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Die drei Musketiere

Published by petru.butnariu, 2018-01-07 15:34:59

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langweilt, wird man auch uns in die Bastille schicken, um ihmGesellschaft zu leisten.« »Je nun, mein Lieber«, rief Porthos, »Ihr macht da aberrecht traurige Scherze!« »Es war mitnichten als Scherz gedacht«, versetzte Athos. »Wißt Ihr was?« fragte Porthos. »Ich halte es für sehr vielweniger sündhaft, dieser gottverfluchten Mylady den Hals um-zudrehen, als auf diese armen Teufel von Hugenotten zu schie-nen, deren einziges Verbrechen darin besteht, daß sie die Psal-men, die wir nur lateinisch kennen, auf französisch singen.« »Was sagt unser Abbé dazu?« fragte Athos gelassen. »Ich bin der gleichen Ansicht wie Porthos«, sagte Aramis. »Ich auch!« rief d’Artagnan. »Nur gut, daß sie weit weg ist«, sagte Porthos, »denn ichgestehe, sie wäre mir hier sehr lästig.« »Sie ist mir in England ebenso lästig wie in Frankreich«,bemerkte Athos. »Mir ist sie überall lästig«, erklärte d’Artagnan. »Aber wenn Ihr doch bei ihr wart«, sagte Porthos, »warumhabt Ihr sie da nicht erwürgt, ersäuft oder gehenkt? Nur dieToten kehren nicht wieder.« »So? Meint Ihr?« antwortete der Musketier mit einem trü-ben Lächeln, das allein d’Artagnan verstand. »Ich habe eine Idee!« rief der Gascogner. »Laßt hören!« »Zu den Waffen!« schrie in diesem Augenblkk Grimaud. Die vier Freunde sprangen auf und eilten an ihre Gewehre.Wieder näherte sich ein Trupp von etwa zwanzig bis fünf-undzwanzig Mann, aber diesmal waren keine Schanzarbeiterdabei, sondern es waren alles Soldaten. »Wollen wir nicht doch lieber ins Lager zurückkehren?«fragte Porthos. »Mir scheint diese Partie ein bißchen zu un-gleich.« »Das ist aus drei Gründen unmöglich«, antwortete Athos.»Erstens sind wir noch nicht fertig mit unserem Frühstück,zweitens haben wir noch wichtige Dinge zu besprechen, drit-tens fehlen noch zehn Minuten an der vollen Stunde.« »Gut und schön«, warf Aramis ein, »aber dann muß einSchlachtplan her!«500

»Nichts einfacher als das«, erklärte Athos. »Sowie der Feindauf Schußweite heran ist, geben wir Feuer; rückt er weiter vor,feuern wir abermals, und wir feuern so lange, wie wir geladeneGewehre haben. Wenn nun die Reste zum Sturm ansetzen, las-sen wir sie ruhig bis in den Graben vordringen und kippendann einfach diese Mauer hier, die nur noch wie durch einWunder ihr Gleichgewicht hält, auf sie hinab.« »Bravo!« rief Porthos. »Ihr seid wirklich der geborene Ge-neral, Athos, und der Kardinal, der sich für einen großenFeldherrn hält, ist gar nichts gegen Euch!« »Meine Herren«, sagte Athos, »bitte keinen überflüssigenSchuß! Jeder nehme sich einen anderen aufs Korn! Ich nehmeden linken Flügelmann.« »Ich den Langen dahinter!« sagte d’Artagnan. »Ich den Kerl daneben!« sagte Porthos. »Und ich den Dicken ganz rechts«, sagte Aramis. »Dann also – Feuer!« kommandierte Athos. Es krachte wie ein Schuß, aber vier Mann stürzten zu Bo-den. Nun schlug der Trommler zum Angriff, und die übrigenrückten im Sturmschritt vor. Die Verteidiger der Bastion feuer-ten nun zwar keine Salven mehr ab, doch ihre Schüsse er-reichten fast immer ihr Ziel. Trotzdem stürmten die Rochellervor, als wüßten sie genau, daß sie es nur mit vier Gegnern zutun hatten. Als die Angreifer unterhalb der Bastion anlangten, warenihrer immer noch mehr als ein Dutzend. Eine letzte Salveempfing sie, hielt sie aber nicht auf; sie sprangen in den Gra-ben und schickten sich an, die Bresche zu ersteigen. »Vorwärts, Freunde«, rief Athos, »an die Mauer!« Und von Grimaud unterstützt, stießen unsere vier Freundemit ihren Gewehrläufen gegen ein gewaltiges Mauerstück, dasohne weiteres nachgab, sich langsam neigte und mit donnern-dem Getöse, das den Entsetzensschrei der Angreifer erstickte,in den Graben stürzte. Eine dicke Wolke von Mörtelstaubquoll empor, dann war alles vorüber. »Sind sie am Ende alle umgekommen?« fragte Athos. »Es sieht ganz so aus«, erwiderte d’Artagnan. »Nein«, berichtigte Porthos, »da hinten humpeln ein paarvon dannen.« 501

Tatsächlich flohen einige der Unglücklichen Hals über Kopfdurch den schmalen Laufgraben stadtwärts; mehr war von derstolzen Truppe nicht übriggeblieben. Athos sah auf die Uhr. »Meine Herren«, sagte er, »wir sind jetzt eine Stunde hier,die Wette ist damit gewonnen; aber wir wollen großzügigeSpieler sein, zudem hat uns d’Artagnan noch nicht seine Ideeverraten!« Und mit seiner gewohnten Kaltblütigkeit setzte sich derMusketier vor die Reste des Frühstücks. »Meine Idee?« fragte d’Artagnan. »Ja, Ihr sagtet doch vorhin, Ihr hättet eine.« »Ach, richtig«, erinnerte sich der Gascogner, »folgendes:Ich reise ein zweites Mal nach England, suche Buckinghamauf und …« »Das werdet Ihr nicht tun, d’Artagnan«, unterbrach ihnAthos schroff. »Und warum nicht? Ich war doch schon mal drüben.« »Ja, aber damals war kein Krieg, damals war der Herzogunser Verbündeter und nicht unser Feind. Was Ihr da vor-habt, würde als Verrat angesehen werden.« D’Artagnan beugte sich der besseren Einsicht und schwieg. »Aber«, meldete sich da Porthos, »ich habe, glaube ich,auch eine Idee.« »Silentium für eine Idee von Porthos!« sagte Aramis. »Ich bitte Herrn de Treville um Urlaub; den Grund müßt ihreuch allerdings einfallen lassen, denn das Erfinden von Vor-wänden ist ja bekanntlich nicht meine starke Seite. Myladykennt mich nicht, ich kann mich ihr also nähern, ohne daß sieVerdacht schöpft, und sobald ich meine Schöne mal allein er-wische, drehe ich ihr den Hals um.« »Weiß Gott«, sagte Athos, »ich bin gar nicht so weit davonentfernt, diesen Plan gutzuheißen.« »Aber pfui«, rief Aramis, »eine Frau umbringen! Nein, dahabe ich eine bessere Idee!« »Gut, hören wir Aramis’ Idee!« sagte Athos. »Man muß die Königin benachrichtigen!« »Ja, das ist das richtige!« riefen Porthos und d’Artagnanwie aus einem Munde.502

»Die Königin benachrichtigen?« sagte Athos. »Und wie solldas angehen? Haben wir vielleicht Verbindungen zum Hof?Und können wir jemand nach Paris schicken, ohne daß es imLager bekannt wird? Von hier nach Paris sind es hundertvier-zig Meilen; unser Brief wäre noch nicht in Angers, da hätteman uns schon eingelocht!« »Was die sichere Übermittlung eines Briefes an Ihre Ma-jestät betrifft«, sagte Aramis errötend, »so will ich das gernübernehmen; ich kenne in Tours eine geschickte Person …«Er hielt inne, da er Athos lächeln sah. »Habt Ihr auch gegen diesen Plan etwas einzuwenden?«fragte d’Artagnan. »Ich lehne ihn nicht völlig ab«, sagte Athos, »ich möchteAramis nur zu bedenken geben, daß er das Lager nicht ver-lassen kann und daß jeder, der nicht einer von uns ist, unzu-verlässig ist; der Bote wäre noch keine zwei Stunden unter-wegs, da wüßten alle Sbirren, alle Kuttenträger und Schwarz-röcke des Kardinals Euren Brief auswendig, und man würdeEuch samt Eurer geschickten Person alsogleich verhaften.« »Abgesehen davon«, warf Porthos ein, »daß die Königinwohl Herrn von Buckingham retten wird, nicht aber uns!« »Freunde«, sagte d’Artagnan, »Porthos hat recht!« »Oho!« rief Athos. »Was tut sich denn da in der Stadt?« »Man schlägt den Generalmarsch!« Die vier Freunde lauschten, und wirklich dröhnte derTrommelwirbel bis zu ihnen herüber. »Ihr sollt sehen, jetzt schicken sie uns ein ganzes Regimentauf den Hals«, sagte Athos. »Ihr habt doch nicht etwa vor, die Bastion gegen ein ganzesRegiment zu halten?« fragte Porthos. »Warum nicht?« gab der Musketier zurück. »Ich fühle michgerade in der richtigen Stimmung, und wenn wir nur darangedacht hätten, ein Dutzend Flaschen mitzunehmen, würdeich einer ganzen Armee die Stirn bieten.« »Weiß der Kuckuck, das Trommeln kommt näher!« riefd’Artagnan. »Laß es ruhig näher kommen!« versetzte Athos. »Von derStadt bis hierher braucht man eine Viertelstunde, mehr Zeitalso, als wir für unseren Plan noch brauchen; und wenn wir 503

jetzt gehen, finden wir nie wieder ein so hübsches Plätzchen.Überdies kommt mir eben der erleuchtende Gedanke!« »Wir hören!« »Erlaubt, daß ich erst noch Grimaud ein paar unerläßlicheAnweisungen gebe!« Athos winkte seinen Diener zu sichheran. »Grimaud«, sagte er und zeigte auf die Toten, die nochimmer in der Bastion herumlagen, »nimm diese Herren, stellsie hinter den Schießscharten auf, setz ihnen die Hüte wie-der auf und drück ihnen ein Gewehr in die Hand!« »Oh, großer Feldherr«, rief unser Gascogner, »jetzt ver-steh ich!« »Ihr versteht?« fragte Porthos. »Und du, Grimaud, verstehst du?« fragte Aramis. Grimaud nickte. »Dann ist es ja gut«, sagte Athos. »Kehren wir also zu mei-ner Idee zurück!« »Ich würde trotzdem ganz gerne wissen …«, fing Porthoswieder an. »Nicht nötig.« »Nein, sagt uns lieber Eure Idee!« forderten d’Artagnanund Aramis. »Diese Mylady, dieses teuflische Weib, diese Bestie in Men-schengestalt, ist doch, wenn ich nicht irre, die Schwester vonLord Winter, mit dem wir seinerzeit auf einer Wiese hinterdem Luxembourg Bekanntschaft geschlossen haben?« »Nicht die Schwester, die Schwägerin«, antwortete d’Ar-tagnan, »und ich glaube sogar, daß sie ihrem Schwager allesandere als sympathisch ist.« »Nicht übel«, sagte Athos, »und wenn er sie verabscheut,kann es uns nur recht sein.« »Ich möchte aber doch gerne wissen, was Grimaud damacht«, warf Porthos ein. »Still, Porthos!« rief Aramis ihn zur Ordnung. »Und wo ist Lord Winter jetzt?« fragte Athos. »Er ist auf die ersten Kriegsgerüchte hin nach Londonzurückgekehrt.« »Ah, dann ist er genau unser Mann! Wir teilen ihm mit,daß seine Schwägerin im Begriff steht, jemand zu ermorden,und bitten ihn, sie nicht aus den Augen zu lassen. Ich denke504

schon, daß es auch in London ein Magdalenenstift oder sonsteine Anstalt für gefallene Mädchen gibt; da soll er seineSchwägerin unterbringen, und wir haben endlich Ruhe.« »Ja, so lange, bis sie wieder draußen ist«, sagte d’Artagnan. »Meiner Treu, da verlangt Ihr nun wirklich zuviel von mir,d’Artagnan! Ich habe meinen Geist völlig erschöpft, mehrkann ich Euch leider nicht bieten.« »Ich halte es für das beste«, sagte Aramis, »wenn wirgleichzeitig die Königin und Lord Winter benachrichtigen.« »Ja, aber wer schafft die Briefe nach Tours und nach Lon-don?« »Ich bürge für Bazin!« sagte Aramis. »Ich für Planchet!« sagte d’Artagnan. »Und ich für Mousqueton!« rief Porthos. »Jedenfalls kön-nen unsere Diener ohne weiteres das Lager verlassen.« »Eben«, bestätigte Aramis, »und darum werden wir nochheute die Briefe schreiben, geben ihnen Reisegeld undschicken sie auf den Weg.« »Ihr wollt ihnen Geld geben?« fragte Athos. »Ja, habt Ihrdenn welches?« Die vier Freunde sahen einander an, und ihre Mienen, diesich schon aufgehellt hatten, wurden wieder sorgenvoll. »Alarm!« schrie d’Artagnan. »Ich sehe ein Gewimmel vonroten und schwarzen Punkten heranfluten. Sagtet Ihr nichtetwas von einem Regiment, Athos? Das da ist eine ganzeArmee!« »Tatsächlich, ja«, erwiderte Athos. »Und wie hinterlistig, dieTrommler und Trompeter haben sie wieder zurückgeschickt,damit wir sie nicht hören! He, Grimaud, bist du fertig?« Grimaud nickte und deutete auf ein Dutzend Tote, die erin den malerischsten Stellungen aufgebaut hatte; die einenmit geschultertem Gewehr, die anderen im Anschlag odermit gezogenem Degen. »Bravo«, rief Athos, »das macht deiner Phantasie alleEhre!« »Das mag sein«, sagte Porthos, »trotzdem wüßte ich gerne,was das Ganze soll!« »Laßt uns erst einmal hier weg sein«, versetzte d’Artagnan,»dann wird es Euch schon klarwerden!« 505

»Einen Augenblick, ihr Herren! Wir wollen Grimaud nochdie Tafel abräumen lassen!« »Die schwarzen und roten Punkte werden nun aber sehrrasch größer«, bemerkte Aramis, »und ich bin ganz der Mei-nung d’Artagnans, daß wir keine Zeit verlieren und denRückmarsch ins Lager antreten sollten.« »Mein Gott, ich habe ja auch nichts mehr gegen einen Rück-zug«, entgegnete Athos. »Die Wette ging um eine Stunde, undanderthalb Stunden sind wir jetzt hier, da kann also keiner wassagen. Auf denn, meine Herren!« Grimaud war mit dem Korb bereits vorausgeeilt. UnsereFreunde folgten, aber sie waren noch keine zehn Schritt ge-gangen, als Athos rief: »Himmelherrgott, was tun wir denn da?« »Habt Ihr vielleicht Euern leeren Geldbeutel vergessen?«fragte Porthos. »Nein, aber die Fahne, Kreuzdonnerwetter noch mal! Manläßt doch keine Fahne in die Hände des Feindes fallen, auchwenn es nur eine schmutzige Serviette ist.« Damit rannteAthos zur Bastion zurück, kletterte auf die kleine Plattformund riß den Hellebardenschaft mit dem weißen Lappen ausdem Boden. Inzwischen waren die Feinde bis auf Schußweite herange-kommen und schickten eine ganze Salve zu dem Tollkühnenhinauf, der sich da wie zum Vergnügen ihren Schüssen aus-setzte. Aber es war wie verhext, die Kugeln pfiffen alle mehroder weniger nah an ihm vorbei. Daraufhin kehrte Athos denRochellern den Rücken und grüßte fahneschwenkend zumLager hinüber. Die Antwort war ein einziger Aufschrei: dortder Wut und hier der Begeisterung. Während der Musketier eben wieder herunterkletternwollte, krachte eine neue Salve herüber, und diesmal durch-löcherten tatsächlich drei Kugeln die Serviette und machtensie nun erst zu einer richtigen Fahne. Nun schrie das ganzeLager: »Herunter! Kommt herunter!« Athos tat es auch. Seine Kameraden, die voller Unruhe aufihn gewartet hatten, sahen ihn mit großer Erleichterung wie-der bei sich erscheinen. »Nun aber los, Athos«, drängte d’Artagnan, »setzen wir506

uns in Trab! Nachdem wir alles bis aufs Geld gefunden ha-ben, wäre es zu dumm, sich noch eine Kugel verpassen zu las-sen.« Aber seine Kameraden mochten ihn noch so dringend zurEile ermahnen, Athos ließ sich nicht aus der Ruhe bringenund marschierte mit seiner Fahne in würdevoller Gelassen-heit weiter, so daß die anderen wohl oder übel ihren Schrittdem seinen anpaßten. Da waren Grimaud und der Korb weitbesser dran, denn dank der raschen Beine des Dieners be-fanden sich beide bereits außer Schußweite. Im nächsten Augenblick erklang in ihrem Rücken wüten-des Gewehrfeuer. »Was ist denn das?« fragte Porthos. »Worauf schießen sienur? Ich höre keine einzige Kugel pfeifen, und es ist auchkein Schwanz zu sehen!« »Kein Wunder, sie schießen auf unsere Toten«, antworteteAthos. »Aber die können doch gar nicht zurückschießen?« »Allerdings nicht; unsere Feinde werden also einen Hin-terhalt vermuten und sich beraten, dann werden sie einenParlamentär vorschicken, und bis sie endlich merken, daß wirsie zum Narren gehalten haben, können sie uns mit ihrenMusketen nicht mehr erreichen. Darum haben wir es garnicht nötig, uns die Lunge aus dem Leib zu rennen!« »Oh, jetzt versteh ich!« rief Porthos begeistert. »Das ist ja nur gut!« versetzte Athos und zuckte die Ach-seln. Als die Zuschauer auf den Wällen ihre vier Kameraden ru-higen Schritts zurückkehren sahen, jubelten sie ihnen zu.Kurz darauf hörte man von neuem Gewehrfeuer, und einigeKugeln gelangten tatsächlich noch in ihre Nähe, wenn sie sieauch nicht trafen, sondern mit unheimlichem Zischen anihnen vorbeischwirrten oder sich rechts und links von ihnenin den Sand bohrten. Die Rocheller waren endlich auf der Ba-stion. »Diese Kerle sind wirklich ungeschickt«, sagte Athos. »Wieviele sind unseren Kugeln zum Opfer gefallen? Zwölf?« »Vielleicht auch fünfzehn.« »Und wie viele sind unter der Mauer geblieben?« 507

»Vielleicht zehn.« »Donnerwetter, und bei alledem noch nicht mal eine kleineSchramme auf unserer Seite? Halt, nein. Ihr habt etwas anEurer Hand, d’Artagnan! Blut, wie mir scheint?« »Nicht der Rede wert!« »Eine verirrte Kugel?« »Kein Gedanke.« »Ja, was denn?« Wir sagten es schon, Athos war dem Gascogner wie einemSohn zugetan, und manchmal empfand dieser verschlosseneund unbeugsame Charakter eine geradezu väterliche Be-sorgnis für den jungen Mann. »Eine kleine Hautabschürfung«, erwiderte d’Artagnan.»Ich hab mir den Finger zwischen zwei Steinen eingeklemmt,zwischen dem der Mauer und dem meines Ringes, und dashat die Haut nicht vertragen.« »Das hat man eben davon, wenn man Diamanten trägt,mein Lieber«, sagte Athos wegwerfend. »Richtig«, rief Porthos, »wir haben ja noch den Diaman-ten! Warum zum Teufel jammern wir da bloß, wir hätten keinGeld?« »Stimmt«, pflichtete ihm Aramis bei. »Alle Wetter, Porthos, das nenn’ ich eine gute Idee!« »Nicht wahr?« versetzte Porthos und warf sich merklichin die Brust vor Stolz über diese Anerkennung durch Athos.»Und wenn wir einen Diamanten haben, können wir ihn auchverkaufen!« »Aber es ist ein Diamant der Königin«, gab d’Artagnan zubedenken. »Ein Grund mehr, ihn zu verkaufen«, sagte Athos, »dennes kann nichts Billigeres geben, als daß die Königin ihren ge-liebten Buckingham rettet, und nichts Moralischeres, als daßsie uns, ihre Freunde, rettet. Was meint unser Herr Abbé?Porthos brauche ich nicht mehr zu fragen, seine Meinungkennen wir bereits!« »Ich meine«, sagte Aramis errötend, »daß d’Artagnan, daes sich hier nicht um das Geschenk einer Geliebten und da-mit um ein Liebespfand handelt, den Ring getrost verkaufenkann.«508

»Mein Lieber, Ihr redet wie die Theologie in Person. Ihrseid also auch dafür …« »Den Diamanten zu verkaufen, ja«, sagte Aramis. »Na gut«, rief d’Artagnan lachend, »verkaufen wir ihn undreden wir nicht mehr davon!« Das Gewehrfeuer hielt noch immer an, aber unsereFreunde waren längst außer Schußweite, und die Soldatenauf der Bastion schossen wohl nur, um ihr Gewissen zu be-ruhigen. »Weiß der Himmel, es wurde aber auch Zeit, daß sich Por-thos das einfallen ließ, denn wir sind gleich im Lager! KeinWort also mehr von der ganzen Geschichte, meine Herren,man kann uns bereits beobachten! Aha, nun eilt man uns ent-gegen, man will uns wohl im Triumph nach Hause tragen!« Tatsächlich war fast das ganze Lager auf den Beinen; zuletzthatten sich mehr als zweitausend Menschen auf der Um-schanzung eingefunden, um dem tollen Husarenstück unse-rer vier Freunde wie von den Rängen eines Theaters beizu-wohnen, einem Stück, dessen wahre Motive allerdings keinerahnte. Nun rief alles: »Hoch die Garde! Hoch die Muske-tiere!« Herr de Busigny eilte als erster auf Athos zu, schüttelteihm die Hand und beglückwünschte ihn zu der gewonnenenWette. Der Dragoner, der Schweizer und der stumme Partnertaten es ihm gleich, und nach diesen dreien drängten sich alleanderen Kameraden herzu. Das war ein unaufhörliches Hän-dedrücken, Beglückwünschen und Umarmen und dazu einnicht enden wollendes Gelächter auf Kosten der Rocheller,kurz, ein so gewaltiger Lärm, daß der Kardinal schon an einenAufruhr glaubte und den Hauptmann der Garden, La Houdi-nière, losschickte, um nach dem Grund der Unruhe zu for-schen. Mit dem ganzen Überschwang einer echten Begeisterungerzählte man dem Offizier den Hergang der Geschichte. »Nun?« fragte der Kardinal, als der Hauptmann zurück-kehrte. »Monseigneur, es handelt sich um drei Musketiere und einenGardisten, die mit Herrn de Busigny gewettet haben, sie wür-den auf der Bastion Saint-Gervais frühstücken; sie haben diesenärrische Wette tatsächlich wahr gemacht und sich dort zwei 509

volle Stunden gehalten, wobei sie ich weiß nicht wie viele Ro-cheller getötet haben.« »Habt Ihr Euch nach den Namen dieser drei Musketiereerkundigt?« »Ja, Monseigneur, es waren die Herren Athos, Porthos undAramis.« »Immer diese drei Haudegen!« murmelte der Kardinal.»Und der Gardist?« »Herr d’Artagnan.« »Immer dieser junge Tollkopf! Ohne Frage, ich muß diesevier Männer für mich gewinnen!« Am Nachmittag unterhielt sich der Kardinal mit Herrn deTreville über das tollkühne Unternehmen, das noch immer inaller Munde war. Herr de Treville, dem das Abenteuer vonden Helden selbst berichtet worden war, erzählte es SeinerEminenz noch einmal in allen Einzelheiten und vergaß auchnicht die Episode mit der Serviette. »Sehr schön, Herr de Treville«, sagte der Kardinal zumSchluß. »Besorgt mir doch bitte diese Serviette! Ich lass’ dreigoldene Linien darauf sticken und verleihe sie Eurer Kom-panie als Feldzeichen.« »Monseigneur«, entgegnete Herr de Treville, »das wäreeine Ungerechtigkeit gegen die Garden; Herr d’Artagnandient nicht bei mir, sondern bei Herrn des Essarts.« »Nun gut, dann nehmt ihn zu Euch!« sagte der Kardinal.»Es ist nicht mehr als billig, daß diese vier tapferen Soldaten,die so sehr aneinander hängen, in ein und derselben Kompa-nie dienen.« Gleich nach dieser Unterhaltung teilte Herr de Treville dendrei Musketieren und d’Artagnan die gute Nachricht mit undlud alle vier für den nächsten Tag zum Frühstück ein. D’Arta-gnan wußte sich vor Freude nicht zu lassen; der Traum seinesLebens war endlich in Erfüllung gegangen. Aber die Freude sei-ner drei Kameraden war kaum geringer. »Weiß der Himmel«, sagte der Gascogner zu Athos, »EuerEinfall war wirklich großartig, denn genau wie Ihr es vor-hergesagt habt, haben wir dabei Ruhm geerntet und gleich-zeitig eine überaus wichtige Besprechung geführt!« »Eine Besprechung, die wir jetzt fortsetzen können, ohne510

daß einer gleich Verdacht schöpft, wenn er uns zusammensieht; denn mit Gottes Hilfe wird man uns von nun an fürKardinalisten halten.« Am selben Abend noch machte d’Artagnan Herrn des Es-sarts seine Aufwartung und meldete ihm, daß er nun end-gültig zu den Musketieren versetzt worden sei. Herr des Es-sarts war dem Gascogner sehr zugetan, und da ein solcherWechsel hinsichtlich der Ausrüstung erhebliche Ausgabenbedingte, bot er dem jungen Mann seine Hilfe an. Der lehntezwar ab, doch nahm er die Gelegenheit wahr und bat ihn, denDiamanten schätzen zu lassen, da er ihn zu Geld machenwolle. Am anderen Morgen um acht Uhr erschien der Diener desHerrn des Essarts bei d’Artagnan und übergab ihm einenBeutel mit siebentausend Franken in Gold. Dies war der Preis für den Diamanten der Königin. FamilienangelegenheitenAthos hatte das richtige Wort gefunden – Familienangelegen-heit. Eine Familienangelegenheit entzog sich der Nachfor-schung des Kardinals; eine Familienangelegenheit ging nie-mand etwas an; um eine Familienangelegenheit konnte mansich vor aller Augen kümmern. Athos hatte also das richtige Wort gefunden: Familien-angelegenheit. Aramis hatte den entscheidenden Auswegentdeckt: die Diener. Porthos war auf die Geldquelle verfal-len: den Diamanten. Nur d’Artagnan, sonst der Einfallsreichste, hatte diesmalnichts beigesteuert; allerdings muß gesagt werden, daß diebloße Erwähnung der Mylady ihn lähmte. Aber nein, wir tunihm unrecht: er hatte ja einen Käufer für den Diamanten ge-funden! Das Frühstück bei Herrn de Treville sah alle in der fröh-lichsten Stimmung. D’Artagnan trug schon seine neue Uni-form; denn da sich Aramis dank des reichlichen Honorars, dasihm, wie erinnerlich, von seinem Verleger für jenes schwierige 511

Gedicht gezahlt worden war, eine zweite Garnitur leistenkonnte und da zudem der Gascogner ungefähr gleich groß war,so hatte ihm Aramis eine vollständige Uniform abgetreten.D’Artagnan wäre gewiß überglücklich gewesen, hätte ihmnicht der Schatten Myladys den Himmel verdüstert. Nach dem Frühstück verabredete man sich für den Abendin Athos’ Quartier, um den Plan zum Abschluß zu bringen.D’Artagnan verbrachte den ganzen Tag damit, seine Muske-tieruniform im ganzen Lager spazierenzuführen, und amAbend fanden sich die vier Freunde wie vereinbart zusam-men. Es blieben nur noch drei Dinge zu klären: Was sollte man an Myladys Schwager schreiben? Was sollte man an die geschickte Person in Tours schreiben? Welchen beiden Dienern sollte man die Briefe anvertrauen? Jeder bot den seinen an; Athos verwies auf die Verschwie-genheit Grimauds, der überhaupt nur auf ausdrücklichen Be-fehl seines Herrn den Mund öffne; Porthos rühmte die StärkeMousquetons, der es mit vier Mann von gewöhnlicher Kör-perkraft aufnehmen könne; Aramis hielt im Vertrauen auf dieGeschicklichkeit Bazins eine überschwengliche Lobrede aufseinen Kandidaten; d’Artagnan endlich hatte volles Vertrauenin Planchets Tapferkeit und erinnerte daran, wie wacker sichder Bursche schon bei früheren Gelegenheiten betragen habe. Verschwiegen oder stark, geschickt oder tapfer, diese vierTugenden stritten lange um die Krone und gaben Gelegen-heit zu mancherlei prächtigen Vergleichen, die wir jedoch ausFurcht, allzu weitschweifig zu werden, hier lieber nicht an-führen wollen. »Leider muß derjenige, den wir schicken, alle vier Eigen-schaften in sich vereinen.« »Aber wo wollt Ihr denn einen solchen Diener finden,Athos?« »Es gibt keinen, ich weiß«, gab der Musketier zu. »Nehmtalso Grimaud!« »Nehmt Mousqueton!« »Bazin!« »Planchet! Planchet ist tapfer und geschickt, das sind im-merhin schon zwei der vier erforderlichen Eigenschaften.« »Meine Herren«, sagte Aramis, »es kommt nicht so sehr512

darauf an, festzustellen, welcher von unseren Lakaien der ver-schwiegenste, der stärkste, der geschickteste oder der tap-ferste ist; vielmehr müssen wir wissen, welcher von ihnen ammeisten das Geld liebt.« »Was Aramis da sagt, ist sehr vernünftig«, versetzte Athos.»Man muß bei solchen Überlegungen von den Schwächender Menschen ausgehen und nicht von ihren Tugenden. HerrAbbé, Ihr seid ein großer Moralist!« »Ja, denn wir brauchen einen Diener, der uns nicht nur dafüreinsteht, daß die Sache glückt, sondern auch dafür, daß wirnicht dabei hereinfallen! Schließlich geht es im Fall des Schei-terns um den Kopf, und zwar nicht um den des Dieners …« »Nicht so laut, Aramis!« mahnte Athos. »Nein, nicht um den Kopf des Dieners geht es, sondernum den des Herrn oder gar der Herren! Sind uns unsere Die-ner aber so ergeben, daß sie notfalls auch ihr Leben für unswagen? Doch wohl nicht!« »Gott«, meinte d’Artagnan, »für Planchet möchte ich micheigentlich fast verbürgen.« »Nun, lieber Freund, dann fügt zu seiner natürlichen Er-gebenheit noch eine hübsche Summe Geld, die ihn einiger-maßen wohlhabend macht, und Ihr könnt doppelt für ihnbürgen!« »Ach, du lieber Himmel, darum werdet Ihr doch betrogen!«rief Athos, der nur, wenn es um Dinge ging, zuversichtlich seinkonnte, im Hinblick auf Menschen aber immer gleich schwarz-sah. »Erst versprechen sie alles, um das Geld zu kriegen, undunterwegs vergessen sie dann vor lauter Angst, was sie zu tunhaben. Fängt man sie aber ab, so bringt man sie rasch zum Spre-chen, und sie gestehen alles. Zum Teufel, wir sind doch keineKinder! Und dann, um nach England zu gelangen«, hier senkteAthos die Stimme, »muß man durch halb Frankreich, wo esüberall von Spionen und Spitzeln des Kardinals wimmelt; desweiteren braucht man einen Paß für die Überfahrt, und drübenmuß man etwas Englisch können, um sich nach London durch-zufragen. Also ich halte die Sache für äußerst schwierig!« »Aber keineswegs«, widersprach d’Artagnan, dem sehr dar-an lag, daß der Plan auch ausgeführt wurde, »ich sehe da eigent-lich gar keine Schwierigkeiten. Natürlich, wenn wir in dem 513

Brief an Lord Winter irgend etwas Auffälliges schreiben, überdie Schändlichkeiten des Kardinals etwa …« »Leiser!« sagte Athos. »Oder über Intrigen und Staatsgeheimnisse«, fuhr d’Ar-tagnan folgsam mit gedämpfter Stimme fort, »dann ist es klar,daß man uns alle aufs Rad binden wird. Aber vergeßt nicht,daß wir ihm ja nur, wie Ihr es selbst genannt habt, in einer Fa-milienangelegenheit schreiben! Wir wenden uns doch nur anihn, damit er Mylady gleich nach ihrer Ankunft in Englandaußerstande setzt, uns zu schaden. Ich werde den Brief alsoungefähr folgendermaßen abfassen …« »Wir hören!« sagte Aramis und machte schon im vorausein kritisches Gesicht. »Werter Herr und Freund …« »Großartig! Werter Freund! Und das an einen Engländer«,unterbrach ihn Athos. »Bravo, d’Artagnan, ein prächtigerAnfang! Allein für dieses eine Wort wird man Euch nicht nuraufs Rad flechten, sondern gleich vierteilen.« »Na gut, dann beginne ich einfach mit: Werter Herr!« »Ihr könnt auch Mylord sagen«, versetzte Athos, der sehrauf gute Form hielt. »Gut, also: Mylord, erinnert Ihr Euch noch der kleinenZiegenweide hinter dem Luxembourg?« »Ach, der Luxembourg! Warum nicht gar?« sagte Athos.»Man vermutet wenigstens gleich eine Anspielung auf dieKöniginmutter. Wirklich sehr geschickt gemacht!« »Dann schreiben wir eben nur: Mylord, erinnert Ihr Euchnoch jenes kleinen Geheges, wo man Euch das Leben geret-tet hat?« »Mein lieber d’Artagnan«, erklärte Athos, »im Briefeschrei-ben werdet Ihr es nie weit bringen! Wo man Euch das Lebengerettet hat! Wie unschicklich! Man erinnert doch einen Ehren-mann nicht an einen solchen Dienst!« »Ihr seid wirklich unerträglich, mein Lieber«, sagte d’Ar-tagnan einigermaßen verbittert, »und wenn ich den Brief un-ter Eurer Zensur schreiben soll, verzichte ich lieber darauf!« »Und Ihr tut gut daran. Bleibt Ihr nur bei der Muskete undbeim Degen, mein Freund, mit beiden steht Ihr Euern Mann,doch die Feder überlaßt besser unserem Abbé!«514



























und die alten Häuser der Stadt, in deren Fenstern sich der Wi-derschein einer Feuersbrunst zu spiegeln schien. Angesichts alldieser kriegerischen Vorbereitungen, die zu stören sie beauf-tragt war, angesichts der ganzen gewaltigen Armee, gegen diesie, eine Frau, allein ankämpfen sollte, mußte Mylady unwill-kürlich daran denken, wie Judith, jene schreckliche Jüdin, indas Lager der Assyrer kam und die ungeheure Menge von Wa-gen, Pferden, Menschen und Waffen sah, die sie mit einer ein-zigen Handbewegung wie eine Rauchwolke zerstreuen sollte. Man steuerte die Reede an; aber gerade als man vor Ankergehen wollte, näherte sich ein kleiner, schwerbewaffneterKutter der Küstenwacht dem Handelsschiff und schickte einRuderboot längsseits, in dem man einen Offizier, einenBootsmann und acht Matrosen erkannte; aber nur der Offi-zier kletterte über die heruntergelassene Strickleiter an Bord,wo er mit allem Respekt, die nun einmal eine Uniform ein-flößt, empfangen wurde. Er unterhielt sich einige Augenblicke mit dem Kapitän undgab ihm verschiedene Papiere zu lesen. Dann wurde die ganzeBesatzung des Schiffes, Matrosen und Passagiere, auf Befehldes Kapitäns an Deck gerufen. Nachdem dies geschehen war,erkundigte sich der Offizier vor versammelter Mannschaftnach dem Auslaufhafen, nach der Route und allen Orten, dieman unterwegs angelaufen habe, und all diese Fragen beantwor-tete der Kapitän klar und ohne Zögern. Hierauf ging der Offi-zier die Reihen entlang, musterte nacheinander jeden einzel-nen, und als er vor Mylady anlangte, betrachtete er auch sie sehraufmerksam, ohne jedoch ein einziges Wort an sie zu richten. Dann kehrte er abermals zum Kapitän zurück, sagte ihmwieder etwas, und als ob das Schiff nunmehr seinem Kom-mando unterstellt wäre, befahl er ein Manöver, das die Mann-schaft auch sofort ausführte. Während sich die Brigg auf dieseWeise wieder in Bewegung setzte, blieb der Kutter ständig anihrer Seite und hielt seine sechs Kanonen drohend auf ihreFlanke gerichtet; das Ruderboot folgte, eine Nußschale ge-genüber der gewaltigen Brigg, in ihrem Kielwasser. Während der schweigenden Musterung durch den Offizierhatte ihn Mylady, wie sich denken läßt, mit ihren Blicken förm-lich verschlungen. Aber so geübt diese Frau auch war, in den528

Herzen derer zu lesen, hinter deren Geheimnisse sie kommenwollte, diesmal hatte sie es mit einem so unbeweglichen Ge-sicht zu tun, daß ihr nicht die kleinste Entdeckung gelang. DerOffizier mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein; er hatteeinen hellen Teint, blaßblaue, ein wenig tiefliegende Augen,einen feinen, gutgeschnittenen Mund und ein kräftig vorge-wölbtes Kinn als Zeichen jener Willenskraft, die sich beimEngländer so oft als Starrköpfigkeit äußert; seine etwas flie-hende Stirn, wie man sie häufig bei Dichtern, Schwärmern undSoldaten findet, wurde von kurzem, schütterem Haar um-rahmt, das gleich dem Bart von schönem Kastanienbraun war. Als man in den eigentlichen Hafen einlief, war es bereitsdunkel. Der Abendnebel verstärkte noch die Dunkelheit undließ um die Schiffslichter und Hafenlaternen einen ähnlichenHof entstehen, wie ihn der Mond aufweist, wenn Regen-wetter bevorsteht. Die Luft war aufs neue feucht und un-freundlich: Selbst Mylady, diese furchtlose Frau, schauerteunwillkürlich zusammen. Der Offizier ließ Myladys Gepäck heraussuchen und indas Ruderboot schaffen; dann reichte er ihr die Hand undforderte sie auf, sich ebenfalls in das Boot zu verfügen. My-lady sah ihn an und zögerte. »Wer seid Ihr, mein Herr«, fragte sie, »der Ihr die Freund-lichkeit habt, Euch meiner so besonders anzunehmen?« »Ihr seht es ja an meiner Uniform, Madame«, antworteteder junge Mann. »Ich bin Offizier der englischen Marine.« »Aber seit wann ist es denn Sitte, daß sich die Offiziereder englischen Marine ihren Landsmänninnen, die in einemHafen Großbritanniens eintreffen, in dieser Weise zur Ver-fügung stellen, daß sie ihre Galanterie so weit treiben, sie so-gar an Land zu geleiten?« »Nun, diese Sitte hat nichts mit Galanterie zu tun, sondernmit Vorsicht, denn in Kriegszeiten werden die Fremden erst ineine bestimmte Herberge geführt, wo sie so lange unter Auf-sicht der Regierung bleiben, bis man alle erforderlichen Aus-künfte über sie eingeholt hat.« Dies wurde mit vollendeter Höflichkeit und in aller Ruhegesagt. Aber Mylady ließ sich so leicht nicht überzeugen. »Aber ich bin keine Fremde, mein Herr«, antwortete sie im 529

reinsten Englisch, das je zwischen Portsmouth und Man-chester erklungen war. »Ich bin Lady Clarick, und diese Maß-nahme …« »Diese Maßnahme ist allgemein, Mylady, und Ihr würdetvergeblich versuchen. Euch ihr zu entziehen.« »Gut, ich folge Euch, Herr Offizier!« Sie nahm seine Handund begann das Fallreep hinabzusteigen, an dessen Ende dasBoot wartete; der junge Mann folgte. Auf der Bank am Heck war ein großer Mantel ausgebrei-tet; der Offizier bat sie, sich dort niederzulassen, und setztesich neben sie. »Vorwärts!« rief er den Matrosen zu. Die acht Ruder tauchten ins Wasser, ein einziger Schlag,und schon glitt das Boot pfeilschnell dahin. Nach fünf Mi-nuten war man am Kai. Der Offizier sprang an Land und halfMylady aus dem Boot. Eine Kutsche wartete. »Ist dieser Wagen für uns?« fragte Mylady. »Ja, Madame.« »Dann ist es zur Herberge noch weit?« »Sie liegt am anderen Ende der Stadt.« »Na schön«, sagte Mylady und stieg entschlossen in dieKutsche. Nachdem der Offizier dafür gesorgt hatte, daß ihr Gepäckhinten auf dem Wagen gut verstaut worden war, nahm er ne-ben ihr Platz und schloß den Schlag. Ohne daß es eines Be-fehles bedurfte, setzte sich die Kutsche sogleich in Bewegungund jagte im Galopp durch die Straßen der Stadt. Ein so merkwürdiger Empfang mußte Mylady reichlichenStoff zum Nachdenken bieten. Und da der junge Offizier of-fensichtlich nicht geneigt war, die Unterhaltung mit ihr fort-zusetzen, lehnte sie sich in ihre Ecke zurück und erging sich inallen möglichen Vermutungen. Nach einer Viertelstunde mach-te die Länge des Weges sie jedoch stutzig, und sie beugte sichzum Wagenfenster vor, um zu sehen, wohin man sie nun eigent-lich brachte. Die Häuser waren verschwunden, nur Bäumetauchten im Dunkeln auf wie große schwarze Gespenster, diehintereinander herliefen. Mylady erzitterte. »Wir sind ja gar nicht mehr in der Stadt!« sagte sie.530

Der Offizier schwieg. »Keinen Schritt fahre ich weiter, wenn Ihr mir nicht sagt,wo Ihr mich hinbringt!« Aber auch diese Drohung blieb unbeantwortet. »Oh, das ist zuviel!« rief Mylady. »Zu Hilfe! Zu Hilfe!« Doch nichts geschah; der Wagen rollte mit unverminderterGeschwindigkeit weiter, und der Offizier schien zur Bildsäuleerstarrt. Mylady warf ihm einen ihrer furchtbaren Blicke zu,die so selten ihre Wirkung verfehlten, und in der Dunkelheitsprühten ihre Augen geradezu Funken. Der junge Mann blieb unbeeindruckt. Mylady faßte nach dem Griff, um den Schlag zu öffnenund hinauszuspringen. »Vorsicht, Madame«, sagte der Offizier kalt, »das ist Selbst-mord!« Wutschäumend lehnte sich Mylady wieder zurück. Nun beugte sich der Offizier seinerseits vor und schienüberrascht, als er ihr eben noch so schönes Gesicht zu einerhäßlichen Grimasse verzerrt sah. Aber sie merkte sofort, wasfür einen Fehler sie beging, wenn sie ihre Gefühle erkennenließ, und zwang sich zu einer freundlicheren Miene. »Um Himmels willen, mein Herr«, rief sie mit weinerlicherStimme, »sagt mir doch, ob ich es Euch zu verdanken habeoder der Regierung oder irgendeinem Feind, daß man mir indieser Weise Gewalt antut?« »Aber Madame, man tut Euch in keiner Weise Gewalt an;was Euch widerfährt, ist eine einfache Maßnahme, von der je-der betroffen wird, der gegenwärtig nach England kommt.« »Ihr kennt mich also nicht?« »Ich habe heute zum erstenmal die Ehre, Euch zu sehen.« »Und Ihr habt wirklich keinen Haß gegen mich?« »Auf Ehre, nicht im mindesten!« Aus der Stimme des jungen Mannes klang so viel Offen-heit, Ruhe, ja sogar Sanftmut, daß Mylady wieder etwas ge-lassener wurde. Endlich, nach einer etwa einstündigen Fahrt, hielt die Kut-sche vor einem schmiedeeisernen Tor; dahinter führte einHohlweg zu dem düsteren und wuchtigen Bau eines einsamenSchlosses. Während die Räder nun über feinen Sand rollten, 531

vernahm Mylady ein gewaltiges Rauschen, das sie als Meeres-brandung an felsiger Küste erkannte. Der Wagen durchfuhrzweimal einen Torbogen und hielt schließlich in einem dun-klen viereckigen Hof. Fast augenblicks wurde der Wagenschlagaufgerissen, der junge Mann sprang leichtfüßig hinaus undreichte Mylady die Hand; sie stützte sich darauf und stieg eini-germaßen gefaßt aus. »Immerhin«, sagte sie, nachdem sie einen raschen Blick umsich geworfen hatte, mit ihrem bezauberndsten Lächeln zudem jungen Offizier, »ich bin nun wohl eine Gefangene; aberich werde es nicht lange bleiben, das weiß ich sicher, denn meingutes Gewissen und Eure Ritterlichkeit bürgen mir dafür.« So schmeichelhaft diese Bemerkung auch war, der Offiziergab keine Antwort. Statt dessen zog er eine kleine silberne Si-gnalpfeife, wie sie die Bootsleute auf den Kriegsschiffen be-nutzen, und pfiff dreimal. Sogleich eilten ein paar Stallburschenherbei, schirrten die Pferde aus und schoben den Wagen in eineRemise. Nun forderte der Offizier mit ruhiger Höflichkeit die Ge-fangene auf, ihm ins Haus zu folgen. Noch immer lächelnd,nahm Mylady seinen Arm und trat mit ihm durch ein niedri-ges Portal in ein finsteres, nur im Hintergrund erleuchtetesGelaß, das zu einer steinernen Wendeltreppe führte. Endlichblieben sie vor einer massiven Tür stehen, die sich, nachdemder junge Mann einen Schlüssel hervorgeholt und aufge-schlossen hatte, schwerfällig in den Angeln drehte und denBlick auf das für Mylady bestimmte Zimmer freigab. Mit einem einzigen Blick überschaute die Gefangene denganzen Raum. Nach der Einrichtung zu urteilen, konnte es sichebensogut um eine Gefängniszelle wie um die Wohnung einesfreien Menschen handeln; die Fenstergitter und die Riegelaußen an der Tür ließen jedoch klar erkennen, daß der Raumals Gefängnis gedacht war. Für einen Augenblick schwand allihr Selbstvertrauen; sie sank in einen Sessel, stützte den Kopfin die Hände und erwartete, sich in der nächsten Sekunde voreinem Richter zu sehen. Es kam aber niemand außer ein paar Marinesoldaten, dieMyladys Koffer und Kisten hereintrugen und in einer Eckeabstellten, worauf sie sich schweigend wieder entfernten. Der532

Offizier überwachte auch diesen Vorgang mit der ihm offen-bar eigenen Ruhe, denn er verlor kein Wort dabei, sondernwußte sich allein durch eine Handbewegung oder durch einenPfiff Gehorsam zu verschaffen. Zwischen diesem Mann undseinen Untergebenen schien es keine Sprache mehr zu geben,oder sie war zumindest überflüssig geworden. Endlich konnte Mylady das Schweigen nicht mehr ertragen,und sie rief: »So sagt mir doch, um Himmels willen, was dies alles zubedeuten hat! Warum laßt Ihr mich in dieser Ungewißheit?Eine Gefahr, die ich kenne, ein Unglück, das mir verständ-lich ist, kann mich nicht schrecken. Wo bin ich hier? Und alswas? Bin ich frei, wozu dann die Fenstergitter und die Rie-gel draußen an der Tür? Und bin ich Eure Gefangene, sonennt mir das Verbrechen, das ich begangen haben soll!« »Ihr seid hier in dem Zimmer, das für Euch bestimmt ist,Madame. Ich hatte Befehl, Euch vom Schiff zu holen und aufdieses Schloß zu bringen; diesen Befehl habe ich, wie ich glaube,mit der Pünktlichkeit eines Soldaten, aber auch mit der Ritter-lichkeit eines Edelmanns ausgeführt. Hier endet, wenigstensbis jetzt, mein Auftrag; alles Weitere geht jemand anders an.« »Und wer ist dieser Jemand?« fragte Mylady. »Könnt Ihrmir nicht seinen Namen sagen?« In diesem Augenblick hörte man von der Treppe her lautesSporengeklirr, Stimmen klangen auf und verhallten wieder;schließlich näherte sich ein einzelner Schritt der Tür. »Hier kommt er selbst, Madame«, sagte der Offizier, in-dem er beiseite trat und eine achtungsvolle Haltung einnahm. Fast gleichzeitig öffnete sich die Tür, und ein Mann erschienauf der Schwelle. Er war ohne Hut, trug den Degen an der Seiteund knüllte ein Taschentuch zwischen den Fingern. Myladyglaubte die Gestalt, die da im Schatten auf sie zukam, zu er-kennen; sie stützte eine Hand auf die Armlehne ihres Sesselsund beugte sich vor, als könne sie sich nicht rasch genug ver-gewissern. Der Fremde kam langsam näher, und je weiter er dabei inden Lichtkreis der Lampe trat, desto mehr wich Mylady un-willkürlich zurück. Dann aber, als kein Zweifel mehr möglichwar, rief sie höchst verblüfft: 533

»Was denn, Ihr seid es, mein Schwager?« »Ja, schöne Dame«, antwortete Lord Winter mit einemhalb galanten, halb spöttischen Gruß, »ich selbst!« »Und das Schloß hier?« »Ist meins.« »Und dieses Zimmer?« »Ist Euers.« »Ich bin also Eure Gefangene?« »Man kann es so nennen.« »Aber das ist ja ein schändlicher Mißbrauch der Gewalt!« »Keine großen Worte! Setzen wir uns lieber und unterhal-ten wir uns in aller Ruhe, wie es sich für Verwandte ziemt!«Damit wandte er sich nach der Tür um, wo der junge Mannoffensichtlich auf seine Befehle wartete, und sagte: »Danke,es ist gut so, Mister Felton; Ihr könnt uns jetzt allein lassen!« Ein Gespräch zwischen VerwandtenWährend Lord Winter die Tür schloß, einen Fensterladen auf-stieß und einen Stuhl neben den Sessel der Schwägerin rückte,erging sich Mylady in allen möglichen Vermutungen über dieHintergründe dieses Komplotts, das ihr völlig undurchsichtiggewesen war, solange sie noch nicht einmal wußte, in wessenHände sie gefallen war. Sie kannte ihren Schwager als gutenEdelmann, kühnen Jäger, waghalsigen Spieler und Freund derFrauen, aber nur als sehr ungeschickten Intriganten. Wie wares ihm gelungen, von ihrer Ankunft Kenntnis zu erhalten undsie festnehmen zu lassen? Und warum hielt er sie überhauptgefangen? Athos hatte zu ihr wohl ein paar Bemerkungen gemacht,aus denen einwandfrei hervorging, daß ihre Unterredung mitdem Kardinal belauscht worden war; aber sie konnte einfachdie Möglichkeit nicht gelten lassen, daß er so rasch und sokühn zum Gegenschlag ausgeholt haben sollte. Sie fürchteteweit mehr, es könnte etwas von dem, was sie in jüngster Ver-gangenheit schon wiederholt nach England geführt hatte,ruchbar geworden sein. Schließlich hatte Buckingham sie be-534

reits seit langem wegen der abgeschnittenen Diamantnadeln inVerdacht. Auf jeden Fall erschien es ihr als ziemlich sicher, daßman mit dieser Maßnahme Vergangenes rächen, nicht aberZukünftiges verhüten wollte. So beglückwünschte sie sichdenn im stillen, daß sie in die Hände ihres Schwagers gefallenwar, mit dem sie leichter fertig zu werden hoffte als mit einemunmittelbaren und gar noch geistig überlegenen Feind. »Ja, unterhalten wir uns, lieber Schwager«, sagte sie mit er-zwungener Munterkeit, denn sie war entschlossen, sich durchdieses Gespräch trotz aller etwaigen Täuschungsmanöver LordWinters die Klarheit zu verschaffen, die sie brauchte, um ihrkünftiges Verhalten danach einrichten zu können. »Ihr habt Euch also doch entschlossen, nach England zu-rückzukehren«, begann Lord Winter, »obschon Ihr mir in Parisoft genug erklärt hattet. Ihr wolltet nie wieder Euern Fuß aufbritischen Boden setzen?« Der Antwort auf diese Frage wich Mylady durch eine Ge-genfrage aus: »Vor allem andern erklärt mir doch bitte, wie Ihr dazukommt, mich derart streng überwachen zu lassen, daß Euchnicht nur mein Kommen, sondern auch der Hafen, ja sogardie genaue Zeit meiner Ankunft bekannt war?« Lord Winter machte sich Myladys Taktik zu eigen: da seineSchwägerin sie anwandte, mußte sie gut sein, und so ant-wortete auch er mit einer Gegenfrage: »Aber wollt Ihr mir nicht sagen, was Euch nun doch nachEngland geführt hat?« »Ich wollte zu Euch«, erwiderte Mylady, ohne zu ahnen, wiesehr sie auf diese Weise den Argwohn verstärkte, den d’Arta-gnans Brief in Lord Winter geweckt hatte; vielmehr hoffte sie,mit dieser Lüge gerade sein Vertrauen zu gewinnen. »Ach, zu mir?« fragte Lord Winter. »Ja, ich wollte Euch besuchen! Was ist daran so erstaunlich?« »Ihr seid in keiner anderen Absicht nach England gekom-men, als um mich zu besuchen?« »Nein.« »Also habt Ihr lediglich mir zuliebe die Beschwerlichkei-ten einer heute doch recht gefährlichen Seereise auf Euch ge-nommen?« 535

»Ja, Euch zuliebe.« »Alle Wetter, so viel Zärtlichkeit von Eurer Seite?« »Ja, bin ich denn nicht Eure nächste Verwandte?« entgeg-nete Mylady im Ton rührendster Unschuld. »Und sogar meine einzige Erbin, nicht wahr?« sagte LordWinter und sah sie aufmerksam an. Trotz aller Selbstbeherrschung konnte Mylady nicht ver-hindern, daß sie zusammenzuckte, und da Lord Winter beiden letzten Worten seine Hand auf ihren Arm gelegt hatte,entging ihm dies nicht. Der Hieb hatte gesessen. Myladys er-ster Gedanke war, Ketty könnte sie verraten und dem Baronvon der eigensüchtigen Abneigung erzählt haben, die sie un-klugerweise der Zofe nicht verheimlicht hatte; auch erinnertesie sich ihrer unbeherrschten Reaktion gegenüber d’Arta-gnan, als dieser ihren Schwager im Duell geschont hatte. »Ich verstehe nicht, Mylord«, erwiderte sie, um Zeit zu ge-winnen und den anderen zum Sprechen zu bringen. »Waswollt Ihr damit sagen? Enthalten Eure Worte irgendeinenversteckten Sinn?« »Mein Gott, nein«, sagte Lord Winter mit gespielter Bieder-keit, »Ihr habt den Wunsch, mich zu sehen, und kommt nachEngland. Ich erfahre von Euerm Wunsch oder vielmehr, icherahne ihn, und um Euch alle Unannehmlichkeiten einernächtlichen Ankunft im Hafen zu ersparen, schicke ich Eucheinen meiner Offiziere entgegen; ich gebe ihm einen Wagenmit, und er bringt Euch in dieses Schloß hier, dessen Gou-verneur ich bin und in das ich jeden Tag komme. Damit un-serem beiderseitigen Wunsch, uns zu sehen, nun nichts mehrim Wege steht, lasse ich ein Zimmer für Euch einrichten. Wasist daran erstaunlicher als das, was Ihr mir erzählt habt?« »Nein, ich staune ja nur darüber, daß Euch mein Kommenschon gemeldet war.« »Und doch ist das ganz einfach, meine liebe Schwägerin!Habt Ihr nicht gesehen, daß der Kapitän Eures Schiffes, als erdie Reede ansteuerte, ein Boot mit dem Logbuch und einer Li-ste aller an Bord befindlichen Personen vorausgeschickt hat,um die Erlaubnis zum Anlaufen des Hafens einzuholen? Ichbin der Hafenkommandant, man brachte mir also die Papiere,und ich las Euern Namen. Mein Herz sagte mir gleich, was536

Euer Mund mir soeben bestätigt hat, nämlich in welcher Ab-sicht Ihr eine im Augenblick so gefährliche oder zumindestdoch beschwerliche Seereise auf Euch genommen habt, unddarum schickte ich Euch meinen Kutter entgegen. Alles Wei-tere wißt Ihr.« Mylady merkte, daß Lord Winter log, und das machte sienur noch bestürzter. Um von etwas anderem zu sprechen,fragte sie: »Lieber Schwager, als wir in den Hafen einliefen, meinteich Lord Buckingham auf der Mole zu sehen. Kann das sein?« »Allerdings, und ich begreife, daß sein Anblick Euch ge-troffen hat. Ihr kommt immerhin aus einem Land, wo manviel an ihn denkt, und seine Rüstungen gegen Frankreich be-unruhigen, wie ich weiß, nicht zuletzt Euern Freund, denKardinal.« »Meinen Freund, den Kardinal?« rief Mylady, einiger-maßen fassungslos, da ihr Schwager anscheinend über allesBescheid wußte. »Wie, ist er nicht Euer Freund?« versetzte der Baron leicht-hin. »Dann verzeiht, ich hatte es angenommen! Doch lassenwir den Herzog vorerst noch aus dem Spiel und bleiben wir beider überaus gefühlvollen Tonart, in der unsere Unterhaltungbegonnen hat! Ihr seid also hergekommen, wie Ihr sagt, ummich zu sehen?« »Ja.« »Nun, und ich antwortete Euch darauf, daß Ihr jederzeitnach Wunsch bedient werden sollt und daß wir uns jeden Tagsehen werden.« »Soll ich denn ewig hierbleiben?« fragte Mylady ganz er-schrocken. »Seid Ihr in diesem Raum nicht gut untergebracht? Sagt,was Euch fehlt, und ich werde sofort Befehl geben, daß manes Euch bringt!« »Aber ich habe ja weder meine Frauen noch meine Leutehier …« »Ihr sollt alles Erforderliche bekommen, Madame; sagt mirnur, wie Euer erster Mann Euer Haus eingerichtet hat, undich werde, obwohl ich nur Euer Schwager bin, dafür sorgen,daß Ihr es hier ebenso habt!« 537

»Mein erster Mann?« rief Mylady und starrte Lord Winterverstört an. »Nun ja, der Mann, mit dem Ihr in Frankreich verheiratetwart; ich spreche jetzt nicht von meinem Bruder. Übrigens,falls Ihr es vergessen habt, kann ich ihm, da er ja noch lebt,auch schreiben und ihn um Auskunft bitten.« Kalter Schweiß bedeckte Myladys Stirn. »Ihr scherzt«, sagte sie fast tonlos. »Sehe ich so aus?« fragte der Baron, indem er aufstand undeinen Schritt zurücktrat. »Nein, aber Ihr beleidigt mich!« stieß sie hervor, währendsich ihre Finger um die Armlehnen des Sessels krampften. »Ich Euch beleidigen?« versetzte Lord Winter verächtlich.»Glaubt Ihr im Ernst, Madame, daß das noch möglich ist?« »Ich glaube im Ernst, mein Herr, daß Ihr betrunken oderverrückt seid«, erwiderte Mylady. »Geht jetzt und schickt mireine Kammerfrau!« »Kammerfrauen sind sehr neugierig, beste Schwägerin!Wenn ich Euch meine Dienste anbieten darf? Da bleiben we-nigstens all unsere Geheimnisse in der Familie.« »Unverschämter!« rief Mylady, schnellte hoch und stürztesich auf den Baron, der sie, eine Hand am Degengriff, gelas-sen erwartete. »Ja, ja, ich weiß«, sagte er, »es gehört zu Euern Gewohn-heiten, Menschen umzubringen; aber verlaßt Euch drauf, ichweiß mich zu wehren, sei’s auch gegen Euch!« »Da habt Ihr recht. Ihr macht mir ganz den Eindruck, daßIhr feige genug seid, Euch an einer Frau zu vergreifen.« »Kann schon sein; übrigens hätte ich eine Entschuldigung,denn es wäre ja nicht das erstemal, nehme ich an, daß einMann Hand an Euch legt!« Und der Baron deutete langsamauf ihre linke Schulter, berührte sie fast mit dem anklagendvorgestreckten Zeigefinger. Mylady brüllte heiser auf und wich wie ein Panther, derzum Sprung ansetzt, in eine Ecke des Zimmers zurück. »Oh, brüllt nur, soviel Ihr wollt«, rief Lord Winter, »aberversucht nicht, zu beißen, denn das sage ich Euch schon jetzt,Ihr hättet nur Schaden davon! Hier gibt es keine Winkeladvo-katen, die im voraus Erbschaften regeln, hier gibt es keinen538

fahrenden Ritter, der der schönen Dame zuliebe, die ich ge-fangenhalte, einen Streit mit mir sucht; wohl aber stehen mirjederzeit Richter zur Verfügung, um über eine Frau zu befin-den, die schamlos genug war, sich als das Weib eines anderendie Ehe mit meinem Bruder zu erschleichen, und diese Rich-ter werden Euch, glaubt mir das, einem Henker übergeben,der dafür sorgen wird, daß Eure beiden Schultern wieder gleichaussehen!« Myladys Gesicht verzerrte sich zu einer so furchtbaren Gri-masse, daß Lord Winter, obwohl er als Mann einer waffenlosenFrau gegenüberstand, ein kaltes Grauen verspürte; dennochfuhr er mit wachsendem Grimm fort: »O ja, ich verstehe, nachdem Ihr meinen Bruder beerbt habt,wäre es Euch ganz angenehm, auch mich zu beerben. Abernehmt zur Kenntnis, daß ich bereits Vorsorge getroffen habeund daß Ihr, ob Ihr mich nun ermordet oder ermorden laßt,nicht einen Penny von meinem Vermögen erhaltet! Seid Ihrdenn immer noch nicht reich genug, obwohl Ihr schon fasteine Million besitzt, und könnt Ihr nicht endlich auf Euermunseligen Weg einhalten? Oder bereiten Euch Eure Verbre-chen eine so teuflische Lust, daß Ihr nicht davon lassen könnt?Oh, ich sage Euch, wäre mir nicht das Andenken meines Bru-ders heilig, so ließe ich Euch in irgendeinem Kerker verfaulenoder in Tyburn die Neugier der Matrosen befriedigen! Aberich werde schweigen, und Ihr werdet Euch mit Eurer Gefan-genschaft abzufinden haben. In zwei, drei Wochen gehe ichmit der Armee nach La Rochelle; doch den Tag vor meiner Ab-reise werdet Ihr Euch unter meiner Obhut an Bord eines Schif-fes begeben, das Euch in eine unserer Kolonien bringen wird.Und seid unbesorgt, ich gebe Euch einen Begleiter mit, derEuch bei dem ersten Versuch, nach England oder auf den Kon-tinent zurückzukehren, über den Haufen schießen wird!« Mylady hörte angespannt zu und starrte ihn dabei aus weitaufgerissenen Augen an. »Bis dahin aber bleibt Ihr hier im Schloß: die Mauern sinddick, die Türen gut gesichert, die Gitter unverrückbar. Übri-gens geht es von Euerm Fenster steil ins Meer hinab, undmeine Mannschaften, dir mir auf Tod und Leben ergebensind, bewachen dieses Zimmer und alle Gänge, die in den Hof 539

hinunterführen; und selbst wenn Ihr den Hof erreicht, habtIhr immer noch drei vergitterte Tore vor Euch! Der Befehlist klar: ein Schritt, eine Bewegung, ein Wort, das auf einenFluchtversuch schließen läßt, und es wird geschossen; wer-det Ihr dabei getötet, so werden mir die englischen Gerichtevermutlich dankbar sein, daß ich ihnen die Arbeit abgenom-men habe. – Ah, Ihr scheint Euch zu beruhigen. Eure Zügesehen schon gefaßter aus; zwei, drei Wochen, denkt Ihr, ach,ich bin so erfinderisch, da wird mir schon noch was einfallen,und ich habe einen so teuflischen Geist, da wird sich gewißein neues Opfer finden lassen. In zwei Wochen, sagt IhrEuch, bin ich hier heraus. Nun gut, versucht es!« Mylady sah sich durchschaut, aber während sie ihre Finger-nägel tief in die Handballen grub, zwang sie sich dazu, in ihremGesicht keine andere Regung als die der Angst zu verraten. Lord Winter fuhr fort: »Der Offizier, der hier in meiner Abwesenheit das Kom-mando führt, ist Euch bereits bekannt; und wie Ihr gemerkthabt, hält er es mit der Befolgung eines Befehls sehr genau,denn auf der Fahrt von Portsmouth nach hier habt Ihr natür-lich nichts unversucht gelassen, ihn zum Sprechen zu bewegen.Wie findet Ihr ihn? Hätte ein Marmorbildnis unempfindlicherund stummer sein können? Ihr habt die Macht Eurer Ver-führungskünste schon an vielen Männern erprobt, und leiderhattet Ihr immer Erfolg; jetzt aber versucht es einmal bei die-sem Mann, und bei Gott, wenn Ihr auch hier Euer Ziel erreicht,so seid Ihr für mich der Teufel selbst!« Er ging rasch zur Türund riß sie auf. »Man rufe mir Mister Felton!« befahl er, dannkehrte er sich wieder seiner Schwägerin zu. »Geduldet Euchnoch einen Augenblick, ich werde Euch persönlich seiner Ob-hut empfehlen!« Für eine Weile war es ganz still im Zimmer, und man hörtenur vom Flur her jemand festen Schritts näher kommen.Schließlich tauchte in der Dunkelheit eine Gestalt auf undblieb auf der Türschwelle stehen; es war der junge Leutnant,den wir bereits kennengelernt haben. »Tretet ein, lieber John«, sagte Lord Winter, »tretet ein undmacht die Tür zu!« Der Offizier gehorchte.540

»So, und jetzt seht Euch diese Frau an!« fuhr der Baron fort.»Sie ist jung, sie ist schön, alle Verlockungen der Welt stehenihr zu Gebote, und doch ist sie ein Ungeheuer, denn mit ihrenfünfundzwanzig Jahren hat sie schon mehr Verbrechen be-gangen, als Ihr in einem ganzen Jahr in den Archiven unsererGerichte lesen könnt! Ihre Stimme klingt angenehm, ihreSchönheit ist der Köder für ihre Opfer, und ihr Körper, dasmuß man ihr lassen, hält auch, was er verspricht. Sie wird ver-suchen, Euch zu verführen, vielleicht versucht sie auch, Euchzu töten. Ich habe Euch aus dem Elend gezogen, Felton, habeEuch zum Leutnant befördern lassen, und einmal habe ichEuch sogar das Leben gerettet. Ihr wißt, bei welcher Gele-genheit. Ich bin für Euch nicht nur ein Beschützer, sondernauch ein Freund, nicht nur ein Wohltäter, sondern auch ein Va-ter. Diese Frau ist nach England gekommen, um mir nach demLeben zu trachten, und nun halte ich diese Schlange in meinenHänden. Euch aber habe ich rufen lassen, um Euch zu sagen:Freund Felton, John, mein Sohn, halte mir, halte aber auch dirselbst diese Frau fern! Schwöre mir beim Heil deiner Seele, siehier streng zu bewachen, bis sie ihrer verdienten Strafe zuge-führt wird! John Felton, ich baue auf dein Wort; John Felton,ich verlasse mich auf deine Redlichkeit!« »Mylord«, entgegnete der junge Offizier und warf der Fraueinen Blick zu, in den er allen Haß legte, den er in seinemHerzen finden konnte, »ich schwöre Euch, daß alles so ge-schehen wird, wie Ihr es wünscht!« Mylady nahm diesen Blick mit der Ergebenheit eines Op-fertiers hin; man konnte sich keinen sanfteren und demüti-geren Ausdruck vorstellen als den, der jetzt auf ihrem schö-nen Gesicht lag. Selbst Lord Winter erkannte in ihr kaum dieTigerin wieder, auf deren Angriff er noch eben gefaßt gewe-sen war. »Sie darf dieses Zimmer nie verlassen, John, klar?« fuhr derBaron fort. »Sie darf auch mit niemand schriftlich verkehrenund lediglich mit Euch sprechen, sofern es Euch beliebt,überhaupt jemals das Wort an sie zu richten.« »Ich weiß Bescheid, Mylord, und Ihr habt meinen Schwur!« »Also dann versucht, Euern Frieden mit Gott zu machen,Madame! Von den Menschen seid Ihr bereits gerichtet.« 541

Mylady ließ den Kopf sinken, als fühle sie sich durch diesesUrteil zerschmettert. Lord Winter ging hinaus und bedeuteteFelton durch einen Wink, ihm zu folgen und die Tür abzu-schließen. Einen Augenblick später hörte man auf dem Flur den wuch-tigen Schritt eines Marinesoldaten, der mit dem Enterbeil imGürtel und der Muskete in der Hand den Zugang zum Zim-mer der Gefangenen bewachte. Mylady verharrte einige Minuten in derselben Haltung,denn sie rechnete damit, daß man sie vielleicht durch dasSchlüsselloch beobachtete. Als sie endlich den Kopf hob, hatteihr Gesicht wieder einen drohenden, herausfordernden Blickangenommen. Sie lief an die Tür, um zu horchen, blickte eineWeile zum Fenster hinaus und warf sich schließlich wieder ineinen weiten Lehnstuhl. Sie dachte nach. Der OffizierInzwischen wartete Richelieu auf Nachrichten aus England,aber alles, was ihn von dort erreichte, war ärgerlich und be-drohlich. Ungeachtet der Tatsache, daß La Rochelle seit vie-len Monaten eingeschlossen war, konnte die Belagerung nochlange dauern, und das war eine große Schmach für die Waf-fen des Königs und ein großes Ärgernis für den Kardinal, derjetzt zwar nicht mehr für Unfrieden zwischen Ludwig XIII.und Anna von Österreich zu sorgen brauchte, weil es daranohnedies nicht mangelte, wohl aber Bassompierre mit demHerzog von Angoulême aussöhnen mußte, die sich beidewieder einmal überworfen hatten. Was den Bruder des Königs,den Herzog von Orléans, betraf, der seinerzeit die Belagerungbegonnen hatte, so überließ er es gerne dem Kardinal, sie zubeenden. In der Stadt war es trotz der unglaublichen Beharrlichkeitdes Bürgermeisters zu einem Aufstandsversuch gekommen,um die Übergabe zu erzwingen; aber der Bürgermeister hattedie Meuterer hängen lassen. Diese Maßnahme brachte auchdie hitzigsten Köpfe zur Besinnung, und so war man ent-542

schlossen, lieber eines Tages zu verhungern. Dieses Ende er-schien ihnen nicht ganz so unmittelbar und unausweichlichwie der Tod durch den Strang. Von Zeit zu Zeit fingen die Belagerer einen Boten ab, dendie Rocheller zu Buckingham schickten, oder einen Spiondes Herzogs, der in die Stadt wollte. In dem einen wie in demanderen Fall wurde kurzer Prozeß gemacht. Der Kardinalsagte nur ein Wort: Aufhängen! Man lud den König ein, derExekution beizuwohnen. Der König erschien übellaunig undnahm einen Platz ein, von wo aus er den Vorgang in allen Ein-zelheiten verfolgen konnte. Dies zerstreute ihn immer einwenig und ließ ihn die Belagerung eine Weile geduldiger er-tragen; dennoch langweilte er sich entsetzlich und sprach alleAugenblicke davon, er wolle nach Paris zurückkehren, so daßder Kardinal, wenn es an Boten und Spionen gefehlt hätte,zweifellos in arge Bedrängnis geraten wäre. Doch die Zeit verstrich, und die Rocheller ergaben sichnicht. Bei dem letzten Boten, den man abgefangen hatte, warein Brief an Buckingham gefunden worden, in dem es nichtetwa hieß: »Wenn Eure Hilfe nicht innerhalb der nächstenvierzehn Tage eintrifft, so werden wir uns ergeben«, sondernganz schlicht: »Wenn Eure Hilfe nicht innerhalb der näch-sten vierzehn Tage eintrifft, so wird Euer Ersatzheer uns alleverhungert finden!« Die Rocheller setzten demnach all ihreHoffnungen auf Buckingham. Der Herzog war ihr Messias.Das aber bedeutete: wenn sie eines Tages die sichere Nach-richt erhielten, daß sie nicht mehr mit Buckinghams Hilferechnen konnten, so mußte ihnen mit der Hoffnung auchder letzte Mut schwinden. Richelieu wartete also mit großer Ungeduld auf Nach-richten aus England, die ihm melden sollten, daß ein Er-scheinen Buckinghams vor La Rochelle nicht mehr zu be-fürchten sei. Im Gedanken an seine schreckliche Botinkonnte er sich einer gewissen Besorgnis nicht erwehren, dennauch ihm war inzwischen das Ungeheuerliche im Wesen die-ser Frau klargeworden. Hatte sie ihn verraten? War sie tot?Immerhin kannte er sie genügend, um zu wissen, daß sie, obsie nun für oder gegen ihn, als Freundin oder als Feindin han-delte, bestimmt nur gezwungenermaßen untätig blieb. Doch 543

was sie zur Untätigkeit verurteilte, vermochte er nicht zu sa-gen. Im übrigen baute er ganz auf Mylady, und zwar mitGrund. Er ahnte, daß es in der Vergangenheit dieser Frau ge-wisse furchtbare Dinge gab, die allein sein roter Kardinals-mantel zudecken konnte, und er spürte, daß sie ihm unbe-dingt ergeben war, da nur er ihr einen wirksamen Schutz vorernster Bedrohung bieten konnte. Unter diesen Umständen beschloß er, den Krieg ganz alleinauf sich gestellt zu führen und jede fremde Hilfe nur als glück-lichen Zufall in Rechnung zu stellen. Er ließ also an demDamm, der die Stadt von der See abschnüren sollte, weiter-bauen und versuchte, unter den Belagerten Zwiespalt zu säen,indem er kleine Zettel über die Mauern werfen ließ, in denendas Verhalten der Stadtväter als ungerecht, selbstsüchtig undbarbarisch bezeichnet wurde. Ihre Führer, so hieß es, hättenGetreide im Überfluß, ließen es jedoch nicht verteilen, da siesich auf den Standpunkt stellten, daß es unwichtig sei, ob Wei-ber, Kinder und Greise verhungerten, sofern nur die Männer,die ihre Stadt zu verteidigen hatten, bei Kräften blieben. Bisjetzt war dieser Standpunkt, sei es aus Ergebenheit, sei es ausUnvermögen, etwas dagegen zu tun, wenn nicht gebilligt, sodoch in der Praxis ohne Murren hingenommen worden. Nunaber erinnerten Richelieus Flugblätter die Männer daran, daßdiese Kinder, Weiber und Greise, die man verhungern ließ,schließlich ihre eigenen Söhne, Frauen und Väter waren. Un-ter dem Eindruck dieser geschickten Einflüsterungen beschloßendlich auch eine starke Gruppe von Einwohnern, auf eigeneFaust mit der königlichen Armee Fühlung aufzunehmen. Aber in dem Augenblick, da der Kardinal bereits sein Mit-tel Früchte tragen sah und sich zu seinem genialen Einfall be-glückwünschen wollte, gelangte ein Einwohner von La Ro-chelle, der in Portsmouth gewesen war, auf wunderbare Weisedurch den dichten Sperriegel der Belagerer in die Stadt zurückund meldete dort, daß eine riesige englische Flotte bereitliegeund in spätestens acht Tagen auslaufen werde. Überdies teilteBuckingham dem Bürgermeister mit, daß endlich die großeLiga gegen Frankreich zustande gekommen sei und daß dieenglischen, kaiserlichen und spanischen Heere gleichzeitig indas Königreich einfallen würden. Dieses Schreiben wurde auf544

allen großen Plätzen öffentlich verlesen, Abschriften davonwurden an den Straßenecken angeklebt, und selbst jene, dieschon Unterhandlungen mit dem Feind angeknüpft hatten,brachen sie wieder ab, um auf die so großartig angekündigteHilfe zu warten. Diese unverhoffte Wendung versetzte Ri-chelieu wieder in seine frühere Besorgnis und zwang ihn un-willkürlich, seinen Blick abermals auf die andere Seite des Ka-nals zu richten. Unterdessen führte die königliche Armee, frei von den Sor-gen ihres einzigen und wirklichen Anführers, ein lustiges Le-ben, denn im Lager fehlte es weder an Speise und Trank nochan Geld. Alle Einheiten überboten sich gegenseitig an Drauf-gängertum und unbeschwerter Lebensfreude. Spione abfangenund aufknüpfen, verwegene Streifzüge auf dem Deich oder aufdem Wasser unternehmen, immer neue Tollheiten ersinnen undkaltblütig ausführen, das war der Zeitvertreib, mit dem sich dieArmee die Tage verkürzte, die nicht nur den ausgehungertenund angstgepeinigten Rochellern, sondern auch dem Kardinal,der ihnen unablässig zusetzte, so qualvoll lang erschienen. Wenn der Kardinal, der stets wie der geringste Soldat zuPferde saß, seinen Blick nachdenklich über die Befestigungs-werke schweifen ließ, deren Bau für seine Begriffe viel zu lang-sam fortschritt, obwohl er aus dem ganzen Land die bestenIngenieure hatte kommen lassen, so konnte es geschehen, daßer auf einen Musketier aus der Kompanie des Herrn de Trevilletraf; dann ritt er wohl näher an ihn heran und musterte ihn miteinem eigentümlichen Blick, sobald er jedoch merkte, daß eres nicht mit einem unserer vier Freunde zu tun hatte, gab erseinem prüfenden Blick und seinen sorgenvollen Gedankenwieder eine andere Richtung. Eines Tages nun war er, von tödlicher Langeweile verzehrt,ohne Hoffnung auf erfolgreiche Unterhandlungen mit derStadt und ohne Nachricht aus England, in der einzigen Ab-sicht, sich Bewegung zu verschaffen, ausgeritten. Während er,nur von Cahusac und La Houdinière begleitet, über die Dü-nen dahinritt und die Unermeßlichkeit seiner Träume mit derUnermeßlichkeit des Meeres mischte, gelangte er auf einenHügel, von dem aus sich ihm ein unerwarteter Anblick bot:Im Schatten einer Hecke lagen, von etlichen leeren Flaschen 545

umgeben, sieben Männer im Sand und ließen es sich offenbarrecht wohl sein. Vier der Leute waren unsere Musketiere, vondenen einer anscheinend einen Brief bekommen hatte, den ernun seinen Freunden vorlesen wollte; dieser Brief mußte sehrwichtig sein, denn auf einer Trommel lagen verwaist Kartenund Würfel. Die drei anderen Männer, die eben damit be-schäftigt waren, eine gewaltige, strohumflochtene Weinflaschezu öffnen, schienen die Diener dieser Herren zu sein. Wie wir schon sagten, war Richelieu schlecht gelaunt, undin solcher Stimmung brachte ihn nichts so sehr auf als derAnblick fröhlicher Menschen. Zudem hegte er den sonder-baren Argwohn, gerade das, was ihn bedrückte, sei der Grundfür die Fröhlichkeit der anderen. Er bedeutete also seinenbeiden Begleitern anzuhalten, stieg vom Pferd und nähertesich vorsichtig den verdächtigen Lachern, in der Hoffnung,der Sand werde seine Schritte dämpfen und die Hecke seinKommen verbergen, so daß er ein paar Worte dieser offen-bar hochinteressanten Unterhaltung erlauschen könne. Alser noch etwa zehn Schritt von der Hecke entfernt war, er-kannte er das Mundwerk des Gascogners, und da er gesehenhatte, daß auch die anderen Musketiere waren, zweifelte ernicht mehr daran, daß er die sogenannten Unzertrennlichen,das heißt Athos, Porthos und Aramis, vor sich hatte. Wie sich denken läßt, verlangte es ihn jetzt nur noch stär-ker, etwas von der Unterhaltung aufzufangen. In seine Au-gen trat ein eigentümlich lauernder Ausdruck, und wie eineTigerkatze schlich er auf die Hecke zu; aber er hatte kaum einpaar Worte aufgefangen, deren Sinn ihm im übrigen dunkelblieb, als ein kurzer, energischer Ruf ihn zusammenfahrenund die Musketiere aufmerken ließ. »Offizier!« rief Grimaud. »Mir scheint, du sprichst, Kerl!« sagte Athos, indem er sichauf den Ellbogen stützte und seinen Diener zornig anblitzte.Der verstummte auch sogleich wieder und deutete lediglichmit dem Zeigefinger zur Hecke hin, durch welche Geste sichder Kardinal und seine Begleiter entdeckt sahen. Mit einem Satz waren die vier Musketiere auf den Beinenund grüßten ehrerbietig. Der Kardinal schien wütend.546

»Ich habe ganz den Eindruck«, erklärte er, »als stellten dieHerren Musketiere Wachen aus. Erwartet man etwa einenAngriff der Engländer, oder halten sich die Musketiere garfür höhere Offiziere?« »Monseigneur«, antwortete Athos, der als einziger inmit-ten der allgemeinen Verwirrung die vornehme Ruhe bewahrthatte, die ihn nie verließ, »wenn die Musketiere nicht imDienst sind, so trinken oder würfeln sie, und für ihre Dienersind sie allemal sehr hohe Herren.« »Diener?« brummte der Kardinal. »Diener, die angewiesensind, ihre Herren zu warnen, wenn jemand des Weges kommt,sind keine Diener, sondern Schildwachen!« »Immerhin werden Eure Eminenz zugeben, daß wir ohnediese Maßregel Gefahr gelaufen wären, Euch vorbeigehen zulassen, ohne Euch unsere Achtung zu erweisen und Euchdafür zu danken, daß Ihr so gütig wart, uns vier endgültig zuvereinen. – D’Artagnan«, wandte er sich an den Gascogner,»Ihr habt Euch doch noch eben gewünscht, dem Herrn Kar-dinal Eure Dankbarkeit bekunden zu können; hier ist endlicheine Gelegenheit, nutzt sie!« Diese Worte wurden mit jenerunerschütterlichen Gelassenheit vorgebracht, die Athos stetsin gefährlichen Situationen auszeichnete, zugleich aber auchmit einer so unübertrefflichen Grandezza, daß er oft genugköniglicher als ein geborener Herrscher wirkte. D’Artagnan trat vor und stammelte einige Dankesworte,die aber unter dem finsteren Blick Seiner Eminenz bald ver-siegten. »Gleichviel, meine Herren«, fuhr der Kardinal fort, ohnesich durch den Zwischenfall, den Athos herbeigeführt hatte,im geringsten vom Thema abbringen zu lassen, »gleichviel,ich schätze es nicht, wenn einfache Soldaten, nur weil sie denVorzug genießen, in einer Eliteeinheit zu dienen, auf dieseWeise die großen Herren hervorkehren, denn für sie gilt ge-nau dieselbe Disziplin wie für alle anderen!« Athos ließ den Kardinal ruhig zu Ende sprechen, verbeugtesich dann kurz zum Zeichen seiner Zustimmung und erwi-derte: »Die Disziplin, Monseigneur, ist, wie ich hoffe, von uns inkeiner Weise außer acht gelassen worden. Wir sind nicht im 547

Dienst, und aus diesem Grund glaubten wir über unsere Zeitnach eigenem Ermessen verfügen zu können. Sollten EureEminenz uns jedoch mit einem besonderen Auftrag aus-zeichnen wollen, so sind wir jederzeit bereit, ihn zu erfüllen.Wie Eure Eminenz sich überzeugen können«, fuhr Athosstirnrunzelnd fort, denn dieses halbe Verhör brachte ihn all-mählich auf, »haben wir, um für alle Fälle gewappnet zu sein,unsere Waffen mitgenommen.« Und er zeigte auf die vierMusketen, die neben der Trommel, auf der die Karten undWürfel lagen, zu einer Pyramide zusammengestellt waren. »Eure Eminenz mögen überzeugt sein«, setzte d’Artagnanhinzu, »daß wir Euch entgegengegangen wären, wenn wirauch nur geahnt hätten, daß Ihr mit einem so kleinen Ge-folge hierherkommt!« Der Kardinal biß sich auf die Lippen. »Wißt ihr, wie ihr mir vorkommt, ihr vier, die man ständigzusammen sieht, so wie jetzt, bewaffnet und von euern Die-nern bewacht?« fragte er. »Wie Verschwörer kommt ihr mirvor!« »Oh, das kann schon sein, Monseigneur«, entgegneteAthos, »allerdings richten sich unsere Verschwörungen, wieEure Eminenz erst neulich bemerkt haben dürften, einzigund allein gegen den Feind in La Rochelle.« »Ach, meine Herren Politiker«, rief der Kardinal, »man fändein euern Köpfen vermutlich eine ganze Reihe Geheimnisse, vondenen niemand etwas weiß, wenn man darin so einfach lesenkönnte wie ihr in jenem Brief, den ihr bei meinem Kommen soeilig versteckt habt!« Athos schoß das Blut in den Kopf, und er trat einen Schrittvor. »Es scheint, Eure Eminenz haben uns wirklich in einembestimmten Verdacht und dies soll ein regelrechtes Verhörsein. Wenn dem so ist, mögen Eure Eminenz sich näher er-klären, dann wissen wir wenigstens, woran wir sind!« »Und wenn es eins wäre?« versetzte der Kardinal. »Ganzandere Leute als Ihr, Herr Athos, mußten schon ein Verhörüber sich ergehen lassen und haben dabei Rede und Antwortgestanden!« »Darum bat ich ja, Euch näher zu erklären, Monseigneur.548

Eure Eminenz brauchen nur zu fragen, wir werden keineAntwort schuldig bleiben.« »Was war das für ein Brief, Herr Aramis, den Ihr eben vor-gelesen und bei meiner Ankunft versteckt habt?« »Der Brief einer Frau, Monseigneur.« »Oh, ich verstehe«, sagte der Kardinal, »bei solchen Briefenmuß man diskret sein! Aber einem Beichtiger darf man siewohl zeigen, und Ihr kennt ja meinen Rang in der Kirche.« »Monseigneur«, erwiderte Athos mit einer Ruhe, die umso schrecklicher wirkte, als er mit dieser Antwort seinenKopf riskierte, »der Brief ist zwar von einer Frau, aber er trägtweder die Unterschrift von Marion de Lorme noch die vonMadame d’Aiguillon.« Der Kardinal wurde bleich wie der Tod, nur in seinen Augenflackerte ein gefährliches Feuer. Die Herausforderung war al-lerdings unglaublich, denn ganz Frankreich wußte, in welcheindeutiger Beziehung die beiden Damen, deren Namen ihmdieser simple Musketier soeben an den Kopf geworfen hatte,zu ihm standen. Er wandte sich schroff ab, als wollte er Cahu-sac und La Houdinière einen Befehl erteilen. Athos sah die Be-wegung und machte einen Schritt zu den Musketen hin, auf dieauch schon die drei Freunde in der unverkennbaren Absichtstarrten, sich nicht ohne weiteres verhaften zu lassen. Der Kar-dinal hatte nur zwei Mann bei sich, die Musketiere zählten mitihren Dienern sieben; die Partie mußte dem Kardinal jedochnoch aussichtsloser erscheinen, als er Athos und seine Beglei-ter nun tatsächlich für Verschwörer hielt. Und in einem jenerraschen Umschwünge, die ihm stets zu Gebote standen, zer-schmolz sein ganzer Zorn zu einem Lächeln. »Schon gut, schon gut«, sagte er, »ihr seid tapfere jungeLeute, stolz im Licht und treu im Dunkeln! Es ist ja nichtsSchlimmes dabei, über sich selbst zu wachen, wenn man so gutüber andere wacht. Meine Herren, ich habe keineswegs dieNacht vergessen, in der ihr mir das Geleit zum ›Roten Tau-benschlag‹ gegeben habt, und wenn ich einen gefährlichen Wegvor mir hätte, würde ich euch heute wieder bitten, mich zu be-gleiten. Da dies aber nicht der Fall ist, so bleibt, wo ihr seid,leert eure Flaschen, spielt eure Partie weiter und lest in Ruheeuern Brief zu Ende. Gott befohlen, meine Herren!« Damit 549


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