diesen Werken eingehend behandelt. Ich glaube, es gibt viele, die mich für mutig, ja wagemutig halten. Irrtum! Mein mutiges Gebaren ist einfach die Flucht vor der Angst, die mich lähmen will. Ich stürze mich ins Wasser, um mich zu zwingen, das Schwimmen zu lernen. Darüber habe ich bisher mit niemandem gesprochen, auch nicht mit meiner Mutter. Milène ist die erste Person, der ich dies anvertraue. Sie soll mich kennen, wie ich bin, nicht wie ich aussehe (oder aussehen möchte). 12:25 Weiß der Kuckuck, wo der P. François steckt. Er hätte vor 12 Uhr herkommen sollen, um mich für den Katechismus abzuholen. Hoffentlich ist ihm mit dem Lastwagen nichts geschehen! • Für den Katechismus habe ich eine Geschichte vorbereitet: Ein junger indischer König, der einer seiner Städte seinen nahen Besuch melden lässt. Während die ganze Stadt einen prunkvollen König mit Gefolge erwartet, kommt ein heruntergekommener Bettler an. Der ist ungelegen; die Stadtväter wollen ihn vertreiben. Die Stadtbewohner hetzen ihn durch die Straßen, kein Haus öffnet ihm die Tür. Im letzten Augenblick öffnet ein armer Junge dem Bettler die Tür seiner engen und dunklen Kellerbehausung. Am darauffolgenden Tag hält der König mit Pracht und Glanz Einzug in seine Stadt. Die Leute sind auf den Beinen, alle verneigen sich vor ihm. Die Notablen empfangen ihn feierlich. Nun gibt sich der König zu erkennen: er ist der Bettler, der gestern aus der Stadt verjagt werden sollte. Den Jungen, der ihn bei sich aufgenommen hat, nimmt er mit in seinen Palast. Die Stadtväter bereuen ihren Fehler, der König verzeiht ihnen. Happy End.
Diese Geschichte habe ich bei einer (privaten, unerlaubten) Adventsfeier mit „meiner“ Familie im SOS-Kinderdorf in Hinterbrühl den Kindern vorgelesen. Die anschließende Diskussion war sehr interessant und fruchtbar. Die Kinder hatten ein waches Verständnis für das Thema. Da fällt mir ein, der Mutter dieser Familie (Frau Willigshofer) muss ich ein Weihnachtsbriefchen schreiben. Ich beginne sofort. · Lhh020 19641216 Mittwoch 08:00 Sofort an die Arbeit. Nachher gibt es einiges zu erzählen! 22:10 Denkste! Aus dem Erzählen wird heute Abend nichts. Dann eben später. · Lhh020 19641217 Donnerstag 07:45 Der Père François ist nicht da, ich kann meinen Brief nicht abschicken. 18:35 Ich triefe vor Schweiß, es ist drückend heiß. Ständig hängen schwere Regenwolken am Himmel, die sich ab und zu über uns ergießen. Das nennt sich Regenzeit. • Milène schildert mir aus derPoudrière im Detail wie Luc versucht, sie herum zu kommandieren. Und wie sie in Rage gerät und versucht, ihn zur Räson zu bringen. Es ist höchste Zeit, dass ihm klar gemacht wird, dass niemand Milènes Herr ist, auch er nicht. Und sie ist nicht seine Untertanin. Basta! Es gibt nur eines: den Jungen mal gründlich abbürsten! Und, bitte, Luc gegenüber keinen Schuldkomplex entwickeln. Es gibt keinen Grund, sich für die energischen Rüffel zu entschuldigen. Im Gegenteil. Im andern Fall würde er sich bestätigt finden, seine Illusionen würden nur noch größer werden. Luc hat sehr wohl Milènes Wert erkannt, wie so manch anderer in der Poudrière. Er möchte zu ihrem Intimkreis gehören. Statt die Sache wachsen und sich entwickeln zu lassen, will er sie zwingen, seine besondere Freundin zu sein. Milène hat mir schon so viel von ihm geschrieben, dass mir sein Charakter allmählich klar wird. Außerdem ist er mir ja nicht unbekannt. Eine für Luc typische Formel ist: „Warte mal, es wird mir schon noch gelingen, Dich zum Erröten oder zum Heulen zu bringen.“ Er benutzt diesen Stil, wenn er ein Mädchen vereinnahmen will. Ein Mensch, der einen andern in seine Verfügungsgewalt bringen will. Er will die andere Person von sich abhängig machen. Es geht ihm nicht um Milène und ihr Glück, sondern um das Gefühl, diesen Menschen zu „besitzen“. Wenn Luc Milène wirklich bewundert und anbetet, wie er behauptet, mag sie ruhig auf Distanz zu ihm gehen. Das wird er lebend überstehen. „C'est un ordre du Patron!“, sagt er. - Ein Befehl des Chefs! So ein Quatsch! Sind wir schon so weit, dass der Père Léon (vielleicht ohne es zu wissen), zum Chef hochstilisiert wird?! Die Regel, um 17 Uhr samstags Schluss zu machen, kommt nicht vom P. Léon, sondern wurde so von der Gruppe beschlossen. Wir haben monatelang darüber debattiert und sind zu dem Schluss gekommen: Am Samstag ist um 17 Uhr Feierabend. Luc soll seine autoritären Kategorien dort lassen, wo sie hingehören, in der Mottenkiste. Ich habe öfter mit ihm diskutiert und war stets überrascht, wie simpel er gestrickt ist: oberflächlich, vereinfachend, radikal und sogar egozentrisch. Eine solche Mentalität auf die Poudrière übertragen zu wollen wäre deren Untergang.
• Milène schildert mir eine amüsante Szene in drei Akten: Akt 1) Anne-Marie bittet Milène, in den „kot à loques“, den Textilraum, zurück zu gehen, wo noch gearbeitet werden muss. Milènes Antwort: „Ich will ja schon, aber Luc ist nicht einverstanden.“ Ein grober Fehler! Lucs Ansicht ist ohne Bedeutung; die Gruppe hat beschlossen, die Lumpen und Kleider zu sortieren. Deshalb! Luc hat in der Poudrière nicht herum zu kommandieren! Akt 2) Anne-Marie: „Jetzt verstehe ich warum Luc Dich einzigartig findet: weil Du ihm gehorchst!“ Ausgezeichnete Bemerkung Anne-Maries, sehr gut von ihr beobachtet! Gerade wenn es um die persönliche Freiheit geht, ist Anne-Marie ziemlich kitzlig und empfindlich. Akt 3) Milène: „Ich habe einen Blick nach Luc geworfen – und mein Entschluss stand fest: Der kann mich mal!“ Soll er die beleidigte Leberwurst spielen!. Diese Begebenheit gibt nicht viel her, die Geschichte gefällt mir dennoch. Lhh021 19641218 Freitag 18:15 Vor zwei Minuten bin ich von einem kurzen Spaziergang zurück gekommen. Ich war bei den Brüdern, um nachzufragen, ob sie mir dünnes Schreibmaschinenpapier geben könnten. Aber die haben auch nichts. Glücklicherweise fand ich noch drei blaue Blätter im Koffer. Aus bestimmten Gründen will ich P. François nicht damit belästigen. • Bei den Brüdern übte ein Lehrer mit einem Jungenchor „Stille Nacht, heilige Nacht“ ein. Vierstimmig. Der Gesang war in der Nachbarschaft zu hören; verglaste Fenster kennen wir hier nicht. Die Jungen sangen mit Begeisterung und ziemlich gut. Und ich sang draußen mit. Mir ist schon öfter aufgefallen, dass Melodien von deutschen Volksliedern häufig zu hören sind. Mit anderen Texten. • Heute Morgen erhielt ich einen sehr schönen Brief von meiner Mutter. Endlich! Sie kann also auch anders als nur krakeelen. Ich vermute, der Besuch, den Milène und ihre Mutter in Fraulautern gemacht haben, ist nicht ohne Folgen geblieben. Maria will an Neujahr nach Brüssel fahren. Jetzt sind noch ein paar Weihnachtsbriefe fällig. Bloß niemanden vergessen! 22:25 • Von Fräulein Schnee habe ich ein nettes Briefchen erhalten; sie hat auf das Blatt eines Notizbuchs geschrieben. Durch Pater Meyer habe ich ihr mitteilen lassen, dass ich drei der Tierchen mit in die Schweiz gegeben habe, für ihre Schwester. Die „kleine Schwester“ scheint Krankenpflegerin zu sein. Ich brauche ihre Adresse. Lieber Herr Heini! Vielend Dank für die Zeilen. Dem Schweizer haben Sie die netten Sachen mitgegeben, das haben Sie ausgezeichnet gemacht. Gerne werde ich in zwei Wochen die Viecher begleichen. Ich gebe Ihnen die Adresse von meiner kleinen Schwester an. Sie wird sicher große Freude haben. Vielen herzlichen Dank, Hedy. Sehen Sie bitte das Schreibpapier nicht an, aber wir sind doch in Afrika! (Adresse: ....) Dieses Briefchen hat mich sehr gefreut, es bestätigt die Meinung, die ich mir von Hedy (oder Heidi, ich kannte ihren Vornamen bisher nicht) gemacht habe: etwas eilig, klar, offen, ohne Schnörkel und Verzierung. Ihr direkter Stil gefällt
mir. Sie scheint hausmütterlich zu sein. Ein klarer Verstand und ein warmes Herz. Wenn die wüsste, dass ich sie beobachtet und analysiert habe, seit ich ihr begegnet bin. Vielleicht wird sie es irgendwann mal erfahren. Auf dem großen runden Tisch, an dem ich schreibe, sieht es aus wie in einem Gemüsegarten, der so vor sich hin wuchert. Lhh021 19641219 Samstag 11:30 Wir haben einen jungen elsässischen Pater (Fischer) zum Flugplatz gebracht, auf der anderen Seite des Flusses. Danach einige Einkäufe, unter anderem 500 Blatt DIN-A4 dünnes Durchschlagpapier (7,80 NF); das reicht für einige Monate. 15:30 Nach der Siesta zurück an die Arbeit. 21:25 Wieder mal Besuch: der Bischof von Mouila. Ein netter Mann. Er erzählte vom Konzil, vom Kongo-Brassaville, der an die Provinz Mouila grenzt. Und natürlich vom Gabun. Heute morgen habe ich mich am Flughafen abgewogen: 65 Kilo, 5 Kg habe ich also seit Brüssel weggeschwitzt. Bis heute bin ich noch keinen Tag krank gewesen, die Gesundheit scheint recht stabil zu sein. Und damit dies so bleibt, verkrieche ich mich gegen elf Uhr ins Bett. Lhh021 19641220 Sonntag 08:00 Ich habe das Gefühl, dass heute eine für mich wichtige Entscheidung getroffen wird. Wenn es sein muss, werde ich dabei nachhelfen. Denn es ist noch nicht endgültig und sicher, dass ich in Lambarene bleibe. • Seit P. De Langavant weggefahren war, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Die beiden Patres, die die Stellung hielten, blieben freundlich, korrekt – und glatt. Heute Morgen habe ich das Thema brutal auf den Tisch gelegt. Ich erklärte ihnen, dass ich genug habe von der Geheimnistuerei; ich verlasse Lambarene sofort, wenn sie der Meinung sind, dass ich finanziell oder sonstwie nicht tragbar sei. Sie jammern ohne Unterlass über die vielen Schulden. 11:00 Die Kuh ist vom Eis! Soeben sagte mir P. François, dass P. Pinus von Libreville ein Telegramm geschickt habe, ich solle zurückkommen. Das trifft mich zwar, aber ich bin nicht unvorbereitet. P. François schlug vor, dass ich über Weihnachtsferien hier bleibe. Das schlage ich dankend ab. Morgen fahre ich mit dem ersten Auto nach Libreville. Es wäre dumm, wenn es so aussehen würde, als hätten wir uns in Unfrieden getrennt, als gebe es Unstimmigkeiten zwischen uns. Oder bin ich naiv? Es scheint tatsächlich eine Geldfrage zu sein. Ich wäre bereit gewesen, bei den Brüdern noch zehn oder zwölf Unterrichtsstunden zu übernehmen, so dass sie und die Patres je die Hälfte der Kosten getragen hätten. Der Her- und Rückflug wiegt schwer auf ihrem Budget. Die Kosten scheinen ihre Möglichkeiten zu übersteigen.
• Dies ist für mich die erste einschneidende Zäsur in Afrika. Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben, jedenfalls nach außen. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, der Fußball zu sein, auf den jeder eindrischt, ihn von einer Ecke zur andern tritt. Was die „Leute“ dazu sagen, ist mir piepegal. Mal sehen, wie Milène darauf reagiert. Ich bin halt noch ein Lehrjunge. Soweit ich weiß, werde ich in Libreville starken Kontakt mit anderen Katechisten haben, was mir viel helfen wird. Außerdem kommen Milènes Briefe schneller an, hoffe ich. Deshalb freue ich mich auf den Sonntagabend! • Einen leichten Tadel kann ich den Patres hier nicht ersparen. Wir haben gut zusammen gearbeitet, sind sogar ein wenig Freunde geworden. Sie hätten von vorne herein offener sein sollen und die Situation klar darlegen. Karten auf den Tisch! Mit dem Abbé wird das heiter werden. Versuch mal einer, ihm die Gründe meines Umzugs klar zu machen. In den letzten Tagen hat er mir begeisterte Karten geschrieben, mir gratuliert, dass ich geblieben bin usw. usw. Für ihn, der in den Wolken schwebt, wird das ein harter Schlag sein! Jedem das Seine. Ich bin augenblicklich bedient! 12:30 Mein Koffer ist gepackt, ich habe Routine. • Fräulein Schnee war eine halbe Stunde hier. Es scheint ihr wirklich leid zu tun, dass ich das Weite suche. Sie war gerührt, als wir voneinander Abschied nahmen. Das tut gut. Ich ließ ihr meine Adresse zurück, sie versprach, dass sie schreiben werde. Und wenn eine Schweizerin etwas verspricht.... In der halben Stunde, die uns verblieb, erzählte ich ihr das Wichtigste über die Poudrière, wie ich nach Afrika kam und was ich so in den Hinterhöfen Brüssels getrieben habe. 14:20 Eine halbe Stunde Siesta. Morgen muss ich in Form sein, die Fahrt ist anstrengend. Es ist sehr heiß. 18:15 Besuch bei Josef und bei einer Familie Missionshelfer, um mich zu verabschieden. Natürlich wünsche ich ihnen alles Gute. • Kein Grund, um den Mut zu verlieren. Wenn ich augenblicklich als Heimatloser durch die afrikanische Landschaft streune, weil niemand so recht weiß, was er mit mir anfangen soll, muss ich doch an die Menschen denken, denen es echt dreckig geht. Zu denen gehört unser Freund Josef. Er sagte mir, es sei Zoff im Haus zwischen dem Mann, einem Europäer, und seiner Frau, einer Afrikanerin. Sie trinke und könne mit dem kargen Haushaltsgeld nicht wirtschaften. Es scheint, dass Monsieur ihr fast kein Geld gibt. Mir fiel auf, dass heute die Stimmung gespannt und niedergedrückt war. Die Kinder machten einen etwas verstörten Eindruck, die Frau war dem Heulen nah, sie scheint nicht weit von einer Nervenkrise zu sein. Ihr Lachen hat mich erschreckt. Sie beneidet mich, dass ich nach Libreville fahre, dort gebe es Abwechslung, Kino, Schaufenster. Hier hocke sie in einem Gefängnis, sie sei eine Gefangene, dürfe nie ausgehen und langweile sich zu Tode. Sie erklärt, dass es so nicht mehr weiter gehen könne. Sie hatte ein Tischtuch gestickt und war damit beschäftigt, eine Spitzenborte anzunähen. Ihr Mann, der Europäer, war mit der ältesten Tochter und einem Freund weggefahren. Überall im Haus gähnten Langeweile und Verdruss. Ich verstehe, dass die Frau ihr Elend im Alkohol ersäuft. Sie ist sehr nett, nicht ungeschickt und sauber. Sie bräuchte einen Mann, der sie ehrlich liebt und ihre Qualitäten anerkennt. Josef erzählte mir von dem Mann. In Frankreich verheiratet, vor etwa 16 Jahren, eine Tochter, abgehauen. In Afrika bekam er mit einer Afrikanerin ein Kind (oder Kinder, das war nicht sehr klar), und zwar mit derjenigen, mit der Josef jetzt zusammenlebt. Ein Lutschbonbon, der vom einen zum andern gereicht wird. Seine französische Frau versucht, von ihrem Mann die Alimente zu erhalten, die er ihr und der Tochter schuldet. Aber er konnte sich bisher durchschwindeln. Seine jetzige Frau in Afrika, mit der er Kinder hat, ist die zweite. Außerdem soll er an verschiedenen Orten noch andere zurückgelassen haben. Voilà die Europäer, die den“ afrikanischen Wilden“ die Segnungen der christlich-westlichen Kultur bringen wollen! Ähnliche Fälle gibt es hier jede Menge!
20:20 • Soeben bin ich bei den Brüdern gewesen. Wir haben einen Whisky getrunken. In den letzten Wochen sind wir Freunde geworden. Besonders mit einem afrikanischen Bruder verstehe ich mich sehr gut: jung, natürlich, unkompliziert. Wir duzen uns. Ich hätte gerne noch mit ihm zusammen gearbeitet, besonders da der Kontakt mit den Jungen recht gut geworden ist. Ich scheine nicht mehr der „böse“ Lehrer zu sein. In letzter Zeit, ist mir die Hilfsbereitschaft der Schüler aufgefallen. Wenn ich mal den französischen Ausdruck nicht fand, haben sie mir nach Kräften geholfen, ohne Schadenfreude. Oft haben wir gelacht über einen meiner Ausdrücke, aber es war nie verletzend. 22:00 Was mich heute besonders freute, war der Abschied von der Schweizerin. Ich habe die fixe Idee, dass sie sich näher für die Poudrière interessieren könnte. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, dass morgen alles gut abläuft. Lhh021 19641221 Montag Fahrt von Lambarene nach Libreville. Gegen acht Uhr ist der Bus an der Mission vorbeigekommen, P. François hatte ihn herbestellt. Der Abschied war recht freundlich, sogar herzlich. Wir schieden als Freunde. • Der Bus war voll. Eine reizende Reisegesellschaft. Vor allem Frauen, die mit Hühnern, Körben voller Maniok, Kokosnüssen und sonstigem versuchten nicht vom Sitz zu fallen. Kinder jede Menge. Dabei wurde geschnattert und gegessen. Die meisten teilten ihre karge Verpflegung mit den andern. Sie akzeptierten mich, wofür ich ihnen dankbar bin. Eine junge Frau steckte in der Menge, sie hatte zwei kleine Mädchen, eine jünger als zwei Jahre, die andere mehr als zwei; dazu noch ein Baby, einen Jungen, der nur einige Monate alt war. • Um 8 Uhr morgens kam das Auto an der Mission vorgefahren. Ein nagelneuer Mercedes-Kleinbus, 17 Sitze, der seine erste Fahrt unternehmen sollte. Im rückwärtigen Teil saß eine junge Frau mit drei kleinen Kindern, zwei Mädchen von etwa 21/2 und 11/2 Jahren, und ein Junge von sechs Monaten. P. François kannte die Frau und begrüßte sie herzlich. Eine andere Frau saß im Fonds mit ihrem fünfjährigen Jungen (Guy). Einige Männer hockten ebenfalls im Wagen. Fahrplan gab es nicht, Uhren sind ebenfalls selten. Die Stimmung war ausgezeichnet, die Afrikaner unterhielten sich laut und lachten ohne Unterlass. Wenn ein Afrikaner lacht, und das tut er gern und laut, öffnet sich der Mund von einem Ohr zum andern. Mein Salzburgerhut erregte Aufsehen, er wurde ausgiebig kommentiert. Die Kinder probierten ihn sofort auf ihren Krausköpfen aus, auch die Mutter setzte ihn auf. Es dauerte mindestens eine halbe Stunde, bis wir Lambarene verlassen hatten. Der erste Aufenthalt war an der Fähre; wir warteten auf den Nachen, um über zu setzen. Und dabei waren wir nicht allein. Man darf nicht ungeduldig drängeln. Alles braucht eben seine Zeit. Nun kramte ich die beiden Mundharmonikas aus, die mich überall hin begleiten. Ich hatte dankbare und interessierte Zuhörer. Ich versuchte, Lieder zu spielen, die auch hier bekannt sind. Einige Insassen sangen mit, zum Beispiel „La Bohême“. Das größere der beiden Mädchen machte erstaunte und erfreute Kulleraugen. Mit Frau Mama trällerte sie mehrere Kinderliedchen, und dies sogar recht gut. Musik verbindet! Welcher Idiot hat behauptet, dass die Afrikaner keinen Sinn für Humor, Musik und Kultur haben!? Die Musikeinlage machte dem werten Publikum sichtlich Spaß. • Inzwischen mussten wir alle aufrücken. Die Frau mit dem kleinen Guy kam neben mich zu sitzen. Das Auto war voll wie ein Heringfass. 26 Menschen! Ich wiederhole: 17 offiziell zugelassen, aber wen kümmert das schon! Unter den Sitzen lagen Bananen, Hühner, die in eine Binsentrommel eingesperrt waren, eine kleine Antilope und vieles mehr. Der Wagen war bis zur äußersten Grenze beladen.
Nach zehn Minuten war mein kleiner Nachbar damit einverstanden, auf meinen Knien zu sitzen; er konnte nach draußen schauen, da ich einen Fensterplatz hatte. Er hielt die Stellung – mit nur wenigen und kurzen Unterbrechungen – bis abends 19 Uhr. Die Leute wurden schläfrig. Guys Mutter döste vor sich hin, alle fünf Minuten fiel ihr Kopf gegen meine Schulter. Ich unterhielt mich mit Guy und merkte, dass die Frau hinter mir allerhand Arbeit mit ihrem kleinen Gemüse (Kinder) hatte. Die Mundharmonika war das Wundermittel, um die Kinder zur Ruhe zu bringen. Ich spielte einige Stücke, sie wollten natürlich auch in das Instrument blasen. Jedes kam an die Reihe, ganz demokratisch, auch die Allerkleinsten. Sie waren selig, besonders Clarisse. • Als nach einiger Zeit ein wenig Platz im Wagen frei wurde, kam Clarisse zu mir. Guy hockte auf meinen Knien, das Mädchen stand neben mir, legte ein Ärmchen um mich und bettelte um das „Radio“. Wer kann da noch Nein sagen? Sie bekam eine meiner Harmonikas, um hinein zu blasen. Natürlich musste ich es dann jedem erlauben. Guy wurde eifersüchtig. Ich habe erfahren, dass er das einzige Kind seiner Eltern ist, der kleine Prinz. Ich musste aufpassen, dass er sich nicht vernachlässigt fühlte. Eine Viertelstunde lang, glaube ich, war er mir böse; er rutschte von meinen Knien hinunter und setzte sich ganz allein auf einen freien Sitz. Es passte ihm nicht in den Kram, dass ich mich mit Clarisse abgab. Der junge Herr war also schon machistisch angehaucht, wie es sich hier gehört.Dann muss er eben lernen, dass die Mädchen ebenso viel wert sind wie er. Nachdem Guy genügend geschmollt hatte, kletterte er wieder auf meine Knie und wir machten einige Kinderspiele. Die Kleinen unterhielten alle Mitreisenden und brachten Leben in die Bude. Alle schauten her, lachten und sangen mit. Mit einem Wort, die Reise verlief prima. Nach der zweiten Fähre, vor zwei Uhr nachmittags, wurde Clarisse müde. Sie legte ihren kleinen Wuschelkopf auf meinen Schoß und war im Nu eingeschlafen; auch nicht das ärgste Rütteln und Schaukeln konnten sie wecken. Guy, seinerseits, hielt die Stellung, aber nur auf meinem linken Knie, das andere war besetzt. Bei der dritten Fähre mussten wir, so wie bei den vorangegangenen, aussteigen. Clarisse schlief weiter, kuschelte ihr Köpfchen an meine Schulter und hielt sich mit den Ärmchen an meinem Hals fest. So ist es mir früher oft ergangen, wenn ich eines der Geschwister auf dem Arm herumtrug: eine Handvoll warmen, pulsierenden Lebens. Ein rasches, kräftiges Atmen, manchmal ruckweise, kleine Bewegungen, wenn sie im Traum etwas erlebte. In der prallen Sonne setzte ich ihr meinen Hut auf den Kopf. Bei der Fähre kaufte ich eine Flasche Zitronenlimonade. Seit halb acht hatte ich nichts mehr getrunken und fühlte mich ausgedörrt wie ein Stockfisch. Clarisse, die inzwischen erwacht war, trippelte brav neben mir her, ohne die geringste Furcht; ihre Mutter war beim Bus zurückgeblieben, als wir den improvisierten Allerweltsladen aufsuchten. Die Flasche teilte ich gerecht unter die Mütter und die Kinder auf; natürlich bediente ich mich auch selber. Dann ging die Fahrt weiter. Wir waren dem Ziel schon ein gutes Stück näher gekommen. • Gegen 13 Uhr müssen wir wohl den Äquator überquert haben. Hier blieb unser kleiner Mercedesbus im Schlamm stecken. Wir mussten eine halbe Stunde auf einen Lastwagen warten, der uns aus dem Dreck ziehen konnte. Aufregung deswegen bei Fahrer oder Gästen? Fehlanzeige. So etwas gehört zur Reise. Nun wollte auch Guy pennen. Es dauerte nicht lange und ich hatte zwei Kinder in den Armen; die Kleinen waren fest eingeschlafen. Erst zehn Kilometer vor Libreville wurden die Gören wieder lebendig, erzählten, sangen, lachten. Guy stieg mit seiner Mutter nebst Bananen, Festtagshuhn und vielem anderen Gepäck als erster aus. Es war schon dunkel geworden. Um halb acht hielten wir bei der Kathedrale, dort musste ich den Bus verlassen. Ich tat es mit Bedauern. Während der Beifahrer meinen Koffer vom Dach angelte, unterhielt ich mich mit meiner neuen Freundin durch ein Fenster des Wagens. Ich sprach ganz normal und „erwachsen“ zu ihr, so wie ich es immer mit Kindern gehalten habe. Ich habe schon oft bemerkt, dass die Erwachsenen die Kinder wie vertrottelte und verblödete kleine Unwesen ansprechen. Dabei will ein Kind nur eines: erwachsen werden. Deshalb mein normaler Ton, wenn ich mit ihnen zu tun habe. Sie spüren das sehr wohl, fühlen sich ernst genommen und antworten darauf in der gleichen, aber kindlichen Weise. • Mit ehrlichem Bedauern nahm ich Abschied von jedem Wageninsassen. Die Reise von elf Stunden im afrikanischen Busch hatte aus uns eine Art Familie gemacht. Besonders dankbar war ich den beiden Müttern, die mir ihre Kleinen ohne Zögern anvertraut hatten. Auch hier ein Unterschied, finde ich, zu Europa, wo die Kinder gehegt, gepflegt und, vor allem, geschützt werden. Wenn hier die Mutter dem Baby die Flasche gab, nahm ihr Nachbar, ein Mann von etwa vierzig Jahren, das kleinere Mädchen in seine Obhut. Das scheint zur Kultur in Schwarzafrika (Bantus) zu gehören: die Kinder gehören allen, nicht nur den Eltern. Das äußert sich
dadurch, dass die Eltern sich nur wenig um die Kinder kümmern. Die Kleinen formen Banden und sind überall zuhause, in jeder Hütte. So lernen sie ihre Welt kennen, auch die Gefahren! Unmittelbar nach dem Krieg war es in Fraulautern so ähnlich. Die Nachbarn und viele andere Bekannte gehörten zum Familienverband. Als kleiner Junge fühlte ich mich bei ihnen zu Hause. Und ich lernte viel dabei. • Während dieser Reise hatte ich keine Zeit, irgendwelchen traurigen und trübseligen Gedanken nachzuhängen; die Kinder hielten mich davon ab. Das tat mir gut. Ich stellte (und stelle) mir oft die Frage, weshalb die Kleinen gern zu mir kamen, und ich zu ihnen. Mit den Erwachsenen hingegen finde ich oft keinen Kontakt, oder doch nur schwer; mit ihnen bin ich steif, grob, unterkühlt. • Besonders freute mich, dass fast alle im Bus einige bekannte Weihnachtslieder mitsangen: Stille Nacht, O Tannenbaum, Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen. Woher kennen die Leute diese Gesänge? Mit einem Wort, die Fahrt verlief blendend. Ich bedauerte, dass sich in Libreville die Reisegesellschaft auflöste. • Im Centre war der Empfang herzlich und unkompliziert. Ich erfuhr, dass das Projekt Lambaréné eine Pleite war. Stimmt. Drei JTS sind dort abgesetzt worden, und alle drei sind wieder hier in Libreville. Wie P. Pinus mit uns JTS fertig wird, ist mir nicht ganz klar. Wir werden sehen. Spät abends beziehe ich mein Zimmerchen. Es gefällt mir. Blick auf die alte, etwas verlotterte Kirche, die neue Kathedrale und das Meer. Die Zeichnungen der Kinder auf der Fahrt von Lambarene nach Libreville:
Lhh021 19641222 Dienstag 17:00 • Die in Lambarene verbrachte Zeit verbuche ich als Pleite. Gestern Abend hielten wir eine kurze Versammlung ab. Ich erzählte nach bestem Wissen und Gewissen, wie die Dinge in Lambarene lagen. Da sagte mir Henri Milesi (er ist mal wieder hier, der „Missus Dominicus“), der Hauptgrund meiner Abberufung von dort sei meine zu kategorische Haltung. Wo hat er das nun her? Und die zwei andern, Jean-Louis und Jean-Claude, die nach nur einigen Tagen Aufenthalt Lambarene sang- und klanglos verlassen haben? Auch zu kategorisch? Vielleicht hat er Recht. Aber, bitte, auf was stützt er dieses Urteil? Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich dazu neige, die Dinge und Personen in Kategorien zu stecken. Auch meine kritischen Bemerkungen sind nicht immer hilfreich, da sie brutal sein können. Sollte das der Fall gewesen sein, warum hat niemand den Mut gehabt, mich darauf aufmerksam zu machen, wenn ich ins Fettnäpfchen trat? Weshalb waren sie so zuvorkommend und liebenswürdig mit mir? Auch wenn es mir schwerfällt, bin ich jederzeit bereit, meine Fehler einzugestehen; man muss sie mir nur glaubhaft darlegen. • Seit gestern Abend also bin ich im permanenten Zustand der Gewissenserforschung: Wo und wann war ich zu kategorisch? - Bisher fand ich, trotz angestrengten Suchens, nur einen Punkt. Ich hatte einmal P. De Langavant meine Eindrücke über P. François mitgeteilt, dabei aber betont, dass ich diesen noch nicht genügend kenne. Im übrigen habe ich mich, scheint mir, bewusst zurückgehalten, da ich wusste, dass ich Afrika nicht mit meinen europäischen Maßstäben messen kann. Zu echten persönlichen Gesprächen oder gar Auseinandersetzungen ist es nicht gekommen. Am Sonntag, als P. François mir das Telegramm von P. Pinus zeigte, bat ich ihn, mir endlich klaren Wein einzuschenken und mir zu sagen, ob persönliche Gründe ausschlaggebend seien oder mitspielten. Er verneinte. Ich erwiderte ihm: „War ich etwa zu kalt, zu hart?“ - Seine Antwort: Im Anfang sei das der Fall gewesen. Während der ersten Wochen habe auch De Langavant Bedenken geäußert. Dann aber sei es bedeutend besser gegangen und wir hätten gut zusammengearbeitet. Der wirkliche Grund meiner Abberufung sei tatsächlich nur die Geldfrage. Ich bin P. François dankbar, dass er mir seinen Standpunkt dargelegt hat und hoffe, dass dieser den Tatsachen entspricht. • Nun komme ich nach Libreville und muss mir vorhalten lassen, der Hauptgrund sei meine Sturheit und mein vorschnelles Urteil. Wo ist die Wahrheit? Wo sind die Beweise?
• Mein neuer Wirkungskreis in Libreville wird hauptsächlich aus Büroarbeit bestehen. Nicht sehr angenehm, aber nützlich. Viel Papierkram: Rechnungen bezahlen, Briefe schreiben, Post besorgen, den Schülern ihren mittäglichen Imbiss besorgen und verkaufen, halbmonatliche Lohnauszahlung, das Kontobuch des Centres führen. Außerdem soll ich für die Küche (Georges hat dort das Regiment) die nötigen Einkäufe tätigen. P. Pinus ist ein prima Mann, allerdings muss man sich an seine trockene Art gewöhnen. Ich kann ihm alles sagen und er schenkt mir vollkommenes Vertrauen. Wenn er eine Meinung hat, drückt er sie direkt und unverschnörkelt aus. Wöchentlich werde ich eine Stunde Katechismusunterricht geben. Pinus wird mich in der kleinen Schule und bei dem Lehrer einführen. Ich bin gespannt. Die äußeren Lebens- und Arbeitsbedingungen sind hier günstiger als in Lambarene. Vor allem mehr Kontakt. Trotzdem: Poney hatte wohl recht, als sie mir einmal sagte, ich habe einen „sale caractère, einen üblen Charakter“. Was nicht heißt, dass sie ein Engel in Lichtgestalt ist, als welcher viele sie verehren. • Noch ein Punkt: Ich muss mich mehr mit den JTS abgeben, statt mich auf mein Zimmer zu verkriechen, um dort erhabene Briefe zu schreiben. Den meisten Jungen fehlt es an Reife und Ausgeglichenheit. Da kann ich vielleicht ein wenig gegensteuern. Ob die Oberste Heeresleitung das auch so sieht, weiß ich nicht. 21:00 Erster Tag in Libreville (nach dem Zwischenspiel in Lambarene). Der erste Brief kommt auch schon angeflattert. Von Teresa (Torrini) aus Florenz. Dass er ausgerechnet heute hier ankommt, ist eine Wohltat. Ich habe sehr selten solche Schreiben erhalten. Teresa drückt sich aus wie eine Schwester. Oder sollte sie in mich verknallt sein? Am Samstag fahren wir für etwa fünf Tage zum Kap. Dort will ich eine Reihe Briefe schreiben, auch an sie. Lhh023 19641223 Mittwoch 21:30 • Augenblicklich sitze ich mit der JTS-Bande im Kino. Die Vorfilme sind erledigt. Pause. Wir erwarten den Hauptfilm: „Le fauve est lché“. Vielleicht ein Blödsinn, wir werden sehen. Die Teilnahme von Lino Ventura könnte ein positiver Hinweis sein. Im Jeep, mit dem wir hinausgefahren sind, sangen wir unter anderem die zwei Poudrière-Lieder, die Theo verfasst hat. Er würde sich freuen, wenn er sie hören könnte – am Äquator! Ist es verwunderlich, dass ich meine Gedanken zur Poudrière schweifen lasse – und auch zu Milène?! • Morgen ist Heiliger Abend. Meine erste Weihnacht in Afrika. Mir wird klar, dass ich bisher unter einer Glocke gelebt habe. Jetzt dämmert mir, dass es andere Welten gibt, als nur die, in der ich bisher gelebt habe. Da wird sich der Heini anpassen müssen, wenn er die Leute hier besser verstehen will. • Es ist nach Mitternacht. Der Film war nicht so blöd, wie ich gefürchtet hatte, im Gegenteil. Ein ehemaliger Gauner, der sich zur Ruhe gesetzt und eine Familie gegründet hat, gerät gegen seinen Willen in den Strudel zwischen Halbwelt und Geheimpolizei. Sein Söhnchen wird entführt… Muss ich bemerken, dass diese Rolle genau auf Ventura passt? Und dass - natürlich – die Gerechtigkeit siegt, Ventura findet seinen Sohn wieder, die Mafiosi werden ausgeschaltet. Wir haben mit „den Mädchen“ diskutiert, die uns begleitet hatten. Sie sind Lehrerinnen an der Mädchenschule Immaculée Conception, die unweit unseres Zentrums von Nonnen geleitet wird. Es handelt sich um zwei Lehrerinnen und eine JOCistin (katholische Jugendorganisation). Aber das habe ich ja schon erzählt. Wir berieten mit den Damen, wann und wo wir morgen zur Messe gehen und welches Essen zubereitet werden soll. Lhh023 19641224
Search
Read the Text Version
- 1
- 2
- 3
- 4
- 5
- 6
- 7
- 8
- 9
- 10
- 11
- 12
- 13
- 14
- 15
- 16
- 17
- 18
- 19
- 20
- 21
- 22
- 23
- 24
- 25
- 26
- 27
- 28
- 29
- 30
- 31
- 32
- 33
- 34
- 35
- 36
- 37
- 38
- 39
- 40
- 41
- 42
- 43
- 44
- 45
- 46
- 47
- 48
- 49
- 50
- 51
- 52
- 53
- 54
- 55
- 56
- 57
- 58
- 59
- 60
- 61
- 62
- 63
- 64
- 65
- 66
- 67
- 68
- 69
- 70
- 71
- 72
- 73
- 74
- 75
- 76
- 77
- 78
- 79
- 80
- 81
- 82
- 83
- 84
- 85
- 86
- 87
- 88
- 89
- 90
- 91
- 92
- 93
- 94
- 95
- 96
- 97
- 98
- 99
- 100
- 101
- 102
- 103
- 104
- 105
- 106
- 107
- 108
- 109
- 110
- 111
- 112
- 113
- 114