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Die drei Musketiere

Published by petru.butnariu, 2018-01-07 15:34:59

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daß ihr Freund, ob er nun den Unbekannten stellte oderabermals aus den Augen verlor, schon irgendwann wiedernach Hause kommen würde, setzten sie ihren Weg über dieTreppe fort. Als sie in d’Artagnans Zimmer traten, war es leer: aus Furchtvor den Folgen des zu erwartenden Zusammenstoßes zwischendem jungen Mann und dem Unbekannten hatte es der Haus-wirt, ganz im Sinne seiner trefflichen Selbsteinschätzung, fürklüger gehalten, das Weite zu suchen. D’Artagnan entwickelt sichWie es Athos und Porthos vorausgesehen hatten, kehrte d’Ar-tagnan nach einer halben Stunde zurück. Auch diesmal hatteer seinen Mann verfehlt, der plötzlich wie weggezaubertschien. D’Artagnan war mit dem Degen in der Hand durchalle Straßen der Nachbarschaft gelaufen, ohne eine Spur desGesuchten zu finden, und klopfte schließlich, was er vielleichtgleich hätte tun sollen, an die Tür, vor der der Unbekannte ge-standen hatte. Vergeblich schlug er wohl ein dutzendmal mitdem Klopfer gegen die Tür, niemand antwortete, und einigeNachbarn, die auf den Lärm hin ihre Nasen zur Tür oder zumFenster hinaussteckten, versicherten ihm, daß dieses Haus,dessen Fenster übrigens alle geschlossen waren, schon seit ei-nem halben Jahr völlig unbewohnt sei. Während d’Artagnan durch die Straßen lief und an fremdeTüren klopfte, hatte sich Aramis gleichfalls in der Rue desFossoyeurs eingefunden, so daß der Gascogner bei seinerRückkehr die Freunde vollzählig versammelt fand. »Na, wie?« fragten die drei, als sie d’Artagnan schweißge-badet und sichtlich ergrimmt eintreten sahen. »Na wie!« äffte er sie nach und schleuderte den Degen aufsBett. »Dieser Kerl muß der Teufel in Person sein; er hat sichwie ein Spuk verflüchtigt, wie ein Geist, wie ein Gespenst!« »Glaubt Ihr an Erscheinungen?« fragte Athos den Porthos. »Ich? Ich glaube nur, was ich sehe, und da ich noch keineErscheinung gesehen habe, glaube ich auch nicht daran.«100

»Die Bibel«, wandte Aramis ein, »macht es uns zur Pflicht,daran zu glauben. ›Der Geist Samuels erschien dem Saul‹ –das ist ein Glaubensartikel, und es wäre mir sehr verdrieß-lich, Euch daran zweifeln zu sehen, Porthos!« »Ob Mensch oder Teufel, Täuschung oder Wirklichkeit, die-ser Mann ist auf jeden Fall zu meinem Verderben geboren, dennseine Flucht bringt uns um ein glänzendes Geschäft, bei demes hundert Dukaten und vielleicht noch mehr zu verdienengibt.« »Wieso?« fragten Porthos und Aramis, während sich derschweigsame Athos damit begnügte, d’Artagnan fragend an-zublicken. »Planchet«, sagte der zu seinem Diener, der soeben denKopf durch die halboffene Tür steckte, um ein paar Brockender Unterhaltung aufzuschnappen, »geh rasch zu unsermHauswirt, Herrn Bonacieux, hinunter und sag ihm, er solluns ein halbes Dutzend Flaschen Beaugency heraufschicken,den mag ich am liebsten.« »Oho! Ihr habt wohl unbegrenzten Kredit bei EuermHauswirt?« fragte Porthos. »Ja«, antwortete d’Artagnan, »von heute an, und seid un-besorgt, wenn sein Wein nichts taugt, muß er uns andern her-beischaffen!« »So etwas soll man gebrauchen, aber nicht mißbrauchen«,sagte Aramis. »Ich habe ja immer gesagt, d’Artagnan ist der klügste Kopfvon uns allen«, bemerkte Athos und fiel alsbald wieder in seingewohntes Schweigen zurück. »Aber sagt, was steckt denn nun eigentlich hinter alledem?«wollte Porthos wissen. »Ja«, bat auch Aramis, »vertraut es uns an, lieber Freund,wenn nicht gerade die Ehre einer Dame auf dem Spiel steht,in welchem Fall Ihr das Geheimnis besser für Euch behal-tet!« »Keine Sorge!« erwiderte d’Artagnan. »Was ich euch zu sa-gen habe, verletzt niemandes Ehre.« Und nun erzählte er sei-nen Freunden Wort für Wort, was sich zwischen ihm und sei-nem Hauswirt zugetragen hatte und wie sich der Mann, der dieFrau des biederen Bürgers entführt hatte, als derselbe entpuppt 101

habe, mit dem er in der Herberge des »Freimüllers« zusam-mengestoßen war. »Der Handel ist nicht übel«, sagte Athos, nachdem er denWein mit Kennermiene gekostet und durch ein Kopfnicken zuverstehen gegeben hatte, daß er ihn vortrefflich fand. »Mankönnte dabei den guten Mann sicherlich um fünfzig oder sech-zig Dukaten erleichtern. Fragt sich nur, ob es sich lohnt, fürfünfzig oder sechzig Dukaten vier Köpfe aufs Spiel zu setzen.« »Aber bedenkt doch«, rief d’Artagnan, »daß es dabei auchum eine Frau geht, um eine Frau, die man entführt hat unddie sicherlich bedroht, wenn nicht sogar gefoltert wird, unddas alles nur, weil sie treu zu ihrer Herrin hält!« »Sachte, sachte, d’Artagnan!« bemerkte Aramis. »Mirscheint, Ihr ereifert Euch ein bißchen zu sehr über das Losder guten Frau Bonacieux. Das Weib ist einzig zu unsermVerderb erschaffen und ist an all unserm Unglück schuld.« Bei diesen Worten runzelte Athos die Stirn und biß sichauf die Lippen. »Aber ich ereifere mich ja auch gar nicht wegen Frau Bona-cieux«, versetzte d’Artagnan, »sondern wegen der Königin,die sich von ihrem Gemahl vernachlässigt, vom Kardinal ver-folgt und nach und nach all ihrer Freunde beraubt sieht.« »Warum liebt sie auch, was wir am meisten auf der Weltverabscheuen, nämlich die Spanier und die Engländer?« »Spanien ist ihr Vaterland«, antwortete d’Artagnan, »und esist doch ganz natürlich, daß sie die Kinder ihrer Heimat liebt.Was Euern zweiten Vorwurf betrifft, so habe ich mir sagen las-sen, daß sie nicht die, sondern einen Engländer liebt.« »Und, weiß Gott«, sagte Athos, »er verdient diese Liebeauch, das muß man schon zugeben! Ich habe noch keinenMenschen von vornehmerem Auftreten gesehen.« »Außerdem geht er gekleidet wie kein zweiter«, ergänztePorthos. »Ich war an dem Tag im Louvre, als er seine Perlenausstreute, und habe doch wahrhaftig zwei erwischt, die ichdann für zehn Dukaten das Stück verkaufen konnte. KenntIhr ihn auch, Aramis?« »So gut wie Ihr, denn ich war dabei, als man ihn im Parkverhaftete. Ich war damals noch im Seminar und fand die Ge-schichte für den König recht schmerzlich.«102

»Was mich nicht hindern würde«, sagte d’Artagnan, »denHerzog von Buckingham, sofern ich wüßte, wo er sich auf-hält, an der Hand zu nehmen und zur Königin zu führen,wäre es auch nur, um den Kardinal aufzubringen; denn, meineHerren, unser wirklicher, unser einziger und ewiger Feind istder Kardinal, und wenn sich uns eine Möglichkeit bietet, ihmeinen empfindlichen Streich zu spielen, so will ich dabei gernmeinen Kopf riskieren.« »Und Euer Hauswirt sagt«, erkundigte sich Athos, »dieKönigin glaubt, daß man den Herzog unter einem falschenVorwand hierhergelockt hat?« »Sie befürchtet es zumindest.« »Wartet mal!« sagte Aramis. »Ja, was denn?« fragte Porthos. »Sprecht nur weiter! Ich suche mich gewisser Umständezu erinnern.« »Und jetzt bin ich überzeugt«, fuhr d’Artagnan fort, »daßdie Entführung der Kammerfrau aufs engste mit den Ge-schehnissen zusammenhängt, von denen wir hier sprechen,vielleicht sogar mit der Anwesenheit des Herzogs in Paris.« »Der Gascogner hat doch immer neue Einfälle!« sagte Por-thos voller Bewunderung. »Ich höre ihn gern sprechen«, setzte Athos hinzu, »seinDialekt gefällt mir.« »Ich hab’s«, sagte Aramis, »hört mal her! Ich war gesternbei einem gelehrten Theologen, den ich bei meinen Studiengelegentlich um Rat frage …« Athos lächelte. »Er wohnt in einer öden Gegend«, fuhr Aramis fort, »aberdas entspricht seinem Geschmack, seinem Beruf. Nun, ge-rade als ich aus seinem Haus trat …« Hier stockte Aramis. »Und weiter? Was geschah, als Ihr aus seinem Haus tratet?«forschten die anderen drei. Aramis schien einen Augenblick mit sich zu ringen, wiejemand, der mitten im schönsten Lügen auf ein unvorherge-sehenes Hindernis stößt; da aber die Blicke seiner Freundeerwartungsvoll auf ihm ruhten, konnte er nicht mehr zurück. »Dieser Theologe hat eine Nichte«, fuhr er fort. »Oh, er hat eine Nichte!« unterbrach ihn Porthos. 103

»Eine sehr ehrenwerte Dame«, sagte Aramis. Die drei Freunde lachten. »Ja, wenn ihr lacht oder mir nicht glaubt«, rief Aramis,dann erfahrt ihr eben nichts mehr!« »Wir sind gläubig wie die Jünger Mohammeds«, beteuerteAthos, »und stumm wie Leichensteine.« »Also diese Nichte besucht manchmal ihren Onkel; zu-fällig war sie nun gestern ebenfalls dort, und ich mußte sieschicklicherweise zu ihrem Wagen begleiten.« »Einen Wagen hat die Nichte des Theologen?« unterbrachihn abermals Porthos, der unter anderem den Fehler hatte,daß er nie den Mund halten konnte. »Das ist ja eine präch-tige Bekanntschaft, mein Freund!« »Porthos«, erwiderte Aramis, »ich habe Euch schon wie-derholt darauf aufmerksam gemacht, daß Ihr sehr indiskretseid und daß Euch das bei den Frauen schadet.« »Aber meine Herren«, rief d’Artagnan, dem etwas von dereigentlichen Natur des Abenteuers schwante, »die Sache istdoch zu ernst! Bemühen wir uns also, sie nicht ins Lächerlichezu ziehen. Weiter, Aramis, weiter!« »Plötzlich trat ein großer dunkler Mann von vornehmerErscheinung … ja, ganz in der Art des Euren, d’Artagnan …« »Vielleicht derselbe«, sagte der. »Möglich. Jedenfalls trat er plötzlich auf mich zu, und wieich sah, folgten ihm in einigem Abstand noch fünf oder sechsLeute, und dann sagte er im höflichsten Ton von der Welt:›Herr Herzog und Ihr, Madame‹, dabei wandte er sich an dieDame, die ich am Arm führte …« »An die Nichte des Theologen?« »Still doch, Porthos!« sagte Athos. »Ihr seid unaussteh-lich.« »Und er fuhr fort: ›Bemüht euch bitte in diese Karosse,und zwar ohne euch zu widersetzen oder Lärm zu schlagen!‹« »Er hielt Euch für Buckingham!« rief d’Artagnan. »Ich denke, ja.« »Aber die Dame?« fragte Porthos. »Hielt er für die Königin!« antwortete d’Artagnan. »Eben«, bestätigte Aramis. »Der Gascogner ist doch ein Teufelskerl!« rief Athos.104

»Fest steht«, sagte Porthos, »daß Aramis die Gestalt undauch im Auftreten manches von unserm schönen Herzoghat; dagegen will mir scheinen, daß der Musketiersrock …« »Ich hatte einen sehr weiten, dunklen Mantel an und denKragen hochgeschlagen.« »Donnerwetter!« wunderte sich Porthos. »Hatte denndein Theologe Angst, daß dich jemand erkennt?« »Ich begreife ja noch«, sagte Athos, »daß sich der Spionvon der Gestalt täuschen ließ; aber das Gesicht …« »Ich hatte einen großen Hut auf«, fiel ihm Aramis insWort. »Mein Gott«, rief Porthos, »was für Vorsichtsmaßregeln,um Theologie zu studieren!« »Meine Herren«, sagte d’Artagnan, »verlieren wir doch un-sere Zeit nicht mit müßigem Gerede! Suchen wir lieber dieFrau des Krämers: da liegt der Schlüssel der ganzen Intrige!« »Eine Frau von so niedrigem Stande? Glaubt Ihr das wirk-lich?« fragte Porthos und verzog geringschätzig den Mund. »Sie ist das Patenkind des Vertrauten der Königin, de LaPorte. Habe ich euch das nicht gesagt? Und vielleicht hatIhre Majestät ihren Beistand diesmal ganz bewußt so tief un-ten gesucht. Je höher einer steht, desto leichter wird er ge-sehen, und der Kardinal hat gute Augen.« »Nun gut«, sagte Porthos, »dann macht mit dem Krämereinen Preis aus, aber einen anständigen!« »Das ist nicht nötig«, entgegnete d’Artagnan, »denn ichdenke, auch wenn er uns nicht bezahlt, werden wir schon vonanderer Seite belohnt werden.« In diesem Augenblick hörte man auf der Treppe eiligeSchritte heraufkommen, krachend flog die Tür auf, und her-ein stürzte der unglückliche Krämer. »Ach, ihr Herren!« rief er. »Rettet mich, um Himmels willen,rettet mich! Unten sind vier Männer und wollen mich verhaf-ten. Rettet mich!« Porthos und Aramis sprangen auf. »Wartet!« rief d’Artagnan und bedeutete ihnen, die halb ge-zogenen Degen wieder in die Scheide zu stecken. »Hier kommtes nicht auf Mut an, sondern auf Klugheit!« »Aber wir können doch nicht zusehen …« 105

»Laßt d’Artagnan nur machen!« fiel Athos dem empörtenPorthos ins Wort. »Ich habe schon mal gesagt, er ist der Ge-scheiteste von uns, und ich für mein Teil erkläre, daß ich michnach ihm richten werde. Tue nur, was du für richtig hältst, d’Ar-tagnan!« Schon erschienen in der Tür die vier Gardisten, verhieltenjedoch unschlüssig auf der Schwelle, als sie die bewaffnetenMusketiere erblickten. »Herein, ihr Herren, nur herein!« rief d’Artagnan ihnenzu. »Ihr seid hier bei mir, und wir sind alle treue Diener Sei-ner Majestät des Königs und des Herrn Kardinals.« »Dann widersetzen sich die Herren also nicht, wenn wirtun, was uns befohlen ist?« fragte einer, der anscheinend derFührer des kleinen Trupps war. »Ganz im Gegenteil! Wenn es not tut, wollen wir den Her-ren dabei gern zur Hand gehen.« »Was sagt er da?« murmelte Porthos. »Du bist ein Trottel«, wies ihn Athos zurecht. »Still jetzt!« »Aber Ihr habt mir doch versprochen …«, sagte ganz leiseder arme Krämer. »Wir können Euch nur retten, wenn wir frei bleiben«,raunte ihm d’Artagnan rasch zu. »Machen wir jetzt Miene,Euch zu verteidigen, dann verhaftet man uns auch.« »Mir scheint aber …« »Bitte, ihr Herren«, sagte d’Artagnan wieder laut, »tretetruhig näher, ich habe keine Veranlassung, den Herrn zu ver-teidigen. Ich sehe ihn heute zum erstenmal, und was will ervon mir? Die Miete, wie er euch gewiß bestätigen wird. Nichtwahr, Herr Bonacieux, so verhält es sich doch?« »Es ist die reine Wahrheit«, rief der Krämer, »aber der Herrsagt Euch nicht …« »Kein Wort über mich und meine Freunde und schon garnicht über die Königin, oder Ihr stürzt alle ins Verderben, Euchselbst mit!« flüsterte d’Artagnan eindringlich, dann fügte erlaut hinzu: »Also los, ihr Herren, nehmt ihn mit!« Undwährend er den völlig betäubten Krämer in die Hände der Gar-disten drängte, wetterte er: »Ihr seid ein Spitzbube, mein Lie-ber! Kommt einfach daher und verlangt Geld, von mir, einemMusketier! Ins Gefängnis mit Euch! Führt ihn nur ab, ihr Her-106

ren, und behaltet ihn möglichst lange hinter Schloß und Rie-gel, dann brauche ich mich mit der Miete nicht so zu beeilen!« Die Sbirren bedankten sich vielmals und zogen mit ihrerBeute ab. Als sie schon die Treppe hinuntersteigen wollten,schlug d’Artagnan dem Anführer auf die Schulter. »Wollen wir nicht auf unsere Gesundheit trinken?« fragteer und füllte zwei Gläser mit dem Beaugency, den er HerrnBonacieux’ Freigebigkeit verdankte. »Es wird mir eine Ehre sein«, antwortete der Führer derSbirren, »ich nehme dankbar an.« »Auf Euer Wohl also, Herr … ja, wie heißt Ihr denn eigent-lich?« »Boisrenard!« »Euer Wohl, Herr Boisrenard!« »Auf das Eure, edler Herr! Und wie heißt Ihr, bitte?« »D’Artagnan.« »Euer Wohl, mein Herr!« »Und vor allem«, rief d’Artagnan, wie von Begeisterungergriffen, »auf das Wohl des Königs und des Kardinals!« Der Führer der Sbirren hätte vielleicht an d’Artagnans Auf-richtigkeit gezweifelt, wenn der Wein weniger gut gewesenwäre; aber er war vortrefflich, und so ließ sich der Mann über-zeugen. »Was habt Ihr da nur für eine schändliche Gemeinheit be-gangen«, schimpfte Porthos los, als die vier Freunde wiederunter sich waren. »Pfui Teufel! Vier Musketiere lassen einenUnglücklichen, der sie um Hilfe anfleht, aus ihrer Mitte wegverhaften! Ein Edelmann trinkt mit einem Büttel!« »Bester Porthos«, sagte Aramis, »Athos hat dich vorhineinen Trottel genannt, und ich schließe mich seiner Meinungan. D’Artagnan, du bist ein Mordskerl, und wenn du einmalHerrn de Trevilles Nachfolge antrittst, erhoffe ich mir deineProtektion, damit ich eine Abtei bekomme!« »Also nein, ich verstehe überhaupt nichts mehr!« rief Por-thos. »Billigt ihr denn, was d’Artagnan getan hat?« »Das will ich meinen!« erwiderte Athos. »Ich billige esnicht nur, ich beglückwünsche ihn sogar dazu.« »Und jetzt, Freunde«, sagte d’Artagnan, ohne sich die Mühezu machen, Porthos sein Verhalten zu erklären, »einer für alle, 107

alle für einen! Das soll unser Wahlspruch sein, einverstan-den?« »Aber …«, wandte Porthos ein. »Schlag ein und schwöre!« riefen Athos und Aramis wieaus einem Munde. Von ihrem Beispiel bezwungen, wenn auch noch leise mur-rend, streckte Porthos gleichfalls die Hand aus, und alle vierwiederholten im Chor d’Artagnans Worte: »Einer für alle, alle für einen!« »Gut, und jetzt geht jeder nach Hause«, sagte d’Artagnan,als habe er zeitlebens nur Befehle erteilt. »Und aufgepaßt!Von jetzt an haben wir es mit dem Kardinal zu tun!« Eine Mausefalle im siebzehnten JahrhundertDie Mausefalle ist nicht erst in unseren Tagen erfunden wor-den; wo immer sich die menschliche Gesellschaft im Laufeihrer Entwicklung so etwas wie eine Polizei schuf, erfanddiese alsbald die Mausefalle. Da aber unsere Leser in der Pa-riser Gaunersprache kaum bewandert sein dürften, wollenwir ihnen erklären, was sie sich unter einer Mausefalle vor-zustellen haben: Wenn man in irgendeinem Hause jemand verhaftet hat,den man eines bestimmten Vergehens verdächtigt, so hältman diese Verhaftung geheim; vier, fünf Mann legen sich imersten Zimmer der Wohnung auf die Lauer und öffnen je-dem, der hinein will, lassen aber keinen wieder heraus; aufdiese Weise hat man nach zwei, drei Tagen fast alle Leute, diemit dem betreffenden Haus in irgendeiner Beziehung ste-hen, fest in der Hand. Das Ganze nennt man eine Mausefalle. Auch aus der Wohnung Meister Bonacieux’ machte manjetzt eine solche Mausefalle, und wer immer dort erschien,wurde von den Leuten des Kardinals festgenommen und ver-hört. Da ein eigener Aufgang zum ersten Stock führte, wod’Artagnan wohnte, blieben seine Besucher selbstverständ-lich unbehelligt. Übrigens kamen sowieso nur die drei Musketiere zu ihm. Sie108

hatten, jeder für sich, Nachforschungen angestellt, aber ohneErfolg. Athos war sogar so weit gegangen, Herrn de Trevillezu fragen, ein Schritt, der angesichts der gewöhnlichenSchweigsamkeit des Musketiers den Hauptmann nicht wenigüberrascht hatte. Doch auch Treville konnte nicht mehr sagen,als daß er bei seinem letzten Besuch im Louvre den Kardinalsehr nachdenklich und den König sehr unruhig gefunden habe,während die geröteten Augen der Königin vermuten ließen,daß sie geweint oder keinen Schlaf habe finden können; die-ser letzte Umstand habe ihn nicht weiter verwundert, da dieKönigin seit ihrer Heirat häufig weine und nicht schlafenkönne. Herr de Treville empfahl Athos, auf jeden Fall dem Kö-nig und vor allem der Königin treu zu dienen, und bat ihn, dasauch seinen Kameraden auszurichten. D’Artagnan selbst ging nicht mehr aus der Wohnung. Erhatte sein Zimmer in einen Beobachtungsstand verwandelt.Vom Fenster aus sah er jeden, der kam und in die Falle ging.Außerdem hatte er die Dielen aufgebrochen und konnte, daihn nur noch eine dünne Decke von dem darunterliegendenRaum trennte, in dem die Verhöre stattfanden, alles hören,was sich dort abspielte. Die Verhöre, denen stets eine peinlich genaue Durchsuchungdes Verhafteten vorausging, nahmen fast immer den gleichenVerlauf: »Hat Euch Frau Bonacieux etwas für ihren Mann oder eineandere Person übergeben?« »Hat Euch Herr Bonacieux etwas für seine Frau oder eineandere Person übergeben?« »Hat Euch eine dieser beiden Personen irgendeine vertrau-liche Mitteilung gemacht?« Wenn sie etwas Bestimmtes wüßten, würden sie nicht sol-che Fragen stellen, sagte sich d’Artagnan. Und was wollensie erfahren? Doch nur, ob der Herzog von Buckingham inParis ist und ob er mit der Königin zusammengetroffen istoder noch zusammentreffen wird. – D’Artagnan blieb beidieser Ansicht, die er nach allem, was er gehört hatte, für sehrwahrscheinlich hielt. Unterdes erfuhr die Tätigkeit der Mausefalle keine Unter-brechung, sowenig wie d’Artagnans Aufmerksamkeit. Am 109

Abend des zweiten Tages nach der Verhaftung des armen Bo-nacieux, als Athos gerade gegangen war, um sich zu Herrn deTreville zu begeben, als es gerade neun Uhr geschlagen hatteund Planchet eben das Bett richten wollte, hörte man es an dieHaustür klopfen, die sofort geöffnet und gleich wieder ge-schlossen wurde: abermals war jemand in die Falle gegangen. D’Artagnan stürzte zu der Stelle, wo die Dielen aufgeris-sen waren, legte sich an den Boden und lauschte. Zuerst hörteer Schreie, dann ein Stöhnen, das man offenbar zu erstickensuchte. Von einem Verhör war keine Rede. Herrgott noch mal – dachte d’Artagnan –, das scheint eineFrau zu sein! Man durchsucht sie, und sie widersetzt sich.Man tut ihr Gewalt an. Diese Schufte! Und er mußte sehr an sich halten, damit er sich nicht wideralle Vorsicht in das, was unter ihm vorging, einmischte. »Aber ich sage Euch, ich bin Frau Bonacieux, ich bin hier zuHause, und im übrigen stehe ich im Dienste der Königin!« riefdie unglückliche Frau. Frau Bonacieux! dachte d’Artagnan. Sollte ich so glücklichsein, gefunden zu haben, was alle Welt sucht? »Allein auf Euch haben wir ja die ganze Zeit gewartet!«gab man ihr zur Antwort. Dann wurde ihre Stimme immerleiser und von einem heftigen Tumult zugedeckt. Das Opfer wehrte sich, soweit sich eben eine Frau gegenvier Männer wehren kann. »Laßt mich, ihr Herren, laßt …«, jammerte die Stimme,dann waren nur noch unverständliche Laute zu hören. Sie knebeln sie und wollen sie wegschleppen! sagte sichd’Artagnan und sprang auf. Mein Degen! Ach so, ich habeihn ja umgeschnallt. »Planchet!« »Gnädiger Herr?« »Lauf rasch zu Athos, Porthos und Aramis! Einen triffstdu bestimmt an, vielleicht sind auch schon alle drei nachHause gekommen. Sie sollen ihre Waffe nehmen und soforthierherkommen. Ach, Athos ist ja bei Herrn de Treville, fälltmir gerade ein.« »Aber wo wollt Ihr denn hin, gnädiger Herr, wo wollt Ihrhin?«110

»Ich klettere zum Fenster hinaus«, gab d’Artagnan zurück,»da bin ich schneller unten. Und du legst die Dielen wiederan ihren Platz, fegst den Boden und läufst zu meinen Freun-den, wie ich dir gesagt habe!« »Ach, gnädiger Herr, Ihr werdet Euch den Hals brechen!« »Schweig, Dummkopf!« sagte d’Artagnan, klammerte sichans Fensterbrett und ließ sich vom ersten Stock, der zumGlück nicht sehr hoch gelegen war, hinunterfallen, ohne sichauch nur eine Schramme zu holen. Jetzt gehe ich auch in die Falle – sagte er sich, während eran die Tür klopfte –, aber wehe den Katzen, die sich mit einersolchen Maus einlassen! Kaum hatte der Türklopfer angeschlagen, da wurde es drin-nen still; Schritte näherten sich, die Tür ging auf, und währendd’Artagnan mit gezogenem Degen in Meister Bonacieux’ Be-hausung drang, fiel hinter ihm die Tür, an der man offenbareine Feder angebracht hatte, von selbst wieder ins Schloß. Alsbald vernahmen die übrigen Bewohner des unglücklichenHauses wie auch die unmittelbaren Nachbarn einen gewalti-gen Lärm, Schreie, stampfende Schritte, Degengeklirr und dasPoltern umstürzender Möbel. Kurz darauf konnten diejenigen,die neugierig ans Fenster geeilt waren, deutlich sehen, wie dieTür wieder aufging und vier schwarzgekleidete Gestalten nichtetwa heraustraten, sondern wie aufgescheuchte Raben heraus-flogen, wobei sie am Boden und an allen Ecken und Kanten Fe-dern, das heißt Fetzen ihrer Röcke und Mäntel, zurückließen. Allerdings war der Sieg dem Gascogner ziemlich müheloszugefallen, denn von den Sbirren war nur einer bewaffnet, undauch der hatte sich bloß der Form halber verteidigt. Die an-deren drei hatten zwar versucht, mit Stühlen, Schemeln undTöpfen gegen den jungen Mann vorzugehen, waren aber durchein paar wohlgezielte Degenhiebe völlig eingeschüchtert wor-den. Nach zehn Minuten war ihre Niederlage besiegelt, undd’Artagnan blieb Herr des Schlachtfeldes. Die Nachbarn, die ihre Fenster mit jener Kaltblütigkeitgeöffnet hatten, die damals die an Unruhen und Raufereien ge-wohnte Pariser Bevölkerung auszeichnete, machten die Lädenwieder zu, sowie sie die vier Schwarzgekleideten davonlaufensahen. Ihr Instinkt sagte ihnen, daß für den Augenblick nichts 111

mehr zu erwarten sei. Überdies war es schon spät, und im Lu-xembourgviertel ging man damals wie heute gerne zeitig zuBett. D’Artagnan blieb also allein mit Frau Bonacieux, die halbohnmächtig in einem Sessel lag. Er betrachtete sie mit einemraschen prüfenden Blick. Es war eine entzückende Person von wenig mehr als zwan-zig Jahren, brünett, mit blauen Augen, niedlicher Stupsnase,mit herrlichen Zähnen und einer rosig schimmernden Haut.Damit aber hörten auch die Merkmale auf, derentwegen mansie für eine vornehme Dame halten konnte. Die Hände warenweiß, aber ein wenig plump, und auch die Füße verrieten keineRasse. Glücklicherweise war d’Artagnan noch nicht soweit,sich um solche Einzelheiten zu kümmern. Während also d’Artagnan Frau Bonacieux in dieser Weisebetrachtete und dabei, wie erwähnt, bis zu den Füßen gelangtwar, sah er ein feines Batisttaschentuch am Boden liegen, hobes auf – wir kennen ja seine Gewohnheit – und erkannte in einerEcke dasselbe Zeichen wie auf jenem anderen Tuch, über demes beinahe zu einem Duell zwischen ihm und Aramis gekom-men wäre. Seit damals wollte er nichts mehr mit wappenge-schmückten Taschentüchern zu tun haben, und darum steckteer das eben aufgehobene wortlos in die Tasche von Frau Bona-cieux. Die kam eben in diesem Augenblick wieder zu sich. Sieöffnete die Augen, sah erschrocken um sich und gewahrte,daß das Zimmer leer und sie mit ihrem Befreier allein war.Sogleich reichte sie ihm lächelnd die Hand. Frau Bonacieuxhatte das bezauberndste Lächeln von der Welt. »Oh, mein Herr, Ihr habt mich gerettet! Erlaubt, daß ichEuch danke!« »Madame«, sagte d’Artagnan, »ich habe nur getan, was je-der Edelmann an meiner Stelle getan hätte; Ihr schuldet miralso keinen Dank.« »Doch, doch, mein Herr, und hoffentlich kann ich Euchnoch einmal beweisen, daß Ihr keiner Undankbaren gehol-fen habt. Aber was wollten denn diese Männer nur, die ichzuerst für Diebe hielt? Und warum ist Herr Bonacieux nichthier?«112

»Madame, diese Männer sind weit gefährlicher, als Diebeje sein können – es sind Leute des Kardinals. Und Euer Mannist nicht hier, weil man ihn gestern verhaftet und in die Ba-stille geschafft hat.« »Mein Mann in der Bastille!« rief Frau Bonacieux. »Ja,großer Gott, was hat er denn getan? Der arme, gute Mann!Er ist doch die Unschuld selbst!« Und etwas wie der Anflugeines Lächelns glitt über das immer noch erschrockene Ge-sicht der jungen Frau. »Was er getan hat, Madame? Ich glaube, sein einziges Ver-brechen besteht darin, daß er das Glück und zugleich das Un-glück hat, Euer Mann zu sein.« »Ja, wißt Ihr denn …?« »Ich weiß, daß Ihr entführt wurdet.« »Und von wem? Wißt Ihr es? Oh, sagt es mir!« »Von einem Mann Anfang Vierzig mit dunklem Haar, fah-lem Gesicht und einer Narbe an der linken Schläfe.« »Ganz richtig, und wie heißt er?« »Wie er heißt? Ja, das weiß ich eben auch nicht.« »Und mein Mann, wußte er, daß man mich entführt hat?« »Ja, der Entführer selbst hat es ihm in einem Brief mitge-teilt.« »Ahnte er auch«, fragte Frau Bonacieux, »warum man michentführt hat?« »Ich glaube, er vermutet eine Intrige.« »Ich hatte zuerst Zweifel daran, aber jetzt will es mir auch soscheinen. Also hat mich der gute Bonacieux keinen Augenblickverdächtigt?« »Weit entfernt, Madame! Er war sehr stolz auf Eure Sitt-samkeit und auf Eure Liebe.« Abermals umspielte ein fast unmerkliches Lächeln die Lip-pen der schönen jungen Frau. »Aber wie ist es Euch nur gelungen, zu entfliehen?« »Da ich seit heute morgen wußte, was es mit meiner Ent-führung auf sich hatte, habe ich in einem unbewachten Augen-blick meine Laken aneinandergebunden und mich daran ausdem Fenster hinuntergelassen. Ich dachte, mein Mann wärehier, und darum kam ich hierhergelaufen.« »Um Euch unter seinen Schutz zu stellen?« 113

»Ach nein, mein armer guter Mann könnte mich kaumschützen, das wußte ich wohl. Aber er hätte uns auf andereWeise behilflich sein können, und deshalb wollte ich ihn ver-ständigen.« »Wovon?« »Oh, das ist nicht mein Geheimnis, das kann ich Euch alsoleider nicht sagen.« »Übrigens«, sagte d’Artagnan, »verzeiht, wenn ich Euchtrotz meiner schützenden Gegenwart an Eure Vorsicht erin-nere; mir scheint dieser Ort nicht recht geeignet für solchevertraulichen Gespräche. Die Leute, die ich davongejagthabe, kommen bestimmt bald mit Verstärkung wieder; wennsie uns finden, sind wir verloren. Ich habe zwar drei Freundebenachrichtigen lassen, aber wer weiß, ob sie gerade zuHause sind!« »Ja, ja, Ihr habt recht«, rief Frau Bonacieux erschrocken.»Kommt, fliehen wir, retten wir uns!« Mit diesen Worten schob sie ihren Arm unter den d’Arta-gnans und drängte ihn zur Tür. »Aber wohin?« fragte er. »Erst einmal fort von hier, alles Weitere findet sich schon!« Und ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die Haus-tür zu verschließen, gingen die beiden jungen Leute rasch dieRue des Fossoyeurs hinunter, bogen dann in eine Seiten-straße und hielten nicht eher an, als bis sie den Place Saint-Sulpice erreicht hatten. »Und was jetzt?« fragte d’Artagnan. »Wohin soll ich Euchführen?« »Das weiß ich eigentlich selber nicht, muß ich Euch ge-stehen«, erwiderte Frau Bonacieux. »Ich hatte die Absicht,meinen Mann zu Herrn de La Porte zu schicken, dannkönnte er uns genau sagen, was sich in den letzten drei Ta-gen im Louvre abgespielt hat und ob es nicht vielleicht ge-fährlich ist, mich dort wieder zu zeigen.« »Aber ich kann doch zu Herrn de La Porte gehen.« »An sich schon, aber da ist ein Hindernis: meinen Mannkennt man im Louvre und läßt ihn hinein. Euch dagegenkennt man nicht und weist Euch ab.« »Ach was. Ihr habt doch sicher an einem der vielen Ein-114

gänge einen Euch ergebenen Pförtner, und mit einem be-stimmten Losungswort versehen …« Frau Bonacieux sah den jungen Mann fest an. »Und wenn ich Euch ein solches Losungswort gebe, wer-det Ihr es auch sofort wieder vergessen, wenn Ihr es benutzthabt?« »Auf Ehre, so wahr ich ein Edelmann bin!« sagte d’Arta-gnan in einem Ton, der jeden Zweifel an seiner Ehrlichkeitausschloß. »Ja, ich glaube Euch. Ihr scheint mir ein wackerer jungerMann, und vielleicht findet Eure Ergebenheit sich schon baldbelohnt.« »Auch ohne irgendein Versprechen werde ich alles tun, wasin meinen Kräften steht, um dem König zu dienen und derKönigin gefällig zu sein. Verfügt über mich wie über einenFreund!« »Aber wo wollt Ihr mich denn unterdessen lassen?« »Wißt Ihr niemand, bei dem Herr de La Porte Euch abho-len kann?« »Nein, ich will mich niemand anvertrauen.« »Wartet!« rief d’Artagnan. »Da vorn wohnt Athos. Ja, dasgeht.« »Wer ist Athos?« »Einer meiner Freunde.« »Aber dann sieht er mich ja!« »Nein, er ist nicht zu Hause, und ich nehme den Schlüsselmit, wenn ich Euch in seine Wohnung gelassen habe.« »Aber wenn er nach Hause kommt?« »Er kommt nicht; außerdem würde man ihm sagen, daßich eine Frau hierhergebracht habe.« »Das wird mich aber sehr kompromittieren …« »Was tut’s? Niemand kennt Euch hier, und zudem zwin-gen uns die Umstände einfach, uns über gewisse Rücksich-ten hinwegzusetzen!« »Also gut, gehen wir zu Euerm Freund! Wo wohnt er?« »In der Rue Ferou, gleich da vorn.« Und die beiden eilten weiter. Wie d’Artagnan vorausgese-hen hatte, war Athos nicht zu Hause. Er nahm den Schlüssel,den man ihm als Freund des Hauses anstandslos aushändigte, 115

stieg die Treppe hinauf und führte Frau Bonacieux in diekleine Wohnung, die wir schon früher beschrieben haben. »Macht es Euch bequem!« sagte er. »Wartet, schließt voninnen ab und laßt niemand herein, außer wenn es dreimalklopft, hört, so!« Und er klopfte zweimal kurz hintereinan-der laut und nach einer Pause noch einmal leise an die Tür. »Gut«, sagte Frau Bonacieux, »und jetzt muß ich Euch in-struieren.« »Bitte!« »Ihr geht zum Louvrepförtchen an der Rue de L’Echelleund verlangt Germain zu sprechen.« »Gut, und weiter?« »Er wird Euch fragen, was Ihr wollt, und Ihr antwortetnur: Tours und Brüssel. Sogleich habt Ihr in ihm einen ge-horsamen Diener.« »Und was soll ich ihm befehlen?« »Daß er Herrn de La Porte holt, den Kammerdiener derKönigin.« »Und wenn Herr de La Porte kommt?« »Schickt ihn her.« »Gut, aber wo und wann sehe ich Euch wieder?« »Liegt Euch so viel daran?« »Unbedingt.« »Na schön, dann überlaßt die Sorge dafür nur mir und seidganz ruhig!« »Ich verlasse mich auf Euer Wort!« »Tut das!« D’Artagnan grüßte artig Frau Bonacieux und warf ihr da-bei den verliebtesten Blick zu, den man einer so reizendenPerson überhaupt zuwerfen konnte, dann eilte er die Treppewieder hinunter, während sich hinter ihm der Türschlüsselzweimal im Schloß drehte. In wenigen Minuten war er imLouvre: als er durch die kleine Pforte trat, schlug es zehnUhr. Die eben geschilderten Ereignisse hatten sich also inwenig mehr als einer halben Stunde abgespielt. Alles ging genauso vonstatten, wie Frau Bonacieux gesagthatte. Auf das Losungswort hin verneigte sich Germain; fünfMinuten später war de La Porte in der Pförtnerloge; in kur-zen Worten setzte d’Artagnan ihn ins Bild und erklärte ihm,116

wo Frau Bonacieux zu finden sei. De La Porte ließ sich dieAdresse noch einmal genau beschreiben und machte sichdann eiligst auf den Weg. Aber schon nach wenigen Schrit-ten kehrte er wieder um. »Junger Mann«, sagte er, »noch einen Rat!« »Bitte?« »Man wird Euch vielleicht wegen des Vorgefallenen be-helligen.« »Meint Ihr?« »Ja. Habt Ihr nicht einen Bekannten, dessen Uhr nach-geht?« »Wozu?« »Geht zu ihm, damit er bezeugen kann, daß Ihr um halbzehn bei ihm wart. Vor Gericht nennt man das ein Alibi.« D’Artagnan fand den Rat vernünftig, nahm die Beine indie Hand und war kurz darauf im Trevilleschen Haus, wo erallerdings nicht wie alle anderen in den Salon ging, sondernsich gleich in das Arbeitskabinett führen ließ. Da er ein häu-figer Gast des Hauses war, machte man ihm keine Schwie-rigkeiten und meldete sogleich Herrn de Treville, sein jungerLandsmann habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen und bitteum eine Audienz. Schon nach wenigen Augenblicken er-schien Treville und fragte den Gascogner, was er für ihn tunkönne und welchem Umstand er diesen Besuch zu so vor-gerückter Stunde zuzuschreiben habe. »Verzeiht, Herr Hauptmann«, entgegnete d’Artagnan, derdie kurze Zeit, in der er allein geblieben war, dazu benutzthatte, die Standuhr um drei Viertelstunden zurückzudrehen,»da es noch keine halb zehn ist, dachte ich, es wäre noch Zeit,mich bei Euch zu melden.« »Fünf Minuten vor halb zehn!« rief Herr de Treville ver-wundert aus und schaute auf die Uhr. »Aber das ist ja nichtmöglich!« »Und doch ist es so, wie Ihr seht.« »Tatsächlich«, sagte Treville. »Ich hätte gedacht, es ist schonspäter. Doch laßt hören, was habt Ihr auf dem Herzen?« Nun erging sich d’Artagnan in einer langen Geschichte überdie Königin. Er setzte dem Hauptmann seine Befürchtungenim Hinblick auf Ihre Majestät auseinander, erzählte, was er 117

von den Plänen des Kardinals gegen den Herzog von Bucking-ham hatte sagen hören, und tat dies alles mit einer Ruhe undSicherheit, auf die Treville um so eher hereinfiel, als er ja auchselbst beobachtet hatte, daß zwischen dem Kardinal, dem Kö-nig und der Königin etwas vorgefallen sein mußte. Die Standuhr schlug zehn, als sich d’Artagnan von Herrnde Treville verabschiedete, der ihm für seine Mitteilungendankte und ihm empfahl, sich den Dienst für den König unddie Königin immer angelegen sein zu lassen, woraufhin erwieder in den Salon zurückkehrte. Unten an der Treppeschien sich d’Artagnan plötzlich zu erinnern, daß er seinenStock hatte stehenlassen; jedenfalls eilte er wieder hinauf, tratin das Arbeitszimmer und rückte den Zeiger zurecht, damitman am anderen Morgen nicht merkte, daß die Uhr falschgegangen war. Nachdem er sich auf diese Weise ein Alibi ge-sichert hatte, ging er wieder die Treppe hinunter und befandsich gleich darauf auf der Straße. Der Knoten schürzt sichNach seinem Besuch bei Herrn de Treville kehrte d’Artagnannicht sofort heim, sondern schlug, in tiefe Gedanken ver-sponnen, erst noch einen weiten Umweg ein. Woran dachte unser junger Freund wohl, als er sich so weitvon seinem eigentlichen Weg entfernte und, bald seufzend,bald lächelnd, die Sterne am Himmel betrachtete? Er dachte an Frau Bonacieux. Für einen angehenden Mus-ketier war die junge Frau fast so etwas wie eine ideale Geliebte.Hübsch, geheimnisvoll, in mancherlei Hofintrigen verwickelt,was ihren anmutigen Zügen eine reizvolle Ernsthaftigkeit ver-lieh, durfte sie als nicht unempfindlich gelten, und das ist ja be-kanntlich für Neulinge in der Liebe ein erhöhter Anreiz. Zu-dem hatte d’Artagnan sie aus den Händen dieser Teufel befreit,die so grob mit ihr verfahren waren, und dieser wichtige Diensthatte zwischen ihr und ihm ein dankbares Gefühl entstehenlassen, das so leicht einen zärtlichen Charakter annimmt. Schon sah d’Artagnan – so schnell fliegen die Träume auf118

den Flügeln der Phantasie – einen Boten der jungen Frau beiihm anklopfen, um ihm eine Einladung zu einem Stelldichein,ein goldenes Kettchen oder einen Edelstein von ihr zu über-bringen. Wir sagten bereits, daß die jungen Kavaliere ohneScheu vom König Geschenke annahmen; fügen wir hinzu,daß sie in jenen Zeiten einer lockeren Moral auch keine Hem-mungen kannten, sich von ihren Geliebten beschenken zulassen, die sie fast immer mit kostbaren und dauerhaften An-denken bedachten, als wollten sie auf diese Weise die Unbe-ständigkeit der Gefühle wieder wettmachen. Man machte damals seinen Weg durch Frauengunst, ohnesich dessen zu schämen. Die Schönen verschenkten ihreSchönheit, die Reichen einen Teil ihres Vermögens, und mankönnte eine ganze Reihe von Helden jener galanten Epocheanführen, die weder ihre Sporen noch später ihre Schlachtenohne die mehr oder weniger gefüllte Börse ihrer Geliebtengewonnen hätten. D’Artagnan besaß nichts. Seine provinzlerische Unsicher-heit, hauchdünner Firnis, leicht und flüchtig wie der Flaumdes Pfirsichs, hatte sich rasch verflogen im Wind der wenigorthodoxen Ratschläge, die ihm seine drei Freunde erteilten.Der seltsamen Anschauung seiner Zeit gemäß, fühlte er sichin Paris wie im Felde, nicht anders, als wenn er in Flanderngekämpft hätte: dort waren es die Spanier, hier die Frauen,und hier wie dort galt es, einen Feind niederzuzwingen undKontributionen einzutreiben. Immerhin sei zugegeben, daß in diesem Augenblick ein ed-leres und weniger eigennütziges Gefühl d’Artagnan bewegte.Der Krämer hatte ihm zwar gesagt, daß er ein wohlhabenderMann war, und unser junger Freund konnte sich leicht denken,daß bei einem so einfältigen Menschen wie diesem Bonacieuxder Schlüssel zum Geldkasten von der Frau verwahrt wurde,aber all das beeinflußte in keiner Weise das Gefühl, das die Be-gegnung mit Frau Bonacieux in ihm ausgelöst hatte, und soblieb die aufkeimende Liebe fast frei von Eigennutz. Wir sagenbewußt »fast«, denn die Vorstellung, daß eine junge, schöne,anmutige und geistvolle Frau gleichzeitig auch Geld hat, tutsolchem ersten Feuer keinen Abbruch, sondern wirkt im Ge-genteil durchaus bestärkend. 119

Überdies war d’Artagnan, wie sich der Leser wohl erinnernwird, da wir ihm den Vermögensstand unseres jungen Freun-des keineswegs verborgen haben, alles andere als ein Millionär.Wenn er auch hoffte, eines Tages einer zu werden, so lag derZeitpunkt, den er sich selbst für diesen glücklichen Wandel ge-setzt hatte, doch noch in weiter Ferne. Wie entsetzlich nunaber, inzwischen eine Frau zu lieben und zu sehen, wie sie sichtausend Kleinigkeiten wünscht – die doch das Glück der Frauenausmachen –, und sie ihr nicht verschaffen zu können! Es seidenn, die Frau ist reich und kann sich das, was ihr der armeGeliebte nicht schenken kann, selber kaufen, und mag sie dasauch meist mit dem Gelde ihres Mannes tun, so fließt ihr Dankdoch fast immer dem anderen zu! Ungeachtet seiner Bereitschaft, der zärtlichste Liebhaberzu sein, blieb d’Artagnan ein ergebener Freund. Bei all seinenverliebten Plänen vergaß er keineswegs seine drei Muske-tiere. Die hübsche Bonacieux war ganz die Frau, die man inSaint-Denis oder Saint-Germain in Gesellschaft von Athos,Porthos und Aramis spazierenführen konnte, denen er vollerStolz seine Eroberung zeigen würde. Und im übrigen könnteer dank dieser Verbindung seinen Freunden sicherlich ausmancher peinlichen Verlegenheit helfen. Doch was war mit Herrn Bonacieux, den er den Häschernüberantwortet, den er laut verleugnet und dem er leise Ret-tung versprochen hatte? Wir müssen unseren Lesern geste-hen, daß d’Artagnan, wenn er überhaupt an ihn dachte, derMeinung war, der Mann sei ganz gut aufgehoben, wo immerer sich jetzt befand. Die Liebe ist die selbstsüchtigste allerLeidenschaften. Doch können unsere Leser unbesorgt sein:Wenn auch d’Artagnan seinen Hauswirt vergißt oder zu ver-gessen scheint, wir vergessen ihn nicht! Wir wollen es zwarvorerst wie der verliebte Gascogner halten, aber wir kommenbestimmt noch auf den ehrenwerten Krämer zurück. Ganz in Gedanken an sein künftiges Liebesabenteuer, fander sich plötzlich gar nicht weit von Aramis’ Wohnung, under sagte sich, daß ein Besuch bei seinem Freund wohl ange-bracht sei, um ihm zu erklären, weshalb er Planchet zu ihmgeschickt hatte. Wenn nämlich Aramis zu Hause gewesenwar, als Planchet kam, dann war er bestimmt in die Rue des120

Fossoyeurs geeilt, wo er wahrscheinlich nur die beiden an-deren angetroffen hatte, die genausowenig wie er wußten,was sie von alledem halten sollten. Auf jeden Fall erfordertedie nächtliche Störung ein Wort der Erklärung. Insgeheim aber versprach er sich davon auch eine Gelegen-heit, über die hübsche kleine Frau Bonacieux zu plaudern, vonder, wenn nicht sein Herz, so doch seine Sinne schon ganz er-füllt waren. Und wer wollte von einem Mann, der zum ersten-mal verliebt ist, Verschwiegenheit verlangen? Jede erste Lei-denschaft muß überschäumen, wenn man nicht daran erstickensoll. Seit zwei Stunden lag Paris im Dunkeln, und die Straßenbegannen zu veröden. Alle Turmuhren von Saint-Germainschlugen die elfte Stunde. Das Wetter war für Anfang Märzaußerordentlich mild. D’Artagnan ging durch ein Gäßchenund genoß die laue Vorfrühlingsluft, die ihm der Wind ent-gegentrug. Fernher tönte, durch gute Fensterläden gedämpft,froher Zechgesang aus einigen entlegenen Schenken. AmEnde des Gäßchens bog d’Artagnan links in die Rue de Vau-girard ein. Das Haus, in dem Aramis wohnte, lag zwischen der RueCassette und der Rue Servandoni. D’Artagnan hatte die RueCassette schon hinter sich und erkannte bereits das untereinem dichten Wulst von Sykomoren und wildem Wein ver-grabene Haustor des Freundes, als er so etwas wie einen Schat-ten aus der Rue Servandoni hervorkommen sah. Dieser Schat-ten war in einen Mantel gehüllt, und d’Artagnan glaubte zu-erst, es wäre ein Mann; doch an der zierlichen Gestalt, an demunsicheren, zögernden Gang erkannte er bald, daß er eine Frauvor sich hatte. Überdies schien die Frau ein Haus zu suchen,von dem sie nicht genau wußte, wo es lag, denn sie blieb allepaar Schritt stehen, blickte sich um, ging dann wieder weiter.D’Artagnans Neugier erwachte. Ob ich ihr meine Hilfe anbiete? dachte er. Ihrer Haltungnach muß sie jung sein; vielleicht ist sie auch hübsch. Abereine junge Frau, die zu dieser späten Stunde noch ausgeht,will sich bestimmt nur mit ihrem Liebhaber treffen. Ver-wünscht, ein Stelldichein zu stören, das wäre ein schlechterAnfang für meine eigene verliebte Zukunft! 121

Unterdes kam die junge Frau immer näher, wobei sie offen-bar die Häuser und Fenster zählte. Das war übrigens nicht wei-ter schwierig, denn es gab in diesem Teil der Straße nur dreiHäuser, und nur zwei Fenster lagen zur Straße hin. Das einegehörte zu einem Pavillon, der dem Hause von Aramis be-nachbart war, das andere gehörte Aramis selbst. Hoho! dachte d’Artagnan, dem die Nichte des Theologeneinfiel. Das wäre ja lustig, wenn dieses verspätete Täubchendas Haus unseres Freundes suchte! Weiß Gott, es sieht wirk-lich ganz so aus! Warte, mein lieber Aramis, diesmal will ichdir auf die Sprünge kommen! D’Artagnan machte sich so dünn, wie er nur konnte, undverbarg sich an der dunkelsten Stelle der Straße bei einer Stein-bank, die in einer Nische stand. Noch immer ging die Frau wei-ter; außer dem leichtfüßigen Gang, der sie zuerst verraten hatte,ließ sie jetzt auch ein leises Hüsteln hören, das eine sehr fri-sche Stimme offenbarte. D’Artagnan hielt es für ein verein-bartes Zeichen. Sei es nun, daß auf dieses Husten eine Antworterfolgt war, sei es, daß die nächtliche Sucherin von sich aus er-kannt hatte, daß sie am Ziel angelangt war, jedenfalls trat siejetzt kurz entschlossen an Aramis’ Fenster und klopfte dreimal. »Sie will also wirklich zu Aramis!« murmelte d’Artagnan.»Na wartet, Herr Heuchler, diesmal ertappe ich Euch beiEurer Theologie!« Das dreimalige Klopfzeichen war kaum verhallt, als das in-nere Fenster geöffnet wurde und ein Licht durch die Lädenschimmerte. Ah, der Besuch war erwartet, überlegte der Lauscher. Nunwerden gleich die Läden aufgehen, und die Dame steigtdurchs Fenster. Ausgezeichnet! Aber zu d’Artagnans großem Erstaunen blieben die Lädengeschlossen. Auch das Licht verschwand, und alles wurdewieder dunkel. D’Artagnan sagte sich, daß es dabei nicht seinBewenden haben könne, und so lauschte und spähte er an-gestrengt weiter. Er sollte recht behalten: Nach kurzer Zeitertönte im Innern ein zweimaliges Klopfzeichen. Die jungeFrau antwortete mit einem, und sogleich öffneten sich dieLäden. Man kann sich denken, was für ein erwartungsvollerZuhörer und Zuschauer d’Artagnan war.122

Leider war das Licht in ein anderes Zimmer gebracht wor-den, doch die Augen des jungen Mannes hatten sich inzwi-schen an die Dunkelheit gewöhnt. Überdies sollen ja, wie manversichert, die Gascogner mit den Katzen die Eigenschaft ge-mein haben, daß sie auch bei Nacht sehen können. D’Arta-gnan sah also, wie die junge Frau etwas Weißes aus der Taschezog, das sie rasch entfaltete und das hierauf die Gestalt einesTaschentuches annahm. Auf eine Ecke dieses Tuches machtesie ihr Gegenüber anscheinend besonders aufmerksam. D’Artagnan mußte an das Batisttüchlein denken, das er zuFrau Bonacieux’ Füßen gefunden und das ihn an seine ersteBegegnung mit Aramis erinnert hatte. Was zum Teufel mochte dieses Tuch bedeuten? Von seinem Platz aus konnte d’Artagnan das Gesicht desFreundes nicht erkennen – und er zweifelte keinen Augen-blkk daran, daß die junge Frau mit Aramis sprach; schließlichaber siegte die Neugier über die Vorsicht, und da er die bei-den mit dem Tuch beschäftigt sah, trat er aus seinem Versteckhervor und huschte auf leisen Sohlen bis zu einem Mauer-vorsprung. Von hier aus konnte er ohne weiteres in das Zim-mer sehen. Fast hätte er vor Überraschung aufgeschrien: die nächtlicheBesucherin sprach nicht mit Aramis, sondern mit einer Frau. Aber wenn er auch ihre äußeren Umrisse erkennen konnte,ihre Gesichtszüge blieben ihm verborgen. Jetzt holte die Frau im Fenster ebenfalls ein Taschentuchhervor und tauschte es gegen das andere ein. Es wurden nocheinige Worte gewechselt, dann schloß sich das Fenster wie-der. Die Frau, die draußen stand, wandte sich um und gingkaum vier Schritt an d’Artagnan vorüber, wobei sie die Ka-puze ihres Mantels tief ins Gesicht zog; aber die Vorsicht kamzu spät, d’Artagnan hatte Frau Bonacieux erkannt. Frau Bonacieux! Schon als sie das Taschentuch hervorge-holt hatte, war ihm dieser Verdacht gekommen; aber konnteer denn annehmen, daß Frau Bonacieux, die nach Herrn deLa Porte geschickt hatte, um sich in den Louvre zurück-führen zu lassen, nachts um halb zwölf allein durch dieStraßen lief, auf die Gefahr hin, daß man sie ein zweites Malentführte? Es mußte sich also um etwas außerordentlich 123

Wichtiges handeln. Und was ist das Wichtigste für eine hüb-sche Frau von Anfang Zwanzig? Die Liebe. Für wen abersetzte sie sich solchen Gefahren aus? Für sich selbst oder fürjemand anderes? All das fragte sich der junge Mann, den dieEifersucht plagte, als wäre er bereits ihr erklärter Liebhaber. Es gab übrigens ein sehr einfaches Mittel, um sich zu ver-gewissern, wohin Frau Bonacieux ging; er brauchte ihr nur zufolgen. Das Mittel war so einfach, daß er es ganz selbstver-ständlich und unwillkürlich anwendete. Doch beim Anblick des jungen Mannes, der sich von derMauer löste und wie eine Statue aus einer Nische trat, undbeim Geräusch der sie verfolgenden Schritte schrie Frau Bo-nacieux erschrocken auf und versuchte zu fliehen. D’Arta-gnan lief hinter ihr her. Es war für ihn nicht schwer, eine Fraueinzuholen, die noch dazu ein langer Mantel behinderte. DieUnglückliche war erschöpft, nicht vor Ermüdung, sondernvor Schreck, und als d’Artagnan ihr die Hand auf die Schul-ter legte, sank sie in die Knie und rief mit erstickter Stimme: »Tötet mich, wenn Ihr wollt. Ihr werdet nichts erfahren!« D’Artagnan legte den Arm um ihre Hüften und richtete sieauf. An der Schwere ihres Körpers merkte er, daß sie einerOhnmacht nahe war, und um sie wieder zu beruhigen, beteu-erte er ihr seine Ergebenheit. Die Beteuerungen selbst sagtenFrau Bonacieux gar nichts, denn dahinter konnten sich dieschlimmsten Absichten verbergen; die Stimme war entschei-dend. Und die junge Frau glaubte diese Stimme zu kennen. Sieöffnete die Augen, warf einen Blick auf den Mann, der ihr sol-che Angst eingejagt hatte, und stieß einen Freudenschrei aus: »Oh, Ihr seid es! Gott sei Dank, daß Ihr es seid!« »Ja, ich bin es. Und offenbar hat mich Gott gesandt, umauf Euch aufzupassen.« »Seid Ihr mir etwa in dieser Absicht gefolgt?« fragte mitkokettem Lächeln die junge Frau, deren natürliche Spottlustwieder die Oberhand gewann und deren Furcht restlos ge-schwunden war, seit sie in dem vermeintlichen Feind einenFreund erkannt hatte. »Nein«, beteuerte d’Artagnan. »Wirklich nicht! Der Zufallhat mich auf Euern Weg geführt. Ich sah, wie eine Frau an dasFenster meines Freundes klopfte …«124

»Eures Freundes?« »Allerdings, Aramis ist einer meiner besten Freunde!« »Aramis? Wer ist denn das?« »Aber Ihr wollt mir doch nicht einreden, daß Ihr Aramisnicht kennt?« »Ich höre den Namen zum erstenmal.« »Und wart zum erstenmal hier?« »Ganz recht.« »Und Ihr wißt nicht, daß in dem Haus ein junger Mannwohnt?« »Nein.« »Ein Musketier?« »Aber nein!« »Dann wolltet Ihr also nicht zu ihm?« »Ganz und gar nicht. Übrigens habt Ihr ja auch gesehen,daß ich mit einer Frau sprach.« »Das schon, aber diese Frau ist sicherlich eine Freundinvon Aramis.« »Das weiß ich nicht.« »Schließlich wohnt sie bei ihm.« »Das geht mich nichts an.« »Wer ist sie denn?« »Oh, das ist nicht mein Geheimnis.« »Liebe Frau Bonacieux, Ihr seid wundervoll, doch zugleichseid Ihr voller Rätsel …« »Verliere ich dadurch?« »Nein, im Gegenteil, Ihr seid anbetungswürdig.« »Dann reicht mir Euern Arm!« »Sehr gern. Und jetzt?« »Jetzt führt mich!« »Wohin?« »Das werdet Ihr schon sehen, denn Ihr bringt mich ja biszur Tür.« »Darf ich dort auf Euch warten?« »Das ist nicht nötig.« »Wollt Ihr denn allein zurückgehen?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« »Und wenn Euch jemand begleitet, wird es ein Mann odereine Frau sein?« 125

»Das weiß ich noch nicht.« »Aber ich werde es schon erfahren.« »Wieso?« »Ich warte eben, bis Ihr wieder herauskommt.« »Dann lebt wohl!« »Wieso?« »Ich brauche Euch nicht mehr.« »Aber Ihr wolltet doch …« »Den Beistand eines Edelmannes, nicht die Überwachungdurch einen Spion.« »Das Wort ist ein bißchen hart.« »Wie nennt man jemand, der anderen Leuten gegen derenWillen folgt?« »Indiskret.« »Das Wort ist ein bißchen schwach.« »Gut, Madame, ich sehe schon, daß man alles tun muß,was Ihr verlangt.« »Warum habt Ihr Euch um den Vorzug gebracht, es sofortzu tun?« »Darf man nicht auch einmal etwas bereuen?« »Bereut Ihr denn wirklich?« »Ich weiß nicht recht. Ich weiß bloß, daß ich Euch ver-spreche, alles zu tun, was Ihr wollt, wenn ich Euch nur be-gleiten darf.« »Und Ihr werdet dann auch brav gehen?« »Ja.« »Werdet nicht warten, bis ich wieder herauskomme?« »Nein.« »Ehrenwort?« »Mein Wort als Edelmann!« D’Artagnan bot Frau Bonacieux seinen Arm, in den sie sichhalb lachend, halb zitternd hängte, und so gingen beide wei-ter, bis sie die Rue de La Harpe erreichten. Hier schien diejunge Frau zu zögern wie zuvor schon in der Rue de Vaugirard.Dann aber hatte sie an gewissen Zeichen offenbar das ge-suchte Haus erkannt, und während sie auf die Tür zuging,sagte sie: »So, hier habe ich zu tun. Tausend Dank für Eure ehren-volle Begleitung, die mich vor allen Gefahren bewahrt hat,126

denen ich ohne Euch sicherlich ausgesetzt gewesen wäre.Aber nun müßt Ihr Euer Wort halten, denn ich bin am Ziel.« »Und nachher habt Ihr nichts mehr zu fürchten?« »Höchstens Diebe.« »Und ist das nichts?« »Was können sie mir schon nehmen? Ich habe keinenPfennig bei mir.« »Ihr vergeßt das schöne gestickte Taschentuch mit demWappen, das ich vorhin zu Euern Füßen fand und Euch wie-der zusteckte.« »Schweigt, Unseliger, schweigt!« rief die junge Frau. »WolltIhr mich verderben?« »Da seht Ihr, daß es wohl noch Gefahren für Euch gibt,denn ein einziges Wort läßt Euch zittern, und Ihr gebt zu,daß Ihr verloren wärt, wenn man dies eine Wort hörte!« er-widerte d’Artagnan, der ihre Hand ergriffen hatte und sie miteinem leidenschaftlichen Blick umfing. »Seid doch weither-ziger, vertraut Euch mir an! Lest Ihr denn nicht in meinenAugen, daß nur Ergebenheit und Sympathie in meinem Her-zen sind?« »Gewiß, und wenn Ihr mich nach meinen Geheimnissenfragt, will ich Euch gern alles sagen; nur verlangt nicht, daßich Euch die Geheimnisse anderer verrate!« »Gut, dann versuche ich eben, sie aufzudecken. Diese Ge-heimnisse haben offenbar einen Einfluß auf Euer Leben, unddarum müssen sie auch die meinen werden.« »Versucht das nur ja nicht!« rief die junge Frau mit einerEindringlichkeit, die d’Artagnan unwillkürlich betroffenmachte. »Mischt Euch um Gottes willen nicht in diese Dinge,gebt es auf, mich bei meinem Tun unterstützen zu wollen!Darum bitte ich Euch bei allem, was ich Euch bedeute, undbei dem Dienst, den Ihr mir erwiesen habt und den ich Euchnie vergessen werde. Kümmert Euch nicht mehr um mich,tut, als gäbe es mich gar nicht, als hättet Ihr mich nie gese-hen!« »Gilt das auch für Aramis?« fragte d’Artagnan spitz. »Nun sprecht Ihr diesen Namen schon zum zweiten- oderdrittenmal aus, und ich habe Euch doch gesagt, daß ich ihnnicht kenne.« 127

»Ihr wollt den Mann nicht kennen, an dessen Fenster Ihrnoch eben geklopft habt? Ihr haltet mich wohl für sehrleichtgläubig, Madame?« »Gebt doch zu, daß Ihr diesen Mann nur erfindet, um michzum Sprechen zu bewegen!« »Ich erfinde gar nichts, ich sage die reine Wahrheit.« »Und Ihr bleibt dabei, daß einer Eurer Freunde in diesemHause wohnt?« »Allerdings, und ich wiederhole zum drittenmal, daß dortmein Freund Aramis wohnt.« »All das wird sich schon noch aufklären«, murmelte diejunge Frau, »jetzt aber schweigt!« »Wenn Ihr in meinem Herzen lesen könntet, so fändet Ihrdarin so viel Neugier, daß Ihr Mitleid mit mir hättet, und soviel Liebe, daß Ihr meine Neugier augenblicklich stillen wür-det. Von einem, der liebt, hat man nichts zu fürchten.« »Ihr sprecht sehr rasch von Liebe«, sagte die junge Frauund schüttelte den Kopf. »Weil die Liebe so rasch und zum erstenmal über mich ge-kommen ist, denn ich bin noch keine zwanzig Jahre alt.« Die junge Frau betrachtete ihn verstohlen. »Hört«, fuhr d’Artagnan fort, »ich habe bereits eine Spur.Vor drei Monaten hätte ich mich beinahe mit Aramis duel-liert, und zwar wegen eines Taschentuchs von derselben Art,wie Ihr vorhin eines der Frau in der Wohnung meines Freun-des gezeigt habt, und ich bin sicher, daß es genauso gezeich-net ist.« »Und ich versichere Euch, daß Ihr mir mit dem, was Ihr dasagt, reichlich auf die Nerven fallt.« »Aber meint Ihr nicht, Madame, die Ihr sonst so vorsich-tig seid, daß es Euch kompromittieren muß, wenn man Euchverhaftet und dieses Taschentuch bei Euch findet?« »Warum? Ist es nicht mit meinen Anfangsbuchstaben ge-zeichnet: C. B. – Constance Bonacieux?« »Oder Camille de Bois-Tracy.« »Schweigt, mein Herr, um alles in der Welt schweigt! WennEuch die Gefahren, denen ich mich aussetze, nicht zurück-schrecken, so denkt wenigstens an das, was Euch selberdroht!«128

»Mir?« »Ja, Euch. Durch die Bekanntschaft mit mir droht EuchGefängnis, vielleicht sogar der Tod.« »Dann verlasse ich Euch erst recht nicht.« Die junge Frau rang die Hände und flehte: »Um Himmels willen, entfernt Euch jetzt, ich beschwöreEuch bei Eurer Soldatenehre und bei Eurer Ritterlichkeit!Hört, eben schlägt es Mitternacht, und das ist die Zeit, zuder man mich erwartet!« »Einer so inständigen Bitte kann ich nicht widerstehen«,sagte d’Artagnan und verneigte sich. »Seid darum unbesorgt,ich gehe!« »Und Ihr folgt mir nicht, beobachtet mich nicht?« »Ich gehe sofort nach Hause.« »Ach, ich wußte ja, daß Ihr ein wackerer junger Mannseid!« rief sie und reichte ihm die Hand, während sie mit deranderen nach dem Türklopfer griff. D’Artagnan nahm ihre Hand und küßte sie leidenschaft-lich. »Oh, hätte ich Euch doch nie gesehen!« stieß er mit jenerunverstellten Heftigkeit hervor, die den Frauen oft besser ge-fällt als noch so geistreiche Komplimente, da sie die Tiefe derEmpfindung verrät und beweist, daß das Gefühl stärker istals alle Vernunft. »Nun«, erwiderte Frau Bonacieux fast zärtlich und drückteseine Hand, »das will ich nun doch nicht sagen, denn washeute nicht möglich ist, braucht ja nicht immer unmöglich zusein. Wer weiß, ob ich nicht eines Tages, wenn man mich mei-ner Schweigepflicht entbunden hat, Eure Neugier befriedi-gen kann!« »Und darf meine Liebe das gleiche erwarten?« fragte er,außer sich vor Freude. »Oh, in dieser Hinsicht will ich nichts versprechen, dashängt ganz von dem Gefühl ab, das Ihr in mir zu wecken ver-steht.« »Heute also …« »Heute kann ich noch nicht mehr als Euch dankbar sein.« »Ach, Ihr seid zu bestrickend«, sagte d’Artagnan traurig,»und mißbraucht meine Liebe.« 129

»Nein, ich mache nur von Euerm Edelmut Gebrauch, das istalles. Aber glaubt mir, manche Leute lassen nichts unbelohnt!« »Ihr macht mich überglücklich. Vergeßt niemals diesenAbend und dieses Versprechen!« »Seid unbesorgt! Zu gegebener Zeit werde ich mich schondaran erinnern. Doch jetzt geht endlich, geht um Himmelswillen! Man erwartet mich um Punkt zwölf, und ich habemich bereits verspätet.« »Um fünf Minuten.« »Ja, aber fünf Minuten können unter Umständen fünf Jahr-hunderte sein.« »Wenn man liebt.« »Und wer sagt Euch, daß ich es nicht mit einem Verliebtenzu tun habe?« »Also ist es doch ein Mann, der Euch erwartet?« rief d’Ar-tagnan. »Ein Mann!« »Fangt Ihr wieder von vorn an?« versetzte Frau Bonacieuxmit einem halben Lächeln, das nicht frei war von einer ge-wissen Ungeduld. »Nein, nein, ich geh schon! Ich glaube Euch und will Euchkeinen Zweifel an meiner Ergebenheit lassen, mag diese Er-gebenheit auch noch so töricht sein. Lebt wohl!« Und als fühle er sich außerstande, sich von der Hand, dieer noch immer hielt, anders als mit einem Ruck loszureißen,rannte er davon, während Frau Bonacieux, wie schon an Ara-mis’ Fenster, dreimal an die Tür klopfte. An der Straßeneckewandte sich d’Artagnan um; die Tür hatte sich geöffnet undwieder geschlossen, die hübsche Krämersfrau war ver-schwunden. D’Artagnan setzte seinen Weg fort. Er hatte Frau Bona-cieux sein Wort gegeben, und hätte von dem Ort, an den siesich begab, und von der Person, die sie begleiten sollte, auchsein Leben abgehangen, er wäre trotzdem nach Hause ge-gangen, da er es ihr einmal versprochen hatte. Fünf Minutenspäter war er in der Rue des Fossoyeurs. »Armer Athos«, murmelte er, »er weiß noch immer nicht,was das alles zu bedeuten hat. Vielleicht wartet er auf michund ist darüber eingeschlafen, oder er ist nach Hause gegan-gen und hat daheim erfahren, daß eine Frau bei ihm war. Eine130

Frau bei Athos! Das heißt, schließlich war ja auch eine beiAramis. Das Ganze ist schon eine merkwürdige Geschichte,und ich bin wirklich neugierig, wie das noch mal alles endet!« »Schlecht, gnädiger Herr, schlecht!« antwortete eine Stim-me, die er als die seines Dieners Planchet erkannte; dennwährend er nach Art gedankenvoller Leute laut vor sich hinredete, war er in den Hausflur getreten, an dessen Ende sichdie Treppe befand, die zu seiner Wohnung führte. »Wieso schlecht? Was willst du damit sagen, Tölpel? Wasist geschehen?« »Unglück über Unglück.« »Ja, was denn nur?« »Erstens hat man Herrn Athos verhaftet.« »Verhaftet? Athos verhaftet? Und warum?« »Man hat ihn hier angetroffen und für Euch gehalten.« »Wer hat ihn denn verhaftet?« »Gardisten, die von den schwarzen Männern, die Ihr in dieFlucht geschlagen habt, zu Hilfe geholt wurden.« »Warum hat er nicht seinen Namen genannt und gesagt,daß er mit der Sache nichts zu tun hat?« »Er hat sich gehütet, das zu tun, gnädiger Herr. Er hat mirim Gegenteil zugeflüstert: ›Für deinen Herrn ist es im Au-genblick wichtiger, frei zu sein, als für mich, denn er weiß et-was, während ich keine Ahnung habe. Und dadurch, daß manihn in sicherem Gewahrsam glaubt, gewinnt er Zeit. Nachdrei Tagen sage ich, wer ich bin, und da wird man mich wohloder übel freilassen müssen.‹« »Bravo, Athos!« murmelte d’Artagnan. »Daran erkenn ichdeinen edlen Sinn! Und was taten die Häscher?« »Zu viert haben sie ihn weggebracht, ich weiß nicht wohin,zur Bastille oder in die Bischofsfeste. Zwei blieben bei denschwarzen Männern, die alles durchsucht und sämtliche Pa-piere mitgenommen haben. Die beiden letzten endlich standenwährend der ganzen Prozedur auf Posten vor der Tür. Als siemit allem fertig waren, sind sie abgezogen und haben das Hausausgeplündert und unverschlossen zurückgelassen.« »Und Porthos und Aramis?« »Die hab ich nicht angetroffen, und sie sind auch nicht ge-kommen.« 131

»Aber sie können immer noch kommen, denn du hastdoch Nachricht hinterlassen, daß ich sie erwarte?« »Gewiß, gnädiger Herr.« »Gut, dann rühr dich hier nicht von der Stelle! Wenn siekommen, sag ihnen, was mir zugestoßen ist, und sie sollenmich im ›Tannenzapfen‹ erwarten; hier wäre es zu gefährlich,denn womöglich wird das Haus beobachtet. Ich laufe jetztrasch zu Herrn de Treville und berichte ihm alles, dannkomme ich in den ›Tannenzapfen‹ nach.« »Sehr wohl, gnädiger Herr.« »Aber daß du mir hierbleibst und dich nicht aus Angst ver-krümelst!« »Seid unbesorgt, gnädiger Herr! Ihr kennt mich nochnicht; ich bin sehr mutig, wenn ich es mir fest vornehme; ichmuß es mir nur fest vornehmen, das ist es. Und außerdem binich Pikarde.« »Also abgemacht, du läßt dich eher töten, als daß du deinenPosten verläßt!« »Ja, Herr, und es gibt nichts, was ich nicht tun würde, umEuch meine Anhänglichkeit zu beweisen.« Donnerwetter, sagte sich d’Artagnan, der Bursche machtsich! Und so rasch ihn seine Füße trugen, die in den letztenStunden ja immerhin schon einiges hinter sich gebracht hat-ten, lief er in die Rue du Vieux-Colombier. Herr de Treville war nicht zu Hause; seine Kompanie hattedie Wache im Louvre, und er war bei seinen Leuten. Aberd’Artagnan mußte unbedingt zu ihm, um ihm von dem Vor-fall Meldung zu machen. Also entschloß er sich zu dem Ver-such, ihn im Louvre zu erreichen. Seine Uniform als Gardistder Kompanie des Herrn des Essarts mußte ihm eben als Pas-sierschein dienen. Er eilte durch die Rue des Petits-Augustins an den Quai.Einen Augenblick hatte er daran gedacht, die Fähre zu be-nutzen, aber als er unwillkürlich die Hand in die Taschesteckte, merkte er, daß er gar kein Geld bei sich hatte, umden Fährmann zu bezahlen. Als er daraufhin in Richtung zurPont-Neuf weiterging, sah er plötzlich aus der Rue Dauphinezwei Gestalten herauskommen, deren überraschendes Äuße-res ihn sofort aufmerken ließ.132

Es waren ein Mann und eine Frau. Die Frau hatte ganz dieHaltung der Madame Bonacieux, während der Mann demschönen Aramis zum Verwechseln ähnlich sah. Zudem trugdie Frau den gleichen schwarzen Mantel, den d’Artagnannoch immer vor dem Fenster in der Rue de Vaugirard undvor der Tür in der Rue de La Harpe sich abzeichnen sah. Undder Mann hatte eine Musketieruniform an. Die Kapuze der Frau war heruntergeschlagen, und derMann hielt sich ein Taschentuch vors Gesicht; diese doppelteVorsicht bewies, daß beide nicht erkannt werden wollten. Sieschlugen den Weg zur Brücke ein, über die auch unser jun-ger Freund mußte, und so folgte er den beiden. D’Artagnan hatte noch keine zwanzig Schritte gemacht, alser sicher war, Frau Bonacieux und Aramis vor sich zu haben.Sogleich regte sich der ganze Argwohn der Eifersucht in sei-nem Herzen. Er fühlte sich doppelt hintergangen, von seinemFreund und von der, die er bereits als seine Geliebte anbetete.Frau Bonacieux hatte ihm hoch und heilig versichert, sie kenneAramis nicht, und nun, eine Viertelstunde später, sah er sieArm in Arm mit dem Freunde. D’Artagnan bedachte nicht, daß er die hübsche Krämers-frau erst seit drei Stunden kannte und daß sie ihm allenfallsein wenig Dank schuldete für ihre Befreiung aus den Händender schwarzen Häscher, daß sie ihm jedoch überhaupt nichtsversprochen hatte. Er sah sich als einen beleidigten, betro-genen und verspotteten Liebhaber, der Zorn trieb ihm dasBlut ins Gesicht, und er beschloß, sich Klarheit zu verschaf-fen. Die beiden hatten bemerkt, daß sie verfolgt wurden, undbeschleunigten ihre Schritte. D’Artagnan lief noch schnel-ler, überholte sie und kehrte sich gerade in dem Augenblickum, als sie sich mitten auf der Brücke vor der Figur der Sa-mariterin befanden, die von einer Laterne beleuchtet wurde,deren Schein den ganzen Umkreis erhellte. Er stellte sich denbeiden so in den Weg, daß auch sie stehenblieben. »Was wollt Ihr, mein Herr?« fragte der Musketier und wicheinen Schritt zurück; aber der fremdartige Tonfall hatte d’Ar-tagnan bereits gezeigt, daß seine Vermutungen zumindest ineinem Teil falsch waren. 133

»Ihr seid ja gar nicht Aramis!« rief er. »Nein, mein Herr, ich bin nicht Aramis, und Euer Ausrufsagt mir, daß Ihr mich für einen anderen gehalten habt;darum verzeihe ich Euch.« »Ihr verzeiht mir?« »Ja«, antwortete der Unbekannte. »Also laßt mich weiter-gehen, denn mit mir habt Ihr ja nichts im Sinn.« »Ganz recht, nicht mit Euch habe ich etwas im Sinn, son-dern mit Eurer Begleiterin.« »Mit meiner Begleiterin? Aber Ihr kennt sie ja gar nicht!« »Ihr irrt, mein Herr, ich kenne sie.« »Oh«, sagte Frau Bonacieux vorwurfsvoll, »ich hatte EuerWort als Soldat und Edelmann und glaubte, mich darauf ver-lassen zu dürfen!« »Und Ihr, Madame, hattet mir zugesagt …«, erwiderted’Artagnan verlegen. »Nehmt meinen Arm, wir wollen weitergehen!« sagte derFremde. Aber völlig niedergeschmettert und wie betäubt von allem,was ihm geschehen war, blieb d’Artagnan mit verschränktenArmen vor den beiden stehen. Der Musketier machte zweiSchritte und versuchte, den Gascogner mit dem Arm zurSeite zu schieben, der aber sprang zurück und zog seinen De-gen. Im selben Augenblick riß auch der Unbekannte sein Ra-pier aus der Scheide. »Um Himmels willen, Mylord!« rief Frau Bonacieux, warfsich zwischen die Männer und packte entschlossen die bei-den Klingen. »Mylord?« rief d’Artagnan, von einem plötzlichen Gedan-ken erleuchtet. »Verzeiht, Mylord, aber seid Ihr am Ende …« »Der Herzog von Buckingham«, sagte Frau Bonacieuxleise, »und jetzt könnt Ihr uns alle ins Verderben stürzen.« »Um Vergebung, Mylord! Um Vergebung, Madame! Aberich liebe, Mylord, und war eifersüchtig. Ihr wißt, was liebenheißt, Mylord! Verzeiht mir und sagt mir einen Weg, wie ichmein Leben für Euer Gnaden in die Schanze schlagen kann!« »Ihr seid ein wackerer Jüngling«, versetzte Buckinghamund reichte d’Artagnan seine Hand, die dieser ehrfurchtsvolldrückte. »Ihr bietet mir Eure Dienste an, ich sage nicht nein;134

folgt uns in zwanzig Schritt Abstand zum Louvre, und wennIhr einen seht, der uns nachspürt, so tötet ihn!« D’Artagnan nahm den blanken Degen unter den Arm, ließden Herzog und Frau Bonacieux vorausgehen und folgte ihnen,bereit, den Befehl des edlen und eleganten Ministers KönigKarls I. getreulich auszuführen. Aber glücklicherweise fand erkeine Gelegenheit, dem Herzog diesen Beweis seiner Ergeben-heit zu liefern, denn die hübsche Frau und der schmucke Mus-ketier erreichten unbehelligt den kleinen Nebeneingang desLouvre in der Rue de L’Echelle. D’Artagnan eilte hierauf sofort in den »Tannenzapfen«, woPorthos und Aramis schon auf ihn warteten. Aber er sagteihnen nichts Näheres über die Gründe, derentwegen er siehatte rufen lassen, sondern erklärte nur, daß er die Angele-genheit, für die er zuerst ihren Beistand erbitten wollte, in-zwischen allein erledigt habe. Wir aber wollen jetzt unsere drei Freunde ruhig nach Hausegehen lassen und folgen statt dessen lieber dem Herzog undseiner Führerin in das Labyrinth des Louvre. Georges Villiers, Herzog von BuckinghamFrau Bonacieux und der Herzog gelangten ohne Schwierig-keit in den Louvre. Frau Bonacieux gehörte zum Hofstaat derKönigin, und der Herzog trug die Uniform der TrevilleschenMusketiere, die bekanntlich in dieser Nacht die Wache hatten.Überdies war Germain der Königin ergeben, und wenn wirk-lich etwas dazwischenkam, so konnte man allenfalls Frau Bo-nacieux beschuldigen, ihren Liebhaber in den Louvre ge-schmuggelt zu haben, und dieses Vergehen wollte sie gern aufsich nehmen. Wohl wäre dann ihr Ruf vernichtet, aber was be-deutete schon für die große Welt der gute oder schlechte Rufeiner kleinen Krämersfrau? Sobald sich der Herzog und Frau Bonacieux im Hof befan-den, gingen sie etwa fünfundzwanzig Schritt an einer Mauerentlang, dann erreichten sie eine kleine Dienstbotenpforte, dietagsüber geöffnet, nachts aber für gewöhnlich verschlossen 135

war. Sie gab nach, beide traten ein und sahen sich von Finster-nis umgeben; aber Frau Bonacieux wußte in diesem Teil desLouvre, der für das königliche Gefolge bestimmt war, genauBescheid. Sie machte die Tür hinter sich zu, nahm den Herzogbei der Hand, ging tastend ein paar Schritte vorwärts, faßtenach einem Geländer, berührte mit dem Fuß eine Stufe undbegann eine Treppe hinaufzusteigen. Der Herzog zählte zweiStockwerke. Dann bog sie rechts ab in einen langen Gang, stiegwieder ein Stockwerk tiefer, tat noch ein paar Schritte, steckteeinen Schlüssel in ein Schloß, öffnete eine Tür und drängteden Herzog in ein Gemach, in dem nur eine Nachtlampebrannte. »Wartet hier, Mylord«, sagte sie, »man wird gleich kom-men!« Dann entfernte sie sich durch dieselbe Tür, die sie hintersich abschloß, so daß der Herzog buchstäblich gefangen war. Aber wenn der Herzog von Buckingham sich auch von al-ler Welt abgeschnitten fühlen mußte, so überfiel ihn doch nichtdie geringste Furcht; denn Abenteuerlust und romantischerSinn bildeten einen der hervorstechenden Züge seines Wesens.Kühn, tapfer und wagemutig, wie er war, setzte er sein Lebennicht zum erstenmal bei einem solchen Unterfangen aufs Spiel.Längst wußte er, daß Anna von Österreichs angebliche Bot-schaft, die ihn nach Paris gelockt hatte, eine Falle war, aber an-statt nach England zurückzukehren, hatte er die Lage dazuausgenutzt, der Königin mitzuteilen, daß er nicht eher abrei-sen werde, bevor er sie nicht gesehen habe. Sie hatte zuerstrundweg abgelehnt, dann aber fürchtete sie, der Herzogkönnte in seinem Unmut irgendeine Tollheit begehen. Schonwar sie entschlossen, ihn doch zu empfangen und ihn zu bit-ten, er möge auf der Stelle abreisen, als Frau Bonacieux, dieden Auftrag hatte, den Herzog aufzusuchen und zum Louvrezu geleiten, entführt worden war, und alles blieb in derSchwebe. Kaum aber hatte sie sich befreit und die Verbindungmit de La Porte wiederhergestellt, da nahmen die Dinge ihrenFortgang, und das gefährliche Unternehmen, das ohne ihreVerhaftung schon drei Tage früher durchgeführt worden wäre,wurde ins Werk gesetzt. Als sich Buckingham allein sah, trat er vor einen Spiegel. Der136

Musketierrock stand ihm großartig. Er war damals fünfund-dreißig Jahre alt und galt mit Recht als der schönste Edelmannund der eleganteste Kavalier von England und Frankreich.Günstling zweier Könige, Millionär, allmächtig in einem Land,das er je nach Laune in Aufruhr brachte oder wieder befrie-dete, war Georges Villiers, Herzog von Buckingham, eine je-ner fabelhaften Existenzen, die noch nach Jahrhunderten dieNachwelt in Erstaunen setzen. Selbstbewußt, von seiner Machtüberzeugt und sicher, daß die für die übrige Menschheit gülti-gen Gesetze ihm nichts anhaben konnten, steuerte er geradeauf ein einmal gesetztes Ziel los, mochte dieses Ziel auch sohoch und so glänzend sein, daß jeder andere, der einen flüch-tigen Blick darauf wagte, für toll gelten mußte. So hatte er esauch fertiggebracht, sich mehrmals der schönen und stolzenAnna von Österreich zu nähern und sie so zu blenden, daß sieihn zu lieben begann. Georges Villiers trat also vor den Spiegel, gab seinem schö-nen blonden Haar die Wellen wieder, die das Gewicht des Hu-tes zerdrückt hatte, strich seinen Schnurrbart, und vollerFreude und Glück, den so lange ersehnten Augenblick end-lich nahe zu wissen, lächelte er sich stolz und zuversichtlich zu. Da öffnete sich in der Wand eine verborgene Tür, und eineFrau erschien; Buckingham erblickte ihr Bild im Spiegel undschrie auf. Es war die Königin! Anna von Österreich stand damals im siebenundzwanzig-sten Jahr, das heißt, ihre Schönheit hatte sich zu voller Prachtentfaltet. Ihr Gang war der einer Göttin. Ihre wie Smaragdeleuchtenden Augen waren vollendet schön und blickten zu-gleich sanft und majestätisch. Ihr Mund war klein, und ob-wohl die Unterlippe, wie bei fast allen Habsburgerinnen, et-was hervortrat, so konnte er doch überaus anmutig lächelnwie auch äußerste Verachtung ausdrücken. Ihre Haut wurdewegen ihrer Zartheit und samtenen Weiche gerühmt, ihreHände und Arme wurden von allen Dichtern der Zeit als un-vergleichlich schön besungen. Ihr Haar, in ihrer Jugendblond, nunmehr aber kastanienbraun, umrahmte sehr lieb-lich das Gesicht, dem auch der strengste Kritiker nur etwasweniger Röte, der anspruchsvollste Kritiker nur eine etwaszartere Nase hätte wünschen können. 137

Buckingham stand einen Augenblick wie geblendet; niemalswar ihm Anna von Österreich so schön erschienen, weder aufden Bällen noch bei den Hoffesten, wie jetzt, da sie ihm ineinem schlichten weißen Seidenkleid gegenübertrat, nur vonDonna Estefana begleitet, der einzigen Spanierin ihres Gefol-ges, die des Königs Eifersucht und die Verfolgungen des Kar-dinals noch nicht vertrieben hatten. Anna von Österreich machte zwei Schritte ins Zimmer;Buckingham warf sich auf die Knie, und ehe sie ihn daranhindern konnte, küßte er den Saum ihres Kleides. »Herzog, Ihr wißt bereits, daß nicht ich Euch habe schrei-ben lassen.« »O ja, Madame!« rief der Herzog. »O ja, Majestät, ich weiß,daß ich ein Narr, daß ich von Sinnen war, als ich glaubte, derSchnee könne sich beleben, der Marmor sich erwärmen! Dochwenn man liebt, glaubt man so leicht an Liebe; und überdieswar meine Reise nicht ganz umsonst, da ich Euch heute sehendarf.« »Aber Ihr wißt auch, warum Ihr mich seht; nur weil Ihr un-empfindlich seid für alle meine Qualen, weil Ihr hartnäckig indieser Stadt bleibt, wodurch Ihr Euer Leben und meine Ehreaufs Spiel setzt, und weil ich Euch sagen will, daß uns allestrennt, die Tiefe des Meeres, die Feindschaft unserer Länder,die Heiligkeit der Eide. Es ist Frevel, gegen all das anzukämp-fen, Mylord. Und darum seht Ihr mich heute nur, damit ichEuch sagen kann, daß wir uns nie mehr sehen dürfen.« »Sprecht weiter, Königin! Die Lieblichkeit Eurer Stimmemildert die Härte Eurer Worte. Ihr sprecht von Frevel! Aberder Frevel liegt allein in der Trennung der Herzen, die Gottfüreinander bestimmt hat.« »Ihr vergeßt, Mylord, daß ich Euch nie gesagt habe, ichliebe Euch.« »Aber Ihr habt mir auch nie gesagt, daß Ihr mich nicht liebt,und das wäre auch allzu undankbar; denn wo findet Ihr nocheine Liebe wie die meine, eine Liebe, die weder die Zeit nochTrennung und Verzweiflung auszulöschen vermögen, eineLiebe, die sich mit einem verlorenen Band, einem flüchtigenBlick, einem entschlüpften Wort begnügt? Vor drei Jahren habeich Euch zum erstenmal gesehen, und seit drei Jahren liebe ich138

Euch in dieser Weise. Soll ich Euch sagen, was Ihr anhattet, alsich Euch das erstemal sah? Soll ich Euch jedes einzelneSchmuckstück aufzählen, das Ihr damals angelegt hattet? Ichsehe Euch noch genauso vor mir: Ihr saßt nach spanischerSitte auf Kissen und trugt ein grünes Seidenkleid mit Gold-und Silberstickerei, und mit großen Diamanten besetzteHängeärmel umhüllten Eure herrlichen Arme. Außerdemhattet Ihr eine geschlossene Krause und auf dem Kopf eineebenfalls grüne Haube mit einer Reiherfeder. Oh, ich schließedie Augen und sehe Euch vor mir, wie Ihr damals wart; nunöffne ich sie wieder und sehe Euch vor mir, wie Ihr heute seid,das heißt noch hundertmal schöner!« »Welche Torheit!« murmelte Anna von Österreich, die esnicht über sich brachte, dem Herzog böse zu sein, der ihr Bildso gut in seinem Herzen bewahrt hatte. »Welche Torheit, eineunsinnige Leidenschaft mit solchen Erinnerungen zu nähren!« »Wovon soll ich sonst leben? Ich habe ja nur Erinnerungen.Sie sind mein Glück, mein Reichtum, meine Hoffnung. Je-desmal, wenn ich Euch sehe, schließe ich einen neuen Dia-manten in die Schatzkammer meines Herzens. Dies ist dervierte, den Ihr fallen laßt und den ich aufhebe, denn in dreiJahren habe ich Euch nur viermal gesehen: das erstemal habeich Euch eben genannt, das zweitemal bei Madame de Che-vreuse, das drittemal im Park von Amiens …« »Herzog«, fiel ihm die Königin errötend ins Wort, »sprechtnicht von diesem Abend!« »O doch, sprechen wir davon, Madame, sprechen wir vondem glücklichsten und glanzvollsten Abend meines Lebens!Erinnert Ihr Euch noch der wundervollen Nacht? Wie leichtund balsamisch war die Luft, wie blau der Himmel und mitSternen übersät! Und zum erstenmal konnte ich einen Augen-blick mit Euch allein sein, zum erstenmal wart Ihr bereit, miralles zu gestehen, die Einsamkeit Eures Lebens und den Kum-mer Eures Herzens! Ihr stütztet Euch auf meinen Arm, aufdiesen hier, seht! Und als ich den Kopf zu Euch hinneigte,spürte ich, wie Euer herrliches Haar mein Gesicht streifte, undein Schauer durchrann mich. Oh, Königin, Königin, Ihr wißtja nicht, welch himmlische Wonnen, welch paradiesische Freu-den ein einziger solcher Augenblick in sich birgt! Alles, was ich 139

besitze, mein Glück, meinen Ruhm und den Rest meines Le-bens gebe ich hin für solch einen Augenblick und für solch eineNacht! Denn in jener Nacht, o Königin, da habt Ihr mich ge-liebt!« »Es mag sein, Mylord, daß der Einfluß des Ortes, der Zau-ber jenes schönen Abends, die leidenschaftliche BeredsamkeitEures Blickes, all die vielen Umstände, die manchmal zusam-menwirken, um eine Frau zugrunde zu richten, mich in jenerunseligen Nacht bestürmt haben; aber Ihr habt ja auch gese-hen, daß dem verwirrten Weibe die Königin zu Hilfe kam.Beim ersten Wort, das Ihr zu sagen wagtet, bei der erstenKühnheit, auf die ich antworten mußte, habe ich gerufen.« »O ja, das stimmt, und eine andere Liebe als die meinehätte eine solche Probe kaum bestanden. Doch meine Liebeist nur noch glühender und dauerhafter daraus hervorgegan-gen. Ihr glaubtet, durch Eure Rückkehr nach Paris mir zuentfliehen, Ihr glaubtet, ich würde es nicht wagen, den Schatzzu verlassen, den zu bewachen mir mein König aufgetragenhatte. Aber was sind mir alle Schätze und alle Könige derWelt! Acht Tage später war ich schon wieder da. Diesmal hat-tet Ihr mir nichts zu sagen; mein Leben und mein Glück hatteich aufs Spiel gesetzt, um Euch eine Sekunde zu sehen, ichdurfte nicht einmal Eure Hand berühren, aber Ihr habt mirverziehen, als Ihr mich so fügsam, so reumütig saht.« »Ja, aber inzwischen hat sich die Verleumdung all dieser Tor-heiten bemächtigt, an denen ich, wie Ihr wohl wißt, gänzlichunschuldig bin. Vom Kardinal aufgestachelt, hat der König mireine schreckliche Szene gemacht. Madame de Vernet wurdeverjagt, Putange in die Verbannung geschickt, Madame de Che-vreuse fiel in Ungnade, und als Ihr als Gesandter nach Frank-reich kommen wolltet, hat sich der König dagegen gesperrt.« »Und Frankreich wird diese Haltung seines Königs miteinem Krieg bezahlen müssen. Ich darf Euch nicht mehr se-hen, Madame; nun gut, dann sollt Ihr wenigstens jeden Tagvon mir sprechen hören! Was meint Ihr denn, was für einenZweck die Expedition zur Insel Ré und die geplante Liga mitden Protestanten von La Rochelle haben? Nur die Freude,Euch zu sehen! Ich habe dabei keineswegs die Hoffnung,etwa mit einer Armee bis nach Paris zu kommen; aber dieser140

Krieg muß ja mal zu einem Frieden führen, und um den zuschließen, braucht man einen Unterhändler, und dieser Un-terhändler werde ich sein. Dann wird man nicht mehr wagen,mich zurückzuweisen, ich komme wieder nach Paris, werdeEuch sehen und einen Augenblick glücklich sein. Tausendewerden dieses Glück zwar mit ihrem Leben bezahlt haben,aber was kümmert das mich, wenn ich nur Euch sehe! Viel-leicht ist das alles Tollheit, vielleicht Wahnsinn, aber sagtselbst, welche Frau hat einen leidenschaftlicheren Verehrer,welche Königin einen ergebeneren Diener?« »Mylord, Ihr beruft Euch zu Eurer Verteidigung auf Dinge,die Euch noch mehr anklagen; alle diese Liebesbeweise sindbeinahe Verbrechen.« »Das könnt Ihr sagen, weil Ihr nicht liebt, denn sonst wür-det Ihr das alles ganz anders ansehen. Ja, wenn Ihr mich lieb-tet! Madame de Chevreuse, die Ihr eben nanntet, war weni-ger grausam; Holland hat sie geliebt, und sie hat seine Liebeerwidert.« »Madame de Chevreuse war nicht Königin«, sagte Annavon Österreich leise, von der Leidenschaft seines Gefühlsunwillkürlich bezwungen. »Ihr würdet mich also lieben, wenn Ihr es nicht wärt, nichtwahr, Madame, dann würdet Ihr mich lieben? Nur Euer hoherRang läßt Euch so grausam gegen mich sein, und wäret IhrMadame de Chevreuse, so hätte sich der arme BuckinghamHoffnung machen dürfen? Dank für die süßen Worte, schöneMajestät, habt tausendfachen Dank!« »Aber nein, Mylord, Ihr habt mich falsch verstanden. Ihrmißdeutet meine Worte; ich wollte damit nicht sagen …« »Still, sprecht nicht weiter! Und wenn auch nur ein Irrtummich glücklich macht, seid nicht so grausam, ihn mir zu neh-men! Man hat mich in eine Falle gelockt. Ihr habt es selbstgesagt, und vielleicht muß ich meine Torheit mit dem Lebenbezahlen, denn, so sonderbar es ist, seit einiger Zeit habe ichdas Gefühl, daß ich bald sterben werde.« Und der Herzog lächelte traurig und bestrickend zugleich. »O Gott!« rief Anna von Österreich erschrocken, und ihreStimme verriet eine größere Anteilnahme an dem Herzog,als sie eingestehen wollte. 141

»Ich sage das nicht, um Euch zu erschrecken; es war über-haupt dumm von mir, das zu erwähnen, und Ihr dürft mirglauben, daß ich solche Ahnungen nicht weiter ernst nehme.Doch Euer Wort eben, diese Hoffnung, die Ihr mir beinahegegeben habt, macht alles bezahlt, und sei es mein Leben!« »Aber auch ich, Herzog, auch ich habe Vorgefühle undbange Ahnungen. So sah ich Euch im Traum mit einer blu-tenden Wunde am Boden liegen …« »Ein Dolchstich in die linke Seite, nicht wahr?« unterbrachsie der Herzog. »Ja, so ist es, Mylord, ein Dolchstich in die linke Seite.Aber wer hat Euch meinen Traum verraten können? Ich habeihn nur Gott in meinen Gebeten anvertraut.« »Mehr verlange ich nicht, denn Ihr liebt mich ja!« »Ich liebe Euch?« »Ja, Ihr, Madame! Würde Euch Gott die gleichen Träumeschicken, wenn Ihr mich nicht liebtet? Könnten wir die glei-chen Ahnungen haben, wenn unsere Herzen sich nicht be-rührten? Ihr liebt mich, o Königin, und nicht wahr, Ihr werdetmich beweinen?« »Mein Gott!« rief Anna von Österreich. »Das ist mehr, alsich ertragen kann. Geht, Herzog, um Himmels willen, reistab! Ich weiß nicht, ob ich Euch liebe oder nicht, aber ich weiß,daß ich auf keinen Fall meineidig werde. Habt doch Mitleidmit mir und reist ab! Oh, wenn man Euch hier in Frankreichentdeckt, wenn Ihr hier sterben müßt, wenn ich immer in Eu-rer Liebe zu mir die Ursache Eures Todes sehen müßte, ichfände nie mehr Trost, ich käme bestimmt um den Verstand!Geht also, ich flehe Euch an, reist auf der Stelle ab!« »Oh, wie schön Ihr jetzt seid! Und wie ich Euch liebe!« »Geht, geht, ich flehe Euch an, und kommt später wieder!Kommt als Gesandter, als Minister, umgeben von einer Leib-wache, die Euch verteidigt, von treuen Dienern, die überEuch wachen, dann brauche ich nicht mehr um Euer Lebenzu bangen und werde glücklich sein, Euch wiederzusehen.« »Oh, ist das wahr, was Ihr sagt?« »Ja …« »So gebt mir ein Unterpfand Eurer Huld, einen Gegenstand,der von Euch kommt und mich daran erinnert, daß ich nicht142

nur geträumt habe! Irgend etwas, das Ihr getragen habt unddas ich nun tragen darf, einen Ring, eine Kette, ein Halsband!« »Und geht Ihr auch, geht Ihr, wenn ich Euch gebe, worumIhr mich bittet?« »Ja.« »Und Ihr reist sofort ab?« »Ja.« »Verlaßt Frankreich und kehrt nach England zurück?« »Ich schwöre es Euch!« »Dann wartet einen Augenblick!« Und Anna von Österreich ging in ihr Gemach, kehrte aberfast sogleich wieder zurück, in der Hand ein mit Gold ein-gelegtes Kästchen aus Rosenholz. »Hier, Herzog, behaltet dies zur Erinnerung an mich!« Buckingham nahm das Kästchen und sank zum zweiten-mal auf die Knie. »Ihr habt mir versprochen, abzureisen!« »Und ich halte mein Wort. Eure Hand, Madame, EureHand, und ich gehe!« Anna von Österreich reichte ihm ihre Rechte, wobei siedie Augen schloß und sich mit der anderen Hand auf Este-fana stützte, denn sie fühlte, daß ihre Kräfte sie verließen.Buckingham preßte seine Lippen leidenschaftlich auf dieseschöne Hand, dann stand er auf und sagte: »Wenn ich nicht vorher sterbe, werde ich Euch spätestensin einem halben Jahr wiedersehen, und müßte ich deswegendie ganze Welt aus den Angeln heben!« Und getreu seinem Versprechen, stürzte er aus dem Zim-mer. Im Flur traf er Frau Bonacieux, die ihn ebenso vorsich-tig und mit ebensoviel Glück wie auf dem Hinweg wieder ausdem Louvre hinausgeleitete. Herr BonacieuxWie der Leser bemerkt haben wird, gab es bei alledem eine Per-son, um die man sich trotz ihrer mißlichen Lage anscheinendherzlich wenig kümmerte; diese Person war Herr Bonacieux, 143

redlicher Märtyrer politischer und verliebter Intrigen, wie siein jener kriegerischen und zugleich so galanten Zeit oft genugaufs engste miteinander verquickt waren. Glücklicherweise haben wir versprochen – ob sich nun derLeser erinnert oder nicht –, den unglücklichen Krämer nichtaus den Augen zu verlieren. Nach seiner Verhaftung hatten ihn die Gardisten geraden-wegs in die Bastille gebracht, wo man den Zitternden an einemTrupp Soldaten vorbeiführte, die eben ihre Musketen luden.Dann wurde er in einen halb unterirdischen Gang geführt, woer von denen, die ihn hierhergeschleppt hatten, aufs gröbstebeschimpft und mißhandelt wurde. Da die Sbirren wußten, daßsie es mit keinem Edelmann zu tun hatten, sprangen sie mitihm wie mit einem gewöhnlichen Verbrecher um. Nach etwa einer halben Stunde beendete ein Schreiberzwar diese Quälereien, nicht aber seine Ängste mit dem Be-fehl, Herrn Bonacieux zum Verhör vorzuführen. Im allge-meinen verhörte man die Gefangenen in ihren Zellen, dochmit Bonacieux machte man nicht soviel Umstände. ZweiGardisten nahmen den Krämer in die Mitte, führten ihn übereinen Hof in einen Korridor, wo drei Schildwachen auf undab gingen, öffneten schließlich eine Tür und schoben ihn ineinen niedrigen Raum, in dem sich weiter nichts befand alsein Tisch, ein Stuhl und ein Kommissar. Die beiden Gardistenführten den Gefangenen an den Tisch und zogen sich auf ei-nen Wink des Beamten außer Hörweite zurück. Dann erstblickte dieser von den vor ihm liegenden Schriftstücken aufund sah den Mann an, mit dem er es zu tun hatte. Der Kommissar war ein Mann von abstoßendem Äußeren,mit spitzer Nase, gelben vorspringenden Backenknochen, klei-nen, aber lebhaften und forschenden Augen, kurz, mit einemMarder- und Fuchsgesicht. Der Kopf saß auf einem langen,beweglichen Hals, der aus einer weiten schwarzen Robe ragte,und pendelte hin und her wie bei einer Schildkröte. Er fragte Herrn Bonacieux zunächst nach seinem Vor- undZunamen, nach Alter, Stand und Wohnung. Der Angeklagte antwortete, er heiße Jacques-Michel Bona-cieux, sei einundfünfzig Jahre alt. Rentier, ehemals Krämer,und wohne in der Rue des Fossoyeurs Nr. 11.144

Statt nun die Fragen fortzusetzen, hielt ihm der Kommissareine lange Rede über die Gefahren, die einem unbedeutendenBürger drohen, wenn er sich in öffentliche Angelegenheitenmischt. Dieser Einleitung ließ er eine Betrachtung über dieMacht und die Taten des Herrn Kardinals folgen, dieses un-vergleichlichen Ministers, der alle seine Vorgänger in den Schat-ten stelle und allen künftigen Ministern ein Vorbild sei und des-sen Absichten niemand ungestraft durchkreuze. Nach diesemzweiten Teil seiner Rede heftete er seinen Sperberblick auf denarmen Bonacieux und forderte ihn auf, den Ernst seiner Lagezu bedenken. Das hatte der Krämer längst getan: er verwünschte den Tag,an dem Herr de La Porte darauf verfallen war, ihn mit seinemPatenkind zu verheiraten, besonders aber jenen anderen, andem seine Frau als Wäschebeschließerin in die Dienste der Kö-nigin getreten war. Im Grunde seines Wesens war Bonacieuxein eigensüchtiger, geiziger Krämer und darüber hinaus ein un-glaublicher Hasenfuß. Gegen eine solche Natur vermochtesich die Liebe zu seiner jungen Frau, die für ihn nur einezweitrangige Empfindung war, nicht zu behaupten. »Aber, Herr Kommissar«, sagte er berechnend, »Ihr dürftmir glauben, daß ich mehr als sonst jemand die Verdiensteunserer Eminenz kenne und zu schätzen weiß.« »Wirklich?« fragte ungläubig der Kommissar. »Aber wennes sich so verhält, wie kommt Ihr dann in die Bastille?« »Wie ich hierherkomme oder vielmehr, warum ich hier bin,kann ich Euch schlechterdings nicht sagen, da ich es nämlichselber nicht weiß. Aber sicher ist, daß ich dem Kardinal nichtungehorsam war, zumindest nicht wissentlich.« »Und doch müßt Ihr ein Verbrechen begangen haben, daIhr hier des Hochverrats beschuldigt werdet.« »Des Hochverrats?« rief Bonacieux erschrocken. »Wie solldenn ein armer Krämer, der die Hugenotten haßt und dieSpanier verabscheut, Hochverrat begehen? Sagt selbst, dasist doch gänzlich ausgeschlossen!« »Herr Bonacieux«, sagte der Kommissar und sah den An-geklagten scharf an, als könnte er mit seinen kleinen Augenin den verborgenen Winkeln seines Herzens lesen, »Ihr habteine Frau.« 145

»Ja«, antwortete der Krämer, und ein heftiges Zittern befielihn, denn er fühlte, daß sich hier die Dinge zu verwickeln be-gannen, »das heißt, ich hatte eine.« »Wieso? Hattet Ihr eine oder nicht? Und wenn Ihr einehattet, was habt Ihr mit ihr gemacht?« »Man hat sie mir entführt!« »Man hat sie Euch entführt? Ach!« Bonacieux merkte an diesem Ach, daß die Geschichte immerverworrener wurde. »Man hat sie Euch also entführt«, wiederholte der Kommis-sar. »Und kennt Ihr auch den Täter?« »Ich glaube, ja.« »Wer ist es?« »Bedenkt, daß ich nichts behaupte, sondern lediglich einenVerdacht äußere.« »Und wen habt Ihr im Verdacht? Sprecht frei heraus!« Herr Bonacieux befand sich in größter Verlegenheit; sollteer alles abstreiten oder alles sagen? Leugnete er, so konnte manannehmen, er wisse zuviel und wolle deshalb nichts sagen;sprach er dagegen alles offen aus, so gab er damit einen Beweisseines guten Willens. Er beschloß, lieber alles zu sagen. »Ich habe einen großen, dunkelhaarigen und stolzen Mannim Verdacht, der ganz das Auftreten eines vornehmen Herrnhat. Ich hatte mehrmals den Eindruck, daß er uns nachge-gangen ist, wenn ich meine Frau am Louvre abholte, um sienach Hause zu begleiten.« Der Kommissar schien unruhig zu werden. »Und sein Name?« fragte er. »Ja, seinen Namen weiß ich nicht, aber wenn ich ihn nocheinmal treffe, erkenne ich ihn schon wieder, bestimmt, ichfinde ihn auch unter Tausenden heraus!« Die Stirn des Kommissars verfinsterte sich. »Ihr würdet ihn unter Tausenden wiedererkennen?« »Das heißt«, erwiderte Bonacieux, der merkte, daß er einenfalschen Weg eingeschlagen hatte, »das heißt …« »Ihr habt erklärt, daß Ihr ihn wiedererkennen würdet«,sagte der Kommissar. »Gut, das genügt für heute. Bevor wiruns weiter unterhalten, muß noch jemand erfahren, daß Ihrden Entführer Eurer Frau kennt.«146

»Aber ich habe doch gar nicht gesagt, daß ich ihn kenne!«rief Bonacieux verzweifelt. »Ich habe Euch im Gegenteil …« »Führt den Gefangenen ab!« befahl der Kommissar denbeiden Wachen. »Und wohin?« fragte der Schreiber. »In eine Zelle.« »In welche?« »Mein Gott, in die erste beste, wenn sie nur gut schließt«,antwortete der Kommissar mit einer Gleichgültigkeit, die denarmen Bonacieux mit Entsetzen erfüllte. »Ach, nun kommt das Unglück auf mich!« jammerte er.»Meine Frau hat gewiß irgendein schlimmes Verbrechen be-gangen, und nun hält man mich für ihren Komplicen und be-straft mich mit ihr. Sicherlich hat sie gestanden, sie hätte miralles gesagt. Frauen sind ja so schwach! Eine Nacht ist schnellvorüber, und morgen komme ich aufs Rad oder an den Gal-gen. O Gott, allmächtiger Gott, erbarme dich meiner!« Ohne im geringsten auf Meister Bonacieux’ Gejammer zuachten, das ja auch an diesem Ort gewiß nichts Außergewöhn-liches war, packten ihn die beiden Gardisten und führten ihnab, während der Kommissar eilig einen Brief schrieb. Bonacieux konnte kein Auge zumachen, nicht etwa, weil dieZelle derart widerwärtig gewesen wäre, sondern weil ihn seineUnruhe nicht schlafen ließ. Er blieb die ganze Nacht auf sei-nem Schemel sitzen, fuhr beim geringsten Geräusch angstvollzusammen, und als endlich die ersten Strahlen der Morgen-sonne in den Raum fielen, kam ihm der Himmel wie ein Lei-chentuch vor. Plötzlich hörte er, wie draußen an der Tür die Riegel zurück-geschoben wurden, und er sprang entsetzt auf. Er glaubteschon, man hole ihn, um ihn aufs Schafott zu führen. Als ernun aber statt des erwarteten Henkers den Kommissar undden Schreiber vom Vortag eintreten sah, wäre er ihnen am lieb-sten um den Hals gefallen. »Eure Angelegenheit hat sich seit gestern abend sehr ver-schlimmert, guter Mann«, sagte der Kommissar, »und ichkann Euch nur raten, sagt die volle Wahrheit! Denn allein Euerreuiges Geständnis vermag noch den Zorn des Kardinals zubesänftigen.« 147

»Aber ich bin ja bereit, alles zu sagen«, rief Bonacieux, »zu-mindest alles, was ich weiß! Bitte, fragt nur!« »Zunächst, wo ist Eure Frau?« »Ich habe Euch doch bereits gesagt, daß man sie mir ent-führt hat.« »Ja, und gestern nachmittag um fünf ist sie mit Eurer Hilfeentsprungen.« Meine Frau ist entsprungen?« rief Bonacieux. »Oh, die Un-selige! Aber es war gewiß nicht meine Schuld, das schwöre ichEuch!« »Und weshalb wart Ihr dann gestern bei Herrn d’Arta-gnan, Euerm Nachbarn, mit dem Ihr eine so lange Unterre-dung hattet?« »Ja, Herr Kommissar, das stimmt, und ich gebe zu, das warnicht recht von mir. Ja, ich war bei Herrn d’Artagnan.« »Zu welchem Zweck?« »Ich bat ihn, mir bei der Suche nach meiner Frau behilflichzu sein. Ich dachte, ich hätte dazu ein Recht. Doch ich habemich da offenbar geirrt, und ich bitte Euch untertänigst umVerzeihung.« »Und was hat Herr d’Artagnan Euch geantwortet?« »Er versprach mir seine Hilfe, aber ich mußte sehr baldmerken, daß er mir etwas vorgemacht hat.« »Ach was. Ihr wollt der Justiz etwas vormachen! Herrd’Artagnan steckt mit Euch unter einer Decke, denn er hatdie Polizisten, die Eure Frau wieder eingefangen hatten, indie Flucht geschlagen und alle Nachforschungen vereitelt.« »Herr d’Artagnan hat meine Frau entführt? Ja, was solldenn das heißen?« »Glücklicherweise ist Herr d’Artagnan in unserer Hand,und wir werden ihn Euch gegenüberstellen.« »Oh, nichts kann mir lieber sein!« rief Bonacieux. »Ichsehe gern mal wieder ein bekanntes Gesicht.« »Führt Herrn d’Artagnan herein!« sagte der Kommissarzu den Wachen, die gleich darauf mit Athos zurückkehrten. »Herr d’Artagnan«, wandte sich der Kommissar an denMusketier, »sagt uns bitte, was gestern zwischen Euch unddiesem Herrn vorgefallen ist!« »Aber das ist ja gar nicht Herr d’Artagnan!« rief der Krämer.148

»Was, nicht Herr d’Artagnan?« »Nie und nimmer!« »Und wie heißt dieser Herr?« »Das kann ich nicht sagen, denn ich kenne ihn nicht.« »Was, Ihr kennt ihn nicht?« »Nein.« »Ihr habt ihn nie gesehen?« »Das wohl, aber ich weiß nicht, wie er heißt.« »Hm«, machte der Kommissar und wandte sich an denMusketier. »Wie ist Euer Name?« »Athos.« »Das ist doch kein Name! Ein Berg heißt so!« rief der Be-amte, dem allmählich der Kopf schwirrte. »Es ist trotzdem mein Name«, versetzte Athos gelassen. »Aber erst habt Ihr behauptet, Ihr wäret d’Artagnan!« »Ich?« »Ja, Ihr.« »Nein, man hat nur zu mir gesagt: ›Ihr seid doch Herrd’Artagnan?‹, worauf ich geantwortet habe: ›So, meint Ihr?‹Die Gardisten waren aber ihrer Sache so sicher, da wollte ichlieber nicht widersprechen. Übrigens konnte ja auch ich michtäuschen.« »Herr, Ihr beleidigt das Ansehen der Justiz!« »Durchaus nicht.« »Also, Ihr seid Herr d’Artagnan.« »Da seht Ihr, nun sagt Ihr es wieder!« »Herr Kommissar«, rief nun auch Bonacieux, »hier kann eswirklich keinen Zweifel geben! Herr d’Artagnan ist mein Mie-ter, und wenn er auch seine Miete nicht zahlt, ja gerade des-halb muß ich ihn doch kennen. Herr d’Artagnan ist ein jungerMann von neunzehn oder zwanzig Jahren, während der Herrhier mindestens dreißig ist. Herr d’Artagnan dient in der Gardedes Herrn des Essarts, während dieser Herr zu den Musketie-ren des Herrn de Treville gehört. Seht doch nur die Uniform!« »Richtig«, murmelte der Kommissar, »das mit der Uniformstimmt.« In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und voneinem Pförtner der Bastille begleitet, überreichte ein Botedem Beamten einen Brief. 149


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