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Verlag Uwe Plate

Published by Uwe Plate, 2016-05-11 18:05:19

Description: Hahnemanns Arbeitsweise

Keywords: Homöopathie,Hahnemann,klassische Homöopathie,Arzneimittellehre,Krankenjournale

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HahnemannsArbeitsweise UWE PLATE • ANTON ROHRER

Inhalt 4 10Einleitung (A. Rohrer) 12Hahnemanns Krankenjournale (A. Rohrer) 24Grundsätze der Arzneiwahl (U. Plate) 38Hahnemanns 1. Lehrfall 44Hahnemanns 2. Lehrfall 70Christille 82Alary 94Lelievre 104Burland 110Fremiere 114Hauptmann 116Rima Handleys später Hahnemann (U. Plate) 130Musard 132Campell 138Moreau 148Braun 154LambertImmer Sulfur? i

Hahnemanns Arbeitsweise heute (A. Rohrer) 156Asthma 160Spinalkanalstenose 164Verdacht auf Thrombose 168Fibromyalgie 174Rückenschmerzen bei Verdacht auf Lungenembolie 180ii

Hahnemanns ArbeitsweiseUwe Plate HeilpraktikerVerfasser und Herausgeber des Symptomenlexikons nach einer Idee des Begründersder Homöopathie Samuel HahnemannDr. Anton Rohrer Arzt für AllgemeinmedizinSeit 1987 ärztliche Homöopathieausbildungfür die Österr. Ges. für Homöopath. Medizin (ÖGHM)1996-2000 Präsident der ÖGHMwww.hahnemann.at©2016 Verlag Uwe PlateAlle Rechte und Übersetzungen vorbehalten. iii

ANTON ROHREREinleitung Dieses eBook verfolgt zwei Hauptanliegen: Erstens soll die Ansichtkorrigiert werden, Hahnemann hätte seinen Patienten zuerst Sulfuroder Hepar sulfuris wegen der Diagnose „Psora“ verordnet. Zweitenssoll durch die Analyse einiger Krankengeschichten Hahnemanns einEinblick in seine Arbeitsweise vermittelt werden, wodurch wir geradeheute von ihm lernen können erfolgreich zu verschreiben. Dabei gehtes um die Arzneiwahl nach Anzeigen (Indikationen) und nicht nachSymptomen (Materia-medica-Vergleich). Es geht um die Arzneiwahlnach Zeichenkombinationen, die Hahnemann als „charakteristischeSymptome“ bezeichnet hat, die aber in der heutigen klassischen Homö-opathie gänzlich unbekannt ist. Eine Arzneiwahl nach Indikationen(Zeichenkombinationen) ist jedoch nur mit einem Symptomenlexikondurchführbar, so dass es in diesem Buch auch um die praktische An-wendung des Symptomenlexikons geht, mit Fallbeispielen aus Hahne-mann Praxis und der heutigen Praxis, denn mit dem Symptomenlexi-kon zur Bestimmung der Indikationen arbeiten wir heute nach densel-ben Regeln und Prinzipien wie Hahnemann. In der Homöopathiewelt hält sich, bis jetzt unwidersprochen das Vor-urteil, Hahnemann habe zuerst Sulfur den Patienten verabreicht umdie Psora zu behandeln, oder um den Fall zu „eröffnen“. Ganz egal,mit welchen Krankheitsbeschwerden der Patient auch kam, zuerstwäre Sulfur verordnet worden ohne auf Prüfungssymptome Rücksichtzu nehmen. Es ist ja in der Tat erstaunlich, wie oft Hahnemann Sulfurverschrieben hat und mit einem direkten Materia-medica-Vergleichlassen sich seine Sulfur-Verschreibungen auch nicht nachvollziehen.Wobei unter Materia-medica-Vergleich verstanden wird, dass eine Ähn- 4

lichkeitsbeziehung zwischen den Symptomen des Patienten und den(ganzen!) Symptomen, wie sie in der Arzneimittellehre stehen, herge-stellt wird. Hier zeigt sich, dass sich die Patientensymptome oft nichtunter den Sulfursymptomen wiederfinden lassen. Dadurch hat sich dieAnsicht durchgesetzt, wenn nicht diese Ähnlichkeitsbeziehung aus-schlaggebend ist, dann muss es andere Gründe für die Sulfurverord-nung geben und als Hauptgrund für die Verschreibung wurde dieBehandlung der Psora angenommen. Also nicht mehr Verschreibungnach der Ähnlichkeit, sondern Verschreibung nach der Diagnose, nachdem Namen der Krankheit, wie in der naturwissenschaftlichen Schul-medizin, eben hier nach der Diagnose: „Psora“. So schreibt z.B. E. Stö-teler in seinem Buch Hahnemann Verstehen (sic!): „Hahnemann fingdie Behandlung regelmäßig mit Sulfur oder Hepar sulfuris an. Dasmachte er um die Behandlung zu starten und die Dynamis zu einerReaktion zu reizen. .... Faktisch behandelt der klassische Homöopathmit seinen dynamischen, potenzierten Heilmitteln die miasmatischeKrankheitstendenz, die sich hinter den Symptomen verbirgt“ (S. 125). Damit ist gemeint, Hahnemann hätte seine Heilmittel nicht nach phä-nomenologischen Gesichtspunkten ausgewählt, also nach der Ähnlich-keit auf der Ebene der (vordergründigen) Symptome, sondern nachder (hintergründigen) Krankheitstendenz, nach der Diagnose: Psora.Diese Ansicht hält sich seit 200 Jahren oder zumindest seit Hahne-manns Krankenjournale transkribiert und publiziert wurden und hatsich in den Köpfen der Homöopathen festgesetzt. Zumal auch keineandere Erklärung gefunden werden konnte, und da die Schulmedizinauch nach diesem Prinzip funktioniert, ist diese Vorgehensweise(Therapie richtet sich nach der Diagnose) jedem Therapeuten ohnehinbekannt und geläufig. Ohne Symptomenlexikon kann man Hahnemanns Arbeitsweise undseine Sulfurverschreibungen nach charakteristischen Symptomen inder Tat nicht verstehen. Hahnemann gibt in seiner Arzneimittellehre bei 5

einigen Arzneien in den Fußnoten zu einzelnen Symptomen vieleAnmerkungen, die das Charakteristische dieser Symptome zeigen.Daraus wird ersichtlich, dass es dabei nicht um die ganzen Symptomegeht, sondern das Charakteristische immer nur aus einzelnen Elemen-ten dieser Symptome besteht, meist geht es um die Kombination zwei-er Symptomenbestandteile. Die charakteristische Arzneiwirkung zeigtsich in Zeichenkombinationen (wobei die Symptomenbestandteile Ort,Empfindung/Beschwerde oder Modalität untereinander kombiniert wer-den). Das ist die wichtigste Schlussfolgerung, die aus HahnemannsFußnoten zu einzelnen Arzneien gezogen werden muss! Die beidenKrankengeschichten, die Hahnemann selber publiziert hat (RAML,Band 2, Vorerinnerung, Frau Sch... und Herr W - e) zeigen diesesGrundschema der Arzneiwahl nach signifikanten Zeichenkombinatio-nen. Das ist mir schon vor mehr als 20 Jahren aufgefallen, beim Lesendieser beiden Fälle, dass Hahnemanns Weg zur Arzneifindung soganz anders war als wir es je gelernt haben bzw. als wir es mit demRepertorium heute praktizieren. Ohne Symptomenlexikon lassen sichHahnemanns Arzneiwahlen aber nicht nachvollziehen und für michpersönlich zählt das heute zu den größten beruflichen Befriedigungen,Hahnemanns Begründungen der Arzneiwahl verstehen zu können.Wobei es dabei nicht um Homöopathiegeschichte oder Hagiographiegeht, zu verstehen, warum Hahnemann gerade diese Arznei für einenseiner Patienten ausgesucht hat, sondern weil es um unsere heutigenPatienten in unseren heutigen Praxen geht, denen wir durch diesesVerständnis erfolgreicher als mit jedem anderen Weg der Arzneifin-dung helfen können. Wenn es Hahnemanns Erkenntnis war, dass sich das Charakteristi-sche der Arznei in signifikanten Zeichenkombinationen äußert unddass es deshalb in der Praxis nur darum geht, Zeichenkombinationen,die wir in der Anamnese des Patienten finden, mit den charakteristi-schen (signifikanten) Zeichenkombinationen der Arznei in Ähnlichkeits- 6

beziehung zu setzen, ja wenn es wirklich nur darum geht, warum hatHahnemann das nicht ausdrücklich im Organon beschrieben? Erstenshat Hahnemann nicht alles im Organon geschrieben und zweitensgeht es hier um die konkrete Identifikation der charakteristischenZeichenkombinationen der jeweiligen Arzneien, es geht um das Studi-um der Arzneimittellehre. Was liegt daher näher, als das konkret anBeispielen in der Arzneimittellehre zu zeigen? Hahnemann erläutertdas in den Fußnoten einiger Arzneien, so dass es uns klar vor Augenliegt und es jeder sehen kann. Nur konnten 200 Jahre Homöopathiedas nicht verstehen, geschweige denn in die Praxis umsetzen, dennum diese Erkenntnisse in der Praxis anwenden zu können braucht esein Symptomenlexikon. Ohne Symptomenlexikon können die signifikanten Zeichenkombina-tionen der Arzneien nicht ermittelt werden. Da diese Charakteristikanicht erkannt werden konnten, wurde die Materia medica nach ande-ren Gesichtspunkten interpretiert. Und weil für Hahnemanns Art derArzneifindung ein Symptomenlexikon notwendig ist, das aus techni-schen Gründen erst im 21. Jahrhundert erstellt werden konnte, habensich so viele verschiedene Strömungen innerhalb der Homöopathieentwickelt. Keiner konnte Hahnemann nachmachen und doch behaup-tete jeder, seine Richtung sei Hahnemanns Methode. Wegen der umfangreichen Datenmenge der Arzneiprüfungen habensich verschiedene Strategien zur Bewältigung, bzw. zur Vereinfachungergeben: Repertorien wurden geschaffen, klinische Krankheitsbilderwurden mit Arzneien verknüpft („Spezifiker“), eine Synthese der moder-nen Wissenschaften mit Homöopathie wurde versucht (naturwissen-schaftlich-kritische Richtung). Trotzdem war man im ersten Jahrhun-dert der Homöopathie bemüht, die Arzneifindung primär über die Mate-ria medica zu betreiben. Erst durch die Verbreitung des KentschenRepertoriums, das sich im 20. Jahrhundert durchsetzte, wurde esüblich, die Arzneien primär über ein Repertorium zu suchen um dann 7

eventuell hinterher noch einen Materia-medica-Vergleich anzuschlie-ßen (das ist nicht das Studium der Arzneimittellehre). So schreibt dasLehrbuch der Homöopathie von Genneper/Wegener (S. 20): „Für dieSuche nach der ähnlichsten Arznei ist die primäre Materia medicanicht geeignet“. Insofern bedeutet das Erscheinen des Symptomenlexi-kons auch eine Revolution (im Sinne der Umkehrung), indem jetzt wie-der die Arzneifindung direkt mit den Arzneisymptomen vorgenommenwerden kann ohne ein Repertorium dazwischen schalten zu müssen. Einen weiteren schwerwiegenden Einfluss in der Homöopathiege-schichte hatten die Arzneimittelbilder von Kent. Während für Hahne-mann die geprüften Arzneien aus „Symptomenreihen“ (§153) bestan-den, synthetisierte Kent seine Arzneimittelbilder. Die Arznei wird zumBild, zur „Persönlichkeit“, die im Patienten wiedergefunden werdensoll. Während im 19. Jahrhundert hauptsächlich die modernen Natur-wissenschaften Einfluss auf die Homöopathie nahmen, war es im20. Jahrhundert die Psychologie, die maßgeblich die Entwicklung derHomöopathie beeinflusste. Die Arzneibilder wurden zunehmendpsychologisch gedeutet, es entstanden Generalisierungen im Sinnevon „Essenzen“, „zentralen Wahnideen“, „zentralen Empfindungen“,„Quellen“ etc. Alle diese verschiedenen Schulen und Strömungen beru-fen sich aber auf Hahnemann und interpretieren den zentralen §153des Organon jede auf eigene Weise. Da sich jede Strömung aufHahnemann beruft, bezeichnet sich auch jede dieser Schulen als „klas-sisch“. Als ob Hahnemann die Regeln der Arzneiwahl der subjektivenInterpretation eines jeden Einzelnen überlassen hätte! Ganz im Gegen-teil sagt Hahnemann; „Diese Lehre beruft sich nämlich nicht nur haupt-sächlich sondern einzig auf den Ausspruch der Erfahrung – macht´snach!, ruft sie laut, aber macht´s genau und sorgfältig nach, und ihrwerdet sie auf jedem Schritte bestätigt finden...“ Alle dieser Schulen be-haupten, Hahnemann weiter entwickelt zu haben. Dazu müsste manaber zuerst Hahnemann verstanden haben um ihn „weiterentwickeln“ 8

zu können. Bis jetzt hat noch keine einzige Methode (begonnen vonBönninghausen über Jahr, Boger, Kent, Vithoulkas, Sankaran, Schol-ten, Lippe, etc., die sich klassisch nennen und auf Hahnemann bezie-hen) je nach Charakteristika, so wie Hahnemann sie verstanden hat,behandelt. Jetzt ist das Symptomenlexikon veröffentlicht, wie es schon vonHahnemann, Jahr und Bönninghausen gewünscht wurde. Jetzt kannman erstmals in der Geschichte der Homöopathie so praktizieren, wiees der Begründer der Homöopathie beschrieben hat. Mit dem Sympto-menlexikon kann sich alles klären, was seit 200 Jahren in die verschie-densten Richtungen, Strömungen oder Methoden auseinandergefallenist. In diesem Sinn ist das Symptomenlexikon kein zurück zu Hahne-mann, sondern ein VORWÄRTS zu Hahnemann. 9

ANTON ROHRERHahnemanns Krankenjournale Hahnemanns Krankengeschichten sind für uns gegenwärtig schwer zu verste- hen, weil wir einen anderen Aufbau der Fallbeschreibung gewohnt sind: Heute wird zuerst die Diagnose genannt, dann wird die Diagnose mit Befunden begrün- det und der Heilungsfortschritt anhandIst nun das Bild der Krankheit irgend ei- der Besserung dieser Befunde bewie-ner Art einmal genau aufgezeichnet, so sen. Hahnemann dagegen hatte einenist auch die schwerste Arbeit geschehen völlig anderen Schreibstil. Es werdenkeine Diagnosen genannt und er beschränkt sich auf die rein phänome-nologische Beschreibung der Symptome. In den Folgeanamnesen wer-den wieder nur Symptome beschrieben, alte wie neue. Einige Autorenschließen daraus auf eine relative Erfolglosigkeit in HahnemannsPraxis. Bei vielen Symptomenbeschreibungen können wir nicht auf dieSchwere der Erkrankung rückschließen. Wenn eine Patientin einStechen im Brustkorb beschreibt, woher wissen wir, ob es sich nachmoderner Diagnose nicht um eine tuberkulöse Pleuritis gehandelt hat?Jeder eitrige Auswurf kann eine Tuberkulose gewesen sein, jeder Kno-chenschmerz, jede Halsentzündung eine Syphilis, jede Fisteleiterungeine Osteomyelitis, jeder trübe Harn eine Pyelitis, jede Rötung derAugen eine Iridozyklitis, etc. Wenn der Patient nach Arzneigabe zweiWochen später noch immer Beschwerden äußert, dann mögen wir den-ken, na ja, so erfolgreich ist der „Meister“ aber nicht gewesen. Hahne-mann hat eben keine objektiven Verlaufsparameter angeführt, deshalbmüssen wir uns einen Rückschluss auf den Behandlungserfolg erstdurch einen mühsamen Symptomenvergleich erarbeiten und ein ober- 10

flächliches Darüberlesen über die Krankheitssymptome führt uns in dieIrre. Ein genaueres Studium der Fälle zeigt, dass Hahnemann inseiner Praxis höchst erfolgreich gearbeitet hat, auch und besondersbei schweren Erkrankungen. 11

UWE PLATEGrundsätze der Arzneiwahl Hahnemann sagt in der Vorrede zu Band 2 seine Arzneimittellehre: „Die Bitte meiner auf halbem Wege zu dieser Heilmethode stehenden Freunde, ihnen Beispiele von solchen Heilungen vorzu- führen, ist schwierig zu erfüllen, und seine Erfüllung von keinem großen...macht`s nach, aber macht`s genau Nutzen. Jeder geheilte Fall von Krank-und sorgfältig nach... heit zeigt ja nur, wie dieser behandelt worden sei. Der innere Vorgang derBehandlung beruht immer auf denselben Grundsätzen, die man schonkennt, und kann nicht für jeden möglichen Fall conkret gemacht wer-den, kann durch keine Geschichte einer einzelnen Heilung deutlicherwerden, als schon durch die Grundsätze geschah; das Specielledesselben (und jeder ist eigenartig und speciell), was ihn von jedemanderen Fall unterscheidet, ist nur ihm zugehörig, kann aber dieBehandlung anderer Fälle nicht modeln.“ Der innere Vorgang der Behandlung beruht immer auf denselbenGrundsätzen, die im Organon beschrieben sind. Deswegen hieltHahnemann nichts von Fallbeispielen um damit die homöopathischeBehandlung zu erklären, denn jeder einzelne Fall hat seine eigenenSymptome und ein einzelner Fall zeigt nur, wie dieser mit seinen Sym-ptomen behandelt wurde. Aber beim nächsten Fall gibt es wieder ande-re Symptome und er müsste wieder neu erklärt werden. Jeder Krank-heitsfall hat seine eigene Zusammenstellung an Beschwerden, Orga-nen, Modalitäten und begleitenden Beschwerden, mit zahllosen Kombi- 12

nationsmöglichkeiten, so dass jeder einzelne Fall immer nur zeigt, wiebei diesen Symptomen vorgegangen werden musste. Aber kein Fallkann einen anderen „modeln“, kein Fall kann auf einen anderen über-tragen werden, weil die Symptome in ihrer Zusammensetzung immerwieder anders sind. Jeder Fall ist eigenartig, weil er seine eigene Artvon Zeichen und Symptomen hat. Und es kommt höchst selten vor,dass zwei Krankheitsfälle mit exakt denselben Symptomen auftretenund es wäre absurd, jede denkbare Kombination von Symptomenjeder möglichen Krankheit lernen zu wollen. Das würde ins Unendlicheführen. Die Grundsätze der Arzneiwahl, „die man schon kennt“, hat Hahne-mann in seiner Arzneimittellehre und im Organon aufgezeigt. In §153heißt es, dass die charakteristischen „Zeichen und Symptome desKrankheitsfalles, besonders und fast einzig fest in’s Auge zu fassen“;sind, denn die „allgemeinern und unbestimmtern: Eßlust-Mangel, Kopf-weh, Mattigkeit, unruhiger Schlaf, Unbehaglichkeit u.s.w., verdienen indieser Allgemeinheit und wenn sie nicht näher bezeichnet sind, wenigAufmerksamkeit, da man so etwas Allgemeines fast bei jeder Krank-heit und jeder Arznei sieht.“ Für unbestimmte Krankheitssymptome, wie Kopfschmerzen, Mattig-keit oder Unbehaglichkeit gibt es in der Arzneimittellehre so vielePrüfungssymptome, dass fast jede Arznei dafür „charakteristisch“ ist.Jede Arznei hat häufig Kopfschmerzen, Ohrenschmerzen, Schwindel,Übelkeit „in dieser Allgemeinheit“ hervorgerufen, so dass jede Arzneiinfrage kommt und es kann keine am besten passende gewähltwerden. Sind diese Symptome jedoch „näher bezeichnet“, also nichtnur Kopfschmerzen oder Schwindel, sondern Kopfschmerzen mit Übel-keit oder Schwindel beim Gehen, dann kommen nicht mehr alle Arznei-en infrage. Hahnemann meint also die Zeichenkombinationen, die er inseiner Arzneimittellehre als Charakteristika gefunden hat. 13

Für Kopfschmerzen, Ohrenschmerzen, Übelkeit, Schwindel oder Ver-schlimmerung beim Gehen, sind alle Arzneien „charakteristisch“ (dieZahlen geben die Anzahl der Prüfungssymptome an) und wenn einigehier nicht ausgezeichnet sind, dann sind diese Arzneien noch nichtvollständig geprüft. Bei weiteren Prüfungen würden sie auch mehrSymptome hervorbringen. Für Zeichenkombinationen wie Schwindel 14

beim Gehen oder Kopfschmerzen mit Übelkeit, sind nicht alle Arzneiensignifikant. Das sind charakteristische Symptome nach Organon §153.Und zu den charakteristischen Symptomen erklärt Hahnemann in derVorrede zu Ignatia: „Die charakteristischen Symptome habe ich, soweit mir bekannt geworden, in den Anmerkungen angedeutet.“ Dassind keine vollständigen Prüfungssymptome, sondern einzelne Symp-tomenelemente, die häufig aufgetreten sind. VideoCharakteristische Krankheitssymptome sind folglich (signifikante)Zeichenkombinationen der Prüfungssymptome, um die es bei derArzneiwahl fast einzig geht. Und das ist auch logisch, denn für eineArzneiwahl müssen erst einmal passende Arzneien mit signifikantenPrüfungssymptomen vorhanden sein. „Sprechen verschlimmert denHusten“ mag noch so typisch und charakteristisch für den Patientensein, es hilft nicht weiter, weil es dafür keine signifikanten (charakteristi-schen) Arzneien gibt. Es existiert keine einzige Arznei in der Materiamedica, die den Husten beim Sprechen sicher hervorgebracht hat. Estreten immer nur ein oder zwei Symptome in den Prüfungen auf. EineArzneiwahl für „Husten beim Sprechen“ wäre Spekulation, denn dieseSymptome können aus allen möglichen Gründen in die Arzneimittelleh-re gelangt sein und es gibt nicht die geringste Sicherheit, dass auchnur eine Arznei den Husten beim Sprechen als sichere Arzneiwirkunghervorgebracht hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese SymptomeZufall sind ist groß, im Gegensatz beispielsweise zum nächtlichenHusten, für den es etliche signifikante und hochsignifikante Arzneiengibt. Bei diesen Mitteln ist die Wahrscheinlichkeit für einen Zufall ge-ring (signifikant) oder sogar sehr gering (hochsignifikant). Für eine sichere Arzneiwahl brauchen wir sichere Prüfungssympto-me die anzeigen, dass die Symptome des Patienten von Arzneienauch wirklich hervorgerufen wurden. Somit sind charakteristischeKrankheitssymptome solche, für die es in der Arzneimittellehre auchcharakteristische Arzneien gibt. 15

Für Husten beim Sprechen gibt es in der gesamten Materia Medica geradeeinmal 32 Symptome. Keine einzige Arznei hat dieses Symptom signifikanthervorgebracht. Husten beim Sprechen ist kein wahlfähiges Symptom! 16

Husten nachts gibt es in der Materia medica mit 241 Prüfungssymptomen.Husten nachts ist ein verwertbares Symptom. 17

Das führt unmittelbar zu §.154. „Enthält nun das, aus der Sympto-men-Reihe der treffendsten Arznei zusammengesetzte Gegenbild,jene in der zu heilenden Krankheit anzutreffenden, besondern, unge-meinen, eigenheitlich sich auszeichnenden (charakteristischen)Zeichen in der größten Zahl und in der größten Aehnlichkeit, so istdiese Arznei für diesen Krankheitszustand das passendste, homöopa-thische, specifische Heilmittel; eine Krankheit von nicht zu langerDauer wird demnach gewöhnlich durch die erste Gabe desselbenohne bedeutende Beschwerde aufgehoben und ausgelöscht. Es geht bei der Arzneiwahl nicht um die Gesamtheit der Symptomedes Patienten, sondern um die Gesamtheit der charakteristischenSymptome. Das sagt Hahnemann auch in §258, „... daß stets bloßdiejenige unter den arzneilichen Krankheitspotenzen Achtung undVorzug verdient, welche, in dem jedesmaligen Krankheitsfalle, derGesamtheit der charakteristischen Symptome am treffendsten in Aehn-lichkeit entspricht ...“ Bei den meisten Krankheitsfällen gibt es auch nicht charakteristi-sche Symptome, für die es in der Arzneimittellehre gar keine signifikan-ten (charakteristischen) Arzneien gibt. Diese Symptome gehören zwarzur „Gesamtheit der Symptome“ des Patienten, aber nicht zur Gesamt-heit der Symptome für die Arzneiwahl. Für die Arzneiwahl wird nach§154 und §258 nur die Gesamtheit der Symptome herangezogen, fürdie es auch charakteristische Arzneien gibt. Andernfalls würden einzel-ne Symptome die Arznei bestimmen, die gar nicht charakteristischsind, für die es gar keine sicheren Arzneien gibt, weil diese uncharak-teristischen Symptome in der Gesamtheit „mehr“ Krankheitssymptomedes Patienten decken. Erst einmal müssen also alle Symptome der Krankheit „ausge-forscht“ und zusammengestellt werden um die Gesamtheit der Sympto-me des Patienten vor sich zu haben, woraus dann die Gesamtheit diecharakteristischen Symptome bestimmt wird. 18

Organon §104: „Ist nun die Gesamtheit der, den Krankheitsfallvorzüglich bestimmenden und auszeichnenden Symptome, oder mitandern Worten, das Bild der Krankheit irgend einer Art einmal genauaufgezeichnet, so ist auch die schwerste Arbeit geschehen. Der Heil-künstler hat es dann bei der Cur, vorzüglich der chronischen Krankheitauf immer vor sich, kann es in allen seinen Theilen durchschauen unddie charakteristischen Zeichen herausheben, um ihm eine gegendiese, das ist, gegen das Uebel selbst gerichtete, treffend ähnliche,künstliche Krankheitspotenz in dem homöopathisch gewählten Arznei-mittel entgegenzusetzen, gewählt aus den Symptomenreihen aller,nach ihren reinen Wirkungen bekannt gewordenen Arzneien...“ Bezogen auf die chronischen Krankheiten (Psora) sagt Hannemanndas noch einmal in §209: „Dann erst sucht der Arzt in mehren Unterre-dungen, das Krankheits-Bild des Leidenden so vollständig als möglichzu entwerfen, nach obiger Anleitung, um die auffallendsten und sonder-barsten (charakteristischen) Symptome auszeichnen zu können, nachdenen er das erste (antipsorische u.s.w.) Arzneimittel nach möglichsterZeichen-Aehnlichkeit, für den Anfang der Cur, u.s.f. auswählt.“ Für die charakteristischen Symptome gibt es signifikante Arzneienin der Arzneimittellehre! Gibt es für ein Patientensymptom keine signifi-kanten Arzneien, ist es nicht charakteristisch und damit nicht zugebrauchen. Folglich muss jedes Patientensymptom mit der Arzneimit-tellehre überprüft werden, ob es dafür signifikante Arzneien gibt.Deswegen wurde das Symptomenlexikon SL5 so konzipiert, dasszuerst alle Zeichenkombinationen auf einer Liste zusammen gestelltwerden können und dann wird jede einzelne Zeichenkombination ausdieser Liste in die Auswertung übertragen um zu erkennen, ob Signifi-kanzen (Auszeichnungen) vorhanden sind. Gibt es keine Signifikan-zen, sollte das Symptom (Zeichenkombination) zur Arzneiwahl nichtherangezogen werden. 19

Sehr oft stehen in der Fallauswertung mehrere Arzneien gleich gut,weil sie gleich viele Symptome charakteristisch abdecken (in den Kol-lektaneen ab 3 Symptomen ausgezeichnet). Die Entscheidung der ambesten passenden Arznei muss dann über die Signifikanzen erfolgenum die „treffendste“ zu bestimmen. Hahnemann erklärt das bei Pulsatil-la zu dem Symptom Nr. 646: „Diejenigen Wechselwirkungen aber, wel-che eine Arznei am öftersten erzeugt, und welche die stärksten undsingulärsten sind, sind auch die hülfreichsten in homöopathischer Hei-lung der Kranken.“ Die „am öftersten“ erzeugten Symptome, nennen wir heute Signifi-kanzen und die „stärksten und singulärsten“ sind die „stärksten Signifi-kanzen“, sie sind hochsignifikant, wie wir heute sagen. Und die Arzneimit den meisten hochsignifikanten Symptomen ist die „singulärste“ Arz-nei, die „einzigartigste“ Arznei, kurz gesagt das Simile. Kann auch über die Signifikanzen keine Entscheidung getroffen wer-den, weil es keine Unterschiede zwischen signifikanten und hochsignifi-kanten Arzneien gibt, müssen natürlich die Prüfungssymptome selbstverglichen werden, weil darin oft noch Unterschiede zu Tage treten, diein den Kollektaneen nicht dargestellt werden können. Sollte dann immer noch keine am besten passende Arznei bestimmtwerden können, müssen weitere Symptome eruiert werden. Eine Arz-neiwahl mit nicht charakteristischen Symptomen kann nicht das Prob-lem fehlender Symptome lösen. 20

Hahnemanns Grundsätze der ArzneiwahlZeichenkombinationenDie passende Arznei wird nicht nach vollständigen Symptomen, son-dern nach Zeichenkombinationen gewählt, denn nur Zeichenkombinati-onen sind in der Arzneimittellehre signifikant (charakteristisch) aufgetre-ten. Vollständige charakteristische Prüfungssymptome gibt es nicht.Charakteristische SymptomeFür die Arzneiwahl wird nur die Gesamtheit der charakteristischenSymptome herangezogen. Werden auch nicht charakteristische Sym-ptome wegen der „Gesamtheit der Krankheitssymptome“ benutzt, fürdie es in der Arzneimittellehre immer nur ein oder zwei Symptome gibt,kann das zu einer falschen Arznei führen, weil einige wenige Arzneiendas eine oder andere nicht signifikante Symptom „mehr haben“, alsoeine falsche Gesamtheit der Symptome aufweisen, und damit vermeint-lich besser sind, weil sie „mehr Symptome“ haben. Die Gesamtheit derSymptome ist die Gesamtheit der charakteristischen Symptome!SignifikanzenWenn für mehrere Arzneien gleich viele Zeichenkombinationen signifi-kant sind, ist eine hochsignifikante Arznei besser, als eine signifikante,wobei natürlich ein deutlicher Unterschied in den Signifikanzen vorlie-gen muss.Studium der ArzneimittellehreZum Schluss müssen die Prüfungssymptome der infrage kommendenArzneien verglichen werden, weil hier oft noch Unterschiede vorhan-den sind, die aus den Kollektaneen nicht hervorgehen. 21

PathologieDie moderne Medizin unterscheidet zwischen pathologisch funktionel-len und pathologisch anatomischen Symptomen. Pathologisch anato-mische Symptome sind Organveränderungen wie Entzündungen, Haut-ausschläge oder Vereiterungen. Funktionelle Symptome wie Herzklop-fen, Schwindel und Empfindungen (Brennen, Reißen usw.) können inArzneiprüfungen auftreten, aber Organveränderungen können vonhomöopathischen Arzneien nicht hervorgerufen werden. Hahnemann ist im Organon darauf nicht eingegangen, weil es zurpraktischen Ausübung der Homöopathie gehört, die er an der Universi-tät in Leipzig gelehrt hat, über die er aber kein Lehrbuch für Autodidak-ten geschrieben hat. Pathologisch anatomische Symptome (Organver-änderungen) sind unsichere Symptome für die Arzneiwahl und könnennur unter strengen Voraussetzungen benutzt werden, wenn nämlicheine Zeichenkombination mit einem pathologisch anatomischen Sym-ptom und einer Empfindung oder einer Modalität gebildet werden kann.Beispielsweise zeigt Geschwulst mit Brennen in der Signifikanz, dassdie Arznei bei mehreren Prüfern das Brennen an einer bereits vorhan-denen Geschwulst hervorgerufen hat. Die Geschwulst stammt zwarvom Prüfer, aber das Brennen von der Arznei. 22

UWE PLATEHahnemanns 1. LehrfallMit diesem Lehrfall aus Band 2 der Reinen Arzneimittellehre zeigtHahnemann beispielhaft die Grundsätze der Arzneiwahl nach Zeichenund Zeichenkombinationen.Sch..., eine etliche und 40 jährige kräftige Lohnwäscherin, war schonseit Wochen außer Stande, ihr Brod zu verdienen, da sie mich den 1.Sept. 1815 zu Rathe zog.1. Bei jeder Bewegung, vorzüglich bei jedem Auftreten, und am schlimmsten bei jedem Fehltritte, sticht es sie in der Herzgrube, wohin es jedesmal aus der linken Seite kommt, wie sie sagt.2. Im Liegen ist es ihr ganz wohl, dann hat sie gar keinen Schmerz irgendwo, auch weder in der Seite, noch in der Herzgrube.3. Sie kann nicht länger als bis um 3 Uhr früh schlafen.4. Die Speisen schmecken ihr, aber wenn sie etwas gegessen hat, dann wird es ihr brecherlich.5. Das Wasser läuft ihr dann im Munde zusammen und aus dem Munde, wie Würmerbeseigen.6. Es stößt ihr nach jedem Essen vielmal leer auf.7. Sie ist von heftigem, zu Zorn geneigtem Gemüt. Bei starken Schmer- zen überläuft sie Schweiß. Ihre Monatszeit war vor 14 Tagen in Ord- nung geflossenZur Arzneiwahl für die einzelnen Symptome erklärt Hahnemann: Was nun das Symptom 1 anlangt, so machen zwar Belladonna,China und Wurzelsumach Stiche in der Herzgrube, aber alle drei nicht 23

bloß bei Bewegung, wie hier. Pulsatille (m. s. Symptom 345) machtzwar auch Stiche in der Herzgrube beim Fehltreten, aber in seltnerWechselwirkung, und hat auch weder dieselben Verdauungsbeschwer-den wie hier 4. verglichen mit 5 und 6, noch dieselbe Gemüthsbeschaf-fenheit. Hahnemann will sagen, dass Bell, China und Rhus-t zwar dasStechen im Magen haben (wie Bry und Puls), aber nicht das Stechen 24

„bloß bei Bewegung“. Diese Arzneien haben zwar das Stechen beiBewegung (ohne Magen!) aber „nicht bloß“ bei Bewegung, weil sie esnicht nur bei Bewegung, sondern auch in Ruhe hervorgebracht haben! 25

Diese Gegenteile (Stechen in Ruhe oder besser bei Bewegung) sindim Symptomenlexikon durch Kursivdruck des Mittelkürzels gekenn-zeichnet. Wobei allerdings Bell auch noch charakteristisch für Stechenbei Bewegung ist (und auch für Stechen beim Gehen), Bell fällt erstspäter heraus (siehe Auswertung am Schluss). Dann überprüft Hahnemann Pulsatilla mit der Zeichenkombination„Stechen beim Gehen“ (ohne Magen) und erklärt dazu: „Pulsatille(m. s. Symptom 345) macht zwar auch Stiche in der Herzgrube beimFehltreten, aber in seltner Wechselwirkung, und hat auch weder diesel-ben Verdauungsbeschwerden wie hier 4. verglichen mit 5 und 6, nochdieselbe Gemüthsbeschaffenheit.“ Pulsatilla hat das Stechen beim Gehen (bei Hahnemann „Auftre-ten“), aber nur „in seltener Wechselwirkung“. Pulsatilla hat zweiSymptome Stechen verschlimmert beim Gehen und zwei SymptomeStechen besser beim Gehen, also beide Modalitäten gleich häufig.Was hat Pulsatilla bewirkt? Stechen schlechter oder besser beimGehen? Dazu kann keine Aussage getroffen werden. Das nenntHahnemann „seltene Wechselwirkung“. Bell, Chin und Rhus-t haben auch den Widerspruch Stechen besserbeim Gehen, aber mit einem Symptom nur selten und hauptsächlichmit mehreren Symptomen das Stechen verschlimmert beim Gehen.Hahnemann nennt das „Hauptwechselwirkung“. 26

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Hahnemann weiter: „Nur Zaunrebe hat in ihrer Hauptwechselwir-kung, wie das gesamte Verzeichnis ihrer Symptome beweiset, vonBewegung Schmerzen, und vorzüglich stechende Schmerzen, und soauch Stiche in der Herzgrube bei Bewegung des Armes (448), beiFehltreten erregt sie auch an anderen Stellen Stechen (520, 574). 28

Bryonia hat hauptsächlich Stechen verschlimmert bei Bewegung(„Hauptwechselwirkung“), weil Bryonia hochsignifikant viele Symptomemit Stechen bei Bewegung hat und nur ein Symptome Stechen besserbei Bewegung, „wie das gesamte Verzeichnis ihrer Symptome bewei-set“, wie also alle Prüfungssymptome belegen. Wobei das Besserungs-symptom „zum Niederlegen“ nicht zwingend ist. Und die drei anderenSymptome sind keine Besserung des Stechens bei Bewegung! Bryonia hat Stechen verschlimmert beim Gehen und außerdemnoch „Stechen beim Fehltreten“ mehrfach hervorgebracht. „Fehltreten“ist im Symptomenlexikon in der Rubrik „Auftreten“ enthalten, für hartauftreten oder bei jedem Schritt oder Fehltreten. Und Bry erregt dasStechen beim Fehltreten „auch an anderen Stellen“. Hahnemann willdamit sagen Bry erregt es auch, zwar nicht im Magen (beim Fehltre-ten), aber an anderen Organen („anderen Stellen“). Auf das Stechenim Magen beim Fehltreten kommt es nämlich nicht an, sondern nur aufdas Stechen beim Fehltreten egal, wo. Bryonia hat nicht das vollständige Symptom „Stechen in der Herz-grube (Magen) beim Gehen“ und ist trotzdem das Simile. Pulsatilla hatdas vollständige Symptom, ist aber nicht das Simile. Auf das vollständi-ge Symptom kommt es nicht an! Eine Wahl nach vollständigen Sympto-men ist „Symptomendeckerei“ und so hat Hahnemann nicht gearbeitet. 29

Und weiter erklärt Hahnemann: „Das hierzu gehörige negativeSymptom 2 paßt vorzüglich auf Zaunrede (430). Wenige Arzneien(etwa Krähenauge ausgenommen und Wurzelsumach in Wechselwir-kung – die aber beide auf unsre übrigen Symptome nicht passen) las-sen die Schmerzen in Ruhe und im Liegen gänzlich schweigen, Zaun-rebe aber vorzüglich (479 und viele andere Zaunrebe-Symptome). Dieses „negative“ Symptom ist eigentlich kein Symptom, denn keinSchmerz ist nichts und damit kein Symptom, weil nichts aufgetretenist. Hahnemann betont damit, dass die Schmerzen tatsächlich durchBewegung verschlimmert werden. Das bezieht sich besonders auf dasKrankheitssymptom der Lohnwäscherin. Wenn nämlich die Schmerzenin Ruhe (im Liegen) bei der Patientin nicht verschwinden würden, dannwäre es auch keine Verschlimmerung bei Bewegung. „Besserung imLiegen“ bei der Patientin ist sozusagen die Bestätigung für die tatsäch-liche Verschlimmerung bei Bewegung. Und man muss hier bedenken,dass Hahnemann bei der Behandlung der Lohnwäscherin gerade ein-mal den 2. Band seiner Arzneimittellehre fertiggestellt hatte. Er hattenoch gar nicht die Datenmenge der Arzneimittellehre von heute mit10 Bänden und über 70 000 Prüfungssymptomen. Nicht zuletzt deswe-gen hatte Hahnemann noch bis zur 3. Auflage des Organons dieArzneiwahl nach der Gesamtheit der Symptome gefordert und miteiner viel größeren Arzneimittellehre die Arzneiwahl ab der 4. Auflagedes Organons nach der Gesamtheit der charakteristischen Symptome! Zu der Schlaflosigkeit sagt Hahnemann: „Das Symptom 3 ist beimehreren Arzneien und auch bei Zaunrebe.“ Das besagt nur, dassviele Arzneien eine Schlaflosigkeit signifikant hervorgebracht haben,auch Bryonia. Damit können keine Arzneien ausgeschlossen werden,Bryonia natürlich auch nicht. Zur Übelkeit erklärt Hahnemann: „Das Symptom ist zwar, was dieBrecherlichkeit nach dem Essen anlangt bei mehreren Arzneien (Ignaz-samen, Krähenauge, Quecksilber, Eisen, Belladonna, Pulsatille, Kan- 30

thariden), aber theils nicht so beständig und gewöhnlich, theils nichtbei Wohlgeschmack der Speisen vorhanden, wie bei der Zaunrebe(164, 279). Übelkeit nach dem Essen gibt es bei vielen Arzneien, aber nicht „sobeständig und gewöhnlich“. Das würden wir heute als signifikant be-zeichnen. Bryonia hat die Übelkeit nach dem Essen „beständig“, alsohäufig („gewöhnlich“). Aber auch hier sind 20 Jahre später in der10bändigen Arzneimittellehre viele Prüfungssymptome hinzugekom-men, so dass auch noch andere Arzneien heute charakteristisch (signi-fikant) für Übelkeit nach dem Essen sind. Hahnemann: „In Rücksicht des Symptoms Nr. 5 machen zwar meh-rere Arzneien ein Zusammenlaufen des Speichels, eben so wohl alsZaunrebe; jene andern aber bringen nicht unsre übrigen Symptome inÄhnlichkeit hervor.“ 31

Alle aufgeführten Arzneien haben einen Speichelfluss hervorgeru-fen, wie auch Bry. Heute, mit einer viel größeren Arzneimittellehrekönnen wir dieses Symptome als Zeichenkombination „Übelkeit mitSpeichelfluss“ genauer fassen, „näher bestimmt“, wie Hahnemann imOrganon sagt, und nach Hahnemanns Erkenntnissen ab der viertenAuflage des Organons nach charakteristischen Symptomen (Zeichen-kombinationen) die Arznei bestimmen. Für Übelkeit mit Speichelfluss(oder Speichelfluss mit Übelkeit) ist Bry signifikant, die anderen Mittelaber nicht. Weiter analysiert Hahnemann: „Das leere Aufstoßen (bloß nachLuft) nach dem Essen (Symptom 6) ist bei wenigen Arzneien vorhan-den und bei keiner so beständig und in so hohem Grade, als bei Zaun-rebe (143, 149). Die beiden von Hahnemann aufgeführten Symptome Nr. 143 undNr. 149 waren die Nummern der ersten Auflage, die nicht mehr mit derheutigen Arzneimittellehre übereinstimmen, weil weitere Prüfungssymp-tome hinzugekommen sind. Hahnemann gibt zwei Symptome an, Bryhat aber nur ein Symptome leeres Aufstoßen nach dem Essen. Undein Symptom ist nicht „in hohem Grade“. Hahnemann meint hier auchnicht das leere Aufstoßen nach dem Essen, sondern das leere Aufsto-ßen an sich und das hat Bry mehrfach, also im Gegensatz zu denanderen Mittel „beständig und in hohem Grade“. 32

Zu 7. Eins der Hauptsymptome bei Krankheiten (s Org. D. H. §210))ist die „Gemütsbeschaffenheit“ und da Zaunrebe (533) auch diesesSymptom in voller Aehnlichkeit vor sich erzeigt; – so ist Zaunrebe ausallen diesen gründen hier jeder andern Arznei als homöopathischesHeilmittel vorzuziehen. Bryonia hat heute in den zehn Bänden Arzneimittellehre noch einzweites Zornsymptom, aber auch die anderen Arzneien haben denZorn in ihrem Verzeichnis und besonders Nux-v ist dafür hochsignifi-kant. Aber dieses Gemütssymptom ist kein Krankheitssymptom. DieLohnwäscherin hatte ein zu Zorn geneigtes Gemüt als Charaktereigen-schaft, nicht als Krankheitssymptom, das erst durch ihre Erkrankungaufgetreten ist. Und Bryonia hat den Zorn auch nicht beseitigt, dennCharaktereigenschaften können durch homöopathische Heilmittel nicht„geheilt“ werden, weil sie keine Krankheiten sind. Hahnemann schreibt über den Erfolg der Behandlung mit Bryonia:„Meinem Freund E., der zugegen war, deutete ich an, daß die Fraubinnen dieser Zeit [48 Stunden] durchaus gesund werden müsse, wel- 33

cher aber (nur erst noch auf halbem Wege zur Homöopathie begriffen)dieß in Zweifel zog. Nach zwei Tagen stellte er sich wieder ein, um denErfolg zu vernehmen, aber das Weib kam nicht, kam auch überhauptnicht wieder. Meinen ungeduldigen Freund konnte ich nun bloß da-durch besänftigen, daß ich ihm das eine halbe Stunde weit entfernteDorf, wo sie wohnte, und ihren Namen nannte, und ihm rieth, sie aufzu-suchen und sich selbst nach ihrem Befinden zu erkundigen. Er that esund ihre Antwort war: „Was soll ich denn dort? Ich war ja schon denTag darauf gesund und konnte wieder auf die Wäsche gehen, und denandern Tag war mir so völlig wohl, wie mir noch jetzt ist. Ich danke esden Doctor tausendmal, aber unser Eins kann keine Zeit von seinerArbeit abbrechen; ich hatte ja auch drei ganze Wochen lang vorher beimeiner Krankheit nichts verdienen können.“ 34

Die Frau hatte offensichtlich immer noch ihre zornige Natur. DieserZorn wurde von Bryonia nicht geheilt, weil er kein Krankheitssymptomwar. Einen Krankheitsfall „schriftlich mit allen Gründen und Gegengrün-den aufzustellen (welches vom Geiste in einigen Augenblicken über-schaut wird) macht, wie man sieht, ermüdende Weitläufigkeit“, sagtHahnemann. Und die Darstellung ist in der Tat ermüdend und weitläu-fig, besonders die Aufstellung der Gründe und Gegengründe, wenn esum die Wechselwirkungen geht (Widersprüche in den Arzneiwirkun-gen). Hahnemanns Geist machte das in wenigen Augenblicken unddas ist kein Scherz! Es ist das Ergebnis des Studiums der Arzneimittel-lehre und von den zwei Bänden damals kannte Hahnemann jedesSymptom persönlich. Er hat es geprüft oder von anderen Prüfernerfragt, formuliert, korrigiert, sortiert und für den Druck vorbereitet Erhat jedes Zeichen, jede Charakteristik wachsen sehen, jedes neueSymptom, das eine weitere Charakteristik zum Vorschein brachte. Aber wer kann das heute? Wer kann die 10 Bände Arzneimittellehrestudieren? Wer kann über 70 000 Prüfungssymptome mit weit über100 000 Zeichenkombinationen in den Kopf bekommen um in wenigenAugenblicken die Arznei zu wählen? Dafür haben wir heute das digita-le Symptomenlexikon. Damit geht es zwar nicht in wenigen Augenbli-cken, aber in wenigen Minuten. Mit der Auswertung können die Arznei-en schnell analysiert werden. Aber man muss bedenken, dass Hahne-mann damals erst zwei Bände seiner Arzneimittellehre erstellt hatte.Die meisten Arzneien dieser heutigen Auswertung, wie z.B. Phos, Sepoder Sulph hatte er noch nicht zur Verfügung. 35

Hahnemann RAML Bd. 2, Lohnwäscherin1 Bewegung < - Stechen 6 Essen < - Übelkeit, Erbrechen2 Gehen < - Stechen 7 Essen < - Aufstoßen3 Gehen < - Magen 8 •Aufstoßen leer4 •Gehen auftreten < - Stechen 9 Übelkeit, Erbrechen - Speichelfluss5 Stechen - Magen 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10PHOS 3 6 2 3 6 5 10 6 5 8/9BRY 10 7 2 3 3 3 7 3 4 8/9SEP 6 16 5 9 57 4 4 8/8SULPH 6 10 2 1 8 6 7 4 7 7/9ALUM 4 5 1 3 6 3 10 8 7/8ZINC 4 10 1 4 56 4 3 7/8CALC 7 8 2 5 34 3 4 7/8LYC 2 7 1 4 1 4 6 7 5 6/9CAUST 4 3 1 5 24 5 3 6/8CON 5 8 1 5 54 3 6/7BELL 5 7 3 3 3 3 1 6/7KALI-C 7 6 2 2 6 4 2 3 2 5/9ARS 2 5 1 2 2 3 5 5 3 5/9NIT-AC 6 3 2 1 86 4 1 5/8MAG-M 4 1 1 4 25 3 5 5/8GRAPH 4 3 2 3 52 4 5/7MERC 3 19 1 1 1 4 5 2 1 4/9NAT-M 2 6 1 2 3 7 5 2 1 4/9PULS 9 2 1 2 3 9 4 1 4/8NUX-V 5 4 2 1 10 4 1 1 4/8CHIN 4 9 2 6 32 2 2 4/8RHUS-T 1 9 2 4 33 2 2 4/8BAR-C 2 2 3 3 13 7 1 4/8SIL 1 6 1 2 47 6 4/7LAUR 3 2 5 23 6 2 4/7NAT-C 3 4 2 3 522 4/7CARB- 2 2 3 14 3 3 4/7SPAIGN 4/6 3 12 1 1 3 3 36

UWE PLATEHahnemanns 2. LehrfallW-e, ein schwächlicher, blasser Mann von 42 Jahren, dessen steteBeschäftigung am Schreibtische war, klagte mir den 27. Dec. 1815: ersey schon 5 Tage krank.1) Den ersten Abend war es ihm, ohne sichtbare Veranlassung, übel und drehend, mit vielem Aufstoßen.2) Die Nacht drauf (um 2 Uhr) saures Erbrechen,3) Die darauf folgenden Nächte heftiges Aufstoßen,4) Auch heute übles Aufstoßen von stinkendem und säuerlichem Geschmacke,5) Es war ihm, als wenn die Speisen roh und unverdaut im Magen wären,6) Im Kopf sey es ihm so weit und hohl und finster, und wie empfind- lich darin.7) Das kleinste Geräusch sey ihm empfindlich gewesen,8) Er ist milder, sanfter, duldender Gemütsart.Zur Arzneiwahl erklärt Hahnemann:Zu 1. Dass einige Arzneien Schwindel mit Übelkeit verursachen, sowie auch Pulsatille (3), welches seinen Schwindel auch abends macht(7), was nur noch von sehr wenigen andern beobachtet worden.Hier geht es nur um die Zeichenkombinationen Schwindel mit Übelkeit,nicht um das vollständige Symptom „Schwindel mit Übelkeit und Auf-stoßen abends. Und es geht um die zweite ZeichenkombinationSchwindel abends, aber nicht mit Übelkeit. Und dann gibt es noch die 37

dritte Kombination Übelkeit mit Aufstoßen. Pulsatilla hat alle drei Zei-chenkombinationen.Zu 2. Erbrechen sauren und sauer riechenden Schleims erregen Stech-apfel und Krähenaugen, aber so viel man weiß, nicht in der Nacht. Bal-drian und Kockelsamen machen in der Nacht Erbrechen, aber keinsaures. Bloß Eisen macht Erbrechen in der Nacht (61,62), und kannauch saures Erbrechen (66) hervorbringen, aber nicht die übrigen, hierzu berücksichtigenden Symptome. Pulsatilla aber macht nicht nurabendliches, saures Erbrechen (354, 356) und nächtliches Erbrechen 38

überhaupt (355), sondern auch die übrigen, von Eisen nicht zu erwar-tenden Beschwerden dieses Falles.Auch hier trennt Hahnemann das saure Erbrechen nachts in die Kombi-nationen „Erbrechen in der Nacht“ und „saures Erbrechen“.Zu 3. Das nächtliche Aufstoßen ist der Pulsatille eigen.Es geht nur um nächtliches Aufstoßen, das Pulsatilla auch mit einemSymptom hat. 39

Zu 4. Das stinkende, faulige (Nr. 259) und das säuerliche Aufstoßen(Nr. 301, 302) ist ebenfalls der Pulsatille eigen.Es handelt sich um ein stinkendes Aufstoßen mit säuerlichem Ge-schmack, für das Hahnemann Symptome mit stinkendem, fauligemAufstoßen sucht und Symptome mit saurem Aufstoßen, aber ebennicht saures Aufstoßen mit fauligem Geschmack oder Geruch. Hahne-mann trennt konsequent die einzelnen Zeichen.Zu 5. Die Empfindung von Unverdaulichkeit der Speisen im Magenbewirken wenige Arzneien und keine so vollständig und auffallend, alsPulsatille (Nr. 321, 322, 327).Diese Unverdaulichkeit der Speisen, der verdorbene Magen, das Völle-gefühl im Magen ist im Symptomenlexikon Magen + Völle. 40

Zu 6. Außer Ignazsamen, welcher jedoch unsere übrigen Beschwer-den nicht erregen kann, macht denselben Zustand Pulsatille.Nr. 6 ist das finstere und hohle Gefühl im Kopf.Zu 7. Pulsatille macht dergleichen, so wie sie auch eine Überempfind-lichkeit der anderen Sinnesorgane zuwege bringt, z.B. des Gesichts.Und obgleich die Unleidlichkeit des Geräuschs auch bei Krähenauge,Ignazbohne und Sturmhut zu finden ist, so sind sie doch nicht gegendie anderen Zufälle homöopathisch und besitzen am wenigsten dasSymptom.Nr. 7, die Geräuschempfindlichkeit ist nicht charakteristisch, es gibt da-für keine signifikanten Arzneien in der Arzneimittellehre. Aber fürHahnemann ist eine Geräuschempfindlichkeit eine allgemeine Über-empfindlichkeit. Deswegen sagt er zu der GeräuschempfindlichkeitPulsatillas, dass Pulsatilla auch eine „Überempfindlichkeit der anderenSinnesorgane zuwege bringt“, 41

Pulsatillas allgemeine Empfindlichkeit der SinnesorganeZu 8. Des milden Gemütszustandes, welchen, nach dem Vorberichtezu Pulsatille, diese letztere Pflanze ausgezeichnet verlangt.Nr. 8, Hahnemann erwähnt in der Vorrede zu Pulsatilla den sanftenGemütszustand, aber das ist kein Symptom! Es ist nicht krankhaft,wenn jemand sanft, gutmütig und nicht zornig ist. Und Pulsatilla hatkeine aggressiven Gemütsveränderungen zu Zorn oder Gereiztheit her-vorgebracht. Im Gegensatz zu fast allen anderen Arzneien.Das nicht zornige Gemüt ist hier eine Art Bestätigung Pulsatillas, wennman das Arzneibild wie eine Art Krankheitsbild betrachtet und beispiels-weise mit Nux-v vergleicht, weil beide Arzneien für diesen Fall sehrähnlich sind. Nux-v hätte aber bei einem solchen Krankheitsbild wahr- 42

scheinlich auch das entsprechende aggressive, schlecht gelaunte Ge-müt (die entsprechenden Gemütssymptome von Nux-v) und Pulsatillanicht, denn bei Pulsatilla gibt es keine aggressiven Gemütssymptome,die hat Pulsatilla nie hervorgebracht. Gemütssymptome können viel-leicht zum Schluss bei ähnlichen Mitteln den letzten Ausschlag geben,wenn mit anderen Symptomen nicht mehr unterschieden werden kann. 43

UWE PLATEChristilleDieser Fall ist ein Beispiel von Matthias Wischner, aus seinem Artikel„Pädiatrische Fälle in Hahnemanns Praxis“ in der Zeitschrift für Klassi-sche Homöopathie (2011,55). Er analysiert Hahnemanns Arbeitsweisenach den Regeln der klassischen Homöopathie und kommt zu demErgebnis: „Hahnemann hat Sulphur aller Wahrscheinlichkeit nach nichtaus phänomenologischen, sondern aus kausalen Gründen gewählt.Bei einer rein phänomenologischen Betrachtung wäre Sulphur nämlichkaum in die engere Wahl gekommen. Ein Materia-Medica-Vergleich(Tabelle) zwischen der Sulphur-Darstellung in den CK [Die Chroni-schen Krankheiten] und der Symptomatik des Kindes zeigt eine nur un-zureichende Ähnlichkeit.“ Hahnemann soll demnach nicht nach den Prüfungssymptomen, son-dern nach der Causa Sulphur gewählt haben, also nach der UrsachePsora. Denn der Materia Medica-Vergleich zeigt keine Ähnlichkeit derPrüfungssymptome Sulphurs mit den Krankheitssymptomen. Wenn eskeine passenden Prüfungssymptome von Sulphur gibt, dann kannHahnemann diese Arznei unmöglich nach der Gesamtheit der Sympto-me gewählt haben, denkt Wischner, denn er hätte in der Arzneiprüfungbei Sulphur nichts finden können. Wischner orientiert sich aber nur ander heutigen „klassischen“ Homöopathie und das ist die Lehre Kents.James Tylor Kent hatte seine eigene Homöopathie konstruiert, die mitden Erkenntnissen Hahnemanns nichts zu tun hat. Somit kann mit derKent´schen Homöopathie Hahnemanns Arzneiwahl nicht erklärt wer-den. Wischner unterliegt dem großen Irrtum, dass Kents Homöopathieden Lehren Hahnemanns entsprechen würde oder Kent sogar Hahne-manns Homöopathie „weiter entwickelt“ hätte. 44

Arthur Christille, 8 Jahre, Juni 1838 – er irrt sich beim Sprechen –er verwechselt die Wörter miteinander – Trockenheit der Haare mit wei-ßen Schuppen auf der Kopfhaut – Sommersprossen im Gesicht – gel-be Zähne – beim Husten reißender Schmerz dazu in der Kehle, auchein Stich in der Brust oder im linken Ohr beim Husten – selten Husten– ein wenig Heiserkeit, besonders wenn er sich durch Körperanstren-gung ereifert – seit einigen Nächten Stöhnen im Schlaf – hat Neigungzu Onanie.Dazu macht Wischner den Materia-Medica-Vergleich, indem er zujedem Symptom des Kindes ein passendes, vollständiges Symptom inder Arzneiprüfung von Sulphur sucht und stellt den Vergleich in einerListe zusammen:Er irrt sich heim Sprechen, verwechselt die Wörter – kein SymptomTrockenheit der Haare mit weißen Schuppen – kein SymptomSommersprossen im Gesicht – kein SymptomGelbe Zähne – kein SymptomBeim Husten reißender Schmerz in der Kehle: Ein schmerzhafter Stoßim Kehlkopf beim Husten (1116)... auch ein Stich in der Brust oder im linken Ohr beim Husten, seltenHusten: Trockener, kurzer, heftiger Husten, mit Schmerzen im Brust-bein, oder mit Stichen (1137). Beim Husten Stiche unter der rechtenBrust (1153)Ein wenig Heiserkeit, besonders wenn er sich durch Körperübungenereifert: Sehr rauer Hals (1102)Seit einigen Nächten Stöhnen im Schlaf – kein SymptomHat Neigung zu Onanie – kein Symptom 45

Für die meisten Beschwerden gibt es kein einziges passendesSymptom bei Sulphur und für das Symptom „Beim Husten ein reißen-der Schmerz in der Kehle“ gibt es nur das kaum ähnliche Prüfungs-symptom „Ein schmerzhafter Stoß im Kehlkopf beim Husten“ (1116).Ein „Stoß“ im Kehlkopf ist allerdings nicht unbedingt ähnlich zu einemReißen im Kehlkopf. Nur für das Symptom „auch ein Stich in der Brust oder im linken Ohrbeim Husten“ finden sich bei Sulphur zwei Symptome, die einigerma-ßen passen: „Trockener, kurzer, heftiger Husten, mit Schmerzen imBrustbein, oder mit Stichen“ (1137). Beim Husten Stiche unter der rech-ten Brust“ (1153). Das Symptom Stechen in der Brust beim Husten gibtes also einigermaßen ähnlich. Aber das Stechen beim Husten im Ohrist bei Sulphur nicht vorhanden. Zur Heiserkeit hat Wischner das Symptom „rauer Hals“ gefunden.Das ist ein Irrtum, denn rauer Hals ist ein Halsschmerz. Hier mussHeiserkeit gesucht werden, die es aber bei Sulph gibt. Von den zehn Symptomen des Kindes findet man bei Sulphur gera-de einmal zwei einigermaßen passende Prüfungssymptome und dieHeiserkeit. Das keine goße Ähnlichkeit. Es ist aber auch nicht dieÄhnlichkeit, um die es in der Homöopathie geht. Dieser „Materia-Medi-ca-Vergleich“ ist die Homöopathie der Gegner Hahnemanns. Es ist dieLehre der Leipziger Halb- und Afterhomöopathen, wie sie von Hahne-mann genannt wurden. Er bezeichnete sie als „Halbhomöopathen“,weil sie seine Homöopathie nur zur Hälfte verstanden hatten und halbHomöopathie und halb Allopathie praktizierten. Und er nannte sie„Afterhomöopathen“ im Sinne von „nach“ aus dem Englischen oderAlthochdeutschen „after“, wie after eight oder Afterweisheiten, die nach-geplapperten Weisheiten. Er nannte sie Afterhomöopathen, weil sienach ihm den Lehrstuhl für Homöopathie übernommen hatten und ihreeigene Homöopathie lehrten, die mit den Erkenntnissen Hahnemannsnichts mehr zu tun hatte. Deswegen kam es damals auch zur Spaltung 46

der Homöopathie in Hahnemannianer und freie Homöopathen, die fürsich die „Freiheit der Wissenschaft“ in Anspruch nahmen und ihre eige-ne Homöopathie konstruierten. Über diese Gegner Hahnemanns, über„die Neueren“, die nach Hahnemann Homöopathie an der UniversitätLeipzig lehrten, schreibt der Schüler und Mitarbeiter HahnemannsG.H.G. Jahr (Lehren und Grundsätze S, 494): „Ist denn so groß dasGeheimnis der Heil zusichernden Wahlkunst? Nein, doch niemand hörtes gern, da bleibt es geheim. Die ersten Schüler Hahnemanns hörtenes gerne, deswegen vollbrachten sie so herrliche Heilungen. Die Neu-ern hören es wohl noch, sie glauben es aber nicht, wenn man es ihnenauch sagt. Deswegen wollen sie immer neue Arzneien prüfen oderschon ausgeprüfte weiter prüfen, damit sie ganze gemachte Krankhei-ten bekommen, wo Symptom mit Symptom sich decke, während dieechten Hahnemannianer, was man auch sagen mag, nie Symptomemit Symptomen, sondern Anzeigen mit Anzeigen decken und die wah-ren Symptomendecker daher auch in einem anderen Lager zuhausesind.“ Der Materia-Medica-Vergleich ist das Decken von Symptomen,während nach Hahnemann Anzeigen gedeckt werden müssen, alsoIndikationen. Für das Symptom des Kindes „verwechselt die Wörter“ inder Arzneimittellehre „verwechselt die Wörter“ zu suchen ist Sympto-mendeckerei. Dieses Symptom gibt es bei Sulphur nicht, aber darumgeht es auch nicht. Hier muss erst einmal eine Diagnose gestelltwerden. Ist das Kind vielleicht geistig zurückgeblieben und benutzt des-wegen falsche Wörter, weil es nicht richtig sprechen kann? Das liegtoffensichtlich nicht vor, sonst hätte es Hahnemann vermerkt. Dann istes eine Zerstreutheit. Der Junge ist unkonzentriert, abgelenkt undzerstreut und das ist die Indikation, das ist die Ähnlichkeit, um die es inder Homöopathie geht. Es geht um eine Arznei, die eine Art Zerstreut-heit als Arzneiwirkung hervorgebracht hat und das ist nicht nur„verwechselt die Wörter“. Es gibt viele Erscheinungen von Zerstreut- 47

heit in der Arzneimittellehre. Unstetigkeit der Ideen, Mangel an Auf-merksamkeit, Verreden und Verschreiben, Unaufmerksamkeit desKindes beim Lernen – um nur einige wenige zu nennen. Auf dasVerwechseln der Wörter kommt es bei der Zerstreutheit nicht an, eskommt auf das Phänomen an. Und das ist die Indikation, nach dereine Arznei gewählt wird. Heute erscheint eine Zerstreutheit in einemanderen Bild als zu Hahnemanns Zeit, wenn jemand ständig Telefon-nummern oder Passwörter verwechselt. Das ist keine „neue Krank-heit“, sondern dieselbe Zerstreutheit wie zu Hahnemanns Zeit. Odersollte man etwa in der Arzneimittellehre „verwechselt Passwörter“suchen? Für die „Trockenheit der Haare mit weißen Schuppen“ finden sichgerade einmal acht Symptome in der gesamten Arzneimittellehre unddie sind nicht zu gebrauchen. Sie sind nicht charakteristisch, weil sienicht signifikant sind und können zur Arzneiwahl nicht herangezogenwerden. Auch „Sommersprossen und gelbe Zähne“ können von Arznei-en nicht hervorgerufen werden und dann kann man sie in der Arznei-mittellehre auch nicht finden. Wobei es sich bei den „gelben Zähnen“wahrscheinlich um faule Zähne handelt. Solche Symptome gibt eszwar bei Sulphur (und anderen Arzneien), aber als pathologisch anato-mische Symptome sind sie höchst unsicher. „Beim Husten reißender Schmerz in der Kehle“. Das ist ein Haupt-symptome und davon müssen die Zeichenkombinationen Husten mitReißen, Husten mit Kehlkopfschmerzen und Reißen im Kehlkopfgenommen werden. „Auch ein Stich in der Brust oder im linken Ohr beim Husten“ ist einHauptsymptom mit den Zeichenkombinationen Stechen in der Brust,Stechen beim Husten, Brustschmerzen beim Husten, Stechen im Ohrund Ohrenschmerzen beim Husten. Dazu könnten auch noch Ohren-schmerzen links und Stechen links genommen werden. 48

„Ein wenig Heiserkeit, besonders wenn er sich durch Körperübun-gen ereifert“ ist einfach nur Heiserkeit. Die Zeichenkombination Heiser-keit bei Anstrengung ist nicht charakteristisch. Dafür gibt es in dergesamten Arzneimittellehre (Symptomenlexikon) nur ein einzigesSymptom und das ist nicht charakteristisch. „Seit einigen Nächten Stöhnen im Schlaf.“ Das „Stöhnen“ wird in derArzneimittellehre nicht nur als Stöhnen beschrieben, sondern auch mitanderen Begriffen (Krunken usw.). Es ist in der Rubrik „Klagen“ enthal-ten Das ergibt die Zeichenkombination Schlaf + Klagen. „Hat Neigung zu Onanie“. Was immer die Mutter bei einem Achtjähri-gen unter „Onanie“ verstanden hat, ein gesteigerter Geschlechtstriebwird es nicht gewesen sein. Dieses Symptom ist nicht zu gebrauchen. Aus der Gesamtheit der Zeichenkombinationen werden nur diecharakteristischen zur Arzneiwahl übernommen, die hier durch das fettgedruckte A gekennzeichnet sind. 49


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